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Vorbereitungswoche - Müller macht sich seine eigenen Gedanken

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Das neue Schuljahr 1988/89 begann mit der üblichen Vorbereitungswoche, in der die Lehrer sich um ihre Fachräume, die Lehrbücher und Materialien zum Unterrichten kümmerten und vor allem politisch eingeschwenkt werden sollten. Außerdem erhielten die Klassenleiter die Stundenpläne des ihnen anvertrauten Schülerkollektivs und alle Kollegen ihren persönlichen Einsatzplan. Dann mussten organisatorische Fragen des Schuljahres gelöst werden, wie die Überarbeitung der Hausordnung, die Bekanntgabe des Schuljahresarbeitsplanes, die Pausenordnung, die Ordnung während der Schülerspeisung, die Festlegung der Pausenaufsichten und, und, und ...

Die Direktorin, Genossin Sanam, wurde in der ersten großen Sitzung für alle Lehrer nicht müde, die führende Rolle der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, eine marxistisch-leninistische Partei, die für sich die führende Rolle im Staatswesen der DDR beanspruchte) zu betonen.

Jedes Klassenelternaktiv (KEA), das bis zum Oktober neu aufgestellt und gewählt werden musste, hatte mindestens einen Genossen der Partei zur Mitarbeit in diesem Gremium zu gewinnen.

Warum eigentlich, fragte sich Müller, der jetzt eine zehnte Klasse zum Abschluss führen sollte.


***

Seine Gedanken schweiften wieder ab.

Diesmal zum Urlaub, den er in diesem Jahr mit seiner Frau Carolin in Rumänien verbracht hatte.

Ihr Sohn hatte ihnen diese Reise verschafft. Schon mit achtzehn Jahren war er mit einem Kollegen kreuz und quer durch Ungarn, Bulgarien, die Tschechoslowakei, die Sowjetunion und Rumänien gefahren, gewandert und getrampt.

Nun hatte er seinen Eltern eine Individualreise verschafft, eine Reisemöglichkeit, die nicht DDR-typisch war. Für die Angestellten im Haus des Reisens am Alexanderplatz schien diese Individualreise ein Horror an Arbeit zu sein. Müllers mussten lange am Schalter warten, bis sie alle Voucher und anderen Unterlagen wie beispielsweise Flugtickets in der Hand hielten.

Der Flug nach Bukarest mit einer Maschine der rumänischen Fluggesellschaft TAROM verlief ohne besondere Zwischenfälle. Nur das Bordessen war schon ein kleiner Vorgeschmack auf die Mahlzeiten im Hotel. Es mundete nicht sehr gut.

Als Individualreisende wurden sie vom Flughafen von einer jungen Reiseleiterin zu einem schwarzen Dacia mit gelber Nummer geführt, dessen Fahrer einen schwarzen Anzug trug. Er fuhr sie zu einem der Erste-Klasse-Hotels in Bukarest, nahm einen der Voucher entgegen und fuhr ab.

Am nächsten Tag wurden sie mit diesem Wagen zu einer Stadtrundfahrt geladen, besichtigten ein Landmuseum, eine orthodoxe Kirche und vieles andere mehr. Müller wunderte sich, mit welcher Frechheit der Fahrer durch die Straßen von Bukarest fuhr. Zur Kirche benutzte er eine Einbahnstraße in Gegenrichtung. Ein ihnen entgegen kommender Polizist salutierte sogar.

„In was für einem Wagen saßen wir denn da? Der Mann konnte sich alles erlauben“, wandte sich Müller nach der Stadtrundfahrt verwundert an seine Frau. Carolin konnte sich das auch nicht erklären.

Bei der Rundfahrt fielen die großen Plätze und protzigen Bauten auf. Carolin flüsterte ihrem Mann spontan ins Ohr:

„Staatlicher Größenwahnsinn! Der Ceaucescu muss verrückt sein.“

Nachts war Bukarest dunkel. Die Straßenbahn, die vor ihrem Hotel hielt, schien innen nur mit einer installierten Taschenlampe beleuchtet zu sein, deren Batterien schon ziemlich schwach waren. Auch die Straßen waren finster. In den Fenstern der Einwohner brannte kaum Licht. Nur die Großbauten des Ceaucescu-Sozialismus prangten die ganze Nacht über im grellsten Flutlicht.

Aber erst am letzten Tag ihres Urlaubs empörten sie sich maßlos über dieses übertriebene Licht aus zahlreichen Scheinwerfern. Da waren sie auch in Sibiu (Herrmannstadt), Mamaia und Suceava gewesen. Da wussten sie, dass die Rumänen nur 42 KW Strom im Monat verbrauchen durften. Das ist der monatliche Energiebedarf eines Kühlschrankes!

Das rumänische Fernsehen, welches kurz vor 20 Uhr mit seinem Programm den Äther beleidigte, war auch für den, der kein Wort Rumänisch verstand, ein absolutes Brechmittel. Zuerst kam heroische Marschmusik, der sich noch ein Chor zugesellte, und danach wurde in den Nachrichten das Lob Elena und Nicolae Ceaucescus gesungen vor einem Neubau, auf einem Feld, und man sah immer wieder grinsende, zufriedene Gesichter.

Die Hofberichterstattung ist hier ja noch schlimmer als bei uns, dachte sich Müller, aber sie konnte sehr schnell auch in der DDR solche Formen annehmen, wenn der Generalsekretär der Partei anders hieße.

In Sibiu erfuhren sie, dass es dort kaum Milch und Eier zu kaufen gäbe. Nach drei Happen aus einem Schnellimbiss war es Müller mehrere Tage schlecht ergangen. Der Magen hatte sich umgestülpt.

Im Hotel gab es jeden Tag Ei und Milch.

„Wir essen den Rumänen alles weg“, schämten sich Müllers und aßen ohne Appetit.

In Mamaia erfuhren sie erstmals, dass diese schwarzen Dacias mit den freundlichen Fahrern im schwarzen Anzug auch noch andere Aufgaben hatten. Das junge Mädchen, das sie als Reisebegleiterin zugeteilt bekamen, hatte Mut. Erstmals lernten sie einen neuen Begriff kennen: „SECURITATE“.

Am Schwarzen Meer lernten sie auch ein nettes Seniorenehepaar aus Brašov (Kronstadt), der berüchtigten Stadt des Grafen Dracula, kennen.

Sie sprachen fließend Deutsch, da sie zur Volksgruppe der Siebenbürgener Sachsen gehörten. Sie betätigten sich als Reiseleiter. Ihren Enkel hatten sie mitgenommen, damit er endlich einmal gutes Essen kennen lernt.

Sie waren sehr unglücklich, dass er nicht viel aß und ständig herummäkelte.

Müllers empfanden die Zustände in den Schwarzmeerkurorten empörend normal. Hier gab es gutes Essen, ein reichliches Warenangebot, Abwechslung und vielseitige Möglichkeiten der Erholung. Ein deutscher Urlauber prahlte in penetrant lauter und angeberischer Weise:

„Ich fahre schon über 30 Jahre hierher. Rumänien ist ein wundervolles Land!“

Hat der Mann in den 30 Jahren überhaupt etwas von diesem Land mitbekommen, von seinen Problemen und dem Frust der hier lebenden Menschen?

Müllers waren froh, als sie in der kleinen AN in den Norden nach Suceava fliegen konnten.

Zum Hotel „Arcašul“ („Der Bogenschütze“) fuhr sie wieder ein Dacia mit schwarzer Farbe und gelber Nummer. Beide dachten nur: „Securitate“ und schwiegen.

Dem Hotel gegenüber befand sich eine kleine griechisch-orthodoxe Kirche, der gerade, als sie aus dem Hotelfenster schauten, Frauen in dunkelfarbenen Kopftüchern und Männer mit den typischen Gesichtern bäurischer rumänischer Abstammung entströmten.

Sie versammelten sich draußen vor einem steinernen Kreuz und hielten Liebesmahl.

Neugierig geworden, wollten Müllers die Szene näher betrachten. Ein Mann führte sie in das vom Weihrauch geschwängerte Kirchlein, entpuppte sich aber schnell als ein Schnorrer, der unbedingt Zigaretten haben wollte. In der Kirche dauerte es lange, bis sich Müllers an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

Zwei Tage später war hier eine Trauerfeier. Das Schauspiel berührte sie eigenartig. Männer trugen Kirchenfahnen voran. Der Tote wurde auf offener Trage zum Sarg gebracht und auf der Straße eingesargt. Hinter ihm folgten die Angehörigen mit dem schwarz gekleideten Popen und den Trauergästen. Ein mit einem Baldachin überdachter von vier schwarzen Pferden gezogener Leichenwagen bewegte sich, die Trauergemeinde nach sich ziehend, zum Friedhof.

Der Friedhof von Suceava schien nur aus Gruftgräbern zu bestehen, über denen oft kleine Kapellen gebaut waren, in denen man nach dem Aufschließen still Andacht halten und des Verstorbenen gedenken konnte. Die Grüfte waren durch große, mit Henkeln versehene Platten abgedeckt. Horst Müller konnte sich jetzt gut die Horrorvisionen der Draculafilme vorstellen, in denen eine Leichenhand den Deckel hochhob. Carolin war deshalb froh, als sie wieder in die Stadt zurückkehrten.

„Du, „, bemerkte sie nachdenklich, „fällt dir nichts an den Häusern hier auf? Die sehen alle so merkwürdig neu aus. Hier stimmt doch irgendetwas nicht.“

Müller konnte sich das ebenfalls nicht erklären.

Am Sonntagabend besuchten sie die Versammlung einer freien evangelischen Gemeinde. Der wunderschöne Gesang hatte sie angelockt. Sie fanden auch gleich Kontakt und wurden eingeladen.

Die Unterhaltung war in Englisch.

„Wo könnten wir uns treffen?“

„Wir wohnen im ,Arcašul’.“

„Nein, dort auf keinen Fall. Das gehört der Securitate.“

„Dann vor dem Kino.“

Müllers hatten es seitlich vom Hotel entdeckt, als sie in die Stadt gingen.

„O, ja, das ist gut.“

Lange warteten sie zum verabredeten Termin vor dem Kino. Sie verstanden nicht, warum sie sich nicht vor dem Hotel treffen sollten. Der Mann, mit dem sie sich in der Kirchgemeinde unterhalten hatten, kam nicht.

Carolin wollte ihren Mann bewegen, nicht mehr länger zu warten und zu gehen. Da rannte ein Sportler, nur mit einer kurzen Turnhose bekleidet, am Kino vorüber. Zuerst beachteten die Beiden ihn nicht, doch dann erkannten sie in ihm den Bekannten. Er winkte ihnen heimlich mit einer knappen Handbewegung, und sie folgten ihm. An der Ecke parkte ein weißer Dacia, dessen Fahrer sie sofort einsteigen hieß. Es war der Pfarrer der Gemeinde. Der Bekannte zog sich so schnell wie möglich im Wagen Hemd und lange Hose an und fragte:

„Folgt uns jemand?“

„Nein, es scheint alles gut gegangen zu sein.“

Noch unverständlicher war es für sie, dass sie lange Zeit vor dem Neubaublock, in dem der Bekannte wohnte, im Auto sitzen mussten und erst aussteigen durften, als „die Luft rein“ war. Auch im Fahrstuhl und Treppenhaus musste alles geräuschlos und ohne Aufsehen vor sich gehen.

„Bitte entschuldigen Sie unser absonderliches Verhalten. Bei Ihnen zu Hause wird das wahrscheinlich als unnormal empfunden. Hier aber darf ein Rumäne unangemeldet keine Ausländer empfangen. Das ist streng verboten.“

Müllers waren sehr betroffen. Hoffentlich hatten sie die beiden Männer aus der von ihnen besuchten Kirche nicht in Gefahr gebracht.

Die rumänischen Christen schütteten nun ihr ganzes Herz aus. Müllers erfuhren, dass rumänische Autobesitzer nur zehn Liter Benzin im Monat verbrauchen durften. Dem Pfarrer schenkten seine Gemeindemitglieder hin und wieder Benzin, damit er Alte und Kranke besuchen konnte. Dann brach die ganze angestaute Not heraus. Die Kinder bekommen kaum Milch. Es fehlt an Grundnahrungsmitteln wie Eier, Butter, Obst und Gemüse um vom Fleisch gar nicht zu reden. Der Stromverbrauch ist beschränkt. Ein Mehrverbrauch wird bestraft.

Der Kirchgemeinde fehlte es vor allem an rumänischen Bibeln. Es dauerte lange, bis sie weiter sprachen. Die beiden Rumänen staunten nur, dass in der DDR der Verkauf von Bibeln nicht verboten war, und es sogar kirchliche Zeitungen gab.

Dann erzählten sie stockend und erregt, dass sie einen Ring aufgebaut hätten um rumänische Bibeln über die Grenze zu schmuggeln. Über Familienväter mit vielen Kindern hatte die Securitate in den Ring einbrechen können. Diese Väter sind verhaftet und zur Mitarbeit in der Securitate gezwungen worden. Ihnen wurde angedroht, die eigenen Kinder wegzunehmen und in ein Heim zu bringen. Aus Angst ist auch die letzte Bibelverteilung verraten worden. Die Bibeln kamen über die sowjetische Grenze und gelangten in die Gemeinde von Botošani, einer Stadt östlich von Suceava. Während des Gottesdienstes wurde die kleine Kirche von Securitate-Leuten umstellt und alle Gottesdienstbesucher verhaftet.

Die Sicherheitsleute wollten alle geschmuggelten Bibeln haben. Trotzdem konnten einige Exemplare versteckt und in Sicherheit gebracht werden. Viele der Verhafteten wurden geschlagen und gefoltert.

„Sagt bitte unseren ausländischen Freunden, dass sie erst wieder Bibeln schicken sollen, bis ein neuer Verteilungsring aufgebaut ist. Jetzt ist es sehr gefährlich.“

Mit aller Vorsicht, für die sie nun Verständnis hatten, verließen sie das Haus.

„Wissen Sie,“, sagte der Pfarrer, als er an Kindern vorbeifuhr, „Ceaucescu hat Antikonzeptionsmittel verboten. Daher kommt unser Kinderreichtum. Aber wie sollen die Kinder bei dem mangelnden Angebot ernährt werden? Das ist unser größtes Problem. Für die Securitate ist es das beste Erpressungsmittel, um Familienväter gefügig zu machen. Sie droht nämlich damit, die geringen Vergünstigungen zu streichen, falls sie die Mitarbeit verweigern.“

Er schaute in den Rückspiegel und wurde nervös:

„Uns folgt ein Dacia mit gelber Nummer … Dem HERRN Jesus sei Dank. Er ist abgebogen.“

„Sagen Sie,“, fragte Müller, um von dem soeben überstandenen Schrecken etwas abzulenken, „warum sieht Suceava so eigenartig neu aus?“

„Hier wurde alles, was an die deutsche und österreichische Vergangenheit erinnerte, abgerissen. Dasselbe machen sie auch mit den Dörfern. Eingeschlossen in diese ganze Kampagne sind auch ungarische Ansiedlungen. Ich persönlich empfinde das als Verbrechen und bin empört darüber.

Ceaucescu ist ein Albtraum für das ganze Volk“, antwortete der Pfarrer bitter.

Müller erinnerte sich an den Preußenwahn Ulbrichts, dem das Berliner Stadtschloss und die Garnisonskirche von Potsdam zum Opfer gefallen waren.

Sie tauschten im Wagen noch ihre Adressen aus, verabredeten sich aber wegen des damit verbundenen Risikos nicht mehr.

Nachts im „Arcašul“ konnte Horst lange nicht einschlafen. Er musste immer wieder an die Worte des Pfarrers denken. Vieles, was er im Land erlebt hatte, war ihm auf einmal erklärbar. Da hörte er draußen einen Wagen vorfahren. Horst ging zum Fenster und erblickte einen Lieferwagen, dem einige Männer entstiegen, die mit Kalaschnikows bewaffnet waren. Kurz darauf verschwanden sie im Hotel. Hier schliefen sie nun also, in einem Nest der Securitate.

Die am folgenden Tag in einem schwarzen Dacia mit gelber Nummer durchgeführte Fahrt zu den Moldauklöstern, von denen eins schöner als das andere war, erfreute beide wenig. Der freundliche Fahrer war bestimmt ein Securitate-Mann. Umso erstaunter waren sie, einen schwarzen Dacia mit gelber Nummer zu sehen, der von einer Nonne gefahren wurde. Jetzt fiel es ihnen auch auf, dass ihr Fahrer bei vielen ihrer Aufenthalte in den Klöstern verschwand und sich eifrig mit den Nonnen unterhielt.

Am letzten Tag in Suceava hatten sie beim Hotel eine Zeitlang Menschen beobachtet, die in einen Laden gingen und nicht heraus kamen. Neugierig geworden gingen Horst und Carolin ebenfalls hinein. Es war eine Fleischerei. In den Regalen, Vitrinen und auf den Fleischhaken war buchstäblich nichts zu sehen, nicht einmal der kleinste Krümel. Die Menschen standen und warteten mit leeren Augen apathisch auf die eventuell eintreffende Ware. Vielleicht wollten sie auch nur den Geruch des Fleisches einatmen, der von der letzten Lieferung übrig geblieben war.

Im Hotel brachten sie kaum einen Bissen des köstlich zubereiteten Steaks herunter, da es ihnen wie ein Diebstahl am rumänischen Volk vorkam. Der schwarze Dacia mit der gelben Nummer ließ auf sich warten. Es war derselbe Fahrer, der sie zu den Klöstern gefahren hatte. Er grinste nur, als ihm Horst Vorhaltungen wegen der Verspätung machte. Kurz vor dem Flugplatz fuhr der Wagen plötzlich auf ein Betriebsgelände.

„Der Chef will mitfahren“, erklärte der Fahrer.

Horst sah in eine Halle mit einem Röhrensystem für Fernheizungsanlagen hinein. Einige Gestalten huschten dort herum und sahen immer wieder zu ihnen hinüber.

In Müller kroch die Angst hoch. Ob sie von ihrem geheimen Treffen wussten? Endlich kam der Chef, stieg mit ein, und sie rasten zum Flugplatz, wurden dort bevorzugt abgefertigt und bis zum Abflug beobachtet.

In Bukarest angekommen, wollten sie noch einmal einen kleinen Stadtbummel unternehmen. Sie gingen in die Gassen neben den Boulevards, um die Geschäfte zu sehen. Der Gestank, der ihnen entströmte, war widerlich.

Auf einem Marktplatz waren gerade Eier eingetroffen. Sie waren zu 25 Stück auf speziell dafür hergestellten Papptabletts geliefert und übereinander gestapelt worden. Der Andrang der Käufer war enorm. Jeder wollte gleich ein ganzes Papptablett mit Eiern kaufen. Der Verkäufer jedoch wollte nur die Eier herausgeben. So sahen sie eine Frau, die ganz verzweifelt weinte, weil der zerschlagene Inhalt aus ihrem Campingbeutel tropfte. Das war bei dem Gedränge unvermeidlich. Ein Mann wollte die Eier in den Kofferraum seines Autos verstauen, sollte aber kein Eiertablett mitgeliefert bekommen.

Da kam in ihm die ganze aufgestaute Wut zum Ausbruch, und er ging auf den Verkäufer los.

Die Szene wurde brenzlig, und Müllers zogen es vor weiterzugehen.

Da sahen sie, was ihnen schon in Suceava aufgefallen war: Zwei Streifenpolizisten hielten auf der Straße eine Frau an und verlangten, den Inhalt der Einkaufstasche zu inspizieren.

„Können die Rumänen noch nicht einmal für ihr sauer verdientes Geld das einkaufen, was sie wollen?“, fragte sich Müller angewidert.

„Komm Carolin, wir gehen in das Hotel zurück. Ich will von diesem Land nichts mehr sehen.“

Am letzten Tag ihres Rumänienurlaubs blieben sie auf ihrem Zimmer. Sie wollten unter sich sein, wollten nicht mehr die Ober ertragen mit ihrem ewigen „Change“, wollten die Zeit abwarten, bis der schwarze Dacia mit der gelben Nummer sie zum Flugplatz brachte.

Sie duschten sich. Horst fand Carolin bezaubernd. Er warf sie aufs Bett. Sie mochte solche Überraschungen und kam schnell in Stimmung. Die Umwelt wurde bedeutungslos. Die Bettdecke war auf den Fußboden gerutscht. Was machte das schon? Der Sommer in Rumänien war heiß, und es war schön, seine Frau so zu sehen - nackt, in hellem Licht gebadet.

„Ich bin mit dir schon über 20 Jahre verheiratet, aber du gefällst mir immer noch verdammt gut“, schmeichelte er ihr.

Sie gab sich ihm hin und empfing seine Zärtlichkeiten und Liebkosungen. Herrlich, diese Flitterwochenstimmung! Der Höhepunkt --- nein!!! Nur ein penetrantes Klopfen an der Tür. Carolin zog sich rasch ihr Kleid über. Horst wusste gar nicht, was los war. Als sie öffnete, stand draußen ein Mann mit Kalaschnikow und sagte im barschen Ton:

„Control!“

„Was wollen Sie?“, fragte Carolin geistesgegenwärtig. Horst unterstrich es im scharfen Ton:

„Was ist denn da los?! Wie kommen Sie dazu, uns zu stören?“

Der Mann entschuldigte sich und verschwand.

Als sie kurz darauf nun doch zum Mittagsessen in das Restaurant des Hotels gingen, erblickten sie ihrem Zimmer gegenüber eine sperrangelweit geöffnete Tür, wo Rumänen Rumänen kontrollierten.

Horst sah auf den Fußboden geworfene Kleidungsstücke.

„Ich kann dieses Land nicht mehr ertragen. Hoffentlich fliegen wir bald“, kam es leise und resigniert von Horsts Lippen. Dann aber wurde er wütend:

„Und so ein Verbrecher wie Ceausescu, der sein ganzes Volk entmündigt und unterdrückt, ist auch in unserem Lande vorstellbar. Wie kann eine echte Demokratie entstehen, wenn eine Partei nur auf einen Einzelnen hört und von sich behauptet, die absolute Wahrheit gepachtet zu haben? Weißt du, Carolin, auf einmal empfinde ich den Sozialismus als eine unvernünftige Gesellschaftsordnung, die beseitigt werden muss.“

Der schwarze Dacia mit der gelben Nummer raste zum Flugplatz. Er hupte sogar, als ein CD(Corps Diplomatique)-Wagen die schnelle Fahrt behinderte. Horst und Carolin saßen die ganze Zeit eisig schweigend da. Sie wollten möglichst rasch im Flugzeug sitzen.

Dort erlebten sie eine Szene, die sie restlos empörte. Bei der Zollabfertigung wurde eine schlicht gekleidete rumänische Frau aufgefordert, ihren Koffer zu öffnen. Der Zollbeamte wühlte in ihren Sachen herum und riss das braune Papier, in das die Geschenke eingewickelt waren, herzlos auseinander. Sah der Beamte nicht, dass bei dieser Frau absolut nichts Verbotenes im Koffer war? Nein, er sah weder ihre Tränen, noch ihre verzweifelte Hilflosigkeit bei der absichtlich brutalen Durchsuchung der armseligen Habseligkeiten, die auch noch dem Koffer entnommen wurden. Da sah der Beamte das Visum von Horst, wurde auf einmal überaus freundlich und ließ ihn unkontrolliert passieren. Müller wollte schreien: Kontrollieren Sie mich ebenfalls so gemein! Aber er konnte vor Erregung kein Wort herausbringen.

In der Maschine von TAROM flogen sie über die Karpaten. Das Blau da unten war kein See, sondern ein Tannenwald. Rumänien mit deinen herrlichen Bergen, Tälern und Wäldern, den romantischen Dörfern und Feldern, die an Bilder des 19. Jahrhunderts erinnerten, du könntest das glücklichste Land der Welt sein, mit frohen, satten Menschen. Aber über dir schwebt der böse Geist des neuen Dracula, Nicolae Ceausescu. Das Draculaschloss in Brašov (Kronstadt) hat er sich ja jüngst deshalb angeeignet.

Berlin! Wie schön! Ich bin wieder da, dachten sich beide.

Die Kontrollen am Flughafen Schönefeld waren erholsam lässig.


***

Horst blickte zur Direktorin. Wie kann eine nette Frau nur so kariert politisch quatschen?

Sie sang das Lob des Sozialismus. Sozialismus und Frieden sind eine Einheit. Diese Grundwahrheit sollte allen Schülern immer wieder vor Augen geführt werden.


***

Bei Müller krampfte sich das Herz zusammen.

Er dachte an Afghanistan. Als die Russen, Verzeihung, Sowjetsoldaten in dieses Land einfielen, hatte er aus Protest die ganze Sammlung der Zeitschrift „Sputnik“ zum Altstoffhändler gebracht. Auch von der Moskauer Olympiade 1980 wollte er nichts mehr wissen. Irgendwie fühlte er, dass diese Aggression der Anfang vom Ende des Sowjetimperialismus war.

Dem Staatsbürgerkundelehrer, der ihn in seinem Auto mitnahm, sagte er es vorsichtiger:

„Ich denke, dass die Sowjetunion einen großen Fehler gemacht hat. Das kann nicht gut gehen.“

Daraufhin begann der Parteigenosse zu toben:

„Die Amerikaner können sich alles erlauben, aber bei der Sowjetunion machen sie gleich wer weiß was für ein Geschrei!“

Auf dieser Grundlage war kein Gespräch mehr zu führen.

Müller erinnerte sich, dass er wenige Wochen später beinahe in eine sehr fatale Situation geraten war.

Sie hatten zu der Zeit Lehrerweiterbildung im Rahmen des Kurssystems, wie man das damals nannte. Viele bezeichneten den Grundkurs auch kurz: „Rotlichtbestrahlung“.

Eines der Seminare leitete der Stadtbezirksschulrat. Er eröffnete das Seminargespräch mir einer Frage, die bei Müller das Blut im Leibe gerinnen ließ:

„Warum war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan eine höchst moralische Tat? Kollege Müller, versuchen Sie, darauf zu antworten.“

Müller spürte, hier ging es um seine Existenz. Er dachte an das Gespräch mit dem Staatsbürgerkundelehrer. Die Augen der anwesenden Kollegen richteten sich auf ihn. Müller hätte schreien können: Das ist ein eklatanter Bruch des Völkerrechts gewesen und hat mit Moral gar nichts mehr zu tun! Die Wut stieg in ihm hoch. Schon einmal hatte er sich wegen dieses Schulrates selbst verleugnet und furchtbar geschämt, nicht mehr Zivilcourage gezeigt zu haben. Aber diesmal wollte er es ihm zeigen.

Wenn Müller in Wut war, kamen ihm oft ganz klare Gedanken. So antwortete er orakelhaft:

„Vielleicht diente das Ganze dem historischen Fortschritt?“

Die Antwort verunsicherte den vorher so gefährlich selbstsicheren arroganten Genossen Stadtbezirksschulrat.

Mit der Frage: „Was ist denn historischer Fortschritt?“, manövrierte der sich selbst in die Defensive. Er ging sogar von dem Tisch herunter, auf den er sich provokativ, als ob er der Größte wäre, mit lässig übergeschlagenen Beinen gesetzt hatte. Nicht ein Kollege sprang auf das Thema Afghanistan an, sondern beobachtete innerlich amüsiert die Schwimmübungen des Schulrates. Das hat er verdient, sagte sich Müller.

Es waren wohl schon fünf oder sechs Jahre her, da hatte er ihn kennen gelernt. Sein damaliger Direktor, Herr Genosse Fuchs, sprach ihn während der Ferien auf der Straße an:

„Ich brauche Sie unbedingt in der Schule. Es geht um die Schülerin Kathrin Paulin. Die Eltern haben den Antrag auf EOS (EOS -Erweiterte Oberschule) gestellt. Zur Entscheidungsfindung brauchen wir einige Lehrer, die in der Klasse von Kathrin unterrichten.

Ich möchte Ihnen gleich sagen: Es geht hier von vornherein um eine Ablehnung des Antrages. Kommen Sie?“

„Ich kenne die Kathrin als fleißige und zuverlässige Schülerin und muss mir daher zuerst einmal ein Bild von der ganzen Angelegenheit machen. Ich werde kommen.“

In der Schulsitzung sah er fast alles Parteileute, den Schulrat, den Direktor, den Inspektor und späteren Stadtbezirksschulrat in seiner arroganten Art, den Genossen Vorsitzenden des Elternbeirates, den Vorsitzenden der Wohnparteiorganisation (WPO) und die parteilose Kollegin Klassenleiterin. So waren also nur zwei Nichtgenossen anwesend.

Kathrin war eine Schülerin mit sehr guten Lernergebnissen und hatte ein vorbildliches Betragen. Vor allem besaß sie noch viele Leistungsreserven, die sie für den Besuch einer EOS (Erweiterte Oberschule, seit den 80-er Jahren für Absolventen der 10. Klasse einer Polytechnischen Oberschule, kurz POS, die mit dem Abitur die Hochschulreife erlangen wollten. Die Auswahl der Schüler erfolgte sehr oft nach Kriterien der politischen Eignung im Sinne der SED) prädestinierten. Warum sollte der Antrag abgelehnt werden? Nun kam es dick: Kathrin war nicht Mitglied der FDJ und kam aus einem christlichen Elternhaus. Das also war der Grund, warum der Direktor Müller gebeten hatte, gegen den Antrag zu stimmen, gerade ihn! Der Vorsitzende der WPO (Wohnparteiorganisation im Umkreis der Einwohner) erzählte, jeden Sonntag ginge die ganze Familie in die Kirche. Von solch einem Kinde könnte man keine uneingeschränkte Loyalität zum Staat und zur Politik der Partei erwarten. Wer studiert, wird schließlich Führungskader. Unvermittelt wandte sich plötzlich der Schulinspektor an Müller:

„Sie haben sich überhaupt noch nicht geäußert!“

Müller ärgerte sich, dass er die Verfassung nicht bei sich hatte. Das, was hier geschah, war eklatanter Verfassungsbruch, da nach ihr jeder Bürger ohne Ansehen der Person die gleichen Chancen haben sollte. Er sah die kalten Blicke der Genossen auf sich ruhen. Nur die Klassenlehrerin schaute ihn hilflos an.

„Ja, wollen Sie sich nicht äußern? Sie müssen doch eine Meinung haben?!“

Müller schluckte:

„Ich schließe mich der Meinung meines Vorredners an.“

Der Inspektor schien befriedigt zu sein:

„Na also, und Sie Kollegin Klassenleiterin ..?“

„Ich auch.“

Nach der Sitzung ging Müller mit der Klassenleiterin ein Stück des Wegs.

„Mir ist speiübel, und ich könnte mich selbst anspucken. Warum habe ich nur nicht mehr Mut besessen?“

Die Klassenleiterin besaß den Mut, den Eltern weitere Schritte zu empfehlen, so dass Kathrin später ein Abitur mit Berufsausbildung abschließen konnte.


***

„Warum fiel mir das nur wieder ein?“, fragte sich Müller, „Ach ja, weil die Neue behauptet hat, Sozialismus und Friede seien eine Einheit. Nein, ich werde es nicht mehr zulassen, dass irgendein Schüler wegen seiner anderen Überzeugung diskriminiert wird.“

Seine Gedankengänge vermischten sich miteinander. Kein Wunder bei dieser Mammutsitzung, in der er, wer weiß zum wievielten Male in seinen 22 Dienstjahren, den politisch-ideologischen Quatsch über sich ergehen lassen musste. Der Sitz wurde ihm hart. Am liebsten wollte er aufstehen und sich lauthals recken und dehnen. Glauben die Kollegen überhaupt das, was die Frau da vorne sagt? Glaubt die Direktorin selbst das, was sie vorliest? Ach ja, Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Hauptaufgabe, das durfte nun auch nicht fehlen. Warum pinseln einige Kollegen dort so eifrig mit?

Wollen sie sich Liebkind machen, oder schreiben sie nur mit, um sich irgendwie die Zeit totzuschlagen.

Ragnit, der Geographielehrer, kokettierte mit einer neuen Kollegin, die in der Mittelstufe Mathematik unterrichten sollte. Ein Typ wie die junge Ingrid Bergmann, konstatierte Müller, und war etwas eifersüchtig auf Ragnit.

Günther Ragnit kannte im Kollegenkreis fast nur die Themen Sex und Porno. Er war ein Kumpel, fuhr bei Feiern die Platten herbei, half, wenn jemand Schwierigkeiten mit seinem Auto hatte, tauschte mit den Schülern interessante Briefmarken und gab sich stets kollegial.

Neben ihm saß seine „heimliche“ Geliebte, eine Deutschlehrerin, von der unter vorgehaltener Hand behauptet wurde, ihre letzte Tochter sei ein Ragnitsprösschen, weil sie so völlig anders aussah als ihre übrigen Geschwister. Aber das wollte noch gar nichts sagen, denn in der Umgebung der Schule waren die Leute bekannt durch die Verbreitung unbewiesener Gerüchte. Andererseits war das Leben hier dadurch grotesk interessant. Nur wohnen wollte Müller auf keinen Fall in diesem Ortsteil.

Müller erinnerte sich, dass er einmal sehr um seinen behandelnden Arzt trauerte, der längere Zeit erkrankt war und in der Nähe der Schule praktizierte, weil ihm mitgeteilt wurde, dieser sei plötzlich verstorben. Am gleichen Tage erschrak Horst Müller schrecklich, als er dem lebendigen und von der Krankheit genesenen Doktor auf dem Wege von der Schule nach Hause begegnete.

Kollegin Strauß sah ja wieder grimmig drein, eine Frau, die sich bei Kleinigkeiten angegriffen fühlte.

Ihr Mann war Richter am Stadtbezirksgericht - also Vorsicht.

Einmütig beieinander saß das Lehrerehepaar Mofang. Müller fand es immer rührend, wenn sie bei Feiern verliebt wie am ersten Tag miteinander tanzten.

Jutta Mofang war SGL-Vorsitzende (Vorsitzende der Schulgewerkschaftsleitung). Sie war meistens freundlich, parteilos, und setzte sich für die Interessen ihrer Kollegen ein.

Kurt Mofang war Genosse, Werklehrer und Reservist.

Er soll sogar jemanden, laut Gerüchteküche des Ortsteils, an der Grenze zu Bayern erschossen haben, als der in den Westen wollte.

Müller selbst verstand nicht, wie sich Jutta in Kurt verlieben konnte. Liebe ist eben ein eigenartiges Gefühl.

Vielleicht verstanden manche auch nicht, warum Carolin gerade ihn geheiratet hatte.

Kurt war als Reservist der Nationalen Volksarmee, in der er einige Jahre freiwillig gedient und es bis zum Hauptmann gebracht hatte, für die Wehrerziehung an der Schule verantwortlich. Zwar unterrichtete er an der Schule nicht dieses „Fach“; das erledigten dafür vorgesehene aktive Offiziere der NVA (Nationale Volksarmee) vom Leutnant bis zum Major, aber während der Tage der Zivilverteidigung exerzierte er mit den Schülern und Schülerinnen der neunten Klassen auf dem Schulhof wie auf dem der Kaserne.

Müller dachte mit Abscheu daran, dass er wieder ein Marschlied einstudieren muss und verpflichtet wurde, mit den Schülern rund um die Schule zu marschieren:


„Im Gleichschritt - marsch! Ein Lied! - Spaniens Himmel! - Spaniens Himmel! - Spaniens Himmel! - Lied durch! - Spaniens Himmel breitet seine Sterne! Drei … vier!“

Die Schüler grölten sich die Lunge aus dem Hals und defilierten am Direktor vorbei, der die ganze Lächerlichkeit abnahm.

Glücklicherweise brauchte er in der zehnten Klasse nicht mehr für Armeeberufe zu werben.


Als Kind hatte er im Krieg 1945 einen furchtbaren Bombenangriff überlebt. Seitdem war ihm alles Säbelgerassel verhasst. Diese Wehrerziehung in der Schule war ihm absolut zuwider.

Müller erinnerte sich an die eigenartige Schulung, die er im Traditionskabinett einer Schule des Stadtbezirks zusammen mit Klassenlehrern zukünftiger siebenter Klassen vor drei Jahren ertragen durfte. Es ging um die Frage, wie der Klassenleiter Jungen für militärische Berufe begeistern kann. Zuerst sollte eine Liste alle Jungen erfassen, ihre sportlichen Qualitäten aufnehmen, einen Hinweis auf westliche Verwandte enthalten sowie einen Maßnahmekatalog für die Arbeit mit den Eltern ausweisen. Für Müller war das Ganze ein Horror. Die Strauß, Klassenleiterin seiner Parallelklasse, quatschte dann noch zusätzlich auf dem Heimweg, sie hätte gute Ideen, ihren Schülern den Armeeberuf schmackhaft zu machen.

Carolin sah schon an der Tür, dass ihr Mann voller Depressionen war und versuchte, ihn mit einem schmackhaften Abendessen aufzuheitern.

Müller sollte Schüler für eine Sache begeistern, für die er sich nicht engagieren konnte und wollte. Er merkte auch bei den Jungen und im Gespräch mit den Eltern, dass sie nicht besonders erfreut waren, wenn er das Thema ansprach.

Was sollte er hier auch verteidigen - die Mauer, die Unfreiheit, die „Bonzen“ da oben, die er nicht mochte und viele mit ihm nicht, die Interessen der Sowjets …?

Wenn nicht ein neuer Schüler im September in seine Klasse eingeordnet worden wäre, dessen Eltern sich in der NVA kennen gelernt hatten, und der unbedingt Pilot eines Kampfflugzeuges werden wollte, hätte Müller wieder Schwierigkeiten mit dem Direktor bekommen.

Mit welcher Begeisterung Jens Pilot werden wollte!


***

Müller erinnerte sich an sein altes Trauma.

Als die Front immer näher rückte, war Frau Müller mit ihren beiden Kindern Horst und Helga, durch den in Ostpreußen dienenden Vater gewarnt, der von der drohenden Niederlage überzeugt war und das bald einsetzende Chaos der allgemeinen Flucht befürchtete, aus den Gebieten östlich der Oder Anfang 1945 zu ihren Eltern nach Potsdam geflüchtet. Die Stadt schien vom Krieg vergessen worden zu sein.

Die Warnung hätte den Vater bei den Nazis in große Schwierigkeiten bringen können, denn auf dem geäußerten Zweifel am Sieg stand wegen Wehrkraftzersetzung die Todesstrafe.


Am 14. April 1945 lud das herrliche Frühlingswetter zum Spiel auf dem Hof ein. Horst, der damals erst fünf Jahre alt war, erinnerte sich deshalb noch so gut an das schöne Wetter, weil er an diesem Tage zwei Kinder kennen lernte, mit denen er sich auf Anhieb wunderbar verstand. Der Vater der beiden war gefallen, und auch er wusste seit der Flucht nichts vom Schicksal seines Vaters.

Sie spielten zusammen Hopse. Dazu malten sie auf den Betonboden des Hofes mit Kreide aneinandergereihte Vierecke, in die sie nach bestimmten Spielregeln hinein hopsen mussten, zuerst mit zwei Beinen und dann mit einem, erst mit dem rechten und dann mit weiteren Variationen. Viel zu schnell wurden sie zum Abendessen gerufen. Aber auf jeden Fall wollten sie am nächsten Tag das Spiel fortsetzen.

Nachts heulten die Sirenen. Es war kurz nach 22.30 Uhr.

Horst und seine Mutter befanden noch im Korridor, als die ersten Bomben fielen. Das Licht erlosch. Glas zersplitterte. Irgendwelche Dreckpartikel fielen aus der Dunkelheit auf sie hinab. Glücklicherweise hielten die Türen dem Luftdruck stand.

Horst hörte einen Bus mit quietschenden Bremsen, Hilferufe und kurz darauf ein markerschütterndes, grauenhaft kreischendes Schreien, das abrupt erstarb. Aber in die Seele des kleinen Jungen hatte es sich lebenslang gekrallt. Die erste Welle des Angriffs war überstanden. Die Mutter nahm ihren Sohn, um in den Luftschutzkeller zu gelangen. Aber die bisher gewohnte heile Welt der Erwachsenen hatte sich für den kleinen Horst grauenhaft verändert. Putz war von den Wänden gerissen.

Auf den Treppenstufen lagen Glassplitter und Schutt. Dort, wo früher das große Fenster des Treppenhauses zu sehen war, gähnte jetzt ein riesiges Loch. An dieser Stelle fehlte auch das Geländer. Die Stufen schwebten über einen Abgrund. War überhaupt die Treppe noch begehbar?

Wie sollten sie aus dem ersten Stock nach unten zum Keller kommen?

Nur mit Mühe kamen beide auf den Hof, über den sie gehen mussten um in den Keller zu gelangen. Hinter den grauen Silhouetten der Häuser, die den Hof umgaben, flackerte der Schein von Bränden. Alle Fensterscheiben waren zersplittert. Aus einer Fensterhöhle hing noch an der Leitung die von der Decke abgerissene Lampe. Der Hof war voller Dreck, Glassplitter, Ziegel, Schutt und Federn, die aus einem weit aufgerissenen Daunenbett stammten, das an einem Eisenträger hing.

Die eiserne Tür des Luftschutzkellers klemmte. Hörte niemand das verzweifelte Klopfen der beiden? Hoch oben brauste die zweite Bomberstaffel heran. Da wurde geöffnet. Die Mutter und Horst stolperten die Treppe hinunter. Horst erblickte im Hinuntergehen noch die bleichen Gestalten, die von dem kleinen flackernden Hindenburglicht beschienen wurden, das sie später Teelicht nannten. Im Hintergrund vernahm er, wie sich seine Schwester mit ihrem Keuchhusten plagte.

Urplötzlich, als sie gerade auf den letzten Stufen waren, krachte es. Horst und seine Mutter wurden zu Boden geworfen. Jemand presste ihm einen nassen Lappen vor den Mund, damit der Luftdruck nicht seine Lungen zerriss.

Die so Gestorbenen hatten oft eine rosa Gesichtsfarbe. Es war, als ob das verlorene Leben sich noch einmal in ihnen festkrallen wollte.

Durch das Kellerfenster schoss eine Stichflamme. Der ganze Hof schien zu brennen. Glücklicherweise sahen sie das. Sie waren nicht verschüttet.

Da hörten sie es. Die Leute aus dem Nachbarkeller schien es getroffen zu haben. Sie klopften verzweifelt.

Horst sah, wie die Erwachsenen einen Durchbruch schufen. Bleich, Kalk überzogene Gestalten krochen heraus. Der Schrecken war in ihre Gesichter gezeichnet.

„Hinten liegen noch welche. Wir haben alles versucht, aber die Decke ist eingestürzt. Es sind eine Frau und ihre zwei Kinder. Der Mann ist erst vor kurzem gefallen.“

Erst jetzt wurde Horst bewusst, dass die Erwachsenen von seinen neuen Spielkameraden sprachen. Er heulte und konnte es einfach nicht fassen, dass sie nicht mehr am Leben waren. Großvater, der sich im Nachbarkeller noch einmal von dieser Tatsache überzeugen wollte, bestätigte es resigniert.

Die Hitze der sie umgebenden Brände draußen wurde unerträglich. Etwa 700 Bomben hatten die Flugzeuge auf die Stadt abgeworfen.

Die meisten fürchteten sich, den Keller zu verlassen.

Am nahe liegenden Bahnhof war ein Munitionszug getroffen worden, dessen Ladung in die Luft ging. Entwarnt werden konnte auch nicht mehr, weil die Hauptpost ein Raub der Flammen geworden war.

Sie wussten noch nicht, dass sie zu den Wenigen gehörten, die in diesem Bombenkessel noch am Leben waren.


Endlich fasste Großvater Mut. Er öffnete die Tür und schaute hinaus. Auf dem Hof brannte es nur noch vereinzelt. Als sie hinausgingen, drohte der beißende Qualm sie fast zu ersticken, und die Augen tränten. Im ganzen Umkreis brannten die Häuser. Sie stolperten über Schutt, Putz, Steine und herab gestürzte Mauerreste hinaus auf die Straße.

Diese existierte nur noch als Fragment. Rauchende und brennende Trümmer verdeckten in der einen Richtung Fahrdamm und Bürgersteige. Ihnen gegenüber stand vor der hohlen Fassade des einstöckigen Wohnhauses ein ausgebrannter Bus. Am verkohlten Lenkrad klebte eine schwarze Masse, die wie eine Puppe aussah und vor einer Stunde noch ein lebendiger Mensch gewesen war. Auf den vom Feuer versehrten Sitzen konnten die Überlebenden ähnliches erblicken.

„Das waren die grässlichen Schreie zu Beginn des Angriffs“, stellte einer der Erwachsenen sachlich fest.

Als sie durch die frei scheinende andere Richtung der Flammenhölle entkommen wollten, stürzte das erste Stockwerk des Eckhauses lichterloh brennend und krachend auf die Straße herunter und versperrte so den Fluchtweg. Die Funken und Flammen zischten beim Absturz nach allen Seiten.

Nun versuchten sie, einen Ausweg über die brennenden Trümmer des Hinterhauses zu finden, da dort gleich der Stadtkanal war. Horst erinnerte sich noch an die Berge von Schutt, die verkrümmten, noch teilweise glühenden Eisenträger und brennenden Balken über die sie dem Inferno entrannen.

Es glückte. Am Kanal, auf den Fluchtweg noch einmal zurückblickend, sahen die Entkommenen ganze Straßenzüge in Flammen stehen. Wie viele der dort in den Kellern Verschütteten und noch Lebenden werden wohl auf Rettung gehofft haben? Das, was von den Häusern übrig geblieben war, stand mit bizarr und grotesk zerrissenen, vom Brand geschwärzten Formen im tobenden Feuer. Erst Jahre später wurden bei Aufräumarbeiten viele persönliche Tragödien sichtbar.

Müllers Großvater war Pastor. Mitglieder seiner Kirchengemeinde nahmen die Ausgebombten auf.

Wenige Tage später wurde bei Potsdam von den sowjetischen Truppen der Ring um Berlin geschlossen und die Stadt unter Beschuss genommen.

Horst sah die Toten auf den Straßen und Leute, die sie ausplünderten. Der widerlich süßliche Leichengeruch ging tagelang nicht aus der Nase heraus. Horst sah Dinge, die ein Kind nie hätte sehen dürfen. Die schrecklichen Eindrücke verfolgten ihn seitdem und viele, viele andere Menschen auch.

Besonders erinnerte er sich immer wieder an den toten Soldaten vor der Kaserne, dessen Gesichtshälfte an die Wand geklatscht war. Seitdem wusste er, dass Gehirn gelblich weiß war.

In seinen Träumen hörte er manchmal die Verzweiflungsschreie der Frau, die zu ihrem Notquartier kam. Sie hatte ihr Baby zu Hause gelassen, als der Fliegeralarm kam, weil es so schön schlief. Bisher waren die Bomberstaffeln gewöhnlich weitergeflogen und hatten die Stadt verschont. Sie ging mit ihren drei anderen Kindern in den Luftschutzkeller. Das Haus, in dem das Neugeborene schlief, erhielt durch eine verirrte Bombe einen Volltreffer. Das Nachbarhaus, wo sich der Luftschutzkeller befand, blieb verschont. Die ganze Nacht schrie die Mutter verzweifelt nach ihrem Kind.

In der Stadt erzählten sie die Geschichte von einem Eckhaus, aus dem Rettungsmannschaften Klopfzeichen vernahmen. Kurz vor dem Erreichen des Kellers verstummten die Lebenszeichen. Als der Durchbruch geschafft war, mussten die Retter feststellen, dass ein Wasserrohrbruch ihnen die Arbeit abgenommen hatte.

Wenige Meter von diesem Geschehen saß ein völlig in sich zusammengebrochener, fast irrer Soldat auf Fronturlaub, der von seinen Angehörigen nur noch verbrannte Knochen gefunden hatte.

Nein, Horst wollte weder von Krieg, noch von Armee und Säbelrasseln etwas wissen. Nein, er konnte seine Schüler beim besten Willen nicht für einen Armeeberuf begeistern. Er konnte, und er wollte es auch nicht.

Sie hatten ihn so erzogen, als er ab 1946 die Schule besuchte. Die Fensterscheiben der Klassenräume waren teilweise noch mit Pappe vernagelt, weil es an Glas mangelte. Bei Stromsperre war nur der Lehrertisch mit einer Kerze erhellt. Im Winter spendete ein Kanonenofen, dessen Rohr zum Fenster hinaus ragte, die notwendige Wärme und verbreitete etwas Gemütlichkeit.

Zu seiner Klasse gehörten fast 40 Kinder. Die Sitzplätze reichten kaum aus. Bücher und Hefte besaßen sie nicht, und die ersten Buchstaben schrieb der kleine Horst Müller auf eine unförmige Schiefertafel, die er aus den Trümmern geholt hatte und die ursprünglich wohl zur Bedeckung des Daches der jetzigen Ruine gedient hatte.

Jeder Mitschüler hatte sein eigenes Schicksal, erzählte von Flucht, vom Tod des Vaters oder der Eltern, von Verwandten, die vom Suchdienst des Roten Kreuzes auch nicht gefunden wurden.

Die überwiegende Mehrheit von ihnen hatte Schlimmes durchgemacht, war für immer vom Krieg gezeichnet, hat gesehen, was kindliche Augen niemals hätten erblicken dürfen. Deshalb war das Wort „FRIEDEN“ für sie etwas unheimlich Beglückendes.

„Kein Krieg, keine Waffen mehr!“, wurde ihnen von den Lehrern gesagt, und sie glaubten daran. Wenn nur nicht der ständige Hunger gewesen wäre! Die erste Schulspeisung nannten sie Eifosuppe. Das war ein undefinierbarer grauer Brei, in dem einige weißliche an Mehl erinnernde Klunkern schwammen.

Der Geschmack war abscheulich. Aber das „Essen“ war warm, der Magen wurde so einigermaßen gefüllt und das Hungergefühl vertrieben.

Zu seinen Klassenkameraden gehörten auch Zwillinge, die der Krieg aus dem Osten nach Potsdam verschlagen hatte. Von ihren Eltern wussten sie nichts. Eines Tages fehlten sie. Der Klassenlehrer wollte sie besuchen, fand sie aber nicht. Nach drei Wochen fanden Trümmerfrauen die Beiden in einem halbverschütteten Keller der zahllosen Ruinen, die der Bombenangriff hinterlassen hatte. Der Verwesungsgeruch hatte sie dorthin geleitet. Horst Müllers Klassenkameraden waren verhungert.


Der Sportunterricht war verpönt, weil er der Wehrertüchtigung diente. Niemals wieder sollte von deutschem Boden Krieg ausgehen.


Als die ersten FDJ-Umzüge auf den Straßen stattfanden mit Blauhemd und Fanfarenklang, kam in Horst der Schock der letzten Kriegstage wieder hoch, weil er wieder Uniformierte in ihnen sah. Er schrie, als er das erste Nachkriegsfeuerwerk erlebte. Er hatte auch keine Freude an Kriegsspielzeug. Selbst als Abiturient hatte er nachts Träume, in denen er sich verschüttet sah und sich nicht befreien konnte, als die Flammen ihn erreichten.

Eines Tages erschienen, das war etwa 1958, zwei Offiziere der NVA in der Schule. Horst wurde in das Direktorenzimmer gebeten. Der Klassenleiter befand sich auch in dem Zimmer. In dem Augenblick meinte Horst, die Luft zum Atmen würde ihm genommen. Sie wollten ihn als Offiziersbewerber gewinnen. Die Uniformen sahen fast so aus wie die alten, die er als Kind kennen gelernt hatte. Der Tote vor der Kaserne mit dem halben Gesicht - hatte er nicht auch so eine Uniform? Dazu kam noch der Übelkeit erregende Gestank der Verwesung, der tagelang nicht aus der Nase herausging.

Nein, nein, nein, ich bin für das Leben da und nicht für den Tod. Horst geriet in Panik, und die machte ihn stur. Er würdigte die anwesenden Herren keines Wortes, beantwortete keine ihrer Fragen und wurde dann schließlich entlassen.

Seinem Vater, der zwölf Jahre zuerst in der Reichswehr und dann in der Wehrmacht gedient hatte, war es schließlich nur zu verdanken, dass Horst sein Abitur bestehen durfte.

Er erklärte, sein Sohn sei äußerst sensibel und habe schreckliche Dinge im Krieg erlebt. Er werde mit ihm noch einmal vernünftig darüber reden.

Das Gespräch fand nach dem Tage statt, an dem Horst mit einigen Freunden in einem Westberliner Kino den Film „Im Westen nichts Neues“ gesehen hatte. Er konnte deshalb seinen Vater kaum verstehen, dass er nun auch noch mit der Armeemasche anfing.

Doch der Vater verstand seinen Sohn besser, als der es vermutete. Er war wenige Tage vor dem Bombenangriff auf Potsdam in Königsberg, der Hauptstadt des damaligen Ostpreußens, in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und an TBC erkrankt, völlig abgemagert entlassen worden. Eine russische Ärztin hatte sich für ihn eingesetzt. Müller erfuhr später, dass einige Monate danach die Kriegsgefangenen dieses Lagers bei Nikolajew auf Anordnung Stalins erschossen wurden, nachdem sie auf Befehl mit den eigenen Händen ihr Grab aus der Erde gekratzt hatten.

Kurz nach dem Mauerbau, am 13. August 1961, sollten alle FDJ-Kollektive der Berliner Humboldt-Universität eine „freiwillige“ Verpflichtung für den Dienst in der Armee unterschreiben, um, wie sie sagten, den Frieden zu schützen.

Horst war wieder in Bedrängnis. Alle standen gegen ihn, auch wenn sie sagten, er sollte doch ruhig unterschreiben, es wird schon nicht so schlimm werden. Einer seiner Kommilitonen meinte, er habe einmal nicht unterschreiben wollen, und das wäre ihm schlecht bekommen. So bereitete die geleistete Unterschrift Horst viele schlaflose Nächte.

Er lernte dann einen älteren Studenten kennen, der nicht unterschrieben hatte. Er war von der Schule weg in die Armee Wenck eingezogen worden, hatte Furchtbares erlebt als damals Fünfzehnjähriger des Jahres 1945. Ihn konnte keiner mehr zwingen.

Eine junge SED-Studentin kam zu Horst und forderte:

„Du bist doch immer mit K. zusammen. Kannst du ihm nicht einmal sagen, er soll damit aufhören, gegen den Dienst in den bewaffneten Organen zu sprechen?!“

„Hast du den Krieg miterlebt?“

„Nein, ich war damals erst ein Baby.“

„Dann rede auch nicht so kariert.“

Ja, es gab Situationen, in denen es brenzlig werden konnte. Deshalb fügte Horst hinzu:

„Falls du jemandem dieses Gespräch weiter erzählen solltest, werde ich natürlich alles ableugnen, oder hast du etwa Zeugen für meine Äußerungen?“


***

Horst sah zu Kurt Mofang hinüber, und es fiel ihm ein, dass der in seinem Werkraum endlich die für jede Klasse gestapelten Schulbücher loswerden wollte, für deren Beschaffung er verantwortlich war.

Seit Jahren erhielt jedes Berliner Schulkind die Bücher unentgeltlich zugeteilt. Leider wurden sie auch wie Geschenktes behandelt, ohne daran zu denken, dass im folgenden Jahr auch noch andere Kinder daraus lernen sollten.

Horst hatte sich für den nächsten Tag mit den Schülern seiner Klasse verabredet, die ihm bei der Zuteilung helfen wollten.

Auf jedem Platz sollte die gleiche Anordnung der Buchfolge gewährleistet sein. Das erleichterte die Eintragung der entliehenen Schulbücher in das Klassenbuch, ob sie alt oder neu sind, damit Unstimmigkeiten bei der Rückgabe zum Schuljahresende von vornherein ausgeschaltet wurden.

Zuerst aber mussten die Bücher aus dem Keller, wo sich Mofangs Wirkungsfeld befand, in den dritten Stock des Gebäudes zum neuen Raum seiner Klasse transportiert werden. Die Schüler, die Herrn Müller bei dieser Arbeit halfen, konnten sich dafür die neuesten Exemplare aller Fachbücher heraussuchen und schon nach Hause mitnehmen. Außerdem galt das als Pluspunkt für gesellschaftlich nützliche Arbeit.

Seine Schüler halfen gern. Manchmal übertrieben sie sogar ihren Eifer.

Im Vorjahr wollten sie unbedingt den Klassenraum renovieren. Dabei rissen sie auch eine Tapete herunter, die gut zur Grundierung gedient hätte und strichen die Betondecke mit einer Farbe, die sich nach dem Trocknen leicht ablöste und Lehrern wie Schülern während des Unterrichts auf den Kopf klatschte. Wegen dieser Geschichte bekam Müller Ärger mit der Direktorin und dem lieben Kollegium, weil seine Schüler lieber malern wollten, als den Unterricht zu besuchen.

Gewissermaßen war das ganze vorangegangene Schuljahr eine Verkettung misslicher Ereignisse für ihn gewesen.


***

Seine Carolin und er hatten sich im Sommer 1987 sehr auf einen gemeinsamen Urlaub im Riesengebirge gefreut, als sie ein Telegramm erhielten, dass sein Schwiegervater schwer erkrankt sei und ein Ableben jederzeit möglich war. Sie fuhren sofort in die kleine Stadt südlich von Leipzig, um dem alten Mann in seinen letzten Stunden beizustehen.

An Urlaub war natürlich nicht mehr zu denken. Jeden Tag waren sie im Krankenhaus und sahen zu, wie der Vater schwächer und schwächer wurde. Ein Jahr zuvor war er mit seinen 82 Lebensjahren noch ein energiegeladener Mann, der mit viel Aufopferung seine gelähmte Frau pflegte.

Als sie gestorben war, kümmerte er sich täglich um das Grab, pflanzte Blumen und Strauchgewächse und beschaffte einen würdigen Grabstein. Jetzt stand dieser Stein dort, war bezahlt, und Vater dachte, nun sei alles erledigt. Für ihn war der Zweck seines Lebens erfüllt. Er wollte nur noch Ruhe haben und neben seiner Ehefrau liegen, die ihm ein Leben lang treu war und deren Verlust er nicht verschmerzte. Im Krankenhaus verweigerte er das Essen. Er wollte einfach sterben und sehnte sich nach der anderen Welt.

Horst Müller erlebte beim Anblick dieses Sterbenden eine innere Einkehr. Seine Tätigkeit an der Schule kam ihm auf einmal leer und sinnlos vor. Wozu lebte er? Existierte er, um den Kindern hohle Phrasen von der Herrlichkeit des Sozialismus zu vermitteln? Was lernten seine Schüler von den menschlichen Seiten des Lebens, von sittlichen Normen, die ein vernünftiges Miteinander ermöglichten?

Zwar beinhalteten die Pioniergesetze Hilfsbereitschaft, Achtung Erwachsenen gegenüber und natürlich gutes Lernen, aber die politisch-ideologische Seite stand immer im Vordergrund. Gerade gegen das Letzte sträubte sich Müller und fand eine Gesellschaft, in der jeder die gleiche Meinung haben sollte, absolut langweilig. Es gab auch immer Anlässe, zu denen der Partei etwas einfiel, die Aktivitäten des ganzen Volkes anzustacheln, ob das nun Geburtstage berühmter Kommunisten, Parteitage oder Jahrestage waren.

Der Sterbende im Krankenbett lehrte Horst eine andere Wahrheit: Wenn dein Dasein zu Ende ist, wirst du nicht danach gefragt, ob du in deinem Leben erfolgreich, an so und so vielen Demonstrationen zu irgendwelchen Gedenkanlässen teilgenommen oder eine gute politisch-ideologische Arbeit geleistet hast, sondern was du für deine Mitmenschen gewesen bist.

Er nahm sich vor, die Kinder nicht mehr mit all diesen hohlen und oft verlogenen Phrasen voll zu füttern, sondern die Wahrheit, soweit er sie erkannt hatte, zu vermitteln. Er wollte für sich den schizophrenen Zustand beenden, der ihn zwang, in der Schule anders zu handeln und zu reden als zu Hause.

Für die Leiterin des Altersheimes schien der Vater bereits gestorben zu sein. Sie brauchte rein geschäftlich das Zimmer und drängte auf Räumung. Müllers hofften jedoch immer noch auf eine Besserung des Gesundheitszustandes. Zögernd begannen sie die Sachen zu sichten, die der alte Mann besaß. An diesem Tage starb er.

Die Krankenschwester übergab Carolin die wenigen Habseligkeiten, die ihr Vater im Krankenhaus besaß: einen Löffel, Toilettenpapier, einen Stock, eine Armbanduhr und einen defekten Kassettenrekorder.

Der Vater war ein alter Lehrer. Was hatte sich im Laufe der Zeit nicht alles an Krempel und Schriftkram angesammelt! Horst und Carolin verzweifelten fast bei den Aufräumungsarbeiten. Die unbrauchbaren Sachen füllten bald einen ganzen Container. Die alten Möbel nahm glücklicherweise der An- und Verkauf ab.

Das Antiquariat wollte allerdings nicht alle Bücher kaufen, so dass die übriggebliebenen zusammen mit Lumpen und Zeitungen zum Altstoffhandel gebracht wurden.

Sie schafften die Arbeit erst in zwei Tagen und fuhren am letzten Tag der Schulferien, ohne etwas gegessen zu haben, völlig genervt und geschwächt nach Berlin zurück.

„Vater, ich habe deiner Chefin gesagt, dass du erst am Mittwoch zur Schule kommen kannst und ihr auch den Grund genannt. Weißt du, was sie mir zur Antwort gab? - Du bist unkollegial, weil du dadurch nicht rechtzeitig zur Buchausgabe für deine Schüler kommst. Ich erwiderte, dass in solch einer persönlichen Situation wohl eine Bemerkung wie diese nicht richtig wäre. Daraufhin lenkte sie ein“, berichtete Müllers Sohn.

Müller verstand die Direktorin nicht. Er hatte sie, bevor sie ihre Stelle an seiner Schule antrat, bei irgendeiner Feier der Abteilung Volksbildung, zu der er eingeladen worden war, kennen gelernt.

Er fand sie damals sehr nett und plauderte auch eine Zeit lang mit ihr, da sie zufällig neben ihm Platz genommen hatte. Ja, sie duzten sich danach sogar.

Wie war ihre Reaktion auf den Tod seines Schwiegervaters zu

erklären, fragte er sich. Nicht einmal ein „Herzliches Beileid“ hatte sie übermitteln lassen, sondern, er wäre „unkollegial“.

Damals, bei der Feier, ahnte er noch nicht, dass sie einmal seine Vorgesetzte werden sollte.

Er plauderte mit ihr frei von der Leber weg und erzählte ihr politische Witze:

„Honecker begrüßt Breschnew. Was hat Breschnew über Honecker gedacht?“

Frau Sanam wusste es nicht.

„Er dachte: Klein ist der Honecker ja, aber küssen kann er sehr gut“, lachte Müller in froher Stimmung.

Er bemerkte in seinem angeheiterten Zustand nicht, dass sie nur gezwungenermaßen sauer lächelte.

Wie konnte Müller ahnen, dass er von nun an von der sympathischen Kollegin anvisiert wurde? Ihr Mann war Offizier beim Ministerium für Staatssicherheit und dort für die politisch-ideologische Schulung verantwortlich.

Der Tod des Schwiegervaters hatte Horst durcheinander gebracht. Er fand den Rummel um die FDJ-Arbeit, die Vorbereitung der FDJ-Wahl, die Klassenelternaktivwahl und den ganzen politischen Krempel völlig unwichtig.

Er sehnte sich danach, endlich Lehrer im besten Sinne des lateinischen Sprichwortes „Non scholae, sed vitae discimus! Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir!“ zu sein.

Er verwandelte den Satz gern in „Non scholae, sed vitae doci! Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lehre ich!“

Die Beerdigung seines Schwiegervaters brachte ihn ganz aus dem zeitlichen Konzept. Die Direktorin wollte ihn gar nicht beurlauben.

„Das ist doch noch nicht einmal dein richtiger Vater. Wer soll denn da deinen Unterricht hier übernehmen? Ich finde dein Verhalten unkollegial.“

Erst der Einspruch der Gewerkschaftsvorsitzenden der Schule, Jutta Mofang, dass in einem solchen Falle eine Freistellung vom Unterricht gestattet war, ermöglichte die Hinfahrt.


Er war kaum wieder zurückgekommen, da keifte Frau Sanam ihn im Sekretariat in Gegenwart anderer Kollegen an:

„Was ist denn das für eine Schlamperei, Horst? Der Klassenleiterplan ist noch nicht abgegeben worden! Wie soll ich da meine Analysen schaffen?“

Auf die seelische Verfassung, in der sich Müller befand, nahm sie keinerlei Rücksicht. Sie nannte ihm den Termin „übermorgen“ und verschwand in ihrem Zimmer.

Müller arbeitete die ganze Nacht an diesem Plan. Zu berücksichtigen waren der Schuljahresarbeitsplan, der zentrale FDJ-Auftrag, die Vorhaben des Elternaktivs, die Planung der Termine für das Klassenkollektiv, Erziehungsmaßnahmen für Problemschüler, kurz ein Wust an Arbeit, die bewältigt werden musste. Aber das war noch nicht alles. Irgendwie musste er auch noch seinen Unterricht vorbereiten.

Müller erhielt von der Chefin den Plan mit der Bemerkung zurück, sie fände ihn hundsmiserabel. Im vergangenen Schuljahr hatte er der aus dem Amt geschiedenen Direktorin einen ähnlichen Plan vorgelegt und war sogar auf dem Pädagogischen Rat (PR) dafür vor allen Kollegen gelobt worden.

Frau Sanam wollte mit ihm ein Klassenleitergespräch führen. Müller vergaß diesen Termin völlig. Er war nervlich am Boden. Der Verzicht auf den Erholungsurlaub und das ganze Drum und Dran um den Tod seines Schwiegervaters hätten eine Krankschreibung begründet. Horst Müller wollte aber nicht fehlen. Er wollte nicht andere Kollegen mit Überstunden in seinen Fächern überlasten. Außerdem wusste er, dass er trotz methodischer Hinweise und Themenangaben für den Vertretungslehrer den Stoff erfahrungsgemäß trotzdem nacharbeiten musste.

Die Chefin setzte ihm ständig zu. Ausgerechnet jetzt musste sich nun auch noch die Fachberaterin anmelden und wollte bei ihm vierzehn Tage lang hospitieren. Er dachte: Jetzt läuft nichts mehr bei mir. Bei der FDJ-Leitungswahl wollte die Genossin Direktor Sanam unbedingt dabei sein. Die Wahl wurde eine Katastrophe. Nichts klappte. Müller selbst empfand die ganze Geschichte als Farce.

Es gab keine Politinformation, keine politische Diskussion, sondern nur das Gerangel um die Funktionärsposten. Die Mädchen seiner Klasse waren hier eifriger, die Jungen reservierter. Schließlich hatte sich die neue FDJ-Leitung der Klasse etabliert, die Hände wurden zur Abstimmung gehoben. Fertig.

Fertig gemacht wurde aber Müller von der Direktorin. Er sollte zur GOL-Wahl (Wahl der Grundorganisationsleitung der FDJ) erscheinen, damit er sich darüber Wissen aneignete, wie eine Wahlversammlung richtig verlaufen musste.

An diesem Tage aber feierte seine Mutter in Potsdam ihren 70. Geburtstag, zu dem viele Verwandte und Bekannte von weither kamen, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte und auch so bald nicht wiedertreffen würde.

Er hatte nur zwei Stunden Unterricht und wollte gleich zur Mutter fahren. Weil er es aber versäumt hatte, sich vorher zu entschuldigen, wurde er gezwungen, Stunden in der Schule zu verbringen, da ihm die Chefin die Abwesenheit bei dieser „überaus wichtigen“ FDJ-Veranstaltung nicht gestatten wollte. Erregt erwiderte er:

„Was geschieht, wenn ich trotzdem gehe?“

Er verließ die Versammlung nach einer halben Stunde, um noch den Sputnik, so nannten die Berliner den Zug, der wegen der Mauer im Süden rund um Westberlin nach Potsdam fuhr, zu erreichen. Es war nachmittags um 16.30 Uhr.

Am nächsten Tag wurde er auf der Treppe vor Schülern gemaßregelt und ihm lauthals ein Disziplinarverfahren angedroht.

„Warum lässt du dich nicht krankschreiben?“, fragte ihn Kopf schüttelnd Frau Mofang.

„Ich will doch die Kollegen nicht belasten. Wenn ich nur unterrichten könnte. Aber dieses sinnlose Drumherum, das mir seit dem Tod von Schwiegervater immer hirnrissiger vorkommt …“

Nun kam auch noch das Ereignis. Die Ehrenkompanie der Bundeswehr spielte Honeckers Delegation in Bonn die Nationalhymne der DDR vor, die noch nicht einmal mehr gesungen werden durfte, weil der Text von einem geeinten Deutschland sprach. Die Genossen wurden nicht müde, ihre Genugtuung dazu zu äußern. Das musste in allen Klassen ganz groß herausgehoben werden. Die Behandlung des Kommuniqués zu diesem Besuch wurde zum Pflichtstoff in jeder Klasse erklärt. Um die ganze Sache auf die Spitze zu treiben, sollten die Klassenleiter in einer Dienstberatung vom Echo ihrer Klasse auf den Honeckerbesuch berichten.

Müllers Klasse stöhnte, als er das Thema ansprechen wollte:

„Herr Müller, wir haben im Deutschunterricht so viel darüber gesprochen, dass wir die Nase voll haben.“

Ihn interessierte der Honeckerbesuch in der Bundesrepublik auch herzlich wenig. Der fuhr in der Welt umher, aber den Bewohnern seines Landes machte er Schwierigkeiten, wenn sie in andere Länder reisen wollten, in NSW-Staaten, in das Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, wie sie das im Parteijargon nannten.

„Das kann ich verstehen“, sagte er und legte das geforderte Thema ad acta. Die Deutschlehrerin seiner Klasse hieß aber Frau Sanam. So war der Konflikt schon vorprogrammiert. Ausgerechnet er sollte nun auch noch über das Echo in seiner Klasse sprechen und konnte es natürlich nicht.

Wieder wurde er von ihr zur Rede gestellt in einem Ton, der das Herz zum Frieren bringen konnte. Er wiederholte als Entschuldigung die Worte seiner Schüler.

Er nannte aber bewusst keine Namen.

Nun dachte die Chefin, genug gegen ihn in der Hand zu haben, um ihn von der Schule zu entfernen. Bedauerlich für sie, dass es noch die Hürde der Gewerkschaft gab. Müller musste vor die SGL des FDGB (Schulgewerkschaftsleitung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, der einzig zugelassenen Gewerkschaft der DDR). Er erzählte dort, wer weiß zum wievielten Male, dass er den Tod seines Schwiegervaters nicht verwinden konnte, und er bisher zu keiner inneren Sammlung gefunden hatte. Sein Arzt wollte ihn schon krankschreiben. Er aber mochte auf keinen Fall seine Kollegen mit Vertretungsstunden belasten.

Damit schien die Angelegenheit erledigt zu sein, denn die Kollegen der Gewerkschaft zeigten Verständnis für diese Situation. Genossin Sanam war höchst unzufrieden, besonders mit der Jutta Mofang. Anstatt Müller fertig zu machen, stellte sie sich noch auf dessen Seite? Trotzdem sollte der Bericht über Müller in die Abteilung Volksbildung gehen. Dort konnte der Schulrat dann das verzerrte Bild über Müller zur Kenntnis nehmen:

„Im August informierte mich Kollege Müller, dass sein Schwiegervater schwer erkrankte“ … „Seinen Klassenleiterplan stellte Müller erst nach mehrmaliger Aufforderung fertig. In Vorbereitung der FDJ-Wahlen fand in seiner Klasse keine Leitungssitzung statt. Die Wahl entsprach in keinster Weise der Wahlordnung. Umso wichtiger war es, dass Kollege Müller der Einladung der SGL (Schulinterne Abkürzung für die Schulgruppenleitung der FDJ) zur Wahl folgte, um sich Sachkenntnis über Ablauf einer Wahl anzueignen …“

Müller hatte nicht zum ersten Mal eine Klasse. Dies war seine vierte in 23 Dienstjahren. Das wussten auch die Mitarbeiter in der Abteilung Volksbildung. Aber ein Satz in diesem Antrag auf ein Disziplinarverfahren ließ sie aufmerken:

„Am 14.10.1987 äußerte Kollege Müller, die Schüler hätten im Deutschunterricht schon die Nase voll vom Honeckerbesuch, da wollte er nicht auch noch damit anfangen (im Unterricht wurde das Kommuniqué behandelt = Aussagen der Schüler).“

Der Schulrat erkundigte sich, wer in Müllers Klasse Deutsch unterrichtet und legte nach der Auskunft das Schriftstück zu den Akten.

Müller rettete nur eine Laryngitis vor dem drohenden Nervenzusammenbruch. Er verlor die Stimme, blieb über zehn Tage zu Hause und fand sein Selbstvertrauen wieder. Der Direktorin ging er ab diesem Zeitpunkt aus dem Wege, sobald er sie sah. So hatte er das vorangegangene Schuljahr überstanden.


***

Sie sang noch immer das Lob des Sozialismus. Wann ist dieser PR (Pädagogischer Rat – eine Art Konferenz, in der wichtige Fragen des Schulbetriebes besprochen wurden) nur endlich zu Ende? Müller wollte in seinem Raum noch etwas in Ordnung bringen.


Die Direktorin, Frau Sanam, beendete ihre Seiten langen Ausführungen und zeigte all ihren Lehrern einen grünlichen Hefter.

„Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die politische Arbeit in unseren Klassen verbessern. Deshalb wird jetzt regelmäßig im Fach des Klassenleiters dieser Hefter zu finden sein. Hier tragen Sie ein, über welche aktuellen Themen Sie mit der Klasse gesprochen haben. Erledigen Sie diese Aufgabe gewissenhaft, und schreiben Sie alle Äußerungen der Schüler auf, damit man sehen kann, wie in der Klasse schwerpunktmäßig an der politisch-ideologischen Haltung weiter gearbeitet werden muss.

Denken Sie an die Grundwahrheiten des Sozialismus, die den Schülern zu vermitteln sind. Sie sind ja im Schuljahresarbeitsplan der Schule ausgewiesen.

Eine weitere Aufgabe der Klassenleiter besteht darin, für ihre Klasse eine Gefährdetenkartei zu erstellen. In ihr werden leistungsschwache, asoziale, in ihrer ideologischen Haltung labile und religiös gebundene Schüler erfasst. Kollegen, es geht um die optimale Entwicklung eines jeden Schülers unserer Schule. Optimal entwickelt kann er aber nur werden, wenn die ganze Persönlichkeit des Schülers und seine Lebensumwelt bekannt sind.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein erfolgreiches Schuljahr 1988/89.“

Die Kollegen klatschten Beifall. Müller und einige wenige hielten sich zurück.


Was hatte sie da soeben gesagt? Die Meinungen der Schüler sollten genauestens aufgeschrieben werden? Und wie war das mit der Gefährdetenkartei?

Nein, Horst Müller, du wirst nicht zum - mit Verlaub - Anscheißer deiner dir anvertrauten Kinder. Auf diese Kartei wird er nur den Namen von Dörte Seefeld schreiben. Sie ist ein Heimkind, vom Elternhaus vernachlässigt. Um sie musste er sich sozial und bei Bedarf mit Unterstützung der Jugendhilfe-Heimerziehung kümmern.

Auf keinen Fall wollte er aber seinen Jens Schüttel aufschreiben, dessen Eltern aufrechte Christen waren. Er wollte doch diesem Jungen nicht den Besuch der Erweiterten Oberschule verbauen, nur weil er nicht die offizielle Parteiideologie vertrat, aber mit seinen Klassenkameraden oft feinfühliger als viele Genossenkinder umging.

Ihn ärgerte es schon lange, besonders aber seit der Geschichte mit Kathrin Paulin, dass die politisch-ideologische Einstellung für die Delegierung zur EOS eine wichtige Rolle spielte.

Wann hatte die DDR den letzten Nobelpreisträger, oder wurde überhaupt je ein DDR-Wissenschaftler mit dieser hohen Auszeichnung gewürdigt? In den Schlüsselpositionen und Leitungen saß die Partei. Was ökonomischer und wissenschaftlicher Fortschritt war, bestimmte die Partei, und die wiederum war an die Beschlüsse des vorangegangenen Parteitages der SED gebunden. Das war Gesetz und verbindlich im Lande. Dem ordneten sich auch die Blockparteien, die Betriebe, Akademien, Schulen, kurz das gesamte gesellschaftliche Leben unter.

Jeder, vom Kindergartenkind bis zum Rentner, wusste, was er zu tun und zu lassen hatte. Für jeden Bereich gab es Direktiven. Weil jeder Bürger um seine Aufgaben wusste, fühlte er sich, wenn er angepasst war, in dem System geborgen wie ein Kind bei seinen Eltern. Die Partei bestimmte seinen Lebensweg, auch wenn er nicht Genosse war. Da er gewöhnlich keine Möglichkeit hatte, in NSW-Ländern (NSW - Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet, d.h.: alle Länder, die nicht dem sozialistischem Blocksystem angehörten) Vergleiche anzustellen, glaubte der Durchschnittsbürger trotz häufigen Ärgers über fehlende Konsumgüter letztendlich an den Sieg des Sozialismus. Stolz wurde er Aktivist der sozialistischen Arbeit, erhielt als Lehrer für jedes vollendete Dienstjahrzehnt die Pestalozzimedaille zuerst in Bronze, dann in Silber und zuletzt in Gold.

Müller besaß die in Bronze und in Silber. Eine kleine Geldprämie hing auch noch daran, Applaus der Kollegen und meist ein Strauß roter Nelken.

Zum 30. Jahrestag der Gründung der DDR hatten sie ihn sogar zum Aktivisten geschlagen. Krokus hatte ihm die Urkunde überreicht, der Physik- und Mathematiklehrer und damalige stellvertretende Direktor.

Müller wunderte sich, dass dieser Kollege den Posten als Parteiloser erhalten hatte. Gerade Krokus nahm beim Parteilehrjahr, das jeder Kollege, ob Genosse oder nicht, zu besuchen hatte, kein Blatt vor den Mund. Es war köstlich zu beobachten, wie die Parteireferenten ins Schwitzen gerieten, wenn Krokus mit Zahlen und Fakten über die wirtschaftliche Lage jonglierte.

Woher hatte er nur immer diese Informationen? Oder war das Ganze nur ein großer Bluff?

Auf jeden Fall war seine Anwesenheit immer die Würze des Parteilehrjahres.

Die Richtlinie der Partei erhielten die Schüler durch ihre Kinder- und Jugendorganisation. Am 1. September wurde des Weltfriedenstages gedacht, der mit dem obligatorischen Appell und einer Politinformation eingeleitet wurde. Dann folgten im gleichen Monat die Wahlen für die Pionier- und FDJ-Leitungen der einzelnen Klassen und dann für das Klassenelternaktiv (KEA). Mit den Kindern musste ein Kampfprogramm nach dem Pionier- oder FDJ-Auftrag erarbeitet werden. Die Erwachsenen richteten sich nach dem Plan des KEA.

Im September wurde auch der Opfer des Faschismus gedacht. An der Demonstration zur Würdigung dieses Tages nahm Müller regelmäßig teil. Er wollte die Schrecken des Krieges nicht noch einmal miterleben.

Zum Jahrestag der Namensgebung der Schule mussten wieder Lieder einstudiert werden. Die Schule trug den Namen eines Antifaschisten, der als kommunistischer Widerstandskämpfer in Plötzensee hingerichtet worden war. Wo aber lag Plötzensee? In aufopferungsvoller Arbeit, manchmal bis spät in die Nacht hinein, hatte der Genosse Kurt Mofang in seiner Werkstatt die Buchstaben des Namens geschmiedet und über dem Haupteingang der Schule angebracht.

Für das Pfingsttreffen der FDJ in Berlin sollte jede Klasse mindestens 50.- Mark sammeln und sich auch schon jetzt auf den 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik vorbereiten.

Es gab laufend Gedenktage und Anlässe, welche die Leute auf Trab hielten.

Müller nahm sich vor, im Jahre 1992 auf jeden Fall mit seinen von ihm dann aktuell unterrichteten Schülern den 1000. Geburtstag des Guido von Arezzo zu begehen, des Lehrers einer italienischen Klosterschule, der durch die von ihm entwickelte Methode des Blattsingens die heute übliche Notenschrift erfunden hatte.

Schon aus Opposition reizte ihn so eine Gedenkfeier, weil für die Parteileute - den Eindruck entnahm er jedenfalls ihren Äußerungen - Christen oft Personen mit beschränktem Horizont waren. Wer konnte angesichts der wissenschaftlichen Lehren des Marxismus/Leninismus noch an so einen Quatsch glauben? Die Partei hatte eben immer Recht, auch wenn sie nicht Recht hatte.

Das machte es vielen Menschen einfach, nicht weiter nachzudenken, weil die Partei für sie dachte.

Ohne religiöses Zeremoniell schien sie aber nicht auszukommen. Kinder erhielten ihren Namen in einer feierlichen Veranstaltung. Sie wurden Erwachsene durch die Jugendweihe in der 8. Klasse. Dafür wurden im Schuljahr mit den Teilnehmern interessante Veranstaltungen durchgeführt. Sie besuchten die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Oranienburg, machten Exkursionen zu Großbauten des Sozialismus, oder was der noch gnädigerweise aus den Zeiten des Kapitalismus erhalten hatte, wie Krupps Schiffshebewerk Niederfinow, besichtigten Volkseigene Betriebe und bewunderten die CAD/CAM-Anlage, die nach den Worten des Betriebsdirektors gerade nicht arbeitete, weil das Rohmaterial fehlte. Dafür sahen sie aber die Maschinen aus den 30er Jahren, auf denen noch die Aufschrift AEG gut zu lesen war, in treuer Zuverlässigkeit ihre Arbeit verrichten.

Nach dem Besuch in einem Forschungsbetrieb, mit modernsten Produktionsanlagen, hatte es Müller besonders schwer, die Schüler von den Vorzügen des Sozialismus zu überzeugen, weil er es einfach nicht konnte.

Schon als sie im Klubraum des Kombinates saßen, meckerte die Direktorin des Werkes, weil die Schüler nicht in FDJ-Kleidung erschienen waren. Dann pries sie die modernen Produkte des Betriebes, die Weltniveau besäßen. Zuletzt schwärmte sie von der neuen Farbspritzanlage, die sie aus der Bundesrepublik bezogen hatten. Sie wäre vollautomatisch und schütze die Gesundheit der Werktätigen, wie sie sich ausdrückte. Vor der Farbspritzanlage angekommen, konnten sie die Vorteile mit eigenen Augen betrachten. Ein Arbeiter besprühte ohne Schutzmaske das hergestellte Produkt mit Farbe. Die Automatik funktionierte irgendwie nicht.

Bei der Jugendweihefeier war dann die Welt wieder in Ordnung. Festlich gekleidet schritten die jungen Damen und Herren zum Klange feierlicher Musik in den großen Saal.

Alle Erwachsenen, auch die Lehrer, hatten sich ihnen zu Ehren von den Plätzen erhoben. Ein würdiges Kulturprogramm erhöhte den feierlichen Eindruck.

Der Festredner sang das Lob des Sozialismus und des später ganz gewiss folgenden Kommunismus, den er ja leider nicht mehr erleben könne, da er schon zu alt dafür sei.

„Aber ihr, meine lieben Freunde, seid dazu berufen, diese neue Gesellschaftsordnung aufzubauen und zu gestalten.“

Dann kam das Gelöbnis. Durch das Vorangegangene richtig eingestimmt, gelobten sie, alles für den Aufbau des Sozialismus zu tun, der Deutschen Demokratischen Republik treu zu sein, Freundschaft mit der Sowjetunion und den mit ihr brüderlich verbundenen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft zu pflegen und so weiter.

Der Höhepunkt des Festaktes folgte in der feierlichen Aufrufung der Namen. Jeder erhielt eine Urkunde und ein Buch, das dem Inhalt der Jugendstunden entsprach. Thälmannpioniere mit roten Halstüchern überreichten Rosen. Nun waren sie in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen worden und verließen in feierlicher Prozession den Saal mit der Untermalung festlicher Musik.


Außer einer Schülerin waren alle aus Müllers Klasse zur Jugendweihe gegangen. Horst war verpflichtet, mit den Eltern des Mädchens zu sprechen. Dort hatte er ein gutes Gespräch über den christlichen Glauben.

„Ich verspreche Ihnen“, sagte Müller bei der Beendigung des Elternbesuches, „von meiner Seite wird Ihre Tochter Kerstin keine Schwierigkeiten bekommen.“

Kerstin nahm sogar an vielen Exkursionen im Rahmen der Jugendweihe teil. Selbst der damaligen Direktorin fiel der Satz in der Zeugnisbeurteilung „Kerstin nahm an Veranstaltungen der Jugendweihe teil“ nicht auf und zeichnete das Zeugnis ab. Kein Betrieb wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie die eigentliche Jugendweihe nicht empfangen hatte. Auf Grund dessen wurde sie bei einer Bewerbung auch nicht benachteiligt.

Ja, Müller hing an seinen Schülern, auch wenn er sich hin und wieder über sie ärgern musste. Aber das war normal.


Um 14.00 Uhr des nächsten Tages kamen Dirk Amigo, der Dicke, wie sie ihn nannten, Claudia Schöpke, Regina Morose, beides zuverlässige und fleißige Schülerinnen und Jens Mespil, der Pilot werden wollte.

„Wissen Sie, dass der Vater von Regina im Westen geblieben ist?“

„Nein, Dirk, Reginas Vater hat doch vor kurzem noch eine hohe staatliche Auszeichnung erhalten. Das verstehe ich nicht.“

„Ja, er sollte da wohl zu irgendeinem Kongress fahren und blieb gleich in der BRD (Bundesrepublik Deutschland). Als Regina aus Moskau kam, wartete sie vergeblich auf ihren Vater.“

Müller war erschüttert. Vor einem Jahr hatte sich der anerkannte Arzt von seiner seit Jahren nervenkranken Frau getrennt und die alleinige Erziehung seiner drei Kinder übernommen. Er kam auch oft zur Schule und arbeitete im Elternaktiv der Klasse seines älteren Sohnes mit. Die Kinder besaßen bei allen Lehrern einen guten Ruf und wurden auch von ihren Mitschülern geachtet. Regina war die FDJ-Sekretärin seiner Klasse und von der Schule mit einer Fahrt nach Moskau ausgezeichnet worden, die im Rahmen einer Schülerdelegation möglich war.

„Regina, was nun?“

„Meine große Schwester wird ihr Studium fortsetzen. Mein Bruder will unbedingt in den Westen, und ich weiß es noch nicht.“

„Wie können wir euch helfen?“

„Wir kommen schon zurecht. Opa hilft uns dabei.“

Müller verstand den Vater nicht. Wie konnte er nur seine Kinder und Patienten im Stich lassen?

„Du bleibst doch weiter unser FDJ-Sekretär?“

„Ich weiß nicht, in der Situation …„, zuckte sie mit den Schultern.

Müller wollte die Wunde nicht noch größer machen und rief:

„So, Leute, dann wollen wir uns einmal um die Bücher kümmern!“

Sie kamen beim Hinaufschleppen aus dem Keller in den 3. Stock ins Schwitzen. Dann sortierten sie die Lehrbücher nach der an die Tafel geschriebenen Reihenfolge.

Zum Dank durften sie sich die neuesten Exemplare heraussuchen und schon mit nach Hause nehmen.

Sie plauderten nach der Arbeit noch etwas über ihre Ferienerlebnisse. Dirk war in Berlin geblieben und hatte zwei Wochen in einem Betrieb Geld verdienen können. Er wollte für einen Computer sparen.

Claudia war Helferin in einem Betriebsferienlager an der Ostsee und hatte eine Kindergruppe betreut.

Jens war mit seinen Eltern in Bulgarien gewesen.

Als Müller von seinen Erlebnissen in Rumänien berichtete, bestätigte Jens Ähnliches. Sie waren mit dem Auto auf der Transitstrecke durch das Land gefahren.

Die Ferien gingen nun rapide dem Ende zu. Die Schule konnte beginnen.

Für Müller bedeutete dieses Schuljahr mit seiner Abschlussklasse viel Arbeit. Er dachte mit Bangen an das Verfassen und Schreiben der Beurteilungen, da sie über das Schicksal seiner Schüler entscheiden konnten.

Vor allem musste er darauf achten, von Anfang an einen Leistungsabfall in seiner Klasse zu verhindern. Er kannte seine schwachen Kandidaten. Es war nötig, ihnen immer wieder Mut zu machen und Auswege zu zeigen, wenn sie einmal versagten. Vielleicht ließen sich auch wieder, wie in den unteren Klassen, Lernpatenschaften der Schüler organisieren.

Ganz besonders musste er sich um Dörte Seefeld kümmern. Sie war oft so lustlos und reagierte aggressiv, wenn sie jemand ansprach. Ihre Mutter hätte sie doch nur einmal umarmen sollen! Dörte sehnte sich nach Geborgenheit und elterlicher Liebe. Die Mutter aber hasste ihre Tochter abgrundtief. Dörte lief von zu Hause fort und blieb Tage lang verschwunden. Sie war bei Bekannten untergetaucht, einer freundlichen Familie, die sie wie ihre eigene Tochter behandelte. Die Volkspolizei suchte das Mädchen. Die Schule wurde eingeschaltet.

Die Lehrer und Klassenkameraden wurden um Auskunft gebeten. Es war alles umsonst, bis sich die Familie meldete, bei der sie untergetaucht war. Zur Begründung ihres langen Schweigens gaben sie an, dass Dörte sich erst einmal beruhigen sollte, bis sie sich zu weiteren Schritten entschlossen.

Als die Mutter schwanger war, wollte sie das Kind unbedingt abtreiben. Dann trug sie es aber doch aus und lehnte es vom ersten Tage an ab. Es war ihren zahlreichen Männerbekanntschaften im Wege. Später steckte sie das Kind in ein Heim. Als Dörte in die 8. Klasse kam, besann sich die Mutter auf ihre Tochter und holte sie zu sich. Das ging aber nur ein Jahr lang gut. Wegen Kleinigkeiten kam es zu Auseinandersetzungen. Das hielt das Mädchen schließlich nicht mehr aus. Die nachfolgende Gerichtsverhandlung entzog der Mutter nun endgültig das Sorgerecht, und Dörte kam auf eigenen Wunsch wieder in ein Heim, da die Familie sie nicht auf Dauer aufnehmen konnte.

Ja, das waren Probleme, mit denen es Müller immer wieder zu tun hatte.


In seinem Fach fand er das neue Lehrstellenverzeichnis - gleich drei Exemplare. Am ersten Schultag wollte er sie nach einem Verteilerschlüssel an seine Schüler weitergeben.

Schon seit der 6. Klasse erfasste er die Berufswünsche der Kinder, holte hin und wieder durch die Eltern den Vertreter eines Berufszweiges in die Schule, der sein Fachgebiet vorstellte. So wussten seine Schüler, welche Berufszweige in Berlin gebraucht wurden. Am effektivsten war es jedoch immer, wenn ein Vertreter des Berufsberatungszentrums, das in jedem Stadtbezirk errichtet worden war, vor der Klasse sprach und kompetent die zahlreichen Fragen beantwortete.

Vor den Herbstferien erhielten dann alle Schüler der 10. Klasse am letzten Schultag ihre Berufsbewerbungskarten mit Ausnahme derjenigen, die eine Erweiterte Oberschule besuchen durften. Auch Behinderte konnten sich schon vorher bewerben. Wer nach den Herbstferien noch keine Lehrstelle hatte, fragte oft bei den Berufsberatungszentren nach, da diese stets den Rücklauf über noch freie Lehrstellen zentral erfassten.

Hatte ein Schüler seine sichere Lehrstelle, wurde die Bewerbungskarte vom Lehrbetrieb an die Schule zurückgeschickt. So wusste der Klassenleiter immer Bescheid, wem bei der Lehrstellensuche noch geholfen werden musste. Meistens wussten alle Schüler am Ende des Schuljahres, wo sie ihren Beruf erlernen konnten.

Nach der Lehrzeit war auch der Arbeitsplatz so gut wie sicher, und sie brauchten keine Sorge zu tragen, dass sie ihn jemals verlieren würden. So ging alles seinen sozialistischen Gang, und das Wort „Arbeitslosigkeit“ war für sie ein Begriff der absterbenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Offiziell gab es Arbeitslose nicht. Wer sprach schon von denen, die einen Antrag auf Ausbürgerung gestellt hatten und zum Klassenfeind in den Westen gehen wollten? Was nicht sein durfte, war eben nicht vorhanden.

Den unmittelbaren Kontakt zu der Arbeiterklasse erhielten die Kinder durch ihre Patenbrigade aus irgendeinem VEB und besonders von der 7. Klasse an durch den PA- und ESP-Unterricht*. Die Patenbrigade beteiligte sich an der Gestaltung von Pioniernachmittagen, spendierte Gelder für die Klassenfahrt oder half auch bei der Renovierung des Klassenraumes und schickte Betreuer bei Exkursionen an Wandertagen. Natürlich waren ihre Vertreter auch bei der Zeugnisausgabe zugegen und beschenkten die leistungsbesten Schüler. Im Betrieb war so eine Patenschaft für die Brigade ein Pluspunkt zur Erreichung des Zieles „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ zu werden.

In den Lehrwerkstätten des Patenbetriebes lernten die Schüler praktische Tätigkeiten wie Feilen, Sägen, Bohren, Gewindeschneiden, kurz Dinge und Fertigkeiten, die sie im täglichen Leben gut anwenden konnten. Jede Schule der DDR hatte vertragliche Bindungen mit einem Patenbetrieb. Es kam nicht selten vor, dass dieser Betrieb bevorzugt Lehrlinge ausbildete, die ihre Prüfungen an der Patenschule abgeschlossen hatten. Die Patenbrigade, die eine Klasse betreute, musste aber nicht unbedingt aus dem Patenbetrieb kommen, sondern konnte auch von den Klasseneltern vermittelt werden.


*PA: Produktive Arbeit der Schüler als Unterrichtsfach in der Lehrwerkstätte eines Volkseigenen Betriebes (VEB) - eine Weiterführung des Werkunterrichts der Unterstufe

ESP: Einführung in die sozialistische Produktion, eine Art Betriebswirtschaftslehre, wurde auch meist im VEB unterrichtet.

Ideologisches Ziel war die Verbindung der Schüler mit den Werktätigen, der Arbeiterklasse und damit auch der SED, die sich gerne Partei der Arbeiterklasse nannte.

Er war auch verbunden mit theoretischen Unterweisungen für die folgenden Arbeiten im PA-Unterricht (z.B. Technisches Zeichnen usw.)

PA und ESP wurden in der Schulplanung mit der Abkürzung UTP zusammengefasst, d.h. Unterrichtstag in der Produktion.

Die dort vermittelten theoretischen und praktischen handwerklichen Fähigkeiten, z.B. Feilen, Gewindeschneiden, Bohren, Entwerfen von elektrischen Schaltkreisen usw. waren für die Schüler durchaus nützlich im weiteren Leben nach der Schulzeit.


Das letzte Schuljahr

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