Читать книгу KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit - Wieland Barthelmess - Страница 6

Die Fürstenburg

Оглавление

Khor tat langsam schon die Rechte weh, so viele Hände hatte er an diesem Morgen bereits geschüttelt. Nahezu jeder Bewohner des Dorfes schien mit ihm verwandt zu sein und wollte demnach auch gebührend begrüßt werden. Sobald die Sonne aufgegangen war, hatten sich die Eltern ‑ begleitet von den Großeltern und mit Khor und Jord im Schlepptau ‑ auf den Weg zum Hof des Dorfältesten gemacht, der auf einer weitläufigen Terrasse auf halber Höhe des Mittelbergs lag. Und der längste Teil des Weges führte quer durchs Dorf - was schließlich auch Khors schmerzende rechte Hand verursacht hatte. Vater hatte einen erklecklichen Anteil der Kohle von seinem Wagen auf eine kleinere Handkarre umgeladen, um dem Fürsten, dem Ersten unter Seinesgleichen, seinen Tribut zu zollen. Und natürlich zog eine jede der Karren, die an diesen Tagen zur Fürstenburg hinauf gebracht wurden, allergrößte Aufmerksamkeit auf sich. Denn jeder der Dorfbewohner war neugierig, wie groß denn die Ehrerbietung des jeweiligen Karrenziehers seinem Herrn gegenüber schließlich sei. Und die zeigte sich in den von allerorts angelieferten Waren und Tributen eben am anschaulichsten.

Nähere Verwandte und Freunde begrüßte man im Vorübergehen mit Handschlag und wechselte schnell ein paar Worte mit ihnen, manchmal auch, um sich für einen der nächsten Tage zu verabreden. Anderen wurde nur freundlich zugenickt oder gewinkt und wieder andere schienen die Eltern und Großeltern gar nicht erst zu bemerken. Ja, Khor hatte den Eindruck, dass, je weiter sie den Berg nach oben stiegen, desto weniger häufig schließlich auch die Begrüßungen wurden.

War Khor das Haus der Großeltern schon riesig vorgekommen, so erschienen ihm jetzt, wo er vor ihr stand, die Ausmaße der Fürstenburg geradezu überwältigend. Das sicherlich fast doppelt so breite und mindestens ebenso lange Haus schmiegte sich an den Hügel des Mittelberges und war hangabwärts von zahlreichen kleineren Katen und Hütten umgeben, in denen die Knechte und Mägde lebten, aber auch die Krieger, auf die der Fürst seine Macht letztendlich stützte. Die gesamte Ansiedlung war von einem mannshohen Palisadenzaun umgeben, dem seinerseits eine flache Grube vorgelagert war, die sicherlich früher einmal sehr viel tiefer und breiter gewesen sein musste. Versperrte dieser Zaun ansonsten den Blick auf das tiefer gelegene Dorf, so war der Ausblick direkt vor dem Fürstenhof geradezu grandios: Das Dorf sowie die ganze weite Ebene bis zum Zerbrochenen Berg lagen dort dem Betrachter sprichwörtlich zu Füßen.

Der Hausmeier hatte die Besucher förmlich, aber freundlich begrüßt und sogleich damit begonnen, die mitgebrachte Holzkohle auf Qualität und Menge abzuschätzen. Und bevor sich’s Khor versah, waren die Kohlebündel ‑ von flinken Händen davongetragen ‑ im weit geöffneten Schlund des Fürstenhauses verschwunden. Wortlos winkte der Hausmeier den Besuchern, ihm zu folgen und einzutreten. Khor spürte, wie das enorme Bauwerk auf jeden der Besucher eine geradezu einschüchternde Wirkung hatte. Selbst Großvater, der ansonsten immer die Ruhe selbst und kaum einmal zu beeindrucken war, schien ein wenig angespannt zu sein, als er den Eingangsbereich betrat. War das dreischiffige Langhaus der Großeltern schon beeindruckend genug, so verschlug es Khor nun geradewegs den Atem. Nicht weniger als vier, jeweils sehr viel breitere Schiffe gliederten das Anwesen, von denen die beiden äußeren ebenso mit Vorhängen abgeteilt waren und als Schlafnischen dienten. Die beiden mittleren Schiffe jedoch umrissen eine schier unendlich große Halle, durch die sie nun dem Hausmeier folgten. Zahllose Dienstboten huschten umher, fegten den festgestampften Lehmboden, trugen Lebensmittel herbei und schleppten Unmengen von hölzernem und tönernem, aber auch prächtig glänzendem, offenbar metallenem Essgeschirr von der Reinigung am Brunnen herein. Kaum einer würdigte die Neuankömmlinge eines Blickes, waren doch alle viel zu sehr mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt.

In der Mitte der Halle, direkt neben dem auch tagsüber lodernden Feuer, saß der Fürst auf einem überreich mit Schnitzereien verzierten und bunt bemalten hölzernen Sessel und verzehrte genüsslich sein Frühstück: ein üppig mit Schlehen-Latwerge und Apfelkraut bestrichener Eierkuchen. Khor knurrte augenblicklich der Magen als er diese Köstlichkeit sah, die es bei ihm Zuhause allenfalls einmal an einem ganz besonderen Festtag gab.

„Der ehrwürdige Frowin und seine Frau Oda“, kündigte der Hausmeier mit salbungsvoller Stimme die Besucher an, „sowie deren Kinder Bror und Fricka.“ Schließlich fügte er mit einer auch als abfällig zu verstehenden Handbewegung, aber umso freundlicherem Blick hinzu: „Und mit Kindeskindern!“ Zwinkernd gab er Jord und Khor einen aufmunternden Schubs, damit sie näher träten.

Khor war ganz erstaunt, als er feststellen musste, dass der Herrscher, den er bislang nur aus der Ferne gesehen hatte, kaum älter war als sein eigener Vater. Schließlich hatte er trotz eigentlich besseren Wissens einen weisen Alten erwartet, der unbeweglich wie eines der alten Götzenbilder die Macht verkörperte, die er schließlich innehatte. Doch der hier war ein rundlicher Blondschopf mit zahllosen Lachfalten im Gesicht und einem seltsam in sich verdrehten und verzopften Bart. Es musste Stunden dauern, bis der zurechtgedreht und entsprechend gelegt war, dachte Khor.

„Ein Klafter feinste Holzkohle“, vermeldete der Hausmeier, „hat Bror, der Köhler, Eurem Besitz soeben zugeführt.“ Anerkennend nickte der Fürst, lächelte erstaunlich herzlich und machte mit seiner Rechten eine einladende Bewegung.

„Setzt euch zu mir und kostet von den guten Dingen“, beschied er großmütig, woraufhin der Hausmeier hektisch in die Hände klatschte und hilfreiche Hände sogleich Hocker, Essgeschirr und frisch gebratene, duftende Eierkuchen brachten. „Ehrwürdiger Frowin, verehrte Oda, ich begrüße euch in meinem Haus. Ebenso begrüße ich euch, Bror und Fricka. Ihr habt mir Gutes mitgebracht und mein Dank ist euch gewiss. Seid willkommen allesamt!“ Einem nach dem anderen lächelte er freundlich ins Gesicht. „Doch anders als im letzten Jahr hast du, Bror, heute die Eltern deiner Frau und zwei deiner Kinder mitgebracht.“ Auffordernd sah er Jord und Khor an. „Also sag mir: Kann ich etwas für dich tun?“

Khor sah die Erleichterung in Vaters Gesicht. „Ich danke Euch sehr, dass Ihr mich fragt“, sagte Vater mit fester Stimme und deutete ein Senken des Kopfes an. „Meine Frau und ich sowie ihre Eltern sind hier, um zu bürgen für meine beiden Ältesten, Khor und Jord. Wir denken, es ist an der Zeit, sie ins Leben zu entlassen.“

„Zwei ausnehmend schöne Menschen“, murmelte der Fürst. Er zwirbelte seinen Bart und betrachtete Jord und Khor eingehend. „Ihr beiden wollt also keine Kinder mehr sein und nun von eurem sicheren Ufer ablegen, um euch im Strom des Lebens zu neuen Ufern treiben zu lassen.“ Und unvermittelt sah er Jord tief in die Augen. „Hast Du einen Liebsten?“

Jord schoss die Röte ins Gesicht. „Nein!“

„Wie bitte?“ Der Fürst legte seine Hand ans Ohr.

„Nein!“, wiederholte Jord nun deutlich besser vernehmbar, räusperte sich und schüttelte heftig mit dem Kopf.

„Na, dann lass dir auch noch ein wenig Zeit damit. Übereil’s nicht“, lächelte der Fürst ihr fast väterlich zu. „In zwei, drei Jahren bist du längst noch keine alte Jungfer. Und dann kannst du immer noch suchen gehen, falls dich bis dahin nicht schon längst einer gefunden hat. Weißt du, die fremden Ufer, die manchmal so einladend aussehen, können sich ganz schnell als schreckliche Wüsteneien erweisen. Genieße also die sicheren Ufer so lange du kannst. Und wenn morgen einer kommt, der zu dir passt, dann darfst du dich meinetwegen auch in den Fluss des Lebens stürzen. Aber zwing’s nicht, nehm’s wie’s kommt. Es ist gut, so wie es ist.“

Jord nickte verlegen, schien aber kaum ein Wort von alledem verstanden zu haben.

„Oder habt ihr bereits einen Mann für eure Tochter ausgesucht?“, wandte der Fürst sich jäh an die Eltern.

„Keineswegs“, antwortete Vater schnell. „Das soll sie besser ganz alleine tun“ und lächelte dabei seine älteste Tochter an, die ihre Röte noch immer nicht verloren hatte und betreten zu Boden blickte.

„Wenngleich wir durchaus Vorschläge zu machen hätten“, mischte sich nun Großvater ein wenig zu geschäftig ein.

„Aber sicher“, schmunzelte der Fürst. „In eurer Weisheit habt ihr bestimmt schon den einen oder anderen passenden Mann für sie entdeckt. Es fragt sich nur, ob Jord das auch so sieht. Die Zeiten, wo man einen jungen Menschen gegen seinen Willen verheiraten konnte, sind glücklicherweise vorbei. Doch ich bin mir sicher“, wandte er sich nun wieder Jord zu, „dass du die richtige Entscheidung treffen wirst, wenn es an der Zeit ist.“

„Mein Herz wird es mir sagen“, erwiderte Jord mit fester Stimme.

„Das ist fein!“, staunte der Fürst ob dieser Antwort. „Dann pass nur gut auf dein Herz auf, damit es dich nicht doch noch eines Tages betrügt.“

„Das werde ich tun.“ Jord erschrak fast über die Festigkeit in ihrer Stimme. Doch als sie sah, dass ihre Worte Wirkung taten, senkte sie ihren Blick. „Ich danke Euch.“

„Und du, Khor“, der Fürst blickte dem mittlerweile ruhiger und selbstsicherer gewordenen Jungen aufmunternd ins Gesicht. „Du bist ein stattlicher Bursche und wirst sicherlich Krieger werden wollen.“

„Nein, eigentlich nicht“, meinte Khor dann doch ein wenig verlegen. Wie ein Spatz war seine Selbstsicherheit flugs davongeflogen. Doch er fasste sich ein Herz: „Eigentlich sollte ich in den nächsten Tagen den Priestern vorgestellt werden.“

„Hui“, der Herrscher zog anerkennend die Luft durch die Zähne ein. „Ein stattlicher und ebenso kluger Bursche also. Ganz der Vater.“ Und schon sandte er diesem jenen so plötzlichen wie fordernden Blick, den Khor mittlerweile bereits wiederholt gesehen hatte. Doch die Miene des Fürsten änderte sich, als Bror ihm fest in die Augen sah. Es war ein eigentümlicher Blick, mit dem er an Vaters Augen hing, musste Khor feststellen. So als ob die beiden sich kannten und sich sehr nahe wären und dabei auch wüssten, dass Zuneigung und Zärtlichkeit nichts Fremdes zwischen ihnen war. Nach einer kleinen Pause fuhr der Fürst an Khor gewandt fort: „Aber sag mir, du willst doch aus eigenen Stücken zu den Priestern?“

„Aber ja, ich wünsche mir nichts sehnlicher als das.“

„Und warum, bitteschön?“, fragte der Fürst nach. „Möchtest du den Göttern näher sein? Oder gar ihr Wesen oder das der Welt erforschen?“

„Ja“, rief Khor eifrig. „Ja, ich will lernen. Ich will lernen, um zu verstehen. Ich will wissen, was die Welt ist und ich will wissen, wie wir weltwürdig wandeln.“

Aufrichtig beeindruckt klatschte der Fürst Beifall. „Du würdest auch einen hervorragenden Barden abgeben. Den Stabreim beherrschst du offenbar schon ausgezeichnet. Aber vielleicht schließt das eine ja das andere nicht aus. Weißt du“, er blickte Khor fest in die Augen, „unser Volk braucht junge Menschen wie dich. Menschen, die lernen wollen, die Welt zu verstehen und die auch mutig genug sind, um sie sich erst einmal selbst anzusehen, bevor sie die Weisheiten anderer nachplappern. Die Welt ist größer als unser Tal. Sie ist hinter dem Zerbrochenen Berg noch lange nicht zu Ende.“

„Ich weiß“, pflichtete Khor eilfertig bei. „Die Zinnmänner kommen von dort – und die Bernsteinleute. Und im Süden gibt es noch die große Stadt …“

„Das weißt du sicherlich alles von deinem Vater.“ Der Fürst warf Bror einen Blick zu, den man auch als ironisch verstehen konnte. „Ich habe seine Klugheit und sein Wissen schon vor Jahren zu schätzen gelernt, als wir so alt waren wie du heute.“

„Ja, Vater hat mir viel von der Welt erzählt“, stammelte Khor, der jedoch noch nie ein Sterbenswort davon gehört hatte, dass sein Vater früher offenbar einmal Umgang mit der Fürstenfamilie hatte.

„Ich selbst war mehrfach in der großen Stadt.“ Mit geradezu kindlichem Stolz richtete sich der Fürst auf. „Und ich habe viel dort gelernt. Was man hier genauso machen könnte wie dort - oder einiges vielleicht sogar besser. Auch dort sind die Straßen nicht mit Gold gepflastert, selbst wenn viele es glauben mögen. Aber der wahre Reichtum der südlichen Freunde ist nicht das Gold“ setzte er nach einer kurzen Pause hinzu. „Ihr wahrer Reichtum ist das Wissen. Das sie freilich hüten wie ihren größten Schatz. Denn letztendlich“, und dabei lächelte der mächtige Mann verschmitzt, „wird das Wissen den Weg weisen, wo schließlich auch das Gold zu finden ist.“

„Gleich heute noch“, erhob sich der Fürst und kündigte damit das Ende der Audienz an, „werde ich den Priestern vorschlagen, dich anzuhören. Ich bin mir sicher, dass sie von dir ebenso beeindruckt sein werden, wie ich.“ Und an den Vater gewandt fuhr er fort: „Vielleicht solltet ihr auch Eure Jord dorthin mitnehmen. Wer weiß, vielleicht wird sie eines Tages auch eine so weise Frau wie ihre Großmutter. Wer wird ihre Weisheit weiterleben lassen?“ Vertraut legte er beide Hände auf Großmutters Schultern. „Sie hat mir und meiner Familie schon in manch schlimmer Stunde mit Rat und Tat beigestanden. Ihr Wissen um die Heilkraft der Pflanzen ist weit gerühmt.“

Und so herzlich der Fürst bislang mit ihnen gesprochen hatte, so förmlich verkündete er nun: „Khor und Jord – geht ins Leben und seid frei zu tun wie es euch beliebt. Eure Eltern und Großeltern haben sich dafür verbürgt, dass ihr reif genug seid, um eueren weiteren Weg selbst einzuschlagen. Gehorcht also euren Begabungen und gebt eurem Volk, was immer ihm ihr geben könnt. Und vergesst nicht: Wo immer ihr auch seid, dies hier ist euere Heimat, dies hier ist euer Volk, dies sind eure Leute. Sie werden immer für euch da sein, denn sie sind euren Bluts.“

Halbwegs erschöpft plumpste der blonde Riese in seinen Sessel und machte sich über den inzwischen sicherlich kalten Eierkuchen her. Beim Hinausgehen sah Khor noch, wie der Hausmeier bereits die nächsten Besucher begrüßte. Es war der rothaarige Pelztierjäger mit seiner Frau, der üppigen Tochter und dem verwachsenen Sohn. Wie anders sie heute aussahen – und sicherlich auch rochen. Da hatte man an Wasser wohl nicht gespart, dachte Khor und versuchte vergeblich, einen Eindruck von ihrem Geruch zu erhaschen. Die abgelieferten Felle schienen jedenfalls großen Eindruck auf den Majordomus gemacht zu haben, da er sich andeutungsweise verneigte, als er die Gäste ins Haus bat. „Was die wohl nun zu erzählen haben werden“, fragte sich Khor und hätte sich am liebsten ganz klein gemacht, um deren Gespräch mit dem Fürsten zu belauschen.

Heiter und entspannt, was selbstverständlich ebenfalls genauestens zur Kenntnis genommen wurde, ging die Familie nun wieder den Weg zurück ins Dorf. Jord war plötzlich ganz aufgekratzt und löcherte die Großeltern mit Fragen nach den von ihnen offenbar ins Auge gefassten guten und passenden Partien, die Großvater gegenüber dem Fürsten erwähnt hatte.

„Nichts da Kind“, beendete Großmutter irgendwann das Thema und drückte ihrer Enkelin einen herzlichen Kuss auf die Stirn. „Falls es von Bedeutung werden sollte, wirst Du es noch früh genug erfahren. Und falls nicht – dann haben wir uns unnütze Worte erspart.“

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt längst überschritten, als Khor sich endlich auf den lange herbeigesehnten Weg ins Lager der Marktbesucher machen konnte. Dieses wilde Durcheinander von Schlaf- und Lagerstellen ‑ darunter einige Zelte, mitunter recht prächtige sogar ‑ hatte sich um das Dorf herum gebildet und war an diesem Vormittag, wie es schien, abermals tüchtig angewachsen. Vater war mit irgendwelchen Tauschhandeln beschäftigt, während Mutter ihre versprochenen Opfergaben an Urd und Mutter Erde darbrachte. Zunächst hatte es geheißen, dass Khor seine Geschwister zu seinem Ausflug mitnehmen sollte. Aber nachdem Jord erfahren hatte, dass es am Abend ein großes Fest mit vielen Gästen im Haus der Großeltern geben würde, war ihr Interesse an einem Spaziergang so plötzlich wie unerwartet erloschen. Sie wollte sich viel lieber auf den Abend vorbereiten und ihre Schwestern waren nun der Meinung, dass sie ihr dabei unbedingt zur Hand gehen müssten. Nur Njörd wollte seinem Bruder ins Lager folgen, was Khor aber ganz schnell hintertrieb, da er sich diese Last nicht aufbürden wollte. Njörds Naschsucht war ihm dabei zur Hilfe gekommen. Natürlich durfte ein jedes der Kinder von den für den Abend vorbereiteten Leckereien einen Bissen probieren. Nur Njörd konnte es wieder einmal nicht bei dem einen, ihm zugestandenen Stück Backwerk belassen und hatte ein zweites gemopst, das er in seinem Nachtlager versteckte. Khor, der seinen kleinen Bruder beobachtet hatte, musste nur das Schlaffell ein wenig beiseite ziehen, so dass der Frevel schnell entdeckt und ruchbar wurde. Zur Strafe durfte Njörd nun das Haus nicht verlassen.

Mit einem schlechten Gewissen, aber dennoch großer Erleichterung machte sich Khor also nun alleine auf den Weg ins Marktlager. Was gab es dort nicht alles zu sehen! Hier hatte ein Schmied eine Decke ausgebreitet, auf der er fein gearbeitete Waffen und stabiles Werkzeug feilbot. Ein anderer lobte die Genauigkeit seiner Pfeile sowie die Durchschlagskraft der von ihm gefertigten Bogen, die er zum Tausch präsentierte. Wieder andere versuchten, die Frauensleute für farbige Stoffe, aber auch Bernstein-, Glas- oder fremdländische Fayence-Perlen zu interessieren. Ein Schafscherer bot lauthals seine Dienste als Zahnreißer, Barbier und Starstecher an und hatte eine beeindruckende Sammlung an bronzenen Instrumenten auf dem Tuch vor sich ausgebreitet. Zwischen all dem bunten Treiben schwatzender und miteinander Neuigkeiten austauschender Menschen zeigten einige Gaukler ihr Können. Einer von ihnen ließ eine Anzahl roter Bälle so schnell in der Luft kreisen, dass es einem alleine schon vom Zusehen schwindlig werden konnte. Auf einem Seil, das man zwischen den beiden uralten kahlen Eichen gespannt hatte, die seit hunderten von Jahren den Dorfeingang markierten, balancierte ein bildschönes Mädchen mit dichten schwarzen Haaren und großen grünen Katzenaugen. Unter den lauten Ahs und Ohs der Zuschauer sprang sie in die Luft, kam mit ihren seltsam eingewickelten Füßen aber immer wieder sicher auf dem Tau zu stehen. Mit gezierten Bewegungen bedankte sie sich jedes Mal für den Applaus und setzte zu einem neuen aufmerksam bestaunten Kunststück an.

Khor hatte noch nie solch ein Mädchen gesehen. Ihre Haut war selbst zu Ende des Winters von einem sattem Braun und schien über und über bemalt zu sein. Eigentlich sah sie ganz genauso aus wie die hübschesten Mädchen im Dorf, überlegte er. Nur eben, dass sie wirklich pechschwarze Haare hatte. Und diese eigentümlichen Augen. Und die seltsam dunkle Haut. Und natürlich waren ihm ihre Bewegungen auf dem Seil aufgefallen. „Welche Grazie“, entfuhr es ihm und im selben Augenblick musste er kichern, weil er an seine Großmutter dachte, die ihm gestern Abend mit eben diesen Worten und weit geöffneten Armen entgegengetänzelt war, als man schon für den Schlaf vorbereitet im Hemd dastand, um einander noch eine gute Nacht zu wünschen. Wie hatten sie gelacht! Großmutter konnte gar nicht mehr aufhören mit ihrem dicken Po zu wackeln und halbwegs gewagte Tanzschritte zu vollführen. Erst Großvaters Mahnen hatte schließlich wieder Ruhe im Haus einkehren lassen.

So stand er nun hier im Trubel des Markttages und dachte an seine heiß geliebte, dicke Großmutter, während das sicherlich schönste Mädchen der Welt hoch über ihm zu schweben schien. Mit kesser Miene blickte sie den Gaffern mitten ins Gesicht, wann immer es ihre nicht ganz ungefährliche Tätigkeit zuließ. Mit manchen der Zuschauer schien sie gar zu tändeln. Irgendeiner brüllte ihr schließlich etwas in einem unverständlichen Dialekt zu, was sie aber keineswegs zu beeindrucken schien, sondern sie sogar noch eindringlicher werden ließ. Eine alte Frau spuckte lautstark aus. Ob sie sich - sie war zweifellos eine Anhängerin des alten Glaubens, wie ihre zahllosen Amulette verrieten - an der Tatsache störte, dass das Seil prompt zwischen den einst heiligen Bäumen gespannt war oder ob es das aufreizende Verhalten des Mädchens war, das ihr missfiel, konnte Khor nur vermuten. Ein mit allerlei bunten Bändern in den Haaren herausgeputzter Geck, an dessen Seite ein prachtvoller Prunkdolch hing, machte obszöne Bewegungen mit dem Becken, worüber seine nicht minder bunt zurechtgemachten Kumpane dröhnend lachten. Doch ein kleiner, beeindruckend kräftiger Schausteller mit noch dunklerer Haut als jener des Mädchens, einem dichten schwarzen Bart und einer erschreckend großen Adlernase im Gesicht ‑ Khor hatte ihn bislang schlichtweg übersehen, hatte er doch nur Augen für das schwebende Wesen über ihm ‑ ging sogleich auf die Krakeeler zu und ließ direkt vor ihren Köpfen seine Fackel sich in einen wahren Feuerball verwandeln, so dass alle laut schreiend auseinanderstieben. Khor, der sich über die feurige Zurechtweisung der respektlosen Halbstarken sichtlich freute, spürte plötzlich einen Blick auf sich ruhen. Es waren die grünen Augen der Seiltänzerin. Und als sich ihre Blicke schließlich trafen, hatte er das Gefühl, als ob in diesem Moment sich auch die Welt verändert hätte. Plötzlich schien es etwas in seinem Leben zu geben, was ihm bis dahin gänzlich unbekannt geblieben war. Ein seltsames Gefühl, eine Sehnsucht, ein eigentümliches Verlangen. Ja, er fühlte, dass seine Welt plötzlich größer geworden war um all die Dinge, die dieses Mädchen für ihn verkörperte. Wie weit mochte sie gereist sein, was alles mochte sie gesehen haben, was mochte sie wissen von der Welt da draußen – und von jener dort drinnen? Unwillkürlich griff er sich ans Herz, als ob er dessen Schlagen beruhigen wollte. Jetzt war es an ihm, diese Dinge in Erfahrung bringen.

Dies war leichter – und dann doch wieder schwieriger – als zunächst gedacht. Die Vorstellung war zu Ende, der Hakennasige und die Tänzerin baten um anerkennende Gaben, verschwanden kurz in ihrer seltsamen Jurte und schon kam das fremde, nun in einen Mantel gehüllte Wesen geradewegs auf ihn zu.

„Yasemin“, sagte sie ohne Umschweife und verbeugte sich leicht.

Verstand Khor zunächst nicht, was das ihm unbekannte Wort bedeuten sollte, so verbeugte er sich ebenfalls, was ihm eleganter gelang als er selbst es erwartet hatte. „Ich heiße Khor.“

„Icheisekor? Schön Name“, kam die Antwort.

„Nein!“, versuchte er das Missverständnis aufzuklären. „Mein Name ist Khor. Nur Khor.“

„Nurkor? Nicht Icheisekor?“

„Nein, Khor allein“, prustete er heraus und konnte sich wegen der grotesken Situation nur mit Mühe das Lachen verkneifen.

„Khorlein“, hauchte sie, ließ ihre grünen Augen blitzen und wippte dabei auf ihren Zehenspitzen.

Khor war vollkommen verwirrt. Solch ein Mädchen hatte er wirklich noch nie gesehen. Sie sah ihn an, als ob sie irgendein unsagbares Geheimnis mit ihm teilte. Und dabei kannte er sie doch überhaupt nicht. Er wiederholte seinen Namen und deutete sich dabei auf die Brust.

„Khor“, kam ihre Antwort, als sie seine Brust eindringlich berührte, dann seine Hand ergriff und sie auf die ihre legte. „Yasemin.“

„Yasemin“, wiederholte Khor heiser und spürte durch den Mantel hindurch die Wärme ihres Körpers.

Die Unterhaltung gestaltete sich allerdings dann doch schwieriger als erwartet. Yasemin sprach eine vollkommen fremde Sprache, die Khor noch nie zuvor gehört hatte. Doch um sich verständlich zu machen, verfiel sie in ein schreckliches Kauderwelsch aller möglichen Wörter, die sie irgendwo auf ihren Reisen durch die Welt aufgeschnappt hatte.

„Tu logast en si Dorf?“

„Nein“, schüttelte Khor seinen Kopf und deutete mehrfach in die Richtung, wo in etwa seine heimatliche Kate liegen musste.

Trotz aller Schwierigkeiten schafften es die beiden, sich irgendwie zu verständigen. Yasemin kannte glücklicherweise doch einige Wörter seiner Sprache, ohne vorher gewusst zu haben, dass sie auch in dieser Gegend gebräuchlich waren. So plauderte man eine ganze Weile miteinander und versuchte, dem jeweils anderen zu erzählen, wer man war und woher man kam. Falls Khor alles richtig verstanden hatte, kam Yasemin nirgendwo her. Sie war einfach irgendwann und irgendwo von irgendwem geboren worden. Von ihren Eltern oder einer Familie wusste sie nichts. Und der Mann, mit dem sie unterwegs war, hatte sie schon vor Jahren bei sich aufgenommen. Seit sie sich erinnern konnte, tanzte sie auf dem Seil und zog von Ort zu Ort. Früher hatten die beiden allerdings noch ein hinterlistiges Tier, das aussah wie ein kleiner Mensch, das aber alle biss, die es nicht kannte, so dass eines Tages der Fürst einer der nördlichen Städte, vor dem man aufgetreten war, ihm kurzerhand den Hals umdrehte. Jedermann hatte dieses Tier sehen wollen, so dass sie schon vor vielen hohen Herren ihre Künste gezeigt hatte, berichtete Yasemin stolz. Seit sie aber dieses Wesens verlustig gegangen waren, war das Interesse seitens der Fürstenhöfe deutlich zurückgegangen, so dass sie nun wieder häufiger auf Märkten spielen mussten.

„Ganze viele“, erhielt Khor zur Antwort als er nach der Anzahl der Dörfer und Fürstenhöfe fragte, die sie schon besucht habe. „Ganze viele, viele. Ganze weite.“ Yasemin deutete in alle vier Himmelsrichtungen und bestätigte dabei immer wieder: „Gaaaaaanze viele, ganze weite, weite.“

„Warst Du auch in der großen Stadt?“ Khor schlug das Herz bis zum Hals.

„Ja, große Stadt“, nickte Yasemin. „Viele große Stadt“.

„Meinst du damit, dass du viel in der großen Stadt warst oder dass du in vielen großen Städten warst?“

„Viel in große Stadt, aba hauch viele andere große Stadt.“

Khor musste unbedingt mehr davon hören. „Erzähl mir davon! Erzähl mir alles was du weißt!“

„Komm morgen wieder.“ Yasemin zog ihren Mantel enger um sich. „Ich muss geh. Hoy Nocte al Konunge“, deutete sie zur Fürstenburg. „Groß Fest!“, strahlte sie voll offensichtlicher Vorfreude in Khors Gesicht.

Unsicher wie er sich verabschieden solle, hielt ihr Khor seine Rechte hin. „Wir sehen uns dann also morgen wieder hier? Selbe Zeit?“

„Selbe Zeit“, kicherte Yasemin als sie seine ihr ein wenig unbeholfen entgegengestreckte Hand nahm und dann schnell in der Jurte verschwand, nicht ohne noch einmal zu winken.

Khor blieb noch eine ganze Weile regungslos stehen. Konnte er doch noch immer nicht recht fassen, was ihm eigentlich widerfahren war. Dieses Mädchen kannte die Welt, fürwahr. Wahrscheinlich besser als der Fürst sogar. Doch was war sie nur für ein seltsamer Mensch. Ein außergewöhnlicher Mensch. Ein bildschönes Mädchen. Diese grünen Augen und die schwarzen Haare. Und diese schöne goldbraune Haut, die so ebenmäßig war …

Tatsächlich lugte Yasemin noch einmal kurz aus der Jurte heraus und durfte mit Freude feststellen, dass ihr neuer Freund noch immer an seinem Platz ausharrte. Kichernd, winkte sie ihm zu, als ob sie einen Dorfköter zu verscheuchen versuchte. „Geh nun, geh!“ Und lachend verschwand Yasemins Gesicht wieder hinter dem Vorhang.

Khor war auffallend in sich gekehrt an diesem Abend. Das Heim der Großeltern summte wie der Bienenkorb hinter Khors Elternhaus. All ihre Kinder, zumindest jene, die in der Nähe lebten, waren in das Haus der Großeltern gekommen. Und mit ihnen deren allesamt mehrköpfigen Familien! Aber auch fernere Verwandte und einige der Nachbarn waren geladen, so dass im nicht eben kleinen Zuhause der Großeltern eine drangvolle Enge sowie beträchtliche Hitze herrschten. Khor hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht und versucht, sich all die fremden Namen sowie die verworrenen Verwandtschaftsbeziehungen zu merken. Viel zu sehr war er mit seinen Gedanken an die große Stadt beschäftigt. Er überlegte fortwährend, wo all die anderen, von Yasemin erwähnten Städte denn liegen konnten und ob diese die große Stadt im Süden gar an Stattlichkeit und Bedeutung übertreffen würden. Und mehr als einmal trat er an diesem Abend vor die Türe, um zum Mittelberg hinaufzublicken, wo von der Fürstenburg, die auf halber Höhe wie ein ferner Stern in der Dunkelheit leuchtete, deutlich vernehmbares Lachen, Rufen und Gemurmel zu ihm drang. Er stellte sich vor, wie Yasemin vor dem Fürsten tanzte, ihre koketten Blicke und vielleicht sogar angedeutete Kusshände ins Publikum warf und wie sie schließlich für ihre Vorführung reich belohnt wurde. Aus der Ferne konnte er trunkenes Gegröle sowie stürmischen Applaus hören und plötzlich merkte er, wie das Gift der Eifersucht in ihm aufstieg. Er dachte daran, dass Yasemin zur selben Zeit von Dutzenden von Augenpaaren betrachtet wurde und dass sie morgen möglicherweise gar nicht mehr an die Verabredung mit ihm denken würde. Was sollte sie auch mit dem Sohn eines Köhlers anfangen? Sie, die vor Fürsten tanzte und die die weite Welt kannte. Am liebsten wäre er augenblicklich den Berg hinaufgestiegen, um sich irgendwie bei Yasemin in Erinnerung zu bringen.

„Du denkst sicherlich an die Priester, mein Sohn“. Vater war ebenfalls vors Haus getreten und hatte Khor seinen Arm auf die Schulter gelegt.

„Ja, ein wenig schon“, log der. Und nach einer Weile der Stille versuchte er, ein anderes Thema anzuschneiden. „Ich wusste gar nicht, dass du den Fürsten kennst.“

„Doch“, nickte Vater. „Aber das ist schon so lange her.“ Und sein anschließendes Schweigen bedeutete Khor, dass er nicht darüber reden und auch nicht weiter danach gefragt werden wollte. „Lass uns besser wieder hineingehen“, meinte Vater.“ Es ist wieder kalt geworden heute Nacht und ich hege mittlerweile die Vermutung, dass du morgen alleine den Priestern vorsprechen darfst. Jord scheint mittlerweile offenbar andere Pläne zu haben.“

„Hat sie sich verliebt?“

„Na, soweit würde ich nicht gleich gehen wollen“, lachte der Vater. „Der Sohn des Nachbarn ist aber ein hübscher, netter Bursche, der sich ihr gegenüber als sehr aufmerksam und überaus galant gezeigt hat. Die Großeltern haben ihn den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen. Und insbesondere Großmutter wusste nichts Besseres zu tun, als beiden unablässig die Vorzüge des jeweils anderen vor Augen zu führen. Aber stell dir vor, deine Schwester hat sich tatsächlich für morgen nach Mittag zu einem Stelldichein mit Cord verabredet.“

„Cord?“, fragte Khor. Und als Vater nickte, kicherte er albern. „Das gibt’s ja nicht! Cord und Jord!“ Und schon hob er an, die alte Melodie zu singen, die seit Jahrhunderten die unendliche Liebe zwischen Diason und Merthea pries. Freilich nicht, ohne die Namen der beiden Sagenfiguren durch die seiner Schwester und des Nachbarsburschen zu ersetzen. „Cord und Jord, die liebten sich innig. Cord und Jord, sie liebten sich treu.“

„Hör bloß auf damit!“, lachte Vater. „Deine Schwestern haben vorhin schon etliche Strophen davon zum Besten gegeben und Mutter musste richtig böse werden, damit sie endlich aufhörten, ihre Schwester zu necken. Wenn Du jetzt singend hereinkommst, geht das Ganze wieder von vorne los.“

Es herrschte eine reichlich ausgelassene Stimmung im Heim der Großeltern. Mit hochrotem Kopf rannte Großmutter von Gast zu Gast, streng darauf achtend, dass alle Becher gefüllt und sämtliche Herzen heiter waren. Mit lauter Stimme dirigierte sie die Mägde mit ihren Met- und Bierkrügen hierhin und dorthin, keinen Widerspruch duldend, der etwa ein Nachschenken verhindern sollte. War sie der Meinung, dass es einem der Gäste an Frohmut mangelte, so gab sie sich alle Mühe, seine Stimmung augenblicklich aufzuheitern. Sie erzählte lustige Anekdoten, glänzte mit geistreichen Aperçus und scheute selbst so manche Zote nicht. „Großmutter war bestimmt einmal ein ganz schöner Feger“, dachte Khor bei sich und sah zu, dass er ihr besser aus dem Weg ging. Denn sie hätte seine nachdenkliche Stimmung sicherlich sogleich bemerkt und schließlich alles daran gesetzt, ihn davon gründlich zu kurieren.

Da saß er nun tatsächlich, Cord, der neue Liebling der Familie. Artig hatte er neben der ganz verzaubert dreinblickenden Jord Platz genommen und mit ihr ein Gespräch über formschöne, moderne Korbwaren begonnen. Eigentlich war er nur kurz vorbeigekommen, um Großmutter einen bestellten Korb auszuliefern. Doch die hatte ihn kurz hereingebeten und schon waren die Dinge ihren Lauf gegangen. Als Sohn des benachbarten Korbmachers wusste er natürlich genau wovon er sprach, als er über seine Arbeit berichtete, während Jord eigentlich so überhaupt nichts dazu beitragen konnte. Denn in ihrem hinterwäldlerischen Elternhaus, so dachte sie voller Scham, waren weder elegante Korbwaren noch zeitgemäßer Lebensstil jemals ein Thema gewesen. Voller Bewunderung lauschte sie Cords Ausführungen, der sich offenbar vorgenommen hatte, das Warensortiment seines Vaters tüchtig zu erweitern. Später am Abend, als alle Gäste schon längst gegangen waren, verwandelte sich Jords glühende Beseeltheit jedoch plötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund in einen herzerschütternden Jammer.

„Er wird mich dummes Schaf nie lieben können“, schluchzte sie. „Habt Ihr gehört, wie wortgewandt er von den Geschäften seines Vaters sprach? Er hat sich Körbe aus der großen Stadt kommen lassen und sie sogleich nachgeflochten. Die Leute haben sie ihm nur so aus der Hand gerissen. Und ich dummes Ding? Was kann ich ihm erzählen? Dass ich Tag ein, Tag aus die schwarzen Hemden meines Vaters wasche? Seine Eltern werden ihm nie gestatten, dass er mich zur Frau nimmt! Und auch er wird bestimmt auf eine bessere Partie aus sein. Habt ihr gesehen, wie schön und gepfegt er war? Oh, ich weiß es, er hasst mich. Ich bin viel zu dumm für ihn und viel zu hässlich bin ich auch. Habt ihr gesehen, wie er auf meine Brüste gestarrt hat? Sie sind ihm bestimmt viel zu klein und meine Haare findet er bestimmt auch nicht schön …“

Großmutter nahm ihre Enkelin liebevoll in den Arm. „Weine nur, mein Kind. Es ist so schön, sich zu verlieben. Und jede Freude braucht auch Trauer, um überhaupt bestehen zu können. So ist das Leben. Es hat alles seine zwei Seiten.“

„Jetzt machen wir aber mal halblang“, sagte Vater mit ruhiger Stimme und strich seiner Tochter sanft über den Kopf als er sich zu ihr setzte. „Was wird hier denn ständig von Liebe geredet! Du hast heute einen netten Jungen kennen gelernt. Mehr erst einmal nicht. Du weißt ja kaum etwas von ihm. Und natürlich hat er versucht, sich heute von seiner besten Seite zu zeigen. Genauso wie du auch. Glaubst du wirklich“, blickte Vater ihr tief in die Augen, „er hätte sich heute den ganzen Abend mit dir abgegeben, wenn er dich für hässlich und dumm hielte?“

Und schon schluchzte Jord neuerlich laut auf. Dieses Mal jedoch, weil die süße Hoffnung, doch vielleicht vor seinen Augen bestehen zu können, ihr Herz erfüllte. „Meinst du wirklich, Vater?“

„Ich denke schon“, erwiderte der. „Aber ich bin mir ganz sicher, dass du morgen, nach eurem Treffen, sehr viel mehr weißt. Vor allem aber auch über deine eigenen Gefühle.“

„Meine Gefühle“, rief Jord pathetisch aus. „Meine Gefühle werden mir noch Tod und Schande bringen!“

Njörd, von dem alle dachten, dass er längst schon schliefe, kicherte albern. So hatte er seine ansonsten so vorbildliche älteste Schwester noch nie erlebt.

„Na, na, na! Jetzt beruhige dich erst einmal.“ Vater nahm Jord in den Arm. „Es wird alles gut. Ich will dir nur eines für morgen mitgeben: Denke daran, dass Lügen der Anfang allen Übels sind. Denn eine Flunkerei zieht die nächste nach sich, bis sie schließlich allesamt irgendwann zu einem undurchdringlichen Netz geworden sind, das jegliche Liebe erstickt. Denke bitte daran, wenn du dich morgen mit Cord triffst, dass du jetzt, wo du einen Menschen ganz neu kennen lernen wirst, die wunderbare Möglichkeit hast, eine ehrliche und wahrhaftige Freundschaft zu beginnen, wenn du nur von Anfang an aufrichtig bist. Gib Cord die Chance, dich kennen lernen zu können, so wie Du bist. Niemand will für etwas geliebt werden, was er gar nicht ist. Und von meinen am Meiler schwarz gewordenen Hemden musst du ihm ja nicht gleich morgen berichten, außer er sollte danach fragen, was ich mir allerdings kaum vorstellen kann“. Vater zwinkerte seiner inzwischen sehr viel gefassteren Tochter zu. „Und sollten Cords Eltern, aus welchem Grund auch immer, gegen eure Freundschaft sein, so wird sich zeigen, wie viel du ihm wirklich bedeutest.“

Sich räuspernd war Großmutter aufgestanden. Dieses Gespräch war gerade dabei, weniger gute Erinnerungen sowie ein schlechtes Gewissen in ihr zu wecken und sie wollte sich die Freude an diesem schönen Abend keineswegs trüben lassen. Außerdem gab es noch genug zu tun.

Halbwegs getröstet, doch völlig erschöpft hatte sich Jord ihren Geschwistern angeschlossen und war schließlich zu Bett gegangen, während Vater und Mutter noch eine Weile schweigend beisammen saßen. Als er den Vorhang seiner Schlafnische zuzog konnte Khor sehen, wie Vater Mutters Hand nahm und sie liebevoll küsste. Irgendwie war es ihm jedes Mal peinlich, seine Eltern Zärtlichkeiten austauschen zu sehen, fühlte er sich dann doch immer wie ein Eindringling in eine Welt, die ihm verborgen war und in der er eigentlich so gar nichts zu suchen hatte.

Müde schloss Khor die Augen und dachte an seine neue Freundin. Ob Yasemin ihm wohl die Wahrheit gesagt hatte und auch weiterhin sagen würde? „Diese Leute taugen nichts!“, hatte Großvater vorhin noch geäußert, als das Gespräch auf die Gaukler kam. „Weil sie heimatlos sind, ist ihnen nichts wertvoll. Sie ziehen wie die Wiesente mal hierhin, mal dorthin und wenn sie alles abgegrast haben, sind sie wieder weg. Alles was von ihnen bleibt, ist ihr Dreck. Sie gehören nirgendwo hin und darum lügen und betrügen sie, weil sie sich niemandem und nichts verpflichtet fühlen.“ Doch Khor wusste es besser: Yasemin war keineswegs so. Sie würde mehr als nur Dreck hinterlassen.

Gleich früh am nächsten Morgen, die vielköpfige Großfamilie versuchte noch, ihre hygienischen Bedürfnisse in den Griff zu bekommen, stand plötzlich einer der Krieger im Eingang. Niemand hatte ihn kommen hören oder ihn sich nähern gesehen. Selbst die sonst so unverzagte Ertha hatte sich derart erschrocken, dass sie einen gellenden Schrei ausstieß und fast das Essgeschirr fallen ließ, das sie soeben mit Sand ausgerieben hatte.

Das Spektakel ließ die gesamte Familie augenblicklich zusammenströmen. Zufrieden grinste der Krieger: Denn so waren wenigstens alle beieinander, so dass seine Nachricht auch ohne langes Nachfragen den Richtigen erreichen würde.

„Morgen“, hob er an, „erwartet der Fürst, dass der Köhler Bror mit seinem Sohn Khor noch vor Mittag vor den Priestern auf dem Mittelberg erscheine.“ – „Also brecht zeitig genug auf, damit ihr nicht zu spät kommt“, unterbrach sich der Krieger fürsorglich. „Denn bis zur Fürstenburg, wo ihr gestern wart, ist’s gerade einmal nur die Hälfte des Wegs. Na, ihr werdet’s wohl wissen. Ihr kommt ja von hier.“ – „Es steht Bror frei“, fuhr er schließlich mit lauter Stimme fort, „seine Tochter Jord ebenfalls mitzubringen. – So, das war’s.“

„Einen Becher, einen Becher“, rief Großmutter aufgeregt, als ob sie einen Verdurstenden vor dem Tode retten müsste. „Und Met! Bringt Met!“

Eigentlich war dieser Tag, der vorletzte vor der Tag- und Nachtgleiche, für die Altgläubigen ein heiliger Feiertag, an dem weder getrunken, noch üppig gegessen oder gar gefeiert wurde. Doch selbst im Haus der ehrwürdigen Oda, waren offenbar neue Zeiten angebrochen, die sie diese Vorschriften vergessen ließen, um den Boten mit seiner willkommenen Nachricht so reichlich als möglich zu bewirten.

„Na, wenn der nur nicht morgen gleich wiederkommt“, meinte Mutter mürrisch als der Soldat schließlich gegangen war. „Vielleicht nur um uns mitzuteilen, dass morgen heute und heute gestern ist. Bei der üppigen Bewirtung, die er hier erfahren hat, lässt er sich gewiss etwas Passendes einfallen.“

Gekränkt winkte Großmutter eine der Mägde herbei und ließ abdecken. „Du bist knauserig geworden, mein Kind, seit du im Wald lebst. Eine derart schöne Nachricht verdient auch eine reiche Belohnung. Aber wer sollte es dir verdenken. Dort, in deinen Wald dürfte ja kaum je ein Bote kommen. Und schon gar keiner mit einer derart erfreulichen Nachricht.“

Gemeinsam brachte die gesamte Familie das Durcheinander des vergangenen Abends wieder in Ordnung. Es wurde gefegt und gewischt, aufgeräumt und sortiert, was seinen angestammten Platz oder seine richtige Ordnung verloren hatte. Großmutter hängte überall kleine aus Moos, Zweigen, Kastanien und Eicheln gefertigte Figuren auf - die Tysjas. Sie standen für die bösen Geister des Winters, die kratzende Kehlen, triefende Nasen, Hungersnot und Angst, ja, sogar Wölfe anlocken und Fieber verursachen konnten und den ganzen Winter über unsichtbar allgegenwärtig waren. Alles Schlechte und Widerwärtige kam von ihnen. Ihre Zeit würde am übernächsten Tag, wenn sich Tag und Nacht die Waage hielten, gekommen sein. Allesamt würde man sie dann dem Feuer übergeben, damit sie ‑ darin gereinigt ‑ wiederauferstehen konnten, um während des Sommers als schützende Geister über die Familie zu wachen. Großmutter würde ihren seltsamen, drei Ellen hohen Spitzhut aufsetzen, der ihr zumindest an diesem Tag Macht über die Welt der Geister verleihen würde. Ab Mitternacht würde Großmutter im immer gleichen Takt die Trommel schlagen und ihre Seele von den gleichmäßigen Tönen davontragen lassen in die Welt des Übersinnlichen. Dort würde sie all die Geister zusammenrufen, um mit ihnen und gefolgt von allen Bewohnern des Dorfes, von denen jeder einen oder mehrere der zwei Tage vorher in den Häusern aufgehängten Tysjas mit sich führte, auf den Mittelberg zu ziehen. Die aufgehende Sonne des ersten Tages der Warmzeit würde die Dämonen erbarmungslos verbrennen, was man augenfällig machte, indem man die mitgebrachten Tysjas dem Feuer überantwortete. Von allem Übel gereinigt würden die Geister nun ziel- und heimatlos umherirren. Nur Großmutters hoch in den Himmel ragender Spitzhut wäre ihnen eine Landmarke, bei der sie sich schließlich einfinden könnten, um nach eingehender Prüfung durch die Schamanin in gute und unbelehrbar böse Geister geschieden zu werden. Jenen unzufriedenen Geistern würde sie die Rückkehr verweigern und sie in den Wald, die Luft oder in den Fluss verbannen, während sie die guten einlud, mit ihnen und bei ihnen zu leben. Früher schien Khor diese Zeremonie immer ewig zu dauern, während alle Hoffnung der Dorfbewohner auf Großmutter lastete, damit sie auch die richtige Entscheidung träfe. Denn ein ins falsche Medium oder an den falschen Ort verbannter Geist konnte üblen Schaden anrichten. Zudem musste sie all ihre Achtsamkeit aufbieten, damit keiner der guten Geister verärgert würde, andererseits aber auch keiner der listigen bösen sich einschleichen konnte. Großmutters Weisheit würde über das Wohl und Wehe ihres Volkes in den nächsten sechs Monden entscheiden.

Schon oft hatte Khor dieses Schauspiel miterlebt, das ihn jedes Mal zutiefst beeindruckte, obgleich er, wie sein Vater, ja eigentlich nicht an Geister glaubte. Einst hatten die Priester, unterstützt von einem der früheren Fürsten, versucht, diesen Aberglauben mit aller Kraft zu unterbinden. Großmutter hatte oft davon erzählt, wie sie als junge Frau in aller Heimlichkeit sogar bis zum Zerbrochenen Berg laufen musste, um ungehindert ihre Rituale vollziehen zu können. Seit sie aber dem jetzigen Fürsten, der damals freilich noch ein Kind gewesen war, das Leben gerettet hatte, zeigte man sich duldsamer gegenüber der alten Magie. Man mochte die Zaubertränke, die Großmutter zuzubereiten wusste für frevlerisches Hexenwerk halten oder aber einfach nur für wirkmächtige Medizin. Deren Nützlichkeit war jedoch über jeden Zweifel erhaben. Damals, als der junge Fürst so schwer daniederlag, hatte man schon alle Hoffnung aufgegeben, das kranke Kind noch retten zu können. Hilflos standen die Priester um sein Lager und bereiteten das Kind auf seine lange Reise ins Jenseits vor. Die Mutter des Sterbenden jedoch, eine eigensinnige Frau aus der fernen Bernsteinstadt, mochte sich nicht in das angeblich Unabwendbare fügen und wollte nichts unversucht lassen. Gegen den Willen der Priester und sogar gegen den Entscheid ihres Mannes, des Fürsten, ließ sie die weise Oda holen, damit sie für ihr Kind ein Elixier bereitete. Und wie durch ein Wunder war der junge Fürst am nächsten Morgen fieberfrei, so dass er sich schnell wieder erholen konnte. So war es einerseits Dankbarkeit, andererseits aber sicher auch eine gewisse Unsicherheit, die den Vater des Fürsten dazu veranlasste, zu gestatten, dass Oda ihre Magie nicht mehr im Verborgenen ausüben musste. Alle konnten nun darauf zurückgreifen und schon bald waren Großmutters Heilkünste weit gerühmt. Es stand von nun an jedem frei, seinem erwählten Glauben und dessen Riten anzuhängen. Sei es, dass dieser von den Vorfahren überliefert oder durch Überzeugung angenommen worden war. So feindselig sich Priester und Altgläubige auch in vielen Dingen gegenüberstanden, so hatte man doch zugeben müssen, dass auch die jeweils andere Seite ihre guten Eigenschaften hatte. Schließlich lernte man, einander zu dulden, ja, zu respektieren. Und wie gut man dies inzwischen gelernt hatte, so dachte Khor bei sich, konnte man ja am Beispiel seiner Eltern sehen. Denn zu Hause hatte er nie ein abfälliges Wort über den einen oder den anderen Glauben gehört. Abgesehen vielleicht von Vaters Frotzeleien über Daumen lutschende Geister.

Jord war derart aufgeregt, als sie neben ihrer Schwester Sunna auf ihren Verehrer wartete, dass Großmutter ihr noch schnell eine ihrer geheimnisvollen Medizinkugeln in den Mund schob, die sie auch brav schluckte. Da man sich zu einem Spaziergang über den Markt verabredet hatte, zu dem sie selbstverständlich von ihrer Schwester - allerdings in gebührendem Abstand ‑ begleitet werden würde, hatte Jord allergrößte Sorgfalt an den Tag gelegt, um nicht nur vor den Augen Cords, sondern auch vor denen ihrer sicherlich zahllosen Konkurrentinnen im Dorf bestehen zu können. Ertha hatte vor dem Langhaus gewartet, um das Eintreffen des Galans rechtzeitig ankündigen zu können und stürzte nun mit weit aufgerissen Augen herein: „Er kommt!“

Was war es für eine Freude, die beiden schönen jungen Menschen zu ihrem Spaziergang aufbrechen zu sehen! Cord hatte als Liebesgabe ein selbst geflochtenes Körbchen mitgebracht, das, raffiniert in sich verdreht, mittels einer Schlaufe am Unterarm getragen werden konnte. Trotz der sehnsüchtigen Blicke all ihrer Schwestern, die das aparte Accessoire so gerne näher in Augenschein genommen hätten, legte es Jord sogleich an, obschon sie doch überhaupt nichts besaß, was sie in ihm hätte befördern können. Schnell hatte Mutter die peinliche Situation gerettet und ihr noch flugs eines der neuen, gestern erst eingetauschten leinenen Tücher hineingelegt und erklärend hinzugefügt: „Falls es regnen sollte, Kind.“

Eine unglaublich lange, weithin sichtbare Feder irgendeines fremdländischen Vogels wippte hingegen auf Cords Kappe und erregte mindestens ebensolches Aufsehen wie das verdrehte Körbchen. Er musste sie wohl für ein Vermögen eingetauscht haben, dachte Khor ohne einen Hauch von Neid. So zogen die beiden Glückskinder von dannen, in angemessenem Abstand gefolgt von Sunna, die krampfhaft versuchte so zu tun, als sei sie gar nicht vorhanden.

Khor hatte das aufgeregte Durcheinander, bei dem jeder jedem erzählte, was alles er soeben gesehen und beobachtet hatte, klug genutzt, um sich selbst unbemerkt aus dem Staub zu machen. Hatte er doch ebenfalls eine Verabredung, der er freudig entgegenfieberte. Und wieder hatte er ein schlechtes Gewissen, als er ins Dorf lief. Heute, weil er sich so klammheimlich davongestohlen hatte. Aber sehr viel größer als alle Bedenken war die Angst, dass Yasemin es sich zwischenzeitlich vielleicht doch überlegt haben könnte und keinen Wert mehr auf eine Begegnung mit ihm legte. Jetzt, wo sie vor dem Fürsten aufgetreten war. Es waren diese Befürchtungen, die ihn geradezu ins Dorf fliegen ließen.

Bereits von Ferne sah er das Mädchen auf seinem Seil. Waren gestern schon zahllose Dorfbewohner und Besucher unterwegs gewesen, so war heute die Ebene vom Dorfausgang bis hinunter zum Fluss geradezu schwarz vor Menschen. Noch mehr Bewohner der umliegenden Wälder und Auen hatten sich eingefunden, ebenso wie zahllose Händler und Handwerker, die sich ein gutes Geschäft erhofften. Ungeniert nutzten manche von ihnen die Gelegenheit, sich ein etwas gepflegteres Erscheinungsbild zu geben und wuschen sich trotz der nicht gerade frühlingshaften Kälte im Fluss. Einige badeten sogar in ihm! Man guckte darüber hinweg, wie über vieles andere, was es an Ungehörigem in diesen Tagen zu sehen gab. Noch von weitem konnte Khor über all den durcheinander strudelnden Köpfen der Menschenansammlung die Feder auf Cords Kappe wippen sehen, so dass er ständig um den Aufenthaltsort seiner Schwester und ihres neuen Freundes Bescheid wusste.

Yasemin hatte ihn in der Zuschauermenge zunächst gar nicht ausmachen können, zu sehr war sie mit ihrer Vorführung beschäftigt. Sie musste ihrem Meister Fackeln anreichen, auf der Flöte spielen, die Schellentrommel schlagen, Gaben einsammeln, die Gusle streichen und immer wieder hoch oben auf dem Seil tanzen. Die Tatsache, dass sie mit ihrem Meister am Abend vorher vor dem Fürsten aufgetreten war, ließ die Zuschauer heute ein wenig mehr Achtung zeigen. Vielleicht war dies aber auch einfach nur der schieren Menge der Zuschauer geschuldet, von denen ein jeder den Eindruck zu haben schien, dass er an einem großartigen und begehrten Schauspiel teilhatte. Yasemin und ihr Meister taten jedenfalls alles, um ihr Publikum in diesem Eindruck zu bestärken. Der hässliche Hakennasige sprengte Ketten und ließ die Peitschen über den Zuschauern knallen, so dass sie angstvoll ihre Köpfe einzogen und sich die Ohren zuhielten. „Kraft und Schönheit!“ rief er immer wieder mit seinem eigentümlichen Akzent. „Schönheit und Kraft!“ Und in der Tat: Yasemin war schöner denn je.

Unentwegt starrte Khor sie an. Irgendwann einmal vergaß er sogar, sich weiterhin nach Cords Feder umzusehen, so dass er sie schließlich in der Menge nicht mehr ausmachen konnte. Als Yasemin während einer kurzen Pause die Haare richtete und sie hinter ihre Ohren strich, erblickte sie ihn. Khor konnte ganz deutlich erkennen, wie sich ihr Gesicht plötzlich aufhellte. Ja, das Mädchen strahlte auf einmal und schenkte ihm ihr wärmstes Lächeln. Ja, doch: Yasemin schien sich tatsächlich aufrichtig zu freuen, ihn zu sehen und hatte ihn über dem Auftritt in der Fürstenburg keineswegs vergessen.

Obschon die Vorführung noch eine ganze Weile dauerte, wurde Khor das Warten überhaupt nicht lang. Im Gegenteil: Er genoss die Möglichkeit, das hübsche Mädchen ungeniert angaffen zu können, ohne dafür, von wem auch immer, gerügt zu werden. Galt es doch als überaus unschicklich, andere Personen anzustarren. Und das erst recht, wenn es sich dabei um einen Menschen des anderen Geschlechts handelte. Also genoss er jeden Augenblick bis zum Ende ihrer Darbietung und starrte nach Herzens Lust.

„Hallo Yasemin“, strahlte er, als sie endlich zu ihm kam, nachdem die Gaben der Zuschauer eingesammelt waren und die Menschenmenge sich langsam verlaufen hatte.

„Hallo Khorlein“, kam die Antwort, und er spürte wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.

Angeregt schwatzend waren sie zum Fluss hinunter spaziert. Sie erzählte ihm von dem grandiosen Abend, den sie gestern auf der Fürstenburg gehabt hatte. Welch ein Triumph! Der Fürst hatte alles von ihr wissen wollen, was an anderen Höfen und Burgen sie gesehen und gehört habe. Er fragte sogar nach den Ornamenten in den Wandbehängen und den Farben der Kleidung, die dort getragen wurde. Schließlich habe er sich nicht lumpen lassen und ihr eine wunderschöne Bernsteinperle geschenkt. „Da, schau!“ Und schon hatte sie das Kleinod, das einsam an einem bescheidenen Lederbändel hing, aus ihrem Busen hervorgezogen. Ihr ansonsten so strenger Meister hatte es ihr in einem Anflug von Wohllaune gelassen. Und nun würde er sie ihr auch keinesfalls je wieder nehmen können. Lächelnd versenkte sie die fürstliche Gabe mit einem koketten, fast auffordernden Blick an dem von ihr zugewiesenen Platz.

Mit knappen und wenig begeisterten Worten berichtete sie Khor auf seine Nachfragen hin von der großen Stadt und all den anderen großen Städten, in denen sie schon getanzt hatte. Offenbar hatte sie mit der dortigen, wie sie meinte, verwöhnten Bevölkerung keine allzu guten Erfahrungen gemacht. Und Khors Interesse, das sich in Fragen nach der Art der Häuser, der Höhe der Palisaden oder auch der Anzahl der Einwohner zeigte, schien sie überhaupt nicht nachvollziehen zu können. „Viele, viele“ oder auch „große, große“ wurde zur ständig wiederholten, von Mal zu Mal gelangweilter klingenden Antwort. Fast war Khor ein wenig enttäuscht über ihre unergiebigen, spröden Auskünfte. Doch als sie ihn mit einem Zipfel ihres Umhangs neckte vergaß er über ihrer heiteren und zugewandten Art schließlich seine Wissbegierde und hatte nur noch Augen für Yasemins Lachen. Es war wie die wärmenden Strahlen der Sonne. Und er tat alles, um es immer wieder genießen zu können.

Hand in Hand ‑ es hatte sich einfach so ergeben, als sich beim nebeneinander Gehen ihre Hände wiederholt berührten – gingen sie zurück. Es begann schon zu dämmern, als sie bei Yasemins Jurte ankamen. Plötzlich fühlte Khor einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf, der ihm fast die Sinne raubte.

„Fass mein Mädchen nicht an!“, hörte er den Hässlichen brüllen. „Nimm bloß deine Hände da weg, Fiu do puta!“

Und bevor er sich versah, hatte der Hässliche Yasemin unter heftigen Schlägen und Knüffen in die gemeinsame Jurte bugsiert. Das laute Geschrei, das noch geraume Zeit aus der Hütte drang, sagte ihm, dass Yasemin sich durchaus zu wehren wusste. Forschend sah sich Khor um. Doch obschon noch immer zahlreiche Menschen unterwegs waren, schien niemand sich recht für eines dieser allenthalben zu gewärtigenden Spektakel zu interessieren. Kaum ein paar Schritte weiter keifte eine Frau mit ihrem Mann, der sich seines zuviel genossenen Mets direkt vor dem Zelt entledigte und schräg gegenüber hatte man vergessen, ein Tuch vor den Eingang zu hängen, so dass jeder sehen konnte, wie viel Freude die beiden Liebenden aneinander hatten.

„Pst, Khorlein!“ Wie insgeheim gehofft, zeigte sich Yasemin hinter dem Vorhang und winkte ihn heran. Sie strahlte freundlich wie immer, so, als ob überhaupt nichts Außergewöhnliches vorgefallen wäre. „Morgen wieder hier?“ – „Selbe Zeit?“

„Ja“, lächelte Khor. „Selbe Zeit“ und rieb sich seinen geschundenen Hinterkopf, was ihm Yasemin mit ihrem schönsten Lachen belohnte. Schweigend standen sie sich gegenüber und Khor genoss einfach nur das Lachen ihrer Augen. Schließlich klopfte er ihr wie einem Kameraden auf die Schulter, im selben Augenblick begreifend, dass dies wohl kaum die richtige Abschiedsgeste war. Wortlos blickte Yasemin ihm ins Gesicht, nahm langsam seine verlegen zurückgezogene Rechte und führte sie an ihren Mund. Ohne den Blick abzuwenden drückte sie ihre Lippen auf seinen Handrücken. „Bis morgen“, hauchte sie und verschwand endgültig im Inneren ihrer Behausung.

Augenblicklich hörte Khor, wie das Geschrei wieder von neuem begann. Ein Wort gab das nächste und Yasemin schien keineswegs bereit, klein beizugeben. „Skaase, Gaidaro“, hörte er ihre Stimme rufen und schließlich „Zitto, Bastardo!“ Offenbar war sie trotz allem gewohnt, das letzte Wort zu behalten.

Es war schon dunkel als Khor zu Hause ankam, denn zunächst war er wie ein Fremder durch die Welt geirrt. Es dauerte eine Weile bis er sich schließlich ausgeglichen genug gefühlt hatte, um seinen Leuten unter die Augen zu treten. Alles schien in heller Aufregung zu sein, als er eintraf. Und niemand hatte sein Fehlen bislang überhaupt bemerkt. Erwachsene wie Kinder lachten und schwatzten hektisch durcheinander. Schnell verstand er, dass Jords Stelldichein wohl überaus erfreulich gewesen sein musste und dass Cords Eltern für morgen am frühen Vormittag ihr Kommen angekündigt hatten.

„Wird Jord wirklich heiraten?“, fragte er Vater bei einer sich bietenden Gelegenheit.

„Es sieht ganz danach aus“, kam die Antwort. „Obwohl ich sagen muss, dass mir das Ganze ein wenig zu schnell geht. Die beiden kennen sich doch gar nicht richtig. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass sie wirklich wissen, was sie tun.“

Doch Jords Gesicht ließ nur allzu deutlich erkennen, dass es keinerlei Zweifel daran geben konnte, dass ihr gerade die glücklichste Zeit ihres Lebens widerfuhr und dass sie alles daran setzen würde, dieses Glück so lange als möglich zu halten. Sie fiel ihrem großen Bruder überschwänglich um den Hals und drückte ihn mit solcher Innigkeit, dass Khor sofort verstand, dass der Kerl mit der komischen Feder an der Kappe ihr Herz schon längst erobert hatte.

Wegen des Feiertags der Altgläubigen war dann das Abendessen überaus schlicht ausgefallen. Brot gab es und Einbrennsuppe allerdings ohne Blut und sauren Saft, was vor allem Njörd die Laune tüchtig verdarb. Seine ständige Quengelei sowie sein widerborstiger Trotz trugen nicht gerade dazu bei, die allgemeine Stimmung zu heben. Als Großvater dann noch ein wenig unwirsch eine strengere Erziehung bei Vater einforderte, entschuldigte der sich damit, dass er seinen kleinen, übermüdeten und darum quengeligen Sohn ins Bett bringen müsse und er bei dieser Gelegenheit sich auch gleich schlafen lege. Denn morgen werde man Menschen begegnen, die vielleicht bald zur Familie gehören. Und da will man dann doch schon einen ausgeschlafenen Eindruck hinterlassen. Die belustigte Zustimmung war nahezu einstimmig, da es morgen tatsächlich genug zu tun gab. Und so gingen alle zeitig zu Bett.

Wie üblich lag Khor noch ein wenig wach und dachte über den vergangenen Tag nach. Waren dies doch die Augenblicke, die ihm ganz allein gehörten und in denen er versuchen konnte, seine Gedanken zumindest ein wenig zu ordnen. Plötzlich schoss es ihm brandheiß durch den Kopf: Morgen würde er den Priestern vorgestellt werden! Er hatte diesen Umstand doch tatsächlich über all den anderen Dingen des Tages vollkommen vergessen. Was für ein schlechter Sohn er doch sei, meinte er. Anstatt an die Zukunft zu denken und sich darauf vorzubereiten, trieb er sich mit Yasemin auf dem Markt herum. Die Priester werden morgen sicher sofort erkennen, was für ein Tunichtgut er ist und nie und nimmer daran denken, ihn bei sich aufzunehmen. Vor zwei Tagen noch war für ihn die Tatsache, dass er den Priestern vorgestellt werden soll, das Wichtigste auf der Welt gewesen. Und schon heute hatte er all dies über seiner Begegnung mit Yasemin vergessen. Was hatte er nicht alles unternehmen wollen, um Näheres über die bevorstehende Befragung zu erfahren. Doch nun fragte er sich halbwegs verzweifelt, wie es dazu kommen konnte, dass er den ganzen Nachmittag überhaupt nicht mehr daran gedacht hatte. Er erschrak fast über die Ungeheuerlichkeit des Gedankens, dass es vielleicht ja auch sein Schicksal sein könnte, fürderhin als Schausteller sein Leben fristen zu sollen. Vielleicht lastete gar ein böser Fluch auf ihm? Vielleicht aber auch ein Segen, der sich ihm bislang noch nicht offenbarte. Schon griff er nach einem der Tysjas, die über seiner Schlafstatt hingen: „Zeig mir meinen Weg, guter Geist und nimm das Unglück von mir!“

KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit

Подняться наверх