Читать книгу Nomade im Speck - Wiglaf Droste - Страница 17

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»DIE WERDEN IMMO BLÖYDO! Jeyden Toch werden die blöydo!« Der Chemnitzer Taxifahrer schimpft wie ein ganzer Schwarm Feuerrohrspatzen. Am Bahnhof bin ich eingestiegen, nur zwanzig Meter weiter muss er zum ersten Mal auf die Bremse treten, weil ein Rudel Fußgänger ungeachtet des Kraftverkehrs auf die Fahrbahn tapert und sie langsam, sehr langsam überquert.

»Seyhen Sie – so blöyde sind die! Die rommeln hier rümm wie die Koppudden!«

»Rommeln« hat nichts mit dem von vielen Deutschen noch immer als »Wüstenfuchs« und angeblicher Widerstandsmann verehrten Generalfeldmarschall Erwin Rommel zu tun, sondern meint, dass die Passanten rammeln wie die Kaputten; rammeln bezeichnet in diesem Fall eine nicht näher definierte Fortbewegungsweise.

»Wissense, wöhär dös kömmt, dass die olle blöyde sind?«, fragt mich der Fahrer. Er ist klein und weißhaarig, seine Augen funkeln. Das wisse ich nicht, gebe ich ermunternd zurück, und er erklärt es mir. »Dos kömmt vom Eynkoufen! Die koufen olle den gonzen Daach eyn!« Dass ein dem hemmungslosen Konsum gewidmetes Leben in die geistige und soziale Verelendung und Verwahrlosung führt, leuchtet mir ein. Aber ist denn ausgerechnet Chemnitz, das in der DDR Karl-Marx-Stadt hieß, ein Konsumknotenpunkt? Offenbar ja. Der Taxifahrer berichtet von einem »Eynkoufszentrüm« im Osten der Stadt, einem im Süden, einem im Westen und einem im Norden. Diese »gewalldichen Läyden« würden von der Bevölkerung »reyhum obgegrost«, und wenn man »olle dursch« habe, gehe es wieder von vorne los.

Er nörgelt und zetert und salpetert weiter vor sich hin; meine Laune könnte nicht besser sein. Seit ein paar Jahren lebe ich auch in Sachsen, in Leipzig, eine knappe Zugstunde von Chemnitz entfernt, und jetzt wird mir ganz heimelig von dem nöligen Singsang. Die sächsische Mundart ist häufig Gegenstand allzu billigen Spottes, obwohl die alten Bundesdeutschen, die ihre Gratiswitze darüber machen, nicht einmal die beträchtlichen Unterschiede zwischen dem Leipziger, dem Dresdner und dem Chemnitzer Sächsisch kennen. Als ich von Berlin nach Leipzig zog, fragte mich ein Kollege: »Leipzig – kann man da leben?« Der Ausdruck in seinem Gesicht sagte mir, dass er die Frage ernst meinte. »Nein«, gab ich zurück. »Auf gar keinen Fall. Leben kann man nur in Berlin oder in den Käffern, aus denen die Berliner stammen.«

Selbstbescheidung in Fragen des Humors ist mir unverständlich; wer etwas treffen will, muss sein Ziel doch kennen. Allein in Leipzig, sagen Dialektforscher, würden mindestens 17 Regiolekte gesprochen; manche zählen sogar 29 Leipziger Lokalolekte. Jedenfalls kann das Leipziger Sächsisch sehr herzig sein, und schöne Wörter hat es auch. Ein wackeliger Tisch ist nicht wackelig, sondern lawede, und das ist gut zu wissen in den laweden Zeiten, in denen wir leben beziehungsweise durchs Leben rammeln.

Vor der Fahrt nach Chemnitz besuchte ich den Leipziger Stadtteil, in dem ich wohne: Gohlis. Im Rosental, einem Park, in dem man im Sommer prima herumlümmeln, lesen und den joggenden Kniepatienten von morgen zusehen kann, wurde der sächsische Schriftsteller Karl May von Zivilpolizisten nach erheblicher Rangelei verhaftet. May, der Erfinder von Helden wie Old Shatterhand, Winnetou und Kara Ben Nemsi, von tragisch sterbenden Indianern wie Klekih-petra oder Winnetous Schwester Nscho-tschi, von Halunken wie dem Schut und dem Mübarek, war, bevor er der Groschenromanbotschafter Sachsens wurde, ein veritabler Hochstapler. Bei einem der im 19. Jahrhundert berühmten »Pelzjuden« am Brühl im Zentrum Leipzigs hatte May sich als Bediensteter eines Adligen ausgegeben, zwei Pelze in Auftrag gegeben und sie, ohne zu bezahlen, später an sich genommen; der Kürschner rief die Polizei, und im Rosental wurde May geschnappt. Die Rauchwaren – das ist keine Bezeichnung für Tabak, sondern für Pelze – wurden ihm abgenommen, er selbst landete wie so oft hinter Gittern, wo er sich ein großes Heroenleben zusammenschrieb.

Seine Hauptfiguren waren nicht nur Deutsche, sondern eben unbedingt Sachsen, denn May, geboren in Hohenstein-Ernstthal, schickte sich selbst, den Mangelsachsen, auf Reisen um die Welt und stattete ihn mit allem aus, was er vermisste und entbehrte: wunderbare Gefährten, beste Waffen, märchenhafte Fähigkeiten, Wildbret in Hülle und Fülle und Goldnuggets im Überfluss. Mays Alter Ego, der Hobble-Frank, ist klein und schmächtig, wie der unterernährt und in Not aufgewachsene May es war, doch macht er sein Handicap mit List und Schläue wett.

»Siebzisch Prözent Rentno hoben wo hio«, mault der Chemnitzer Droschkenfahrer, »und die rommeln olle mit nöynundreyßisch Ko Em Ho dursch die Stodt!« Ich hätte nicht gedacht, dass ich den 1912 in Sachsen gestorbenen Karl May einmal persönlich treffen würde, aber dann geschah es doch noch, in Chemnitz.

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