Читать книгу KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit - Wieland Barthelmess - Страница 7

Yasemin

Оглавление

Kaum hatten alle Familienglieder am nächsten Morgen frühstücken und sich herrichten können, waren auch schon Cords Eltern mitsamt ihren Kindern vor dem Haus der Großeltern erschienen. Glücklicherweise hatte Sunna als erste Tätigkeit des Tages die Tür mit Tannenzweigen dekoriert - anderes Grün gab es ja noch nicht -, so dass der Eingang in einen riesigen Kranz verwandelt worden war, der die Ankommenden mit seinem Grün freundlich einlud. Sunna hatte beim Reisigschneiden doch tatsächlich die ersten Schneeglöckchen entdeckt ‑ welch glückliches Zeichen! – und sie in ihre Dekoration einbezogen. Aus all den dunkelgrünen Tannenzweigen lugten nun also weiße Glöckchen hervor und wippten mit dem Wind. Großmutter ließ es sich nicht nehmen, ihr Wippen zu Gehör zu bringen. So rasselte sie in Ermangelung feiner Silberglöckchen mit ihren Schamanen-Schellen. Sie war derart beigeistert von dieser Idee, dass sie fast zu übertreiben drohte.

„Morgen auf dem Mittelberg kannst du rasseln soviel du magst, Oma“, zischte ihr Khor ins Ohr, was sie mit einem beleidigten Blick erwiderte, der sich aber ganz schnell in ein breites Grinsen verwandelte, als sie ihrem Enkel in die standhaften Augen sah. Ungesehen von den anderen gab sie ihm aber dennoch einen tüchtigen Knuff in die Kniekehle, so dass er - gerade im Augenblick als Cord an ihm vorbeiging - einen so unfreiwilligen wie eigentümlichen Knicks vollführte.

Das war sie also, die Familie, in die sie ihre Jord geben sollten: Ein dicklicher Korbflechtermeister mit traurigen wasserblauen Augen und seine mindestens ebenso korpulente, auffallend herausgeputzte Ehefrau. Dazu eine Schar Kinder, über deren Anzahl sich Khor nie im Klaren war. Einmal dachte er, sechs gezählt zu haben und im nächsten Augenblick schienen es acht zu sein. Als Ältester - und schließlich auch als Grund des Besuchs - stand natürlich Cord im Mittelpunkt. Er konnte seine Augen kaum von Jord lassen. Außerdem, so empfand Khor es jedenfalls, schien er es für richtig zu halten, seine Verliebtheit mit unvermittelt einsetzenden Seufzern und verklärten Blicken für alle sichtbar zur Schau zu stellen. Irgendwas gefiel ihm nicht an dieser Sippe, so nett und harmlos sie auch sicherlich sein mochten.

Zunächst mussten jedoch erst noch die traditionellen Begrüßungsrituale erledigt werden. Nachdem sich alle vor dem Haus des Gastgebers versammelt und man sich gegenseitig seiner freundlichen Absichten versichert hatte, übergaben die Männer ihre Prunkdolche, an denen ihr Gegenüber augenblicklich ihren gesellschaftlichen Stand ablesen konnte. Sie übergaben sie aber vor allem, um ihr Vertrauen auszudrücken, sich nunmehr schutzlos und allein dessen guten Willen ausgeliefert, in das Haus ihres Gastgebers zu begeben. Natürlich wurde – wie es Sitte war – diese vertrauensvolle Geste abgelehnt, indem man die Hand, die den Prunkdolch übergab, mit beiden Händen ergriff und sanft zurückschob. Sollte der Gast doch seine Waffen behalten und mit ihnen auch in das Haus kommen. Brachte er damit doch auch Schönheit hinein. Jetzt war er ein willkommener Freund, dem man vertrauen konnte.

Als hätte man ihre Seelen ausgetauscht, plapperten und scherzten, kicherten und redeten plötzlich alle durcheinander. Eben noch war man sich würdevoll und erhaben wie Fremde gegenübergestanden und keinen Atemzug später zeigten alle, wie gut man einander doch kannte und schätzte – oder aber eben auch nicht.

Khor hatte sehr schnell feststellen können, was es war, das sein Unbehagen verursachte: Im Gegensatz zum Haushalt der Großeltern, der geprägt war von priesterlichem Geist und der Liebe zu den Künsten, schienen diese Leute aus einer anderen Welt zu kommen. Und das, obwohl sie gleich nebenan wohnten. Es waren einfache Handwerksleute, die durch kluges Wirtschaften und geschäftlichen Erfolg zu einigem Wohlstand gekommen waren. Khor hatte es im Vorbeigehen mit eigenen Augen gesehen, wie begehrt ihre Korbwaren waren. Ständig standen Marktbesucher vor ihrer Hütte, um Körbe einzutauschen. Insbesondere jene Körbchen waren überaus beliebt, von denen auch Jord gestern eines geschenkt bekommen hatte. Offenbar jedoch sah die Korbmacherfamilie in ihrem Wohlstand Grund genug, wie Landbesitzer oder gar Priester aufzutreten. Doch all die schönen Dinge, mit denen sie sich schmückten und behängten, dienten nur dazu, ihren Wohlstand vorzuführen. Deren Schönheit hatten sie allenfalls einmal erfreut zur Kenntnis genommen, sie aber nie wirklich genossen. Und sie war auch nie der wahre Grund gewesen, warum sie diese Dinge schließlich besitzen wollten. „Ihnen fehlen die Augen“, sagte Großmutter immer, wenn auf solche Menschen die Rede kam. Nein, sie konnten das wahrhaft Schöne nicht erkennen, weil ihnen tatsächlich die Augen dafür fehlten. Schönheit wurde von ihnen nicht genossen, sondern nur dazu benutzt, andere zu beeindrucken oder in ihnen gar Neid zu wecken. Ihre Augen hatten sie nur, um nachzuzählen, was sie anhäufen konnten. Als gälte es, ein über hundertjähriges Leben mit Wohlstand abzusichern. Als ob der Tod damit zu überzeugen wäre, sich mit seinem Kommen Zeit zu lassen. Nein, alle Welt sollte sehen, dass sie für die Zukunft vorgesorgt hatten und bereit waren für ein langes, fettes Leben.

Khors Einschätzung bestätigte sich schnell, als der Korbmachermeister anhob, seine Brautwerbung auszusprechen. In seinen Augen schien die Heirat seines Sohnes offenbar nichts anderes zu sein als ein weiterer Tauschhandel, von dem man sich eine zusätzliche Vermehrung des Wohlstands, gewiss aber auch des Ansehens erhoffte. Die geforderte Mitgift der Braut, war derart überzogen, dass Mutter ihre Hand auf den Unterarm ihres Mannes legen musste, um ihn zu beruhigen. Dreist erklärte der Korbmacher, dass eine Eheschließung mit der Tochter eines schlichten Köhlers, schließlich irgendeine Amortisation erfahren müsse. Dies sei selbstverständlich keineswegs persönlich gemeint, da man Bror seit jeher als Freund und Nachbarn schätze, dürfe aber dennoch bei solchen Gelegenheiten nicht außer Acht gelassen werden.

Khor spürte wie sein Vater innerlich kochte. Doch riss er sich zusammen und antwortete ruhig und gefasst, ja, so freundlich wie verbindlich, dass er zwar nur ein Köhler sei – und dies, weil auch sein Vater sowie dessen Vater und davor schon alle ihre Vorväter Köhler gewesen waren, genauso wie dies ja auch in der Familie des Korbmachers der Fall sein dürfte – er aber trotz seiner dunklen Tätigkeit bestens beleumundet sei. Außerdem sei Jord nicht nur seine Tochter, sondern auch die von Fricka, der Tochter von Frowin und Oda, in deren prächtigem Haus sie sich nun befänden. Khor meinte einen Anflug von Lächeln im Gesicht des Korbmachers gesehen zu haben, als die Namen der Großeltern fielen. Überdies müsse er ihm sagen, fuhr Vater fort, dass er nichts davon halte, wenn Eltern ihre Kinder verheirateten. Möglicherweise sogar gegen deren Willen, was hier aber wohl kaum der Fall sein dürfte. Jords hochroter Kopf und ihr schüchterner, zu Boden gerichteter Blick bestätigten seine Worte ebenso wie Cords strahlendes Lächeln, das Khor zum ersten Mal tatsächlich aufrichtig zu sein schien. Das sollten die Kinder schon ganz allein entscheiden, fuhr Vater fort. Dazu aber dürften sie nur in der Lage sein, wenn sie sich bereits eine gewisse Zeit lang kannten. Aus diesem Grunde würde er einer Verheiratung seiner ältesten Tochter sowieso nur zustimmen können, wenn sie Cord besser kennen gelernt hätte. Darum habe er vor, Jord bei den Großeltern zu lassen, damit sie sich heute in einem Jahr entscheiden könne - falls Cord dann seinerseits überhaupt noch gewillt sei, diese Verbindung einzugehen.

Der verdutzte Bräutigam versuchte seiner Entschlossenheit pantomimisch Ausdruck zu verleihen, während der Korbmacher auf einmal begriff, dass sein gutes und vor allem auch sicheres Geschäft heute bestimmt nicht mehr unter Dach und Fach kommen würde. Sein offen stehender Mund und der dümmliche Blick verrieten diese verdutzte Erkenntnis nur zu deutlich.

Selbstverständlich, so endete Vater, werde er dann seiner Tochter auch all das mitgeben, was für die Gründung eines neuen Haushalts nötig sei.

Langes Schweigen war die Folge, das nach einem hilflosen Blick des Korbmachers zu seiner Frau mit einem gedämpften „Nun denn“ beendet wurde. „So sei es drum, dass dann in einem Jahr die Kinder entscheiden.“

Als ob man Tysjas zum Leben erweckt hätte, lachten, schnatterten und liefen plötzlich alle wieder durcheinander. Selbst Jord, die zunächst nicht recht zu wissen schien, ob sie lachen oder weinen sollte, wurde vom Trubel der allgemeinen Freude mitgerissen. „Ein Jahr noch, ein ganzes, langes Jahr noch“, weinte sie, lachte aber zugleich dabei, was Khor so langsam an ihrem Verstand zweifeln ließ. Sie tröstete sich aber dann schnell mit dem Gedanken, dass sie diese zwölf Monde immerhin in Cords Nähe verbringen durfte. Der arme Cord hingegen schaute drein, als ob man ihm einen begehrten Leckerbissen aus der Hand geschlagen hätte.

„Tja, da wird dein kleiner Lindwurm wohl noch ein Weilchen warten müssen“, lachte der Korbmacher Beifall heischend und täuschte einen flapsigen Schlag in die Scham seines noch immer sprachlosen Sohnes vor. Sich abwendend verdrehte Großmutter die Augen und rasselte mit ihren Schamanen-Schellen.

Nachdem man alles weitere ausführlich besprochen hatte, war die Korbmacherfamilie schließlich wieder aufgebrochen, so dass Khor und sein Vater sich auf ihren Weg zum Mittelberg machen konnten. Es war spät geworden und sie mussten sich sputen, um den Gipfel, wie geplant, noch vor Mittag zu erreichen. Mutter versuchte, ihren Sohn davon zu überzeugen, dass er sein Wams tragen solle. Doch der drückte es ihr unvermittelt wieder in die Hand.

„Seit heute blühen die Schneeglöckchen.“

Hätten sie gewusst, dass sie ihren Sohn, Enkel und Bruder so bald nicht wieder sehen würden, wäre der Abschied sicherlich ausführlicher ausgefallen. So aber beschränkte man sich auf eine flüchtige Umarmung, einen schnellen Kuss oder aber sogar nur auf ein freundliches Winken, da man erwartete, Khor spätestens am Abend wieder bei sich zu haben. Außerdem gab es ja noch so viel zu bereden über Jord und Cord und das soeben Erlebte. Doch auch Khor konnte es kaum erwarten, sich endlich an den Aufstieg machen zu können und drängte zum Aufbruch. Fast war es ihm peinlich, die gesamte Familie vor dem Haus versammelt zu sehen, um ihm herzliche Glückwünsche mit auf den Weg zu geben. Ein letztes Winken und schon hatten Vater und Sohn das Dorf durchquert und waren im Gewimmel der Menschen verschwunden, die in noch größerer Zahl als an den Tagen zuvor am Fuß des Mittelbergs zusammengeströmt waren.

Bald hatten sie die Fürstenburg erreicht, die immerhin die Hälfte des Weges markierte, wohl wissend, dass nun erst noch der beschwerliche Teil des Aufstiegs bevorstand. Steil führte der Pfad nach oben und mehr als einmal waren Vater und Sohn stehen geblieben, um sich kurz zu verschnaufen. Kaum ein Baum oder Gebüsch verstellte die grandiose Sicht auf das weite Land, das nur noch vom Zerbrochenen Berg in der Ferne überragt wurde. Irgendwann, Khor hatte sich gerade ein Stück getrockneten Fleischs in den Mund geschoben, sagte der Vater: „Du weißt, dass wir nicht allein sind.“ Khor verschluckte sich fast und sah sich aufgeregt um.

„Nein, nein. Vor uns“, meinte der Vater und deutete mit einem Kopfnicken nach vorne. Und in der Tat sah Khor gerade noch, wie zwei Gestalten an einer Biegung des Weges hinter der Bergkuppe verschwanden. Schnell hatten auch sie die Kehre erreicht und erkannten, dass es sich bei den in zottelige Felle gekleideten Menschen um den Roten und seinen verkrüppelten Sohn handelte. Zunächst hatte es den Anschein, als ob sie versuchen wollten, ihren Verfolgern davonzulaufen, doch wegen der Behinderung des Sohnes hätte dies sowieso keinen rechten Sinn gemacht. Also blieben sie stehen und warteten auf Khor und seinen Vater, die sie schließlich erleichtert erkannten.

„Heiho, Bror!“, winkte der Fallensteller. „Ihr also auch auf dem Weg zu den Priestern?!“

„Ja“, schnaufte Vater nach Atem ringend, „aber wir sind spät dran“.

„Na, dann lasst Euch nicht aufhalten. Wir werden erst nach Mittag dort droben erwartet.“

Wortlos ging Khor am Roten und seinem Sohn vorbei. „Viel Glück!“, sagte der leise als sich Khor auf dem schmalen Pfad an ihm vorbeizwängte und nickte ihm zu. „Dir auch“, kam Khors verdutzte Antwort. Und da er wider Erwarten in ein freundliches Gesicht blickte, lächelte Khor zurück.

„Ob die Priester mit dem lahmen Kerl wohl was anfangen können“, wunderte sich Khor, als sie außer Hörweite waren.

„Warum nicht“, kam Vaters Antwort. „Er muss ja nicht unbedingt Priesterkrieger werden. Zum Lernen scheint mir sein Kopf jedenfalls groß genug zu sein.“

Seit geraumer Zeit schon sahen sie die Spitzen der Palisaden, die den Gipfel mitsamt seinem Heiligtum umgaben. Doch erst als sie vor dem Graben standen, der die gesamte Anlage umgab, konnten sie sehen, dass dies eine mindestens ebenso starke Burg war, wie die des Fürsten. Eine Burg des Glaubens, schoss es Khor durch den Kopf, und eine überaus wehrhafte dazu noch. Wie oft war er schon hier gewesen. An jedem Lenzfest, jedenfalls soweit er sich erinnern konnte, war er mit seiner Familie hierher gekommen, um die neue Frühlingssonne zu begrüßen. Und fast auch an jedem Erntefest. Seltener auch zum Mittsommer, denn es gab dann immer viel zu tun. Aber nur ein einziges Mal war er zum Mittwinter hier, der für die strenggläubigen Verehrer der Sonne eigentlich der höchste Feiertag war. Er war noch sehr klein gewesen, damals, als sein Vater ihn mitgenommen hatte. Er konnte sich sehr gut daran erinnern, wie eisig kalt es an jenem Tag gewesen war und dass er in den Wochen danach von einem Fieberdämon heimgesucht wurde, den selbst Großmutter nur mit Mühe hatte austreiben können. Sowohl Mutter als auch Großmutter hatten Vater damals die Schuld gegeben, dass Khor, vom Fieber geplagt, daniederlag.

Khor und sein Vater traten durch die Tornische im Palisadengürtel und den kaum zwei Schritt dahinter liegenden zweiten Palisadenring. Der tiefe Gesang der Priester erfüllte die Luft. Jedes Mal war Khor beeindruckt, wenn er den Ring des Mittelbergs betrat, in dessen Mittelpunkt das Heiligtum stand. Eigentlich war es ja nur ein schlichtes, etwa mannshohes Holzgerüst, das man auf einem kleinen aufgeschütteten Hügel errichtet hatte. Über seinem drei Ellen messenden quadratischen Grundriss erhoben sich vier hölzerne mit Büffelschädeln bekrönte Eckpfeiler, die jeweils am oberen und unteren Ende der Pfosten sowie ein wenig höher als in deren Mitte durch Holzbalken miteinander verbunden waren. Auf Höhe der mittleren Balken schwebte die heilige Scheibe. Ihr Rand war mehrfach durchbohrt, so dass man durch diese Löcher Lederbänder führen konnte, deren andere Enden mit den Querbalken des Gerüsts verbunden waren und solcherart die Scheibe waagerecht schweben ließen. Freilich war das Ganze jetzt noch mit Holzlatten verkleidet, um das Heiligtum vor Wind und Wetter zu schützen. Nur an vier Tagen des Jahres wurde diese Verkleidung entfernt, so dass die heilige Scheibe für jedermann sichtbar wurde. Mit ihr war das himmlische Geschehen auf die Erde geholt und auf ewig festgeschrieben worden. Solange die Scheibe sich an ihrem Platz befand, so meinte man zu wissen, würden Sonne, Mond und Siebengestirn dem auf ihr verzeichneten Plan folgen und so den Wechsel der Jahreszeiten gewährleisten.

Zwei große Langhäuser, die auf der dem Dorf abgewandten Seite lagen dienten als Wohnhaus für die Priester und Schüler beziehungsweise als Ort der Unterweisung. Aus letzterem drang der mystische, eintönige Gesang der Priester, der sie in tiefe Trance zu versetzen vermochte. Ihm leicht versetzt gegenüber stand das Haus des Oberpriesters. Weitere kleinere Wirtschaftgebäude ließen die Anlage fast wie ein kleines Dorf erscheinen, das über der Welt schwebte. Khor konnte sich an Sonnenaufgänge zu den Tag-und-Nacht-Gleichen erinnern, als das ganze Land unter einem dicken Nebelschleier lag, während der Gipfel des Mittelbergs über die Nebelwolken ragte und man von dort die Sonne klar und strahlend sich erheben sah.

„Seid ihr Bror und sein Sohn?“, riss Khor eine Stimme aus den Gedanken. Ein junger Priester ‑ oder war er noch ein Schüler? ‑ war unbemerkt auf sie zugetreten. Er legte seine Rechte auf Khors Schulter. „Der Oberpriester erwartet dich.“ Und ehe er sich’s versah, wurde Khor in Richtung des Hauses geschoben, in dem der mächtige Mann lebte.

„Du wartest doch auf mich“, konnte er gerade noch sagen, als Khor sich nach dem Vater umsah. Es war ihm eben noch möglich, zu sehen wie der Vater nickte und seine Hand zum Gruß hob, als Khor schon vom Inneren des Hauses verschluckt wurde.

Es dauerte eine Weile bis sich seine Augen an die Dunkelheit des fensterlosen Raums gewöhnt hatten. Er war bei weitem nicht so groß wie das Haus der Großeltern, aber dadurch, dass nur im rückwärtigen Teil zwei Schlafnischen abgeteilt waren, wirkte das Haus dennoch sehr viel geräumiger. Sein Führer gab Khor einen sachten Schubs und bedeutete ihm mit einer beiläufigen Handbewegung, dass er weiter nach Innen gehen solle, während er selbst das Haus wieder verließ. Am liebsten wäre Khor ihm gefolgt.

Auch das Haus des Oberpriesters war innen ganz und gar mit dunkelroter Farbe gestrichen. Das Reetdach war jedoch bis auf die Stelle direkt über dem Herdfeuer hinter Stoffbahnen verborgen, die wie Zeltplanen gespannt und mit wunderbaren Mustern geschmückt waren. Einmal nur hatte Khor derartige Stoffe gesehen, als seine Mutter vor Jahren an der Familiendecke webte, die allerdings durch traurige Umstände verloren gegangen war. In leuchtenden Farben konnte er fremdartige Tiere, Fabelwesen und Menschen entdecken, die auf den Stoffen zu schweben schienen. Doch überall im Haus standen und lagen eigentümliche Dinge herum. Am meisten beunruhigte Khor die nahezu ellenhohe Figur einer schwarz gelockten, barbusigen Frau, die einen goldenen Stirnreif trug sowie einen mehrfach abgestuften weiten bunten Rock, der ihre Beine wie unter einer Glocke verbarg. Mit abgewinkelten Armen hielt sie in jeder Hand jeweils eine sich windende Schlange und blickte den Betrachter mit bösen, starren Augen an. Immer wieder fühlte sich Khor bemüßigt, nachzusehen, ob sie denn tatsächlich ohne Leben und nur ein Werk aus Holz, Gips und Gold sei.

Langsam drang Khor immer tiefer ins Innere des Hauses vor, als er plötzlich einen Lichtschimmer wahrnahm. Hinter einem brennenden Kienspan, der von einem zangenähnlichen Fabeltier im Maul gehalten wurde, konnte er eine gebückte Gestalt erkennen. Ein alter Mann mit schlohweißem Bart und ebensolchem, in langen Locken herabhängenden Haar saß über mit geheimen Zeichen bedeckten Häuten an einem Tisch. Khor blieb augenblicklich regungslos stehen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Offenbar schien der Alte ihn nicht bemerkt zu haben, so dass Khor sich zaghaft räusperte.

„Ähem … Ich bin Khor, der Sohn des Köhlers Bror“

„Ich weiß“, entgegnete der Alte, ohne aufzublicken. „Nimm dir einen Hocker und setz dich zu mir.“

Khor griff nach dem erstbesten Hocker, den er entdecken konnte, erschrak sich dann aber derart ob der Drachenköpfe, die ihn zierten, dass er ihn fast wieder fallen ließ. Der Alte schnalzte missbilligend mit der Zunge und murmelte etwas von schlichten Seelen. Schließlich setzte Khor sich umständlich darauf nieder und wartete, angesprochen zu werden. Der Tisch des Alten war voll mit sonderbar bekritzelten Häuten, hässlichen kleinen Figuren, die wohl Menschen oder Götter darstellen sollten und etlichen tönernen Gefäßen, in denen offenbar auch übel riechende Flüssigkeiten aufbewahrt waren. Es war Khor peinlich, so hilflos vor dem Alten zu sitzen, traute sich aber nicht, das Schweigen unaufgefordert zu brechen.

Nach geraumer Zeit hob der Alte unvermittelt seinen Kopf und sah Khor forschend in die Augen. Khor hielt seinem Blick stand und musste abermals feststellen, dass er ein Gegenüber für sehr viel älter gehalten hatte, als es offensichtlich war. Hatte er doch, wohl wegen der weißen Haare und der gebückten Haltung zunächst gedacht einen hinfälligen Greis vor sich zu haben. Doch der Mann hätte gut und gerne sein Großvater sein können. Als der Alte schließlich aufstand, musste Khor sich jedoch eingestehen, dass sein Großvater eine wenig überzeugende Figur neben diesem noch immer Kraft und Spannung ausstrahlenden Mann gemacht hätte.

Nachdem er ihn lange und ausgiebig von allen Seiten beäugt hatte, sagte der Priester endlich: „Du bist eindeutig deines Vaters Sohn.“

„Ihr kennt meinen Vater?“

„Aber sicher doch. Sehr gut sogar.“ Und ohne Khor die Möglichkeit einer Erwiderung zu geben, fuhr er fort: „Wie alt bist du?“

„Ich werde demnächst siebzehn.“

„Ein gutes Alter. Und du möchtest also Priester werden?“

„Ja“, zögerte Khor ein wenig.

„Das klingt aber nicht sehr überzeugt“, murmelte der Alte und setzte sogleich hinzu: „Ich möchte dir jetzt etwas sagen und dich bitten, dies auch zu berücksichtigen. - Wir beide, du und ich, wir reden heute zum ersten Mal miteinander. Entweder ist es auch das letzte Mal, dass wir dies tun, oder aber, wir werden fürderhin sehr viel und sehr erschöpfend miteinander reden. Deswegen möchte ich die Gewissheit haben, dass du alles, was du sagst, auch so meinst. So wie du immer die Gewissheit haben kannst, dass alles, was ich dir sage, auch der Wahrheit und meinem Empfinden entspricht. Wir beide haben heute die seltene Gelegenheit eine aufrichtige und ehrliche Freundschaft zu beginnen. Denn vor allem als Freund möchte ich dich sehen, dem ich alles, was ich weiß, weitergeben und alles, was ich empfinde, sagen kann. Und damit du mir ein ebenso wahrer Freund sein kannst, bitte ich dich, es mir gegenüber genauso zu halten. Also: keine Lügen, keine Flunkereien, keine Ausflüchte. Zwischen uns soll es nur Wahrheit geben. Auch brauchst du nicht zu fürchten, dass irgendjemand jemals etwas von dem erfährt, was wir miteinander besprechen. Es soll unter uns bleiben.“ Und nachdem er die Überraschung in Khors Gesicht gelesen hatte, fragte er nachdrücklich: „Meinst du, dass du dies beherzigen kannst?“

Khor blickte seinem Gegenüber fest in die Augen. „Ja, das will ich – und das kann ich.“

Freundlich lächelte der Alte. „Schön. Ich habe nichts anderes von dir erwartet, Khor, Sohn des Bror. Also sage mir, warum du vorhin zögertest als ich dich fragte, ob du Priester werden willst.“

„Also ehrlich gesagt …“

„Nur ehrlich gesagt“, unterbrach ihn der Priester. „Du hast nichts zu befürchten. Weder Verachtung noch Strafe, weder Tadel noch Zurückweisung. Lass uns rückhaltlos ehrlich miteinander sein, denn nur dann können wir voneinander lernen. Nur dann macht deine Lehrzeit bei uns Sinn.“ Und als ob er seinen Bemerkungen einen anschaulichen Gesichtspunkt geben wollte, endete er: „Schlussendlich können wir dann unseren Geist auch gewinnbringend für unser Volk einsetzen.“

„Genau das ist es“, sagte Khor nach einer kurzen Pause. „Ich möchte eigentlich nur lernen, um zu verstehen. Denn erst wenn man versteht, wird man angemessen handeln können.“

„Das hast du sehr gut und weise formuliert. Ist das dir selbst eingefallen oder plapperst du nur etwas nach, was du anderswo gehört hast?“

Khor zögerte einen Augenblick, weil er nicht recht wusste, ob er diese Frage als ironische Vorführung priesterlicher Überlegenheit deuten sollte. Das liebevolle Gesicht des freundlich lächelnden Alten überzeugte ihn aber sofort, dass dies einfach nur eine Frage ohne jedes Arg war. Und so war er vollkommen entschlossen, diese neue Freundschaft tatsächlich auch in aller Aufrichtigkeit zu beginnen. „Mein Vater sagt immer so. Aber“, so setzte er schnell hinzu, „ich empfinde ebenso.“

„Und was möchtest du zuvorderst wissen?“

„Alles“, kam die Antwort. „Alles.“ Khor zuckte mit den Schultern. „Woher wir kommen und wohin wir gehen.“

„Dazu müssen wir aber zunächst einmal verstehen, wer wir überhaupt sind. Und wie diese Welt, in der wir leben, zusammengesetzt ist.“

„Ja genau“, pflichtete Khor eifrig bei. „Ich möchte die Welt verstehen, ich möchte alles verstehen.“

„Deine Mutter ist altgläubig?“, fragte der Alte wie nebenbei.

Khor merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Ja, sie ist die Tochter der ehrwürdigen Oda und des Frowin“, nickte er.

„Ich weiß“, gab der Priester unbeeindruckt zur Antwort.

„Ja, sie ist altgläubig, aber sie ist uns eine gute Mutter und meinem Vater eine gute Frau. Sie ist ein guter Mensch.“

„Auch das weiß ich“, sagte der Alte fest.

„Ich aber glaube ebenso wenig wie mein Vater an Mutters Dämonen und Geister. Wir verehren die Sonne …“

„Du wirst es kaum glauben“, wurde er unterbrochen, „aber das ist mir zunächst reichlich einerlei. Denn wenn du klug bist, und davon gehe ich aus, wirst du aus all dem Wissen, das du dir hier aneignen wirst, deine eigenen Schlüsse ziehen. Die Zeit, in der die Altgläubigen verfolgt wurden, ist glücklicherweise vorüber. Obgleich ihr Denken oft genug ursprünglich und derb ist, haben sie vieles zum Wissensschatz unseres Volkes beigetragen. So können wir durchaus stolz sein auf ihre Medizin, die auf jahrhundertealten Erfahrungen beruht. Ich habe nirgendwo auf der Welt einen weiseren und den Menschen zugewandteren Umgang mit Krankheiten und Gebrechen gesehen. Sie geben den Dingen andere Namen, reden von Geistern und Dämonen, meinen aber dasselbe. Es ist immer unsere aus dem Gleichgewicht geratene Seele, die uns krank macht oder uns krank werden lässt. Aber ihre vorgebliche Vertreibung böser Geister hilft genauso gut unsere Seele zu festigen und zu stärken, so dass wir selbst es schließlich sein können, die die Krankheiten und Schmerzen überwinden.“

„Großmutter ist gerade deswegen überall sehr geschätzt.“

„Und das zu Recht. Sie ist eine wundervolle Frau, aber leider“, Khor meinte den Ton des Bedauerns zu vernehmen, „leider wollte sie ihren Geistern und Dämonen nicht abschwören. Wir standen uns einst sehr nah, musst du wissen, und ich hätte mir nichts lieber gewünscht, als das Leben mit ihr zu teilen. Doch wir mussten einsehen, dass dies jeweils nicht unser Weg war.“

„Sie hat nie zu mir darüber gesprochen.“

„Natürlich nicht.“

„Und meinen Vater, den kennt ihr auch?“

„Deinen Vater kenne ich ebenfalls sehr gut, ja. Als er so alt war wie du, saß er genauso vor mir wie du heute. Zwei Jahre hat er hier auf dem Mittelberg bei uns verbracht und ich war mir sicher, dass er einer der größten Priester werden würde, den unser Volk je gesehen hat. Aber er hat sich anders entschieden.“

Khor stockte der Atem. Über all diese Dinge aus der Vergangenheit hatte nie jemand mit ihm gesprochen. „Vater sollte Priester werden?“

„Ja, dein Vater sollte Priester werden. Aber sein Herz hat ihn von uns fortgeführt.“

„Wie das?“

„Er liebte Fricka, deine Mutter. Die Tochter von Frowin und Oda. Und sein Herz konnte nicht ohne sie sein. So musste er sich entscheiden. Frowin und Oda hätten nie einen Priester vom Mittelberg in ihrer Familie geduldet. Und die Priester ihrerseits hätten es damals auch noch kaum hingenommen, dass einer ihrer geistlichen Führer mit einer Altgläubigen zusammenlebt.“

„So hat er schließlich den Beruf des Köhlers vorgezogen?“

„Nein, er hat das Glück seines Herzens vorgezogen. Und er hat recht damit getan. Denn ein unglücklicher Priester ist ein ebenso schlechter Ratgeber wie Wegweiser für sein Volk. Und letztendlich“, strahlte der Alte ihn an, „hat ihr Glück dich hervorgebracht, Khor.“

Khor wusste gar nicht, wo er anfangen sollte, seine Gedanken zu ordnen. „Ich hatte mich schon gewundert, warum ich, der Sohn einer Köhlers von Euch hierher gebeten wurde …“

„Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Es ist letztendlich einerlei, wessen Sohn du bist oder aus welcher Familie du stammst. In unserer Priesterschule ist uns nur daran gelegen, die klügsten und fähigsten Köpfe unseres Volkes zu finden, um sie zu bilden, damit die überlieferten Weisheiten unseres Standes nicht verloren gehen. Welche Sünde, welche Vergeudung wäre es doch, würden wir wegen Familienzugehörigkeiten oder Standesunterschieden die Begabungen der klügsten Kinder unseres Volkes nicht nutzen. Und eines noch: Jedes Ding hat seine zwei Seiten. Alles auf dieser Welt hat sein Gutes und sein Schlechtes zugleich. Es gibt nichts Gutes allein, ebenso wenig wie es etwas ausschließlich Schlechtes gibt. Dein Vater hat sich entschieden, das Leben eines Köhlers zu führen; dafür aber konnte er dieses Leben mit jenem Menschen verbringen, für den er auf die Welt gekommen ist. Also gibt es eben einfach Tage der Entscheidung in unserem Leben.“

„So wird auch eure Entscheidung, ob ich hier bleiben darf“, sagte Khor nach einer langen Pause, „ihr Gutes und ihr Schlechtes haben?“

„Das wird sie“, nickte der Priester.

„Dann möchte ich lieber wieder gehen“, entgegnete Khor fast trotzig. „Ich will niemanden unglücklich machen, weil er sich wegen mir falsch entschieden hat.“

„Ist es dein Stolz, der dich so reden lässt? Oder ist es die Angst, zu versagen? Auch wenn du Schlechtes mit dir bringst, so heißt es doch nicht, dass es eine falsche Entscheidung wäre, dich hier zu behalten. Vieles wirst du lernen können, ins Gute zu verwandeln. Anderes aber auch nicht. Und dann wirst du lernen müssen, mit deinen Widersprüchen zu leben. Nichts auf dieser Welt ist vollkommen, also auch du nicht. Nimm es hin und versuche, das Beste daraus zu machen. Es ist dies die einzige Möglichkeit für uns Menschen, glücklich zu werden. Das Leben ist so schnell vorbei. Ein Atemzug im Lauf der Zeit, mehr sind wir nicht. Und so ist jeder unglückliche Tag ein vergeudeter Tag. Es ist geradezu unsere Pflicht, in allem das Gute zu suchen. Und du wirst es auch finden - selbst im Schlimmsten wirst du es entdecken können.“

„Wie kann man etwas Gutes in der Tatsache finden, dass man beispielsweise einen verkrüppelten Fuß hat?“ Khor fiel sogleich der Sohn des Roten ein, dem er soeben noch begegnet war. „Oder eine Hand, die man nicht gebrauchen kann? Nie und nimmer wird man damit ein normales Leben führen können.“

„Wenn einem von uns die Möglichkeit nicht gegeben ist, schnell zu laufen, dann kann er dafür vielleicht schneller denken oder sich schneller entscheiden. Ein jeder von uns ist einmalig – und hat somit auch Einmaliges zu bieten. Und was heißt schon ‚ein normales Leben’?! Muss doch ein jeder von uns zunächst einmal das Normale für sich selbst entdecken, bevor er sein Leben schließlich auch entsprechend führen kann. Jeder entscheidet ganz allein, was für ihn das Richtige und somit normal ist. Lass es nie jemand anderen für dich tun, Khor, denn ansonsten hast du deine Freiheit schon verloren.“

„Und was ist mit Menschen, denen das Böse normal ist?“

Überrascht schaute der Priester ihn an. „Das einzig Böse, dass ich kenne, ist einem anderen Menschen, aus welchen Gründen auch immer, Schaden zuzufügen. Ihn absichtlich zu verletzen, sowohl seinen Körper als auch seine Seele.“

„Aber angenommen, ein Mörder oder Dieb lebt unter uns“, ereiferte sich Khor. „Den können wir doch nicht einfach dulden. Auch wenn das Böse für ihn normal sein sollte.“

„Nein, das können wir nicht. Schon allein um uns und die Unsrigen zu schützen. Wir müssen Grenzen aufzeigen. Und die sind erreicht, sobald ein anderer Mensch geschädigt wird.“

Nicht ganz befriedigt von dieser Antwort entfuhr Khor ein aufrichtiger Seufzer. „Alles, was ich eigentlich nur will, ist Wissen.“

Laut lachte der Priester auf. „Das ist gut und schön so. Ich selbst habe mein Leben lang nichts anderes getan, als Wissen zu sammeln. Und wie du war ich der Meinung, dass es ausreichen würde, möglichst viel davon zusammenzutragen. Denn alles Weitere würde sich von selbst daraus ergeben. Es ist aber mitnichten so, glaube mir. Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich um das, was ich nicht weiß – und vielleicht auch nie in Erfahrung bringen werde. Und zudem: Was nützt dir all das Wissen, wenn du nicht verstehst, wofür du es benutzen sollst und vor allem – wie du es benutzen sollst“.

„Aber je mehr ich weiß, desto klarer sollte es mir werden, wozu es zu verwenden sei“, wandte Khor ein.

„Wenn du dich dazu entschlossen hast, Gutes zu tun und du auch in der Lage bist, das Gute zu erkennen, mag dies zutreffen. Doch glaube mir, die meisten Menschen sehen nur das Gute für sich selbst und übersehen oft genug, dass dies für die anderen nicht auch selbstverständlich gut und richtig ist. Aber über das wahrhaft Böse in der Welt, das sich ebenfalls gerne des Wissens bedient, haben wir noch überhaupt nicht richtig gesprochen. Doch“, unterbrach sich der Priester, „dies sind Dinge, über die du im Unterricht noch zur Genüge hören wirst.“

„Ihr wollt mich also bei euch aufnehmen?“, fragte Khor.

„Aber ja. Allerdings muss ich dich jetzt noch der Priesterversammlung vorstellen. Denn nur sie allein kann über eine Aufnahme entscheiden. Und diese Entscheidung muss einstimmig sein.“

Der Alte stand auf, was Khor ihm augenblicklich gleichtat. Vertraulich hakte der Oberpriester sich bei seinem Gegenüber unter. „Lass uns gehen. Sie werden längst schon auf uns warten.“

Kalt schnitt der Wind in sein Gesicht als Khor, den Oberpriester am Arm, das Haus verließ. Vater stand noch genauso da, wie er ihn vorhin verlassen hatte. Schnurstracks gingen sie auf ihn zu.

„Ich grüße dich von Herzen, Bror“, sagte der Alte und umarmte Vater herzlich.

„Und ebenso grüße ich dich, Broc“, kam die Antwort.

„Ich danke dir sehr, dass du bereit bist, dich des Wertvollsten zu begeben, das dein ist“, meinte der Alte.

„Ich schulde euch noch ein Leben“, sagte Vater mit belegter Stimme. „Und da Khor einverstanden ist, sollst du das Werk, das du einst an mir begonnen hast, an ihm vollenden.“

Wortlos nickte der Priester, um mit Khor in Richtung des rechten der beiden Langhäuser zu gehen. Ein wenig hilflos sah sich Khor nach dem Vater um, der jedoch keinerlei Regung zeigte. Schon hatten sie das Langhaus erreicht, als Khors Aufmerksamkeit augenblicklich von dem sich dort bietenden Anblick gefesselt wurde. Dort saßen sie, die Priester, die nun über seine Zukunft entscheiden würden. Khor fühlte, wie ihm die Aufregung die Kehle zuzuschnüren drohte. In drei Gruppen zu je fünf weiß gewandeten Priestern saßen sie an einem langen Tisch und blickten ihm aufmerksam entgegen.

„Dies ist Khor, der Sohn des Köhlers Bror“, verkündete der Alte. „Und dies sind die Lehrer unseres Hauses“, sprach er zu seinem Begleiter gewandt. „Die erste Gruppe unter der Leitung von Veyd ist zuständig für die Fragen des Glaubens.“ Der Vorsitzende verneigte sich leicht, als sein Name fiel. „Sie sind zuständig für die geistigen Belange und werden unter anderem versuchen, darzulegen, was den Glauben unseres Volkes ausmacht. Und dies“, wandte sich der Alte der nächsten Gruppe zu, „dies ist Endris, der dein Lehrer für das weltliche Wissen sein wird. Er wird dir all das beibringen, was wir von unserer Welt verstehen und wissen. Und als letzten haben wir hier den tapferen Ottel. Er ist der Vorsteher unserer Kriegerpriester, die unsere Unabhängigkeit gewährleisten. Denn nur wenn wir vollkommen unabhängig sind, um ausschließlich unserem Wissen und Gewissen zu gehorchen, können wir gewährleisten, dass die Wahrheit lebt. Allzu oft schon haben die unterschiedlichsten Führer versucht, uns ihren Willen aufzuzwingen. Doch unsere Kriegerpriester wussten immer, unsere Freiheit zu wahren. Zweifellos“, und dies sagte der Alte mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme, „gehören sie zu den besten Kämpfern unter der Sonne.“

Schweigend standen alle da und musterten Khor, der sich reichlich unbehaglich fühlte, als er die fünfzehn Augenpaare auf sich spürte und eigentlich am liebsten Fersengeld gegeben hätte. Doch er erinnerte sich der Worte des Alten: Alles auf dieser Welt hat sein Gutes und sein Schlechtes. Und da er der Meinung war, dass mit seiner Angst vor dieser Gegenüberstellung genug des Schlechten getan sei, versuchte er, das Gute zu wecken.

„Sag mir, Khor“, hob Veyd an, „was bedeutet dir das morgige Lenzfest?“

„Abgesehen davon, dass es ein wichtiger Tag für unser Volk ist, an dem wir zusammenkommen, um Waren und Neuigkeiten auszutauschen, um rechtliche Streitfragen zu klären oder um über unsere gemeinsame Zukunft zu beraten, ist es der Tag, an dem ihr, die Priester den Menschen bestätigt, dass der Winter endgültig vorbei ist und sie beginnen können, ihre Felder zu bestellen. Es ist die Zeit, in der die Hoffnung auf das wiedergeborene Leben ihre Bestätigung findet. Die Himmelsscheibe zeigt es an.“

„Und was meinst du, kann die Scheibe uns außerdem noch zeigen?“

„Sie steht für das Bündnis der Sonne mit den Menschen. Denn auf ihr ist der Lauf von Sonne und Mond auf alle Zeiten festgeschrieben. Bis in alle Ewigkeit wird die Sonne sich zu den darauf festgehaltenen Zeiten wenden.“

„Sag mir, Khor“, wandte sich nun Endris an ihn, „was weißt du von der Scheibe? Wie ist sie zu uns gekommen?“

„Die Menschen sagen zwar, dass Mutter Sonne selbst sie uns vor langer, langer Zeit gegeben hat. Aber sie sieht mir doch sehr nach Menschenwerk aus. Sie wird eurer und eurer Vorgänger Weisheit entsprungen sein, auf dass sie für alle Ewigkeit dieses Wissen bewahre und zum Besten unseres Volkes nutzbar mache.“

„Und was glaubst du, Khor, befindet sich hinter dem Zerbrochenen Berg?“ Kam die überraschende Frage. „Ist dort das Ende der Welt?“ Endris sah ihn aufmunternd an. „was meinst du?“

„Nein“, schüttelte Khor eifrig den Kopf. „Dort ist sie noch lange nicht zu Ende. Dahinter liegen wilde Wälder und schließlich noch die Insel der Zinnleute. Und weiter östlich liegt das Land der Bernsteinmenschen. Südlich von uns muss die große Stadt liegen und ich weiß, dass es noch mehr große Städte gibt. Viele sogar. Und manche, so habe ich sagen hören, sind sogar aus Stein gebaut.“

„Fürchtest du dich vor den Dingen, die hinter dem Horizont liegen?“

„Fürchten? Nein! Wenn dort Menschen leben, so werden sie Menschen sein wie wir. Furcht entsteht aus Unwissen und aus Nichtverstehen. Und selbst wenn ich jetzt noch nichts davon weiß, was sich dort befindet, so bin ich mir doch sicher, dass ich es eines Tages erfahren werde. Auch wenn es mir zunächst fremd und andersartig erscheinen mag, so muss ich nur versuchen, es zu verstehen.“

„Und was tust du“, polterte Ottel plötzlich los, „wenn die Menschen hinter dem Horizont Angst vor dir haben und dich töten wollen?“

„Dann werde ich versuchen, ihnen diese Angst zu nehmen. Ich werde versuchen, ihnen Bruder zu sein“, kam Khors Antwort.

„Und wenn sie dich bedrohen?“, rief Ottel, stürmte auf Khor zu, zückte sein Schwert und blieb drohend vor ihm stehen.

„Dann werde ich versuchen standhaft zu sein.“

Laut lachend schlug ihm der riesige Mann auf die Schulter. „Dann wirst du wohl in die Knie gehen müssen.“

„Nein“, sagte Khor, ergriff Ottels schwere Hand und nahm sie langsam von seiner Schulter. „Wir sind keine Feinde. Was hättest du davon, mich zu demütigen? Und mir zu zeigen, dass du stärker bist, ist auch nicht nötig. Niemand hier wird dies in Frage stellen. Ich auch nicht. Also bleibe ich stehen.“

„Ich schlage vor, Khor, den Sohn des Köhlers Bror, in unsere Reihen aufzunehmen“, sagte der Oberpriester mit ruhiger Stimme in die lange Stille. Ein Murren hob an und erfüllte das Haus. „Hat einer von euch Einwände, die dagegen sprechen?“ Wieder ertönte dasselbe Murren, nur dass es diesmal noch lauter war.

„Dann heiße ich ihn bei uns willkommen!“

Erst da begriff Khor, dass Murren auf dem Mittelberg etwas anderes bedeutete als anderswo.

Ottel, der sich offenbar von Herzen zuständig fühlte für Khors Wohlergehen, packte ihn am Schlafittchen und zog ihn fort, um ihm sogleich seine Schlafnische zuzuweisen. Khor wehrte sich so gut es ging.

„Kann ich nicht morgen oder nach dem Lenzfest erst wiederkommen und meine Zeit bei euch beginnen?

„Morgen?!“, brüllte Ottel vor Lachen, ließ sein vereinnahmtes Mündel los und sagte mit deutlicher Anteilnahme in der Stimme: „Hat man dir denn nicht gesagt, dass du gleich hier bleiben wirst, wenn wir dich aufnehmen?“ Er schüttelte den Kopf. „Erst einmal kommst du jetzt nicht mehr vom Mittelberg runter. Du bist und bleibst erst einmal hier.“

„Was?“, rief Khor entsetzt. „Ich hab mich von meinen Leuten noch überhaupt nicht richtig verabschieden können. Morgen beginnt das Lenzfest. Übermorgen haben meine Großeltern viele Gäste eingeladen, sie brauchen mich dabei. Jede Hand wird benötigt …“

„Und wie sieht es mit der Unabkömmlichkeit Eurer Heiligkeit im nächsten Jahr aus?“, höhnte Ottel. „Meint Ihr, absehen zu können, ob Ihr dann vielleicht noch einen Tag für eure Studien zur Verfügung haben werdet?“

„Nein!“, jammerte Khor. „Ottel, du verstehst mich nicht. Es geht nicht darum, dass ich noch ein paar Tage feiern will, es geht nur darum, dass ich noch einige wichtige Dinge zu erledigen habe.“

„Das haben wir doch immer“, hielt ihn Ottel an beiden Schultern. „Stell dir vor, ich wäre der Mond, gekommen, um dich abzuholen aus dieser Welt. Was würdest du mir sagen? Etwa dass du übermorgen Omas Braten am Spieß drehen musst? Oder dass noch derartig viele Dinge auf ihre Erledigung durch dich warten, so dass dir das Sterben nicht möglich sein kann.“

„Versteh mich doch“, Khor war verzweifelt. „Ich möchte meine Eltern noch einmal sehen und Perachta, die Kleine.“

„Das wird wohl nicht möglich sein.“

„Was seid ihr nur für Leute? Habt ihr kein Herz? Außerdem habe ich heute noch eine ganz wichtige Verabredung.“

Ottel hob fragend den Kopf.

„Sie ist entscheidend für mein Leben!“

„Es handelt sich dabei wohl um dieselbe Frage, die dein Vater einst für sich beantworten musste?“ Der Oberpriester war ihnen nachgekommen.

Khor erschrak als er seine Stimme vernahm, war er doch so sehr mit Ottel beschäftigt gewesen sowie mit der ernsten Gefahr, dass er hier quasi unter Arrest stünde, dass er dessen Kommen gar nicht bemerkt hatte.

„Ja, fast. Nicht ganz genauso“, Khor drehte sich um. „Aber fast ganz genauso“.

„Ich will dir gern erklären, warum wir das hier so streng handhaben“, freundlich sah ihn der Oberpriester an. „Früher mussten unsere Vorgänger oft erleben wie Neu-Priester, die erst nach einer Frist von mehreren Tagen zu uns kamen in der Zwischenzeit reichlich und oft genug auch gewinnträchtigen Besuch bekommen hatten, der sie davon überzeugte, das Priestertum in die eine oder andere Richtung hin zu beeinflussen.“

„Ich werde doch mit meinen Eltern keine Verschwörung aushecken!“, empörte sich Khor.

„Nein. Natürlich nicht“, beruhigte ihn der Alte. „Aber was meinst du, wie viele unangemeldete Besucher deine Großeltern morgen und übermorgen zu empfangen hätten, sollte sich erst einmal herumgesprochen haben, dass du nun zu uns gehörst. Einige würden sicherlich auch versuchen, dich zu überzeugen, sich ihrer Sache, welcherart auch immer sie sein mag, anzuschließen. Andere würden vielleicht sogar versuchen, dich zu erpressen. Vielleicht käme sogar der Fürst höchstselbst, um deine Großeltern zu besuchen.“

„Beim Leben meiner Mutter! Das würde sie ruinieren!“, ächzte Khor an den Aufwand denkend, den eine angemessene Bewirtung in diesem Fall bedeuten würde.

„Weißt du, Khor, im Grunde genommen, wärst du schon nicht einmal mehr reinen Herzens, wenn du den lieb gemeinten Ratschlag deiner Großmutter mitnehmen würdest, ihre Geister und Dämonen nicht ganz zu vergessen. Und sie würde ihn dir ganz gewiss geben, das weißt du genauso gut wie ich.“ Khors widersprechender Miene entgegnend sagte er: „Weißt du, aus Gefühligkeit ist schon viel Schlimmes entstanden. Wie du siehst, hat jedes Ding tatsächlich seine zwei Seiten. Gefühligkeit ist etwas Gutes. Doch auch sie kann Schlechtes bewirken.“

Der Alte blickte Khor direkt in die Augen, aus denen die ursprüngliche Forderung noch immer sprach. „So bliebe für dich wohl nur eine sehr schwere und harte Aufgabe: Nämlich ins Dorf zu gehen, dort deine offenbar wichtige Entscheidung zu treffen und ‑ so nah du ihnen auch kommen magst ‑ deinen Leuten fern zu bleiben. Schleich dich auch nicht zum Haus der Großeltern, nur um noch einmal Mutters Stimme oder Perachtas Lachen zu hören. Du würdest dich nur unnütz quälen. Meinst du, dass du dies einhalten könntest, nachdem du deine Entscheidung getroffen hast?“

„Ja, doch. Ich muss es.“, sagte Khor entschlossen. „Aber die Entscheidung habe ich eigentlich schon längst getroffen.“

„Das fühlte ich bereits. Wozu also dann noch ins Dorf?“

„Weil ich mich jemandem erklären möchte.“ Khor richtete sich auf. „Ich will sie nicht einfach sitzen lassen, ohne dass sie weiß, ob sie etwas falsch gemacht hat oder ob ich gar von den Wölfen zerfleischt wurde und deshalb nicht kommen kann.“

„Du kannst deinen Vater bitten, mit ihr zu sprechen“, entgegnete der Alte. „Er steht noch draußen und wartet.

„Nein, das geht nicht. Er kennt sie gar nicht.“

„Ich glaube, ich verstehe“, der Alte lächelte. „Ich will nicht in dich dringen und dich nach Herzensdingen fragen. Dazu kennen wir uns noch nicht gut genug.“

„Sie ist doch kein Stück Holz! Sie ist ein Mensch und ich will sie nicht verletzen, indem ich ihr mitteilen lasse, wie ich mich entschied. Das wäre feige. Ich möchte es ihr selbst sagen können“, bat Khor.

Schweigend nickte Broc: „Dann geh und komm am Abend wieder. Und dein Wort, dass du dich an unsere Verabredung hältst!“

Wortlos legte Khor die Rechte auf sein Herz.

„Pass auf dich auf, Junge“, raunte Ottel ihm zu. „Ich freu mich, dich heute Abend wieder hier zu sehen. Und denk daran: Hier ist jetzt deine Familie. Wir sind es, die jetzt für dich da sind.“

Lange Zeit ging Khor schweigend neben seinem Vater den Berg hinab. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie mich gleich hier behalten wollen? Du hast es doch bestimmt gewusst.“

„Ja, sicher“, kam Vaters Antwort. „Doch was hätte es genutzt? Es hätte nur unnötig viele Tränen gegeben.“

„Schon“, stimme Khor zu. „Aber ich habe das Gefühl, als ob ich mich davongestohlen hätte.“

„Ich werde allen ausrichten, was immer du ihnen sagen willst.“

„Sag ihnen allen einfach nur, dass ich sie gern habe – und dass ich sie vermissen werde. Gib Perachta einen Kuss und Mutter natürlich auch. Und Großmutter ebenfalls.“

„Es soll so geschehen, wie du es wünschst“, nickte Vater.

„Aber sag ihnen bitte nicht, dass ich noch einmal mit ins Dorf gekommen bin, ohne sie zu sehen. Sie würden nicht verstehen warum.“

„Nein, das würden sie sicher nicht. Es würde sie nur verletzen.“

So lange der Aufstieg Khor des Morgens vorgekommen war, so schnell schienen sie sich nun dem Fuß des Berges zu nähern. Es gab noch so viel zu sagen. Doch nichts davon wollte in Khors Kopf zu Worten werden. So gingen sie schweigend an der Fürstenburg vorüber.

„Du fragst gar nicht nach, wen ich jetzt noch treffen will“, fragte Khor schließlich unsicher, denn es quälte ihn, seinen Vater im Unklaren zu lassen.

„Nein, ich frage nicht nach. Wenn du der Meinung bist, dass ich es wissen sollte, wirst du es mir schon sagen.“

„Ich muss mich von jemandem verabschieden“, meinte Khor.

„Das habe ich verstanden“, bestätigte ihm der Vater.

„Es ist eigentümlich, wenn man jemanden gern hat, aber dennoch feststellen muss, dass es keine Möglichkeit gibt, gemeinsam ein Stück des Wegs zu gehen.“

„Ja, das ist bitter. Aber glaube mir, wenn die Zuneigung nur groß genug ist, so würden sich auch Lösungen finden.“ Der Vater atmete tief durch.

„Ich kenne sie doch gar nicht richtig. Wir haben uns vorgestern erst kennen gelernt.“

„Dann hat es wenigstens ein Gutes: Es wird dir leichter fallen, ihr deine Entscheidung mitzuteilen.“

„Das ist richtig“, pflichtete Khor seinem Vater bei. „Aber dennoch fühle ich mich wie ein Verräter.“

„Das wärst du nur, wenn du ein Versprechen gegeben hättest …“, fragend blickte der Vater ihn an.

„Nein, keine Versprechungen, keine Pläne, noch nicht einmal Eingeständnisse – zumindest keine tatsächlich ausgesprochenen“, bekräftigte Khor. Und schon hatten sie die ersten Häuser des Dorfes erreicht.

„Mein Sohn, ich gehe nun diesen Weg“, deutete Vater nach rechts. „Während du eine andere Richtung einschlagen wirst. Ich wünsche dir Mut und Kraft für dein neues Leben. Und vergiss nie, dass wir immer für dich da sind. Einerlei was geschieht. Du wirst immer einen Platz bei uns haben. Wir warten Tag um Tag auf dich.“

„Ich danke dir, Vater. Ich werde es nicht vergessen.“ Wortlos umarmte Khor seinen Vater und konnte das Wasser in seinen Augen kaum verbergen.

„Leb wohl, Khor. Geh deinen Weg und werde glücklich. Und vergiss uns nicht. Denke immer daran, dass unsere Liebe zu dir ewig und unerschöpflich ist. Dies ist der Ort auf der Welt an dem du sicher gehen kannst, geliebt zu werden – einerlei was ist und wie dir ist. Und denk an die Zugvögel: Sie müssen fort – und doch kommen sie immer wieder.“

„Danke Dir, Vater.“ Und schon hatte Khor sich abgewandt, um den schweren Augenblick zu beenden und seinen Weg fortzusetzen. Ohne sich umzudrehen, war er weitergegangen, bis er den Eingang zum Dorf mit seinen beiden uralten Eichen erreicht hatte. Das Seil war noch immer zwischen ihnen gespannt. Bevor er endgültig in der Zeltstadt verschwand, wagte er noch einmal einen Blick zurück. Er sah, wie sein Vater noch immer dort stand, wo er ihn verlassen hatte. Und er spürte, dass sein Herz zu brechen drohte über all der Zuneigung und Liebe, die er nun zurückließ, obgleich er ein Leben ohne sie sich gar nicht vorstellen konnte.

Einsam schwang das Seil zwischen den Eichen im Wind. Die Vorstellung war längst zu Ende und die Sonne bereits weit auf ihrem Weg, sich zur Ruhe zu begeben. Dort lag die Jurte des Gauklers vor ihm, unbehaust und leer.

„Khorlein“, hörte er plötzlich Yasemins zaghafte Stimme.

Als er sich umdrehte, stand sie vor ihm. In ihren Mantel gehüllt, lächelte sie ihn mit Augen an, die vor kurzem erst geweint hatten und von denen er wusste, dass sie eigentlich strahlend grün waren.

„Ich wusste, dass du noch kommst“, flüsterte sie ihm zu.

Der Ring in ihrem rechten Nasenflügel zitterte ebenso wie ihre großen Ohrringe, die aneinander stießen und leise metallische Geräusche von sich gaben. Erst jetzt erkannte er zur Gänze, welch schöner Mensch sie in der Tat war. Die so oft die Menschen trügende Erinnerung war in diesem Fall tatsächlich kein Wunschtraum gewesen - sondern wurde von der Wirklichkeit sogar noch übertroffen. Khor errötete fast, als er sich dabei ertappte, wie er Yasemin voller Genuss betrachtete. „Luderweiber“ hatte der Großvater anderntags die Gauklerinnen genannt. Sie seien nur durch Hexerei, Magie und viel Gesichtsfarbe so ansehnlich. Aus der Nähe betrachtet jedoch seien sie alt und verlebt. „Ihnen fehlen nur die Augen dazu“, murmelte Khor und verbeugte sich mit aufrichtiger Ehrerbietung vor dem Mädchen.

„Ja, Rauch in den Augen“, antwortete Yasemin auf die als Frage missverstandene Äußerung und tupfte verlegen mit dem Handrücken an ihren Augen, um den von den Tränen freilich längst schon zerlaufenen Kohol nicht noch mehr zu verschmieren. Aber natürlich hatte sie längst bemerkt, dass Khor Gefallen an ihr fand und seine Augen nicht genug von ihr haben konnten. Sein Gesicht strahlte so selig als er sie ansah, dass sein Anblick sie wie ein Stich ins Herz traf und sie fast zu neuen Tränen rührte.

„Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden“, presste Khor heraus, ihre beiden Hände fest in den seinen haltend. So standen sie wie Kinder, die jemand ins eiskalte Wasser des Flusses gestoßen hatte und die nun hoffnungslosen Halt aneinander suchten.

„Ich weiß“, nickte Yasemin.

„Woher?“, fragte Khor verdutzt „Hat dir irgendjemand etwas gesagt?“

„Mein Herz“, deutete Yasemin auf die Stelle, wo sie es pochen fühlte.

Khor spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. So wollte er nicht in ihrer Erinnerung bleiben. Also ergriff er ihre Rechte wieder und drückte ihre Hände so fest, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte. „Ich bin aufgenommen in die Priesterschule auf dem Mittelberg und muss noch heute Abend dorthin zurück.“

„Schön“, nickte Yasemin. „Du wirst bestimmt viel große Priestermann.“

„Das heißt, dass wir uns nicht wieder sehen werden“, versuchte Khor ihr klar zu machen, da sie die Folgen offenbar nicht absehen konnte. „Ich werde den Berg für lange Zeit nicht mehr verlassen können und du ziehst in ein paar Tagen weiter.“

„Ja, weiter. Immer weiter“, unbestimmt deutete Yasemin mehrmals in die Ferne.

„Ich wollte es dir aber sagen, Yasemin. Ich wollte, dass du es von mir erfährst. Und ich wollte, dass du auch das Warum erfährst.“

„Ich danke dir sehr dafür“, lächelte sie, rang ihre nahezu zerdrückten Hände frei und rieb sie anschließend aneinander.

„Oh!“ Khor blickte auf ihre geschundenen Finger und wollte sie fast wieder ergreifen, um zu versuchen, das Angerichtete wieder gut zu machen. Doch Yasemin wich zurück und Khor stammelte ein erbarmungswürdig hilfloses „Das tut mir leid. Das wollte ich wirklich nicht.“

„Du mir weh tun, Khorlein“, nickte Yasemin. „Aber Leben ist wie es ist.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Morgen vielleicht schon ziehe ich weiter. Alle sind dann auf dem Berg und saufen Mjördl.“ Sie machte eine Handbewegung als ob sie Unrat auf den Mittelberg werfen wollte. „Und Übermorgen alle sind wie tot.“ Mit komischer Mimik deutete sie die Hilflosigkeit jener an, die zu viel von dem berauschenden Getränk genossen hatten. „Du Priestermann, ich Gaukeline. Du auf Berg, ich hier unten.“ Stolz richtete sie sich auf und lächelte Khor an. „Aber zum Abschied ich habe Geschenk für dich.“ Sanft und fest ergriff sie seine Hand und zog ihn in Richtung ihrer Jurte. „Ich habe schönes Geschenk für dich, Priestermann Khorlein“, sagte sie als sie durch den Vorhang schlüpften.

Liebevoll sah sie in Khors Augen, öffnete ihren Mantel und legte ihre vollkommen geformten kleinen Brüste frei, deren Haut so warm schien wie der Sand am Ufer der Uneströdu nach einem heißen Sommertag. Wie oft hatte sich Khor des Nachts davongeschlichen, um sich in den noch warmen, weichen Sand zu legen. „Tu wie’s dir beliebt.“

Khor zögerte. Er war verstört, ja, fast sogar ein wenig abgestoßen von dieser unvermittelten Offenbarung. Als er aber dann in Yasemins Gesicht blickte, konnte er nicht anders, als ihren Kopf in seine beiden Hände zu nehmen, um das Schönste, das er bislang auf der Welt gesehen hatte, mit beiden Händen zu fassen. „Du bist so schön, Yasemin.“ Eigentlich wollte er ihr nur einen kurzen zärtlichen Kuss auf den Mund geben. Aber kaum hatten ihre Lippen sich berührt, spürte er, wie die Zärtlichkeit, die er ihr gegenüber empfand, sich seiner Bemächtigte und zum Einzigen wurde, was zu fühlen er noch in der Lage war.

„Ich möchte mich wie eine neue Haut um dich legen, Yasemin. Und zur gleichen Zeit in dir sein, so dass du als Haut mich ganz umgibst.“ Er küsste ihren Hals.

„Komm her, Khorlein, komm. Ich zeige dir jetzt vieles Schönes. Mein Abschiedsgeschenk …“

Es war längst schon dunkel als Khor endgültig meinte, sich von Yasemins zärtlicher Wärme losreißen zu können, um sich wieder auf den Rückweg zu machen. Lange waren sie gelegen. Und es hatte Tränen gegeben, nicht nur von Yasemin.

„Es hilft nichts“, sagte Khor nach Worten ringend.

„Ich weiß“, antwortete Yasemin und streichelte ihm über den Kopf. „Wir sind gar nix füreinander geboren. Du ein Priestermann und ich ein Gaukelmensch. Du lebst auf Berg, ich auf Seil. Es muss die Schwarze Göttin sein, die uns zusammgeführt habt, damit sie zuseh kann, wie unsere Liebe uns tot macht.“

„Glaub doch nicht solch einen Unsinn!“ Khor war enttäuscht, dass ein Mensch, dem er drauf und dran war, sein Herz zu schenken, offensichtlich derartigem Aberglauben anhing.

„Doch es kann nur sie gewen sein, die Schwarze. Einerlei ob du und ich zusammen bleiben oder jeder sein eigen Weg geht, wir werden leiden. Das ist ganz genau das, was die Schwarze gern hat.“

„Egal ob wir zusammenbleiben oder jeder seiner Wege geht?“

Yasemin nickte.

„Das nennt man dann Ausweglosigkeit“, sagte Khor tonlos.

„Was für Zeit?“

„Ich muss jetzt wirklich gehen, Yasemin.“

So lagen sie einander gegenüber. Schweigend und sich zwischendurch immer wieder den Aufbruch ankündigend und doch immer wieder bleibend. Sie waren aus der Zeit genommen und ließen sich treiben, ohne zu wissen wohin. Sie waren wie hilflos den Gezeiten ausgelieferte Schiffbrüchige, die von der Strömung in gegensätzliche Richtungen getrieben wurden.

Plötzlich gab Khor Yasemin einen Kuss auf die Stirn, rappelte sich auf, schlüpfte beeindruckend schnell in seine Kleider und lief zur Tür. Sie streifte behände eines der Tücher, das ihre Schlafnische abteilte, von der Stange und warf es sich über die Schultern.

So standen sie einander gegenüber. Schweigend und wieder die Zeit verlierend. Eben wie zwei Menschen, die wussten, dass ihr Abschied unvermeidbar und endgültig sein wird. Erst jetzt verstand Khor, welch großes Geschenk er soeben empfangen hatte. Sie schenkte es ihm, obwohl sie wusste, dass sie das Morgen ohne ihn erleben würde.

„So geh und leb wohl, du.“ Fast schüchtern strich sie Khor noch einmal übers Haar.

„Ich werde dich nie vergessen“, kam es aus Khors Mund als ob nicht er, sondern ein Fremder dies sagte.

„Ich dich auch nicht. Die rote Kopf vergess ich nie.“ Beide versuchten zu kichern.

Sie küsste Khor auf den Mund, schlug das Tuch beiseite, blickte schnell nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass niemand weiter Kenntnis von ihr nahm, schob Khor flugs durch die Türöffnung und sah zu, wie er schließlich in der Nacht verschwand. Einfach so, ohne dass ein Wolf heulte, ein Käuzchen schrie oder eine Schlange zischte. Nicht einmal eine Fledermaus umkreiste sie lautlos. So sehr der Schmerz auch in beider Herzen tobte und sie der Meinung waren, er müsse gleich die ganze Welt in Brand stecken, so banal war ihr Abschied tatsächlich. Er ging fort und sie blieb in ihrer Jurte.

Einmal noch drehte Khor sich um, konnte aber kaum noch ihre Gestalt erkennen. Sie schien zu winken, also winkte er zurück. Schon war er drauf und dran, ein Stück zurück zu eilen, damit sie ihn ja auch sehen könne, wie er ihr sein allerletztes Lebewohl zuwinkte. Sein Herz schlug heftig wie nie und riet ihm, umzukehren zur weichen warmen Wollust, von der er eben erst gekostet hatte und die er so gern für alle Zeiten für sich gehabt hätte. „Mehr, mehr“, klopfte es in seiner Brust. Und doch wusste er, dass dies kein guter Ratschlag war. Er glaubte zu sehen, wie der Vorhang an der Jurte sich langsam schloss. Also wandte er sich schließlich um und ging seines Wegs. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Khor das Gefühl, ganz allein zu sein auf der Welt.

Er ließ sich Zeit mit dem Aufstieg zum Mittelberg. An nichts anders konnte er denken als an Yasemin. An ihren Geruch, die zarte Haut an ihrem Hals, die Tätowierungen in ihren Ellenbeugen und zwischen den beiden Grübchen über ihrem Po. Noch nie hatte er jenes Gefühl gehabt, das ihn in Besitz nahm, als er mit seinen Lippen sanft ihrem Beckenkamm folgte und die warme, weiche Haut ihrer Leiste erreichte. Und als er in ihr war, meinte er, dass die Welt um ihn herum verschwinden würde, sich auflösen würde in Nichts. Schien es doch nichts anderes mehr zu geben als sie und ihn und ihre Lust und Freude aneinander. Khor und Yasemin, die sich aneinander ergötzten und sich gegenseitig Momente der Glückseligkeit schenkten. Unschuldig wie Kinder, die miteinander spielten und die Schönheit ihrer Körper dabei entdeckten. Er liebte es, wie ihr Kopf auf einmal zu glühen begann. Wie hatten sie beide gelacht, als er ihr das sagte. Und er liebte es auch, ihre Lust zu spüren, die sie an ihm und seinem Körper hatte. „Khorlein“, hatte sie immer wieder gesagt. „Mein Khorlein!“

Mehr als einmal drohte er, sich ob seiner ihn vollkommen einnehmenden Gedanken zu verlaufen, so dunkel war die Nacht. Kein Stern wies ihm den Weg, nichts sandte ein Licht, wonach er sich hätte richten können. Wie gerne hätte er jetzt jemanden bei sich gehabt. Nicht etwa, weil er Angst hatte. Sondern, weil er meinte, dass dieser Tag sein Leben so ungeahnt verändert hatte und er nun, auf diesem unbekannten Weg, leicht die Richtung verlieren könnte. Ruhig und gemächlich setzte er einen Fuß vor den anderen, als er plötzlich feststellte, dass er bereits quer durchs Dorf gelaufen und beinahe schon den gesamten Weg zum Gipfel zurückgelegt hatte, ohne auch nur ein einziges Mal an seine Familie gedacht zu haben. Kaltherzig hatte er alle, die ihn liebten, heute verlassen, um seinen eigenen Weg zu gehen. „Ob ich es je bereuen werde“, dachte er bei sich, „dass ich all die Liebe, die mir entgegengebracht wird, so leichtfertig für anderes ausschlage?“

„Khor, da bist du ja“, hörte er plötzlich eine Stimme und schon sah er Ottels Schatten sich aus einem Gebüsch lösen. „Ich fürchtete schon fast, du kämst nicht wieder.“

Wortlos klopfte Khor seinem neuen Freund auf die Schulter.

„Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung?“, fragte Ottel voller Anteilnahme.

„Ja“, nickte Khor. „Es ist alles in Ordnung. Es ist gut, so wie es ist. Hast du hier etwa die ganze Zeit auf mich gewartet?“

„Aber sicher!“, flunkerte Ottel. „Ich hatte Angst, dich zu verlieren, kaum dass wir dich liebherziges Schätzelein gefunden haben.“ Brüderlich legte er seinen Arm auf Khors Schulter. „Und jetzt lass uns nach Hause gehen, Khor. Es ist wohlig warm dort.“

Als Khor seine Schlafnische betrat, konnte er sehen, dass er offenbar inzwischen einen Mitbewohner bekommen hatte. Fand er doch eine zweite Schlafstatt vor, die über und über mit Fellen, Beuteln und Paketen bedeckt war: Da hatte sich wohl jemand häuslich eingerichtet. Noch bevor er sich Gedanken machen konnte, mit wem er wohl den Raum zukünftig würde teilen müssen, sah er auf seinem eigenen Bett ein Körbchen, das mit einem sauberen weißen Leinentuch abgedeckt war. Neugierig zog er das Tuch beiseite: Zwei genügend große Stücke dunkles Brot, etwas getrocknetes Fleisch und einen nicht eben kleinen Krug mit Bier entdeckte er darin. Und tatsächlich: In einer Ecke fand sich noch ein „Gefaulter Apfel“, eine besondere Leckerei, die nicht jedermanns Sache war, die Khor aber ganz besonders liebte. Augenblicklich wurde ihm beim Anblick des kleinen Menüs gewahr, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und tatsächlich großen Hunger hatte. Gierig schlang er sein Abendessen hinunter, das ihm mindestens ebenso köstlich erschien, wie das Festmahl, das es heute bei den Großeltern geben würde.

„Hunger ist der beste Koch“, dröhnte Ottels Stimme, der seinen Kopf durch den Vorhang gesteckt hatte. „Ich habe mir gedacht, dass du hungrig sein wirst.“

„Ach, Ottel! Ich danke dir“, schmatzte Khor mit vollem Mund. „Das ist wirklich recht nett von Dir. Sag mal, weißt du denn auch, wer mein Mitbewohner sein wird?“ Wobei er mit dem Kopf eine ungefähre Bewegung in Richtung der anderen Schlafstatt machte.

„Aber sicher doch!“, kam die Antwort. „Sarti, der Sohn des Fallenstellers“.

Khor verschluckte sich fast. „Wer?!“ Und ohne eine Antwort abzuwarten entfuhr es ihm: „Na, ausgerechnet!“

„Wieso? Was hast du denn gegen ihn?“

„Nichts! Natürlich nichts. Ich kenne ihn ja gar nicht.“ Khor spürte das Gefühl des Beleidigtseins in sich aufsteigen, ohne genau entscheiden zu können, was der Anlass war: Ottels ein wenig nach Vorwurf klingende Frage oder die Tatsache, dass er den übel riechenden Sohn des Roten tatsächlich um sich haben musste. Oder vielleicht gar, so überlegte er, weil er derart durchschaubar seinen eigenen Vorurteilen ausgeliefert war?

„Niemand von uns, kann sich aussuchen, in welchen Körper er geboren wird“, sagte Ottel ruhig. „Schau mich an!“ Laut dröhnte sein Lachen, so dass aus den anderen Schlafnischen nach Ruhe gezischt wurde.

„Nein, natürlich nicht! – Es tut mir leid“.

„Weißt du, Khor. Ich bin mir sicher, dass ihr euch sehr gut verstehen werdet“, sagte Ottel zuversichtlich, in der Hoffnung, die Laune seines Mündels ein wenig heben zu können.

Khor nickte nur stumm.

„Es war ein sehr harter und aufregender Tag für dich“, strich ihm Ottel über den Rücken. „Geh jetzt besser schlafen. Du weißt ja, hier oben steht man mit der Sonne auf. Und insbesondere morgen heißt es, lange vor der Sonne aufzustehen. - Wenn du noch irgendwas brauchen solltest oder dich irgendwas irgendwo drückt, dann weißt du, wo du mich finden kannst. Hier gleich nebenan ist meine Schlafnische und sie steht dir immer offen. Denk daran!“ Er lächelte Khor an. „Und jetzt wünsche ich dir eine gute Nacht.“

Ehe sich’s Khor versah, hatte der Riese ihn gepackt und in seine Arme genommen.

„Du bringst mich um, ich kriege keine Luft!“, schnaufte Khor entrüstet.

„Ach, was! Das musst du lernen, auszuhalten.“ Ottel ließ von ihm ab und zwinkerte Khor zu.

„Also, Ottel, ich weiß wirklich nicht so recht, was ich von dir halten soll“, schüttelte Khor den Kopf.

„Dann denk schön darüber nach heute Nacht“, brummte der Riese und streichelte Khors Wange. „Aber ich sage dir: Es ist nichts als Zuneigung, schiere, echte und aufrichtige Zuneigung und die Hoffnung, dass wir noch viel von dir zu erwarten haben“, schmunzelte Ottel, warf Khor eine Kusshand zu und verschwand hinter dem Vorhang.

„Was für ein Kauz“, dachte Khor, legte sich auf sein Lager und schloss die Augen.

Keine fünf Atemzüge war er dort gelegen als der Vorhang zur Schlafnische beiseite gezogen wurde und sein Mitbewohner eintrat.

„Hallo Khor! Ich bin Sarti.“

„Hallo Sarti“, antwortete Khor abwartend.

Der andere verstaute gewissenhaft die auf seiner Schlafstatt verteilten Dinge und legte sich ebenfalls nieder.

Khor war erstaunt zu sehen, wie behände Sarti trotz seiner Behinderung war. Und er nahm erleichtert zur Kenntnis, dass Sarti nicht stank, wie vor einigen Tagen, als er ihn zum ersten Mal im Wald getroffen hatte, sondern sogar den feinen Duft edler Essenzen verströmte.

„Wir hatten Glück, diesen Winter“, meinte Sarti als er sein Hab und Gut aufhäufte. „Vaters Fallen haben uns mehr Felle gebracht als sonst.“

„Das freut mich für euch“, sagte Khor teilnahmslos.

„Dann werden wir von nun an also zusehen müssen, dass wir auch gut miteinander auskommen werden in unserer gemeinsamen Schlafnische“, versuchte Sarti den maulvollen Mitbewohner zu einem Gespräch zu ermuntern.

„Das werden wir schon“, entgegnete der wortkarg und schwieg.

„Khor, du scheinst müde zu sein. Also entschuldige bitte, dass ich dich abermals anspreche.“ Sarti wartete auf ein Zeichen seines Gegenübers, da Khor jedoch regungslos liegen blieb, fuhr er fort: „Ich habe das Gefühl, Khor, dass du mich nicht magst.“

Khor öffnete die Augen. Nach diesem fürchterlichen Tag voller Abschied und Aufregungen hatte er keinerlei Lust, auch noch diese Angelegenheit zu erörtern und wollte schon mit gespielter Empörung auf Sartis Frage reagieren. Aber nein, erinnerte er sich, er würde auch diese Bekanntschaft nicht mit einer Lüge beginnen wollen. Es ist besser aufrichtig zu sein. Und vielleicht würde Sarti dann ja auch von sich aus darum bitten, eine andere Schlafstatt zugewiesen zu bekommen.

„Du bist ein eigentümlicher Kerl“ sagte er darum nüchtern. „Und du stinkst.“

„Das stimmt doch gar nicht!“, entgegnete Sarti entrüstet. „Riech, hier“, und er hielt Khor seinen rechten Handrücken unter die Nase.

„Na, heute riechst du wie eine Wanderhure“, gab Khor trotzig zur Antwort. Und augenblicklich kam ihm Yasemin in den Sinn, deren ganz eigener Duft noch immer in seiner Nase war und den Sartis kräftiges Aroma nun endgültig auszulöschen drohte. Er schämte sich, dass er bei diesem, eben von ihm selbst eingeworfenem Wort an sie hatte denken müssen.

„Du scheinst dich ja bestens mit denen auszukennen“, erwiderte Sarti schnippisch, ohne auch nur zu ahnen, wie nah er damit einer Beleidigung kam. „Es ist ein Duftöl aus einem der südlichen Länder, wo man seine Städte aus Stein baut.“

Und schon war Khor ganz Ohr. „Wirklich?“

„Ja, mein Vater hat es vor einiger Zeit eingetauscht.“ Und schon zog Sarti ein tönernes Unguentarium aus seinem aufgetürmten Krempel, entfernte den Stöpsel und roch genüsslich daran. „Es ist ein Aryballos“, hob Sarti das rundliche Tongefäß in die Höhe. „Und das in ihm aufbewahrte Duftöl wird nur von den stärksten und kräftigsten Männern vor dem Ringkampf benutzt, um ihre Gegner zu betören.“

„Na, dann weiß ich ja, was du heute vorhast“, lachte Khor. „Es wird dir aber überhaupt nichts nützen“, sagte er kalt. Und da Sarti keine Miene verzog, setzte er nach: „Denn zu den Stärksten und Kräftigsten gehörst du ja wohl kaum.“

„Das käme erst noch auf den Nachweis an“, meinte Sarti trocken. „Unterschätz mich nicht, nur weil ich ein Krüppel bin!“

„Bist du eigentlich schon so auf die Welt gekommen?“, fragte Khor mit einem fast ärgerlichen Unterton, als ob er den anderen damit bewegen könne, seine Behinderung endlich abzulegen.

„Nein, du wirst es kaum glauben.“ Sarti seufzte. „Bis ich zehn war, war ich wie alle anderen Kinder auch. Aber auf einmal bekam ich hohes Fieber. Wir alle dachten schon, dass ich die Krankheit überwunden hätte, als ich abermals Fieber bekam. Und eines Morgens wachte ich auf und konnte mein Bein sowie den linken Arm nicht mehr richtig bewegen. Es tat fürchterlich weh und es schien so, als ob ich sterben müsste. Mutter hat in ihrer Verzweiflung sogar die alte Gundel aufgesucht, eine weise Frau, die mitten im Wald lebt.“

„Und die hat auch nichts machen können?“, fragte Khor ungewollt mitfühlend.

„Nein. Sie hat gleich gesagt, dass es ein Dämon sei, der mich zwar zwischenzeitlich wieder verlassen hätte, der aber Spuren der Zerstörung in mir hinterlassen habe.“

„Und da ist nichts zu machen? Das wird nicht wieder besser? Auch nicht durch ein bisschen Übung?“

„Nein, da kann man nichts machen. Ich werde bis zum Ende meiner Tage damit leben müssen. Und besser wird es auch nicht mehr werden. Aber wenigstens auch nicht schlechter. So bin ich also nun Sarti, der Krüppel, der Hinkefuß, der schlaffe Arm …“

„Und spürst du noch irgendetwas was in deinem Fuß und Arm?“, unterbrach ihn Khor.

„Ja, doch. Ich spüre noch alles. Nur, dass ich sie nicht mehr richtig bewegen kann“, wobei Sarti Khor seine Linke entgegenstreckte.

„Das tut mir leid“, sagte der und berührte Sartis lahme Hand. „Die ist ja ganz zart und weich! Wie bei einem Säugling! Ganz dünne Haut.“

„Tja, wenn du deine Hand nicht richtig nutzen kannst, gibt es auch keine Schwielen und keine Hornhaut“, erklärte Sarti und zuckte mit den Schultern. „Sie bleibt zart und weich, wie die Hand eines Säuglings.“

„Oder einer noblen Herrin.“ Beide kicherten.

„Fallensteller kannst du damit jedenfalls nicht werden“, meinte Khor nüchtern.

„Ach, zur Not würde das wohl schon gehen. Weißt du, mit der Zeit lernt man damit umzugehen. Ich muss mich halt einfach nur anders bewegen und natürlich auch aufpassen, dass ich nicht ständig hinfalle oder mich verletze. Aber, du hast schon Recht, ein wirklich erfolgreicher Fallensteller könnte ich damit sicherlich kaum werden.“

„Und wie sieht es mit einer eigenen Familie aus?“

Sarti lachte. „Glaubst du, dass irgendeine Frau mit einem Krüppel wie mir zusammenleben und Kinder haben möchte? Wohl kaum. Und jene, die’s täten, die mag ich nun mal nicht.“

„Wieso das denn?“, fragte Khor halbwegs empört.

„Weil es die sind, die sonst keiner haben will.“

„Ich verstehe“, sagte Khor voll aufrichtigen Mitleids.

„Es war die einzige Hoffnung meiner Eltern, dass ich hier bei den Priestern aufgenommen werde. Sie wollten mich eigentlich beim alten Kolban, dem Gerber, im Dorf lassen, damit ich dessen Handwerk erlerne. Aber ich habe gebettelt und gefleht. Es ist eine so schreckliche, stinkende Arbeit. Lieber wäre ich im Wald geblieben und hätte wie mein Vater Pelztiere gejagt, auch wenn es schwer geworden wäre. Dazu hätten meine Eltern aber eine meiner Schwestern bei mir lassen müssen, damit sie sich für den Rest ihres Lebens um mich kümmert.“

„Oh“, ächzte Khor.

„Ja, eine schreckliche Vorstellung, auch noch einer von ihnen das Leben zu versauen, nur damit ich überlebe. Aber nun bin ich hier und ich werde das Vertrauen der Priester gewiss nicht enttäuschen.“

„Nun, so wie du mir das eben geschildert hast“, meinte Khor, „wird dir auch nicht viel anderes übrig bleiben.“

„So ist es“, nickte Sarti. „Auf Gedeih und Verderb bin ich hier, wenn du so willst.“

„Ach, komm! Das wird schon“, tröstete ihn Khor. „Ich hab ja immer gedacht, dass du blöd bist. Aber wie mir scheint, bist du ja ein ganz heller Kopf.“

„Ja, alle glauben immer, dass ich schwachsinnig sei. Nur weil ich diesen blöden Fuß und die nutzlose Hand habe. Aber mein Verstand arbeitet einwandfrei. Weißt Du, warum ich hier überhaupt aufgenommen wurde? Jedenfalls denke ich, dass dies der Grund ist.“

„Nein. Warum?“

„Weil ich mir all die Dinge, die man mir erzählt, augenblicklich merken kann. Man muss es mir nicht wieder und wieder vorkauen, wie den meisten Leuten. Einmal reicht - und schon habe ich es im Kopf.“

Anerkennend zischte Khor durch die Zähne. „Wirklich? Das ist ja unglaublich. Du kannst dir alles das merken, was man dir sagt?“

„Ja“, lachte Sarti, „alles hat eben seine guten und seine schlechten Seiten. Und Mutter Erde war gnädig genug, mir zum Ausgleich für meinen verkorksten Körper diese eine gute Seite zu gönnen.“

„Wollt ihr zwei nicht endlich mal Ruhe geben?!“ Ottel hatte seinen Kopf durch den Vorhang gesteckt und machte ein strenges Gesicht. „Es ist schon spät und lange wird es nicht mehr dauern, bis wir aufstehen müssen. Jedenfalls nicht lange genug, um noch ausreichend Schlaf zu bekommen. Morgen zum Sonnenaufgang müssen die heiligen Handlungen vollzogen werden. Es wird ein langer Tag.“

Flugs waren Khor und Sarti wieder unter ihre Felle gekrochen und hatten sich hingelegt.

„Na also“, brummte Ottel und zwinkerte Khor zu. „Siehst du, Khor. Manchmal schmeckt der Apfel besser als er anfangs ausgesehen hat. Und jetzt schlaft gut ihr beiden und träumt was Schönes. Ihr wisst, dass der erste Traum in einem neuen Zuhause in Erfüllung geht. Also, strengt euch an und träumt was Vernünftiges!“

„Wir werden uns Mühe geben“, lachte Sarti als Ottel wieder hinter dem Vorhang verschwand.

Khor kicherte leise. „Was ist das nur für ein komischer Kauz“, flüsterte er Sarti zu.

„Ja, aber er ist ein ganz, ganz Lieber“, antwortete der.

„Das schon“ meinte Khor. „Aber er hat mich ständig begrapscht und jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um mich in den Arm zu nehmen.“

„Er mag dich halt“, zuckte Sarti mit den Schultern. „Sei doch nicht so eigen! Es ist doch schön, wenn man von jemandem gemocht wird.“

Augenblicklich hatte Khor ein schlechtes Gewissen. Vielleicht war er ja einfach nur sein Leben lang zu sehr verwöhnt worden mit Zuneigung, dass er nun meinte, wählerisch sich aussuchen zu können, wem er gestattete, sie ihm entgegenzubringen. Sarti dürfte dies kaum je widerfahren sein.

„Und außerdem“, fuhr Sarti fort, „ist Ottel einfach durch und durch Priesterkrieger. Sie bewundern tapfere Männer. Nichts erscheint ihnen schöner als ein kraftvoller Krieger. Ein schöner, gut gewachsener Mann ist für sie eben einfach der Inbegriff der Vollkommenheit.“

„Ach so“, begann Khor zu verstehen und merkte wie er rot wurde. „Meinst du wirklich, dass er nur Männer mag?“

„Ob er ausschließlich Männer mag“, kam die Antwort, „weiß ich natürlich nicht. Aber dass er Männer mag, merkt man doch sofort. Du kannst ihn ja morgen gleich fragen. Ich bin mir sicher, dass er es dir sagen wird.“

„Na, besser nicht“, wiegelte Khor ab. „Sonst denkt er nachher noch, dass ich was von ihm will.“

„Jetzt sei doch nicht so!“ Sarti schüttelte den Kopf. „Er wird dir schon nichts tun, was du nicht willst. Er ist doch kein Wilder, der alles besteigt, was er begehrt. Die Liebe der Männer untereinander ist doch das höchste Gut der Priesterkrieger. Sie macht sie stark und unbesiegbar – und begehrenswert. Ihre Liebe zueinander ist die Gewähr ihrer Stärke und Kraft. Einer ist für den anderen da, jeder ist dem anderen das Liebste. Findest du es etwa nicht schön, gemocht zu werden?“

„Doch schon. Aber nicht unbedingt aus diesem Grund.“

„Mann, Khor, was bist du zickig“, lachte Sarti. „Mir ist es einerlei, warum mich jemand mag. Aber das“, meinte er, legte sich nieder und zog sein Schaffell über die Schultern, „liegt sicherlich auch daran, dass kaum einmal jemand einen Grund findet, mich zu mögen.“

Khor fühlte sich bemüßigt, Sarti zu widersprechen, unterließ es dann aber doch lieber, um nicht in den Verdacht zu geraten, sich anbiedern zu wollen. „Ich möchte jedenfalls nicht von dem riesigen, haarigen Kerl in den Arm genommen und geküsst werden“, meinte er noch und legte sich ebenfalls schlafen. Und schon waren sie wieder da, die Gedanken an Yasemin.

„Du kannst es ihm ja morgen früh gleich sagen“, murmelte Sarti mit schläfriger Stimme. „Liebe ist ein Geschenk, etwas sehr Wertvolles, das niemand gegen alles Gold und allen Bernstein der Welt eintauschen kann. Man bekommt sie einfach geschenkt oder aber eben auch nicht. Nun denn: Träum was Schönes, Khor.“

„Danke, Sarti. Du auch. Träum am besten von Orten, wo es immer schön warm ist. Und wo die steinernen Städte stehen. Das sind immer die schönsten Träume, finde ich.“

Doch steinerne Städte kamen in Khors Träumen nicht vor. Sie galten Yasemin und ihrem ganz persönlichen Geschenk. Die Feuchtigkeit verriet es.

KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit

Подняться наверх