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Lehrer Müller und Prag 1968

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Die im DDR-Plattenbaustil errichtete Neubauschule war an die Ecke von drei sich treffenden, stark vom Verkehr frequentierten Straßen erbaut worden. Die Lehrer fürchteten um das Leben der von ihnen unterrichteten Schüler, und es grenzte an ein Wunder, dass in den ersten Jahren nach der Eröffnung kein Kind zu Schaden gekommen war, denn Ampeln wurden zu aller Ärger erst sehr spät installiert.

Dazu waren mehrere Eingaben beim Rat der Stadt notwendig gewesen und wahrscheinlich auch einige schwere Autounfälle, die, nebenbei bemerkt, für die Schüler stets eine Abwechslung ihres öden Schuldaseins darstellten.

Horst Müller war seit ihrer feierlichen Eröffnung Lehrer dieser Schule. Sein ehemaliger Direktor hatte, nachdem er für die Leitung der neuen Bildungseinrichtung eingesetzt wurde, ihn gleich mitgenommen, weil er dessen Arbeit schätzte.

Horst unterrichtete in den Fächern Musik und Geschichte von der fünften bis zur zehnten Klasse.

Bisher hatten sie ihn in Ruhe gelassen. Er unterrichtete gewissenhaft stur nach Lehrplan, denn schließlich sollten sie ihm nichts nachsagen können.

Der Kollege, der ihn ständig mit der Frage nervte, warum er als Geschichtslehrer immer noch nicht der Partei der Arbeiterklasse, der SED (SED - Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, die führende Partei in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)), beigetreten sei, war im Jahr vor der Schuleinweihung an einer Embolie nach erfolgreicher Operation gestorben.

Müller argumentierte seine Weigerung stets mit den hohen Beiträgen, die Parteimitglieder - kurz: Genossen - zu zahlen hätten und mit der dort geforderten Parteidisziplin. Er beschwichtigte diese Ablehnung mit dem Hinweis, dass er bisher mit der Politik der Partei übereinstimme, aber er wolle sich doch das Recht auf eigene Meinung nach wie vor selbst vorbehalten. Mochten sie doch von ihm denken, was sie wollten. Von seiner christlichen Überzeugung her war ein Parteibeitritt kein Thema für ihn.

Nach dem Tode des auf ihn angesetzten Genossen ließen sie ihn - wie schon erwähnt - in Ruhe, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als die Schule die neue Direktorin bekam. Sie trat 1987 ihren Dienst an und wurde vom Schulrat als Genossin Sanam vorgestellt. Müller fand sie anfangs schön und sympathisch.

Aber diese Frau wurde für ihn nur der I-Punkt von Erkenntnissen und Überzeugungen, die in ihm seit den Ereignissen des Jahres 1968 in der Tschechoslowakei gekeimt waren.


***

Als Horst Müller damals seinen Urlaub in Prag der Schulleitung bekannt gab - denn sie wollte immer wissen, wo die Kollegen zu erreichen waren -, wurde er zum damaligen Direktor, dem Genossen Schneeacker, gerufen.

„Sagen Sie mal, Kollege Müller, wissen Sie überhaupt, in was für ein Land Sie dort fahren? Haben Sie denn nichts von den dortigen antisozialistischen Umtrieben gehört?“

Müller fand die kluge Antwort, die man solchen Leuten nur sagen konnte:

„Herr Schneeacker, ich weiß, was ich meinem Land, der Deutschen Demokratischen Republik, schuldig bin, deren Staatsbürger ich mich nennen darf.“

„Ich kann diese Reise zwar nicht verhindern, aber ich möchte Ihnen doch dringend davon abraten.“

„Du kannst mir viel erzählen„, dachte sich Müller und war froh, dass sie seine Gedanken nicht auch noch kontrollieren konnten, „Im Januar hast du mir auf einem gemeinsamen Nachhauseweg erzählt, dass du im Krieg bei der Waffen-SS warst. Du bist doch der Letzte, dem ich eine sozialistische Überzeugung abnehme.“

Durch eine Bekannte hatte Müller im Jahr zuvor einen tschechischen Journalisten kennen gelernt und ihm bei Übersetzungsarbeiten geholfen. Aus dieser ersten Begegnung wurde eine gute Freundschaft, die Jahre andauern sollte.

Anfang des Jahres 1968 traf er Pavel auf dem Weg zur Schule. Müller war völlig überrascht, als er von seinem Freund stürmisch umarmt wurde.

„Horst, wir sind frei. Alexander Dub?ek ist gewählt worden.“

Müller verstand ihn nicht ganz, aber freute sich doch mit ihm. Sie verabschiedeten sich in großer Herzlichkeit.

Umso ernüchterter war Herr Müller, als ein Schüler auf ihn zutrat und sich neugierig erkundigte, wer der Mann da gewesen sei. Müller zog es vor, nicht zu antworten.

Mit großem Interesse verfolgte Müller von nun an die Ereignisse im Nachbarland.

Pavel war Korrespondent der Zeitschrift „Sw?t v obrazech“ („Welt in Bildern“) und schrieb auch Artikel für das Blatt „Literarni listi“ („Literaturblätter“), das besonders in den Tagen des Widerstandes gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes eine wichtige illegale Informationsquelle blieb.

Horst Müller war Geschichtslehrer mit Leib und Seele. In der Tschechoslowakei konnte er Geschichte mit den Händen greifen. Das sollte er sich entgehen lassen? Nein, Herr Genosse Schneeacker, deine hohlen Argumente ziehen bei mir nicht.

Er war von Bekannten seiner Eltern, die dort einmal im Urlaub gewesen waren, eingeladen worden. Sie wohnten nicht weit von der Karlsbrücke in Prag. Der Weg zum Hradschin war außerordentlich reizvoll. Dort konnte er eine für ihn unvergessliche Beobachtung machen. Er erblickte freudig erregte Menschen, die einigen Männern zujubelten, als sie in das historische Gebäude des tschechischen Staatspräsidenten Ludvik Svoboda traten. Unter ihnen erkannte er Alexander Dub?ek.

Die Freude der Menschen war spontan. Sie kam aus ihrem Herzen. Müller verglich die Pflichtübungen in seinem Land mit dieser Szene, und er wurde sehr nachdenklich.

Die Bekannten übersetzten ihm abends die Rundfunksendungen. Da sprachen Bürger frei und offen aus, was sie bewegte. O, wie er die Tschechen um ihren Dub?ek beneidete.

In der Kneipe „U dvou ko?ek“ („Zu den zwei Kätzchen“) luden ihn zwei Arbeiter zum Bier ein. Sie schwärmten von der „Demokrace“, waren aber gleichzeitig von großer Sorge erfüllt, dass ihr Weg von den Warschauer Vertragsstaaten nicht geduldet wird.

„Sagen Sie allen Menschen in der DDR, dass wir den Sozialismus nicht beseitigen wollen. Wir wollen ihn nur demokratischer und menschlicher.“

Überall sah er am Tage die Menschen Zeitung lesen. Einen solchen Hunger an Informationen hätte er sich nie vorstellen können. Von der Nationalstraße auf den Wenzelsplatz kommend, erblickte er in tschechischer Sprache die Inschrift: „Breshnew, Ulbricht …. sind die Kreuzritter von heute“, in einem Hausflur: „Karel Gott ist unser Mann“ und auf dem Pet?in, wo der Prager Fernsehturm errichtet war, sah er die russische Schrift, die den aus der Sowjetunion stammenden Touristen Informationen über die Anlage gab, schwarz durchgestrichen mit der Bemerkung: „To neni pro nas! Das ist nichts für uns!“

Pavel sagte zu ihm, die Tschechen wollten aus dem Warschauer Vertrag austreten und den Status von Österreich erhalten. Bald kann auch jeder Tscheche dorthin reisen, wohin er will.

Danach sehnte sich Müller auch: grenzenlos reisen zu können. Sein Land kam ihm wie ein Gefängnis vor. Jeden Tag sah er diese elende Mauer, ein unüberwindbares Hindernis für seine Wünsche. O ja, er gönnte den Tschechen ihre Freiheit, denn ihre Ziele entsprachen auch seinen Interessen.

Er traf amerikanische Studenten aus Washington D.C., die ihm erzählten, wie sehr sich die Menschen hier für praktische Demokratie interessierten. Nur ein einziges Mal traf er einen Mann, in Tabor, der Dub?ek am liebsten erschossen hätte und ihn als Verräter titulierte.

Die alten Parteidogmatiker waren eine Minderheit geworden. Aber sie waren noch gefährlich stark.

Kurz bevor er Mitte August nach Berlin zurück fahren wollte, machte er abends vor dem Waldsteingarten eine eigentümliche Entdeckung. Eine Reihe schwarzer Limousinen, den üblichen Staatskarossen gleichend, hatte dort Halt gemacht. Leute huschten durch das kleine Tor, als ob sie nicht gesehen werden wollten.

Er erzählte gleich am nächsten Tag seinem Freund Pavel, was er gesehen hatte. Der konnte sich keinen Reim darauf machen. Vielleicht war diese Beobachtung für die folgenden Ereignisse ohne Bedeutung, oder hatte sie etwas damit zu tun?

Als Müller nach Berlin zurückgekommen war, erzählte er seinen Bekannten mit begeisterter Freude von dem, was in der Tschechoslowakei geschah. Er begegnete viel Skepsis.

Dann überschlugen sich die Geschehnisse. Invasion der Truppen der Warschauer Vertragsstaaten - nein „brüderliche Hilfe“. Verantwortungsbewusste tschechische Patrioten hätten um ein Eingreifen ersucht. Nur, wer waren diese „Patrioten“? Müller dachte an seine Beobachtung in der Nähe des Waldsteingartens.

Er schnitt auf Band die verzweifelten Aufforderungen des Prager Rundfunks mit, die er über Kurzwelle empfangen konnte: „Lieben deutschen Freunde! Hier ist Prager tschechoslowakische Rundfunk. Wir und das tschechische Volk sind mit der Okkupation unseres Landes nicht einverstanden. Lieben deutschen Freunde, verhalten Sie sich ruhig …“, dann den Aufruf des eigenen Senders, der mit unwahrscheinlichem Zynismus die Aggression als brüderliche Hilfe und die menschlichen Züge des tschechischen Weges als Konterrevolution bezeichnete.

Müller ekelte es. Er traf in diesen Tagen eine ehemalige Kommilitonin und machte seiner Empörung Luft. Sie reagierte:

„Horst, sei bloß ruhig. Ich bin in der Partei und verpflichtet, dich zu melden.“

„Wenn du das mit deinem Gewissen vereinbaren kannst? Die Wahrheit lässt sich nicht für immer unterdrücken.“

Der Student Jan Parlach verbrannte sich in Prag vor dem Wenzelsdenkmal, um gegen die Okkupation und für die Freiheit seiner Heimat ein Fanal zu setzen. Die Parteileute wurden nervös.


Überreizt und gespannt war auch die Atmosphäre in der Vorbereitungswoche auf das neue Schuljahr 1968/69.

In der ersten Unterrichtsstunde nach den Schulferien und dem Fahnenappell, auf dem die Schüler in Pionier- oder FDJ-Kleidung (FDJ – Freie Deutsche Jugend – kommunistische Jugendorganisation in der DDR – Zeichen der FDJ-Kleidung war ein blaues Hemd mit dem Wappen einer strahlenden Sonne am Hemdsärmel) zu erscheinen hatten, musste eine obligatorische Politinformation abgehalten werden, in der die aktuellen Geschehnisse während der Ferienzeit ins parteiideologisch „richtige“ Licht gerückt werden mussten.

An den Reaktionen vieler Kollegen stellte Müller fest, dass eine Anzahl so dachte wie er. Das beruhigte seine aufgeputschten Gefühle etwas.

„Natürlich werden die Schüler wieder mit Argumenten der Westmedien kommen“, ereiferte sich Genosse Direktor Schneeacker.

Eine Genossin der Schulparteileitung (SPL) fand dann die befreiende Lösung:

„Wen der Feind lobt, der hat Fehler gemacht.“

Nun war alles wieder in Butter. Das ideologische Schema stimmte wieder, in das alles eingeordnet werden konnte.

Sie zeigte sogar Verständnis für den Widerstand des tschechischen Volkes; aber, so betonte sie, der Sieg des Sozialismus sei nicht aufzuhalten und eines Tages werden die tschechischen Menschen im Rückblick auf ihre Geschichte den Truppen des Warschauer Vertrages für ihre selbstlose Hilfe dankbar sein.

Schade, dass sie es nicht mehr erleben konnte, wie sich später die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten für diesen Einfall vor dem tschechischen Volk entschuldigten.

Müller sollte diese Politinformation in einer neunten Klasse durchführen. Eine Genossin der SPL (Schulparteileitung) wollte bei ihm hospitieren.

„Sie waren in Prag, Kollege Müller, und ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen schwer fällt, unbefangen über diese Dinge dort zu sprechen. Fragen Sie doch einfach, was die Schüler darüber wissen. Außerdem hat mein Sohn einen Kurzvortrag zu den Ereignissen vorbereitet.

Der Fahnenappell wird Ihnen die Zeit auch noch etwas verkürzen.“

Sie zwinkerte ihm bedeutungsvoll zu, und er merkte, dass die Genossen untereinander auch nicht so einmütig dachten.

Erst später erfuhr er, dass die Genossin noch ein anderes Motiv hatte, ihm aus dieser vertrackten Situation, die ihm Beruf und Altersversorgung gekostet hätte, zu helfen. Sie stammte aus der gleichen ostpreußischen Stadt, in der er während des Krieges geboren wurde. Müller konnte in seinem Leben immer wieder die Erfahrung machen, dass Menschen, die von dort kamen, innerlich tief miteinander verbunden waren.

Trotzdem wurmte es ihn, dass er vor den Schülern bisher keine Stellung bezogen hatte.


Als er im Geschichtsunterricht einer sechsten Klasse die Hussitenbewegung nach dem vorgeschriebenen Lehrplanstoff behandelte, spielte er den Kindern Bed?ich Smetanas Komposition „Tabor“ aus dem Zyklus „Mein Vaterland“ vor.

Er erläuterte die Komposition so, dass man leicht Rückschlüsse auf die Gegenwart ziehen konnte.

Er ging sogar noch einen Schritt weiter und erklärte ihnen den Inhalt der folgenden Sinfonischen Dichtung „Blanik“:

„Das ist ein Berg in der Tschechoslowakei, in dem nach der Sage die Befreier der Tschechen warten. Eines Tages werden sie heraus kommen und ihnen die Freiheit bringen.“

Die Kinder schauten ihn groß an. Einer wollte sich sogar die Platte kaufen.

Als er seinem Freund Pavel davon erzählte, holte der stumm ein kleines Relief aus der Schublade und zeigte es ihm bewegt.

„Nur meine besten Freunde dürfen das sehen.“

Horst Müller sah die Darstellung des Wenzelsdenkmals mit einem angelehnten Kranz.

„Jan Parlach“, murmelte er, „was bedeutet aber die Inschrift ,NEPOMINAME’?“

„Wir werden es niemals vergessen.“

„Weißt du, neulich traf ich unseren Pionierleiter. Er war so voller Hass gegen euch. Ich sagte ihm, ich bezweifle, dass überhaupt jemand die Truppen um Hilfe gebeten hätte. Er antwortete mir, dass er gut mit Heinz Hoffmann, dem Verteidigungsminister, bekannt sei und der hätte in diesem Zusammenhang die Namen Bilak und Husák erwähnt.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen, denn Husák versucht ja noch zu retten, was zu retten ist“, zweifelte Pavel.

Das war nun schon 20 Jahre her. Pavel verstarb Mitte der 70er Jahre ganz unerwartet an einem Herzinfarkt.

Das letzte Schuljahr

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