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Fahnenappell und Schuljahresbeginn

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Der 1. September des Jahres 1988 war ein Donnerstag.

Das Schuljahr begann mit dem üblichen Appell zum Weltfriedenstag, da am 1.9.1939 der 2. Weltkrieg begonnen hatte.

Die FDJler trugen ihre Verbandskleidung, das blaue Hemd, die Jungpioniere das weiße Hemd mit blauem und die Thälmannpioniere mit rotem Halstuch.

Kinder und Schüler, die vergessen hatten ihre Verbandskleidung anzulegen, wurden von den Klassenlehrern zur Rechenschaft gezogen. Auch Müller tat es. So war man es halt gewohnt, denn wer wollte schon Ärger mit dem Direktor bekommen und der wieder nicht mit den Vertretern der Abteilung Volksbildung und den Genosseneltern.

Kurt Mofang hatte die Beschallungsanlage in Ordnung gebracht. Über den Schulhof klang lustige Marschmusik von einer Schallkonserve, die das Wachregiment der Schule geschenkt hatte. Die Mikrofone waren geschärft und gaben jeden Ton wieder.

Rechts und links neben der Schule warteten die Schüler und Lehrer auf ihre Auftrittsmusik, um sich dann im latschigen Ungleichtrott zum Appellplatz zu begeben. Dort besaß jede Klasse ihr zuständiges Karree.


Das musste aber von ihr zum Schuljahresbeginn erneut ausfindig gemacht werden, da sie ja wieder um eine Stufe höher gerückt war.

Als die Fanfare rief, setzte sich auch Müllers Klasse mit den anderen in Gang. Die Schüler schnatterten über ihre letzten Ferienerlebnisse und äußerten ihren Unmut, dass die blöde Penne wieder begann. Selbst auf dem „heiligen“ Appellplatz wollten sie nicht zur Ruhe kommen, so dass Müller eingreifen musste, stimuliert von dem strafenden Blick der Direktorin, die zu ihm von der Eingangstreppe herüber zu blicken schien.

Wie Müller diese Appelle mit ihrem ganzen militärischen Gehabe hasste!

In der Zeit hätte er schon den Stundenplan diktieren, die Buchfrage erledigen, über wichtige Fragen des kommenden 10. Schuljahres und die damit verbundenen Probleme in einer Abschlussklasse sprechen können.

Die Pionierleiterin brüllte mit ihrer hellen Kommandostimme:

„Pioniere, Schüler und FDJler! Achtung! Zum Einmarsch der Fahnendelegation die Augen rechts!“

Die Fahnen wurden im Gänsemarsch von der dafür auserwählten Kindergruppe feierlich herbei getragen und nach dem Kommando „Heißt Flagge!“ am Mast hochgezogen.

„Pioniere! Achtung! Stillgestanden! Ich begrüße euch mit dem Pioniergruß: Für Frieden und Sozialismus seid bereit!“

Hier bei den Kleinen zeigte sich noch etwas Begeisterung bei der Antwort:

„Immer bereit!“

Dabei stachen sie sich mit dem ausgestreckten Daumen in die Haare und zeigten die Handinnenfläche dem Appellabnahmegremium auf der breiten Eingangstreppe der Neubauschule.

„FDJler! Achtung! Stillgestanden! Ich begrüße euch mit dem Gruß der Freien Deutschen Jugend: Freundschaft!“

Ein vielstimmiges Echo, mal kurz oder absichtlich lang gezogen, untermalt von den tiefen nachpuberalen Tönen der Jungen der oberen Klassen, folgte:

„F-F-rreundschaaaaftttt!“

Darauf folgten dann immer das unvermeidliche Schülergelächter und die grimmigen Blicke der nach Ordnung heischenden Pädagogen.

„Ich bitte um die Meldung der Gruppenratsvorsitzenden und der FDJ-Sekretäre!“

Die gewählten Funktionäre eilten nach vorne, um die Anzahl der zum Appell erschienenen Mitschüler ihrer Klasse zu melden.

„Pioniere und FDJler! Achtung! Stillgestanden! Zur Meldung an den Genossen Direktor die Augen geradeaus! --- Genossin Direktor! Ich melde, 721 Schüler der A.-P.-Oberschule sind zum Appell anlässlich des Weltfriedenstages und des Schuljahresbeginns angetreten!“

Genossin Sanam trat ans Mikrofon:

„Danke! Damit erkläre ich den Appell für eröffnet!“

Nun kam Tammis Auftritt. Tammi war Musik- und Klassenlehrerin in der 3a. Ihren Kindern im Pionierdress sah man die Aufregung an. Unter ihrer Akkordeonbegleitung sangen sie „Wie und wann, wie und wann geht die Arbeit gut voran?“ und „Fröhlich sein und singen, stolz das blaue Halstuch tragen.“

Dafür, dass die Kinder während der Ferien keine Gelegenheit hatten, gemeinsam zu üben, singen sie recht gut, sagte sich Müller. Tammi freute sich, als er ihr das später mitteilte, denn die Direktorin würdigte diese Leistung mit keinem Wort. Der Applaus war mäßig, vielleicht auch deshalb, weil der Straßenlärm von der Kreuzung oft die Deutlichkeit des Gesanges verschluckte. Einige Rezitationen sollten die positive Einstimmung in das neue Schuljahr heben. Ein weiteres Lied beendete den kulturellen Teil.

Die Minuten der Direktorin folgten nun. Zuerst kam die „Rotlichtbestrahlung“ in Form des Lobes der friedlichen Außenpolitik der UdSSR, der DDR und der sozialistischen Bruderstaaten. Sie nannte konkrete Ereignisse, die während der Ferien in der internationalen Szene geschehen waren und Gegenstand der Politinformation in der ersten Unterrichtsstunde sein sollten. Müller war bei seinen Urlaubserlebnissen in Rumänien.

Dann sprach sie über die schulischen Aufgaben des kommenden Schuljahres 1988/89 und ermahnte die Schüler zu fleißigem Lernen, da das den Sozialismus stärken würde, zumal auch die DDR im nächsten Jahr ihren 40. Geburtstag feiern würde.

Zuletzt kam wieder die helle Stimme der Pionierleiterin:

„Pioniere und FDJler! Stillgestanden! Wir beenden unseren Appell mit dem Pioniergruß: Für Frieden und Sozialismus seid bereit!“

„Immer bereit!“

„Und dem Gruß der FDJ: Freundschaft!“

„F-F-rreundschaaaafttt!“

„Ich bitte die Klassenleiter, ihre Klassen zu übernehmen.“

Der Appell war vorüber. Endlich!!!

Müller ging mit seiner Klasse in das Schulgebäude und schloss den Klassenraum auf. Da waren sie also wieder, seine Lieben. Es fehlte niemand. Sie standen an ihren Plätzen. Regina, die FDJ-Sekretärin meldete in strammer Haltung:

„FDJler stillgestanden! Herr Müller, ich melde, die Schüler der Klasse 10b zum Unterricht bereit! Es fehlt keiner!“

„Danke, nehmt Platz!“ antwortete Müller, den das Zeremoniell nervte. Aber es war vom Pädagogischen Rat (PR) in Abstimmung mit den Pionieren und FDJlern beschlossen worden.

Nun ging es also in das letzte entscheidende Jahr. Müller fühlte sich gut erholt und glaubte, mit Elan allen Aufgaben gewachsen zu sein.

„Die Politinformation werden wir im Anschluss an unsere organisatorischen Dinge erledigen“, sabotierte er die Anordnung der Direktorin.

Er entschied sich deshalb anders, weil er der Meinung war, die gute Organisation der Lernarbeit wäre wichtiger für das Vorankommen der Schüler als der ganze andere Kram. Außerdem konnte er als Geschichtslehrer aktuelle Ereignisse besser in Konsistenz mit dem zu behandelnden Stoff bringen.

Er diktierte nach der Bucherfassung den neuen Stundenplan, sprach über die Aufgaben des neuen Schuljahres und über feststehende Termine der schriftlichen Prüfungen und Möglichkeiten einer effektiven Vorbereitung darauf.

Das Problem Regina sprach er bewusst nicht an. Er wollte nicht, dass dieses Mädchen wegen der Flucht ihres Vaters in den Westen diskriminiert wird. Er war sogar dafür, dass sie ihren beantragten EOS-Platz erhalten sollte. Bis zur Wahl der neuen FDJ-Leitung sollte sie auch noch FDJ-Sekretär bleiben.

Die Erledigung der organisatorischen Fragen ermöglichte keine Zeit mehr für die Politinformation, und darüber war nun Müller gar nicht traurig.


Das Schuljahr lief für Müller verfassungsmäßig günstiger an als das Vorjahr. Den Klassenleiterplan konnte er schon vorfristig abgeben. Er hatte ihn kürzer und konzentrierter nach der Vorgabe des Arbeitsplanes der Chefin geschrieben und bekam ihn sogar mit einer anerkennenden Bemerkung zurück.

Er kontrollierte ständig die Lernarbeit seiner Schüler, hospitierte bei in seiner Klasse unterrichtenden Kollegen, um schwache Schüler zu beobachten und gleich helfend einzuschreiten.

Im Jahr zuvor gab es häufige Klagen von Fachlehrern über unerledigte Hausaufgaben. Deshalb verglich er auch die Hausaufgabenhefte, die jeder Schüler führen musste, mit den eingetragenen Hausaufgaben der Lehrer im Klassenbuch. Schließlich sollten seine Schüler sicher die Prüfungen bestehen.

Besonders die Jungen hatten mit der Ordnung zu kämpfen. Aber allmählich gewöhnten sie sich daran.


Die Hausaufgaben wurden gewissenhafter angefertigt und die Leistungen verbesserten sich.

Selbst Dörtes schlechte Lernergebnisse des Vorjahres gerieten in Vergessenheit.

Nur Regina ließ nach. Sie hatte zusammen mit ihrem Bruder einen Ausreiseantrag gestellt. Sie wollte nun doch zu ihrem Vater übersiedeln.

Müller selbst hatte Anfang September eine Einladung aus dem Schwarzwald zum 96. Geburtstag seiner Tante bekommen.

Nach über zwanzig Jahren Mauer waren die Reisermöglichkeiten zu Verwandten ersten Grades in den Westen bei wichtigen Familienangelegenheiten etwas gelockert worden. Das betraf die leiblichen Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten und deren Kinder.

Er glaubte, seine Nerven spielten nicht mehr mit. Er ahnte schon seit der Reise in die Tschechoslowakei 1968, was wieder auf ihn zukommen würde.

Frau Sanam sagte ihm klipp und klar:

„Ich lehne diese Fahrt in die BRD ab. Es ist ja bloß deine Tante.“

„Ich bestehe aber trotzdem auf einer Fahrt dorthin!“

„Gut, ich werde deinen Antrag mit meiner Ablehnung an die Abteilung weiterleiten.“

Müller wusste nicht, dass Schuldirektoren angewiesen wurden, grundsätzlich befristete Ausreiseanträge in den Westen abzulehnen.

Müller hatte einen Kloß im Hals und das dämliche Gefühl des Schuldigseins, das er kaum überwinden konnte, als er in der Abteilung Volksbildung vorsprach. Das Gespräch dort verlief wie ein Verhör.

„Wissen Sie überhaupt, in was für ein Land Sie da fahren wollen, Kollege Müller?“

Das hatte er schon einmal vor Jahren gehört.

„Sagen Sie mal, Ihre Tante, was ist denn das für eine? Sind Sie überhaupt mit ihr verwandt? Wann war sie denn das letzte Mal in der Deutschen Demokratischen Republik? … Waaas? 1958? Vor dreißig Jahren? Na, da können Sie doch nicht behaupten, Sie hätten noch innige Verbindungen mit ihr!“

„Mit ihren 70 Jahren damals konnte sie eben nicht mehr so viel herumreisen.“

„Warum sind Sie dann nicht selbst dorthin gefahren?“

In dem Augenblick hätte er dem Vertreter der Abteilung Volksbildung wer weiß was antun können. In seinen Gedanken wurde er ausfallend; es brüllte in ihm: ’Du altes Arschloch weißt doch selbst, dass eure verfluchte Mauer mich daran gehindert hat!!!’

Müller zwang sich zur Ruhe. Am Freitag sollte über seinen Antrag entschieden werden. Diesen Vertreter hatte er schon einmal als besonders scharfen Genossen in der Schule erlebt, nachdem eine Kollegin es gewagt hatte, einen ständigen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik zu stellen, das heißt, sie wollte dorthin umziehen – nicht nur verreisen. Vor versammeltem Kollegium wurde die Lehrerin heruntergeputzt und anschließend vor ihrer fristlosen Entlassung noch das Gedicht von Brecht „Der Klassenfeind“ durch den Vertreter rezitiert. Ragnit, der einer Blockpartei angehörte, musste eine Stellungnahme von Seiten des Kollegiums abgeben. Müller beneidete ihn nicht, war dann aber doch erstaunt, dass sie noch einigermaßen verträglich war. Er sagte lediglich, dass er ihren Schritt nicht versteht und er selbst ihn auch nie unternehmen würde.

Er denkt, dass sich auch seine Kollegen dem anschließen.

Dieser ach so linientreue hartgesottene Genosse wurde einige Monate später unehrenhaft entlassen, weil er Gelder unterschlagen hatte.

Als er nach dem entscheidenden Freitag in der Abteilung Volksbildung vorsprach, überreichten sie ihm ein Schreiben, das die Erlaubnis enthielt, ausreisen zu dürfen. Grund zum Jubeln gab es aber immer noch nicht. Jetzt musste er zur Volkspolizei. Wieder wurden Fragen nach ganz persönlichen Dingen gestellt. Es war peinlich und erniedrigend. Wieder kam in Müller dieses Schuldgefühl, etwas ganz Schlimmes zu tun, hoch. Endlich, endlich gaben sie ihm den offiziellen Antragsvordruck für die befristete Ausreise in das Ausland, den er sofort auszufüllen hatte. Er trug die Adresse seiner Tante ein, den Grund seiner Reise und gab den Antrag zusammen mit der Geburtsurkundenkopie und der Lebendmeldung vom Einwohnermeldeamt seiner Tante sowie zwei Passbilder für den Reisepass ab. Kurz vor den Herbstferien sollte er sich dann wieder melden.

Aus diesen Erfahrungen heraus nahm sich Müller vor, bei einer Befragung über seine Schülerin Regina nur günstig für sie zu sprechen.

Bis zu den Herbstferien waren aber an der Schule noch die hektischsten Tage zu überstehen: die Vorbereitung und die Wahl des Klassenelternaktivs und der FDJ-Leitung.

Müller traf sich deshalb in der ersten Woche nach dem Schulbeginn mit seinem Elteraktiv, dem sich auch das der Parallelklasse zugesellte. Das hatte er mit der anderen Klassenlehrerin so vereinbart.

Auf diese Art konnten sie konstruktiv die Abschlussfeier am Schuljahresende vorbereiten und bereits jetzt wichtige Aufgaben verteilen, die eine Organisation der Räumlichkeiten, das Essen, die kulturelle Umrahmung, die finanzielle Frage, die Disco und anderes betrafen.

Die Frage des Raumes, in dem die Feier stattfinden sollte, war schon geklärt worden. Eine Mutter arbeitete als Leiterin einer HO-Gaststätte (Handelsorganisation der DDR), die über einen für diesen Anlass würdigen Saal verfügte. Sie wollte sich auch um das leibliche Wohl kümmern. Ein Kollege hatte einmal Müller zugeflüstert:

„Wer als Klassenlehrer die Möglichkeiten seiner Eltern nicht nutzt, ist selbst daran schuld.“

Der Saal sollte die Schule nichts kosten. Trotzdem musste sechs bis acht Wochen vorher der Vertrag abgeschlossen werden. Bis zum 30. Juni 1989 sollten alle Gelder für das Buffet, die Getränke und andere Kosten von den Eltern eingezahlt sein. Man dachte so an 15,-- bis 20,-- Mark.

Über die Disco gab es immer noch die Debatte, ob es viel oder wenig Westmusik sein sollte. Müller zog es vor zu schweigen.

„Wie steht das denn eigentlich mit den Gästen, die aus der BRD anreisen? Wie viele Gäste erlauben wir überhaupt pro Elternteil?“, erkundigte sich eine Mutter.

Bei der Jugendweihefeier im großen Saal eines Betriebes war vor zwei Jahren extra darauf hingewiesen worden, dass der Zutritt für Westbürger nicht gestattet sei. In der Gaststätte war das aber kein Thema. Die Anzahl der Personen musste nur aus Kapazitätsgründen eingeschränkt werden.

Nach der Klärung der gemeinsamen Fragen trennten sich die Elternaktive wieder.

Müller musste nun herausfinden, wer im neuen Schuljahr von den Eltern im Aktiv mitarbeiten wollte. Auch das war schnell erledigt, da es wieder die bewährten Mitglieder vieler Schuljahre waren. Durch den Vater einer neuen Schülerin hatte er nun zwei Genosseneltern im Aktiv, was eine Forderung des Schuljahresarbeitsplanes erfüllte. Kein Elternaktiv an der Schule ohne Genossen, und wo ein Genosse war, war auch die Partei und manchmal auch etwas mehr. Aber das sollte Müller im Laufe des Schuljahres selbst erfahren. Zu diesem Zeitpunkt war er zunächst einmal froh, willige Eltern gefunden zu haben, die gemeinsam mit ihm die anstehenden Aufgaben und Probleme lösen wollten.

Der neu hinzugekommene Vater erkundigte sich, ob Regina Morose noch FDJ-Sekretär bliebe, da es ja wohl untragbar wäre, wenn die Tochter eines republikflüchtigen Arztes weiterhin diese Funktion ausübte. Müller entgegnete, Regina sei die gewählte Vertreterin der FDJ-Gruppe der Klasse, und nur sie könnte jemanden von einer Funktion abberufen. Außerdem sei ja am Ende des Monats FDJ-Leitungswahl, die über den neuen FDJ-Sekretär befinden wird. Einen Tag nach dieser Sitzung wurde der Schule vom amtierenden Schulrat mitgeteilt, dass der EOS-Antrag für Regina Morose gegenstandslos geworden sei.

„Wissen Sie, Herr Müller, ich nehme das ganz gelassen, da ich damit schon gerechnet habe“, reagierte Regina auf diese Information.

Dann rannte sie hinaus, und Müller hörte sie schluchzen.

„Ach, wenn ich dir nur helfen könnte, Mädchen“, dachte er sich. Ihm fiel der Begriff einer vergangenen Zeit ein: Sippenhaft! Auf keinen Fall durfte sie in der Klasse oder von Lehrern diskriminiert werden.

Genau eine Woche später war nach dem Unterricht die FDJ-Aktivtagung. Alle leitenden Funktionäre der Klassen 9 bis 10 sowie die Mitglieder der GOL (Grundorganisationsleitung der FDJ), die Klassenleiter und der Direktor nahmen obligatorisch an dieser Sitzung teil. Die Schüler der achten Klasse waren im September noch Pioniere und wurden erst im Laufe des Schuljahres gemeinsam Mitglieder der FDJ. Nur wenige entzogen sich diesem freiwilligen Zwang.

Der GOL-Sekretär, ein Schüler der 10. Parallelklasse, wiederholte die Worte der Direktorin auf dem Pädagogischen Rat:

Die politisch-ideologische Arbeit musste verstärkt werden. Deshalb sollten in den Gruppen stets politische Gespräche geführt werden, die sich mit den Grundlagen des Sozialismus beschäftigen. Um ein geschlossenes Auftreten der FDJ-Leitungen zu ermöglichen, war das Erarbeiten eines gemeinsamen Standpunktes erforderlich.

Gleichzeitig geziemte es der FDJ, in der Schule noch mehr präsent zu werden. Er schlug vor, dass in einem Wettbewerb das Tragen des FDJ-Hemdes während der Schüleraufsichten, bei Demonstrationen und Appellen bewertet wird.

Die FDJ sollte auch direkten Einfluss auf die Lernhaltung und die Meinung in der Klasse nehmen. Für viermal im Jahr wurde die Durchführung des FDJ-Studienjahres zu Fragen der marxistisch-leninistischen Philosophie oder wahlweise zur Biographie von Marx und Engels festgelegt, an dem alle FDJler teilzunehmen hatten. In den sonstigen Mitgliederversammlungen konnte unter anderem der 70. Jahrestag der Novemberrevolution und die Gründung der KPD gewürdigt werden. Politische Gespräche sollten immer mit schulischen Problemen gekoppelt werden. Dazu bot sich das im Mai stattfindende Pfingsttreffen der FDJ an. Dieses Ereignis erforderte, dass sich jede Klasse überlegt, wieviel Geld sie für das gute Gelingen des Treffens spenden könnte.

Plötzlich platzte Regina Morose, die noch amtierende FDJ-Sekretärin aus Müllers Klasse, in den Vortrag des GOL-Sekretärs hinein:

„Welchen Sinn hat denn dieses Treffen?

Warum sollen wir schon wieder spenden für eine Sache, wo Gelder sinnlos verschleudert werden, die anderswo dringender gebraucht werden?

Gibt es nicht genug Menschen auf der Welt, die unsere Hilfe benötigen? Wenn ich daran denke: Jeden ersten Mai diese Winkelemente, die nachher von den Leuten achtlos zertreten werden!

Ich sehe nicht ein, dass ich für so etwas auch noch Geld spendieren soll. Würdet ihr sagen: Das ist für Opfer von Katastrophen, O. K., aber für so einen Quatsch, nein!“

Die Direktorin, Genossin Sanam, schaute mit grimmigem Blick zu Müller hinüber. Der wollte aber nicht darauf öffentlich reagieren, weil er erstens seiner Schülerin zustimmte und zweitens als Gast nicht die Leitung dieser Tagung hatte. Sollten sich doch die Genossen und die gewählten Funktionäre damit auseinander setzen.

Die Argumente der Direktorin, die dann endlich in dem folgenden peinlichen Schweigen das Wort ergriff, wirkten phrasenhaft und wenig überzeugend:

Hier trifft sich in Berlin die Jugend des ganzen Landes. Gleichzeitig - das durfte nun auch wieder nicht fehlen - ist das Treffen ein Beitrag für den Frieden. Wieso, erklärte sie nicht.

Als nun auch noch andere FDJler in Reginas Kerbe schlugen, wurde das Thema kurzerhand mit der Bemerkung abgebrochen, es sollte in den FDJ-Gruppen weiter diskutiert und die Höhe der Spende festgelegt werden. Wir könnten uns schließlich nicht als einzige Schule von der Spendenaktion ausschließen. Weitere Ausführungen lenkten von diesen Widersprüchen ab.

Mit Hinweisen auf die jährlich sich wiederholende Messe der Meister von Morgen (MMM), auf der kreative Eigenleistungen und Erfindungen der Schülerinnen und Schüler präsentiert und bewertet wurden, den Pioniergeburtstag am 13. Dezember, den auch die FDJler mitgestalten sollten, den Geburtstag der FDJ am 13. März, das Solidaritätskonzert kurz vor Weihnachten und den Ablauf der bevorstehenden FDJ-Wahlversammlungen wurde die FDJ-Aktivtagung beendet.

Beim Verlassen des Sitzungsraumes zischte die Direktorin Herrn Müller zu:

„Konntest du deine Schülerin nicht in die Schranken weisen?“

„Wieso? Hatte ich denn die Leitung der Tagung?“

„Übrigens wünsche ich, dass du zur Elternaktivwahl alle Schüler deiner Klasse einlädst, damit gleich von Anfang an das Schuljahr gut anläuft. Ich selbst werde anwesend sein. Hast du schon ermittelt, welches Prädikat (das in einer Zensur ausgedrückte Gesamtprüfungsergebnis) jeder Schüler deiner Klasse erreichen will?“

„Ja, gleich am ersten Tag. Aber nur zwei Drittel haben schon diese konkrete Zielrichtung. Außerdem kontrolliere ich regelmäßig die Hausaufgabenhefte, ob alle Aufgaben eingetragen wurden.“

Das hatte ihm die Direktorin kurz vor dem Ende des letzten Schuljahres in einem Klassenleitergespräch angeordnet, da manche Hausaufgabenhefte unsauber geführt, bemalt und zerfleddert waren. Müller fand das zwar für eine zehnte Klasse etwas kindisch, stimmte aber, weil er an einer ordentlichen Lernarbeit seiner Anvertrauten interessiert war, mit der Forderung überein.

Diese Übereinstimmung gehörte zum Prinzip des „einheitlich handelnden Pädagogenkollektivs“. Müller hatte in seiner Praxis oft festgestellt, dass ein übereinstimmendes Vorgehen aller Lehrer sich positiv auf die Lernhaltung der Klasse auswirkte.

Während des Geschichtsunterrichts teilte er den Schülern seiner Klasse die Einladung zur Elternaktivwahl mit. Ihr Erscheinen sei Pflicht.

Es ginge schließlich um den erfolgreichen Abschluss der Prüfungen.

Frau Sanam selbst wolle den Eltern und Schülern einige wesentliche Dinge sagen.

Nach dem Unterricht wurde Müller ins Sekretariat neben dem Direktorenzimmer gerufen. Dort wartete eine junge Frau auf ihn, Studentin im 5. Studienjahr an der Humboldt-Universität. Sie sollte bei ihm ihr großes Schulpraktikum und Staatsexamen absolvieren.

Müller hatte Freude an der Mentorentätigkeit, weil es ihm Spaß machte zuzusehen, wie sich ein junger Mensch zu einem guten Lehrer entwickelte. Das Urteil über die bisherigen wenigen Unterrichtsstunden der jungen Frau Rahn an Praktikumsschulen der vorherigen Semester war nicht gerade günstig: Sie sei zu inkonsequent und schüchtern. Das Ergebnis ihrer Unterrichtstätigkeit sei nur befriedigend.


***

Müller hatte als Student während des Praktikums kein großes Verständnis bei einer Mentorin gefunden. Sie erwartete in ihm schon den perfekten Lehrer und ärgerte sich, wenn er ihren Unterrichtsstil nicht kopierte. Die Auswertungen seiner Unterrichtsversuche waren dann auch dementsprechend. Er bekam Albträume. Ausgerechnet bei ihr sollte er im Fach Musik sein Staatsexamen absolvieren. Die Examensstunde war fast eine Katastrophe, und er rutschte gerade noch so durch die Prüfung. Damals war jede Unterrichtsstunde unbedingt mit einer die Schüler motivierenden Problemstellung zu beginnen. Müller hatte aber die Aufgabe, ein Lied zu behandeln, aus dem sich eine solche nur schwer ableiten ließ. Es war weder rhythmisch kompliziert, noch bot der Text weltbewegende Probleme. Müller stellte aber eine so dämliche „Problemfrage“, nach der die Schüler denken mussten, er hätte einen „Tick hinterm Pony“.

Später musste er als gestandener Lehrer über seine ersten Schritte lachen. Eines nahm er sich jedoch vor, und deshalb hatte dieses Erlebnis auch sein Gutes: Niemals wollte er irgendeinem Studenten, der zu ihm gesandt wurde, den Mut zum Lehrerberuf nehmen, geschweige ihn schon als vollkommen ansehen.


***

Müller drückte der jungen Frau herzlich die Hand und sagte ihr:

„Ich freue mich, Sie an unserer Schule begrüßen zu können.“

Da sie auch die Arbeit eines Klassenleiters kennen lernen sollte, lud er sie zur FDJ-Leitungssitzung am folgenden Tage und zur Elternaktivwahl ein.

In der Leitungssitzung wurde zuerst darüber diskutiert, ob Regina noch weiter ihre Funktion als FDJ-Sekretär ausüben wollte. Sie sagte, dass sie einen Ausreiseantrag gestellt und auch kein Interesse mehr an dieser Funktion hat. Jeder verstand ihre Beweggründe, obwohl Müller es sehr bedauerte. Es gab in seiner Klasse keine gewissenhaftere und ehrlichere Schülerin.

Gab es einen Ersatz für sie? Wer verstand es, die Leitung so gut zu führen, interessante Veranstaltungen und gesellschaftlich nützliche Einsätze zu organisieren oder sich für seine Mitschüler zu engagieren?

Fähigkeiten zur Leitung hatte der Dicke, Dirk Amigo. Aber der wollte partout nicht in die FDJ-Leitung. Dafür beeinflusste er die Klasse lieber anderweitig.

Jens Mespil wurde wegen seiner Armeemasche nicht sehr geachtet.

Jens Schüttel sollte in der FDJ-Leitung seinen Platz behalten, dachte sich Müller und sprach es laut aus. Im Hinterkopf spielte er mit dem Gedanken, dem stillen, bescheidenen und begabten Jungen aus christlichem Elternhaus einen Besuch der Erweiterten Oberschule zu ermöglichen. Aber den Grund nannte er natürlich nicht, als er ihn empfahl.

Auch sein naturwissenschaftliches Talent in der Klasse, der durch sein überlautes Sprechorgan manchen Lehrer zur Weißglut brachte, Frank Zahrich, sollte durch seine Tätigkeit in der Leitung die Möglichkeit erhalten, zur EOS zu kommen. Vielleicht gelang es durch Aufgaben, die er für die Klasse erfüllen sollte, ihn von seinen egoistischen Ambitionen abzubringen. Müller hatte an Franks Verhalten festgestellt, dass er deshalb oft unausgeglichen und provozierend reagierte, weil er im Unterricht einfach unterfordert war. Er begriff außerordentlich schnell und besaß das, was Müller bei anderen Schülern vermisste, nämlich Kreativität. Sein Egoismus zeigte sich in einer gewissen Rücksichtslosigkeit Mitschülern gegenüber, die nicht so intelligent waren wie er. Die Eltern arbeiteten als wissenschaftliche Mitarbeiter in der Akademie der Wissenschaften. Der Vater hatte als Parteiloser die Promotion erreicht. Die Mutter war schon seit Jahren die engagierte Elternaktivvorsitzende seiner Klasse und auch nicht Mitglied der Partei.

Die anderen Jungen …? Wer kam da in Frage? Etwa Ronny Kowar? Der Vater war in der SED und von Anfang an Mitglied des Elternaktivs. Ronny war ein unmöglicher Junge. Müller kannte ihn schon seit der ersten Klasse, das heißt genauer von den Ferienspielen im Schulhort.

Damals unternahm Müller mit der ihm zugeteilten Kindergruppe eine Waldwanderung. Auf dem Rückweg bekam Ronny plötzlich einen Bock und wollte einfach nicht mehr mit der Gruppe weiterlaufen. Das Mittagessen im Hort stand schon bereit, und die Kinder waren hungrig. Das störte Ronny nicht im Geringsten.

Als Müller ihn an die Hand nahm und hinter sich herzog, schäumte Ronny vor Wut:

„Das erzähle ich alles meinem Vater. Der wird Sie aber verkloppen!“

Müller dachte nur amüsiert:

„Ja, ja, die Wut des kleinen Mannes ...“

Der Vater erschien natürlich nicht. Müller aber hatte für ein paar Tage Ruhe vor Ronnys Wutausbrüchen. Die damalige Klassenleiterin, die liebe Tammi, sagte zu ihm, als er sie über den Vorfall in Kenntnis setzte:

„Ja, bei mir hat er sich schon einmal vor Wut auf dem Fußboden gewälzt, weil ihm etwas nicht passte. Das ist ein Fall für den Psychiater.“

Als Müller die Klasse in ihrem 5. Schuljahr übernahm, konnte er erstaunt feststellen, dass Ronny außerordentlich belesen war. Besonders das Fach Geschichte hatte es ihm angetan.

Einmal korrigierte er Müller sogar mit verblüffend detaillierten Kenntnissen, und er als Geschichtslehrer musste ihm Recht geben. Müller mochte solche kleinen Genies, von denen er sogar noch etwas lernen konnte. Ronny brachte ihm sogar die Literatur mit, aus der er sein Wissen geschöpft hatte.

Doch dann geschah es, dass er während der großen Pause auf dem Schulhof wieder einen seiner unberechenbaren Wutanfälle bekam und einen Schüler mit Steinen bewarf, der ihn geärgert hatte. Alle, auch Müller, waren entsetzt.

Mit viel Geduld gelang es aber, seine Aggressivität ein wenig abzublocken. Er war einer der Schüler, der Müller die meiste Mühe kostete. Sollte er, obwohl er einmal an einer Funktionärsschulung teilgenommen hatte, in der FDJ-Leitung eine Funktion ausüben? Nein! Ronny war unausgeglichen und unzuverlässig. Als Kassierer hatte er im Jahr zuvor vollkommen versagt.

Die Mädchen seiner Klasse waren für eine Funktion sehr aufgeschlossen, so dass eine paritätische Zusammensetzung der FDJ-Leitung keine Schwierigkeiten bereitete.

Die Sitzung ging nach zwei Stunden zu Ende.

„Herr Müller, ich staune, mit welcher Verantwortung Ihre Schüler an die Fragen der Neuwahl der FDJ-Leitung heran gegangen sind“, kommentierte die Studentin ihre Eindrücke auf dem gemeinsamen Weg zur S-Bahn.

„Das Schuljahr ist gut angelaufen“’, dachte sich Müller und war zufrieden.


Zum Wochenende waren Müllers zu einer Gartenparty der Bekannten eingeladen worden, die ihm damals zu der Freundschaft mit dem tschechischen Journalisten Pavel verholfen hatte. Es war ein lauer Septembernachmittag, der zum Plaudern in freier Luft zwischen Büschen, grünem Rasen, Herbstblumen und den sich langsam bunt färbenden Blättern der Bäume einlud. Kaffee und Kuchen sorgten für eine familiäre Atmosphäre.

Bei Luise war es immer interessant, weil der Kreis, mit dem sie verkehrte, aus Schriftstellern, Theaterleuten und anderen Künstlern bestand. Das war eine andere Welt. Hier sprachen sie nicht DDR-üblich hinter vorgehaltener Hand, sondern die Probleme wurden offen auf den Tisch gelegt.

Neben Horst hatte der Leiter eines kleinen Berliner Amateurtheaters Platz genommen und ihn in ein interessantes Gespräch verwickelt. Er erzählte von den Stücken, die sie spielten. Diese waren manchmal so brisant, dass oft die Furcht bestand, sie nicht mehr aufführen zu können. Manchmal entstanden sie aus Diskussionen mit den jugendlichen Darstellern, die das Theater als einzigen Ort ansahen, wo sie ihren DDR-Frust loswerden konnten.

So griff ein Stück den Fall einer Darstellerin auf, deren Eltern nach außen hin gute Parteigenossen waren. In ihrer Ehe aber stimmte gar nichts. Den Kindern - sie hatte noch einen Bruder - erlaubten sie nicht, die Fernsehprogramme des Westens anzuschauen. Lagen die Kinder jedoch im Bett, sorgte ein kleiner Knopfdruck für die Republikflucht im Wohnzimmer. Die Doppelzüngigkeit ihrer Eltern wurmte das Mädchen. Als dann auch noch ihr Vater, Parteisekretär in einem Volkseigenen Betrieb (VEB), mit einer ihm unterstellten Genossin fremdging und sich daraufhin die Eltern scheiden ließen, brach für sie eine Welt zusammen.

Diesen situativen Augenblick spielten die Jugendlichen in Form einer Theateretüde nach. Dabei kam die interessante Idee auf, das Stück so weiter zu gestalten, dass das Mädchen als Gegenreaktion auf ihren Frust zu Punks Beziehungen anknüpft. Die Schwierigkeit war, dass die meisten Darsteller sich noch nie gründlich mit dieser Außenseitergruppe beschäftigt hatten. Die Gespräche mit solchen Jugendlichen brachten viele aufschlussreiche Aspekte zu Tage. Sie lernten einen Punk kennen, der ein guter und gewissenhaft arbeitender Facharbeiter war, aber wegen seiner bunten Frisur ständig Ärger mit dem Lehrmeister bekam.

Punks waren beim Staat nicht beliebt. An staatlichen Feiertagen durften sie nicht in das Stadtzentrum kommen, um den öffentlichen Frieden nicht zu stören.

Weil das Stück solche Probleme aufgriff, die es offiziell gar nicht geben durfte, fand es besonders bei Jugendlichen ein großes Echo.

„Ja“, atmete Müllers Gesprächspartner plötzlich tief, „momentan haben wir ein Problem. Wir brauchen unbedingt einen Pianisten im Theater. Derzeit hilft uns ein Student von der Musikhochschule, aber das ist nur eine Übergangslösung.“

Müller kam plötzlich auf eine Idee. Er dachte an die Repressalien, die er im Vorjahr von der Chefin hatte erdulden müssen. Wenn es hart auf hart kommen sollte, war das Theater ein möglicher Rettungsanker.

Durch die von allen Lehrern abgeforderte Gefährdetenkartei, die er auf keinen Fall gewissenhaft anfertigen wollte, um einige Schüler zu schützen, waren die Konflikte schon vorgezeichnet.

Er sagte dem Theaterleiter deshalb bewusst, dass er auf dem Klavier zu Hause war und ihn Theaterarbeit sehr interessierte. Dr. Sastre, der Theaterwissenschaft studiert hatte und Leiter des Theaters war, lud daraufhin Müller zu einer Vorstellung ein, die in der kommenden Woche stattfinden sollte. Anschließend sollte er seine künstlerischen Fähigkeiten demonstrieren.

Einen Tag vor der Klassenelternaktivwahl erschien Müller mit seiner Frau Carolin zur Aufführung eines Stückes des Jugendtheaters. Müller folgte der Handlung etwas unkonzentriert. Er musste an die Wahl denken, an der seine Schüler und die Chefin anwesend sein würden und an sein nach der Vorstellung erwartetes Vorspiel. Dr. Sastre war von Müllers Fähigkeiten beeindruckt.

„Da versauern und vergeuden Sie Ihre Talente in der Schule?! Wenn Sie wollen, können Sie bei uns mit einigen Stunden einsteigen.“

„Ja“, antwortete Müller entschlossen, „das mache ich.“

„Können Sie montags die beiden Kindergruppen musikalisch betreuen? Wenn Sie allerdings Parteiversammlung haben …“

„Nein“, fiel ihm Müller ins Wort, „ich bin kein Parteigenosse und habe Zeit.“

Ja, am Montag hatten doch die Parteileute immer ihre Versammlung. Der andere Teil der Bevölkerung konnte dann einmal unbeobachtet seinen Beschäftigungen nachgehen, ha, ha, ha.

Schon in der kommenden Woche konnte er anfangen. Müller war einverstanden.

Damals ahnte er noch nicht, wie wichtig dieser Schritt für ihn einmal werden sollte. Das Angebot vom Theater war zur rechten Zeit gekommen, denn bereits am nächsten Tag bekam Müller in der Klassenelternversammlung seinen ersten Nackenschlag im neuen Schuljahr.


Die Klassenelternversammlung lief gut an. Fünfundneunzig Prozent aller Eltern waren erschienen. Für die Konferenz der Eltern einer 10, Klasse war die Befolgung der Einladung ein großer Erfolg für Müllers Lehrertätigkeit und kaum zu übertreffen. Von den eingeladenen Schülern fehlte nur ein Mädchen.

Die Elternaktivvorsitzende verlas nach dem vorher abgesprochenen Programm den Rechenschaftsbericht über die Tätigkeiten des Klassenelternaktivs im vorangegangenen Schuljahr und endete mit der Verpflichtung des KEA, im kommenden Schuljahr alles für die weitere Stärkung des Sozialismus zu unternehmen.

Müller dankte allen Eltern, die im Aktiv mitgearbeitet hatten, und überreichte jedem Mitglied einen Strauß Herbstastern, die er aus eigener Tasche bezahlt hatte. Dann erläuterte er die Aufgaben des neuen Schuljahres, sprach davon, dass es ganz gut angelaufen war und sich die Arbeitseinstellung der Schüler im Vergleich zum Vorjahr verbessert hat. Er sprach von den Aufgaben der Vorbereitung auf die Prüfungen.

„Trotzdem haben nach meiner Umfrage etwa fünf Schüler noch keine konkrete Vorstellung, welches Prädikat sie in der Prüfung erreichen wollen.

Bei der letzten Überprüfung der Hausaufgabeneintragungen in das Tagebuch musste ich feststellen, dass zwei Hefte wieder bemalt waren.“

Dirk Amigo meldete sich:

„Warum kann ich nicht in mein Heft malen, wenn es mir gehört?“

„Dirk, weil schulische Sachen Arbeitsmaterial sind, und du weißt selbst vom ESP- und PA-Unterricht, dass das in Ordnung sein muss“, erwiderte Müller.

Was er allerdings weiter dachte, sagte er nicht:

„Erst bemalst du dein Heft, mein Junge, und dann die Tische und Wände.“

Da meldete sich die Direktorin, Frau Sanam zu Wort:

„Liebe Eltern, liebe Schüler!“

Sie senkte dabei den Blick und sprach ruhig und überlegt. Jedes Wort traf Müller wie ein Keulenschlag:

„Zuerst möchte ich den Schülern sagen: Ihr habt ganz klare Vorstellungen von den Ergebnissen, die ihr in der Prüfung erzielen wollt. Ich versichere euch, ihr werdet sie auch erreichen.“

Was behauptete sie da? Das war gelogen und widersprach dem, was er dargelegt hatte.

Dörte Seefeld aus dem Heim wusste überhaupt nicht, ob sie die Kraft aufbringt, ein ganzes Schuljahr durchzuhalten. Sie hatte wenig Zutrauen zu sich selbst.

Auch Dirk Amigo hatte noch keine klaren Vorstellungen.

Wollte sie sich mit ihren gegenteiligen Behauptungen bei den Schülern anbiedern? Aber bevor Müller weiter denken konnte, kam der nächste Schlag:

„Ich habe nichts dagegen, wenn Schüler ihre Hausaufgabenhefte bemalen.“

Wie bitte? Hatte die Direktorin ihn nicht zum Ende des Schuljahres aufgefordert, im folgenden Jahr diese Hefte gründlich zu kontrollieren, weil viele in einem unordentlichen Zustand gewesen waren?

Er hatte das als Gängelei zurückgewiesen, aber sie meinte, dass es von der Heftbemalung bis zum Beschmieren des Schulhauses nicht weit sei. Er wollte gerade etwas erwidern, als sie erneut bekräftigte:

„Ich habe gegen das Bemalen der Hausaufgabenhefte nichts einzuwenden.“

Müller blickte auf die Eltern, die schwiegen und ihn interessiert beobachteten, dann auf die Schüler, die hämisch grinsten. Endlich hatten sie sich an etwas ordentliche Arbeit gewöhnt, da riss die Direktorin alles wieder ein.

Er wusste bei seiner Klasse, was nun kommen würde: Wieder diese verfluchte Schlamperei! Im Dezember hatte er dann wieder etwa sechs oder sieben Versetzungsgefährdete. Wieder musste er die Eltern persönlich einladen, um zu retten, was zu retten war, Hinweise geben und Lernhilfe organisieren. Besonders um Dörte musste er sich kümmern. Sie durfte nicht auf der Strecke bleiben, waren Müllers Gedanken. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass ihm die Direktorin seine anerkannte Autorität in der Klasse zerstörte.

Er musste reagieren. Aber die Reaktion konnte sich nur gegen die Direktorin richten. In der hinteren Reihe saß seine Studentin, die seiner Einladung gefolgt war. Sie schüttelte den Kopf. Es tröstete ihn ein wenig, dass sie dasselbe empfand wie er. Gleichzeitig dachte er aber, dass er die Deutschlehrerin seiner Klasse nicht vor Eltern und Schülern herunterputzen konnte. Jetzt bekam wieder die moralische Haltung des Lehrers Übergewicht, der selbst in der tiefsten Krise nervlicher und gesundheitlicher Belastung weiter gewissenhaft seine Arbeit erledigte.

Er dachte an das einheitlich handelnde Pädagogenkollektiv, daran, dass er schon aus Prinzip seine Fachlehrer unterstützte, damit seine Anvertrauten im Lernen vorankommen. Nichts war für ihn schlimmer als eine Pendelerziehung, die Schüler sehr schnell auszunutzen verstanden, indem sie einen Lehrer gegen den anderen ausspielten, selbst aber die klare Orientierung verloren. Sollte er also zeigen, wie uneinig sich die Pädagogen der Schule waren?

Er wollte gerade etwas Versöhnliches erwidern, um diese peinliche Situation zu entschärfen. Aber die Direktorin ließ ihm keine Zeit mehr, sondern schickte die Schüler selbst nach Hause, die grinsend den Raum verließen.

In diesem Augenblick spürte Müller, dass er es schwer haben würde, wieder als Klassenlehrer in seiner Klasse akzeptiert zu werden. Er fühlte eine Welt zusammenbrechen.

Eine peinliche Ruhe war nach dem Weggang der Schüler eingetreten, die der Vater unterbrach, der neu in das Elternaktiv gewählt werden sollte und Mitglied der SED war:

„Wissen Sie, Frau Sanam, damit haben Sie aber Herrn Müller einen denkbar schlechten Dienst erwiesen.“

Frau Sanam, aber auch die übrigen Eltern reagierten nicht auf diese Bemerkung. Hatten die Väter und Mütter etwa Angst, sich zu äußern? Der Mann, der es gewagt hatte, gegen das Auftreten der Direktorin Stellung zu beziehen, war Leiter eines Berliner Baukombinates, der es gewohnt war, offen seine Meinung zu sagen.

Die nachfolgende Elternaktivwahl war dann nur noch eine Farce. Dem Klassenelternaktiv gehörte nun auch der Neue an.

Elternaktivvorsitzende wurde die Mutter von Frank Zahrich, seinem naturwissenschaftlichen Talent.


Carolin sah ihrem Mann sofort an, dass der Elternabend nicht so gelaufen war, wie er ihn vorbereitet hatte. Vorsorglich hatte sie das Abendessen schon eingedeckt.

„Stell dir vor,“ sagte sie zu ihm, „heute treffe ich doch unseren Nachbarn, Herrn Chemnitzer auf der Treppe, grüße ihn freundlich, um seiner muffligen Art ein wenig zuvorzukommen, da sagt der doch zu mir: ,Ihr Mann kann in den Westen fahren. Ich habe gut für ihn gesprochen.’“

„Da schnüffeln die also noch im Haus herum, was für einer man ist? Unfassbar!

Wenn nun jemand sauer auf dich ist und dich verleumdet, könntest du also niemals eine Reiserlaubnis bekommen. Deshalb konnte wohl auch unsere Freundin Luise nicht zu ihrem Vater nach Westberlin fahren. Trotzdem ist es gut zu hören, dass Chemnitzer für mich gesprochen hat.

Wer weiß, wen die noch nach mir befragt haben.

Aber ich will dir vom Elternabend berichten.“

Carolin schüttelte nur den Kopf. Sie hatte jahrelang im Elternaktiv der Klasse ihres Sohnes Michael mitgewirkt und schon einiges an der anderen Schule miterlebt, aber so einen offensichtlichen Affront gegen den Klassenleiter während eines Elternabends von Seiten eines anderen Pädagogen hatte sie noch nie beobachtet.


Müller nahm sich am darauf folgenden Tage vor, mit der SGL-Vorsitzenden, Jutta Mofang, über diese Angelegenheit zu sprechen. Es war die einzige Kollegin, der er etwas anvertrauen konnte, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, dass es im nächsten Moment schon die Schulleitung erfuhr.

Als er am Direktorenzimmer vorbei zu Mofangs Biologieraum gehen wollte, bemerkte er zu seinem Erstaunen einige Schülerinnen seiner Klasse, die aus dem Zimmer von Frau Sanam kamen.

„Nanu, was habt ihr denn angestellt?“

„Frau Sanam wollte mit uns noch einiges besprechen für den Schülervortrag in Deutsch.“

„Aha“, erwiderte Müller und maß diesem harmlos wirkenden Vorfall nicht die Bedeutung bei, die er verdient hätte.

Er fand Jutta Mofang auf einem Stuhl im Biologievorbereitungsraum zwischen Apparaturen, anatomischen Anschauungskarten, einem Skelett aus Gips, in Spiritus eingemachten Schlangen und anderen Reptilien sitzend, den Kopf auf die Hände gestützt, vor. Müller erkannte sofort, dass hier sein Problem das Kleinere war

„Was ist denn mit dir geschehen?“, fragte er anteilnehmend.

Da brach alles aus ihr heraus:

„Diese gemeine Person, diese Sanam! Hast du schon einmal beobachtet, dass mein Kurt zufällig immer zur gleichen Zeit seine Freistunden hat wie die Silke Pretorius?“

Ja, das war ihm auch schon aufgefallen. Des Öfteren saßen sie allein zusammen im Lehrerzimmer, während die anderen Kollegen unterrichteten.


„Heute bin ich bei der Sanam gewesen und habe sie gebeten, sie möchte doch die Freistundenzeiten meines Mannes ändern, da es in der letzten Zeit schon einige Eheprobleme gegeben hatte. Da antwortete sie mir in einem Ton, der das Blut im Körper erstarren ließ: Wegen dieser Lappalie ändere ich doch nicht den Stundenplan. Frau Mofang, machen Sie Ihre Arbeit anständig, da kommt man wenigstens nicht auf dumme Gedanken.’

Darauf knallte sie ihre Tür zu und ließ sie mich einfach stehen.“

Jutta schluchzte verzweifelt.

Müller konnte nicht fassen, was er da hörte. Sollte hier in ganz widerwärtiger Absicht eine Ehe auseinander gebracht werden? Jutta war menschlich und kümmerte sich ernsthaft um die Probleme ihrer Kollegen. Vielleicht war sie deshalb der Chefin suspekt?

Gleichzeitig aber verwarf er diesen Gedanken wieder, da er sich von seiner eigenen inneren Haltung her so viel Niedertracht nicht vorstellen konnte. Dabei war Frau Sanam seit dem Elternabend auch bei ihm schon an der Arbeit. Die Direktorin hatte mit seinen Mädchen nicht nur den Schülervortrag in Deutsch besprochen. Er sollte es bald erfahren.

Müller sprach Jutta Mut zu. Sie brauchte das.

„Hoffentlich möbelt mich die Kur etwas auf und bringt mich auf andere Gedanken“, sagte sie unvermittelt.

„Du fährst zur Kur? Da ist er ja ganz allein zu Hause.“

„Nein, unsere Tochter wohnt ja noch bei uns, und der Sohn kommt ebenfalls sehr oft nach Hause. Außerdem soll so eine zeitweilige Trennung auch ganz gut sein für eine Ehe. Übrigens, die Jutta Schatz fährt auch dorthin nach Schmiedefeld. Da ist man wenigstens nicht ganz allein.“

Jutta Schatz war eine kleine, freundliche Person, studierte Unterstufenlehrerin, stellvertretende Direktorin für Außerunterrichtliche Tätigkeit, SED-Mitglied, verantwortlich für die Organisation offizieller Schulfeierlichkeiten, der Schulmesse, Arbeitsgemeinschaften, den Schülersommer (einer freiwilligen produktiven Tätigkeit von Schülern während der Sommerferien in irgendeinem Volkseigenen Betrieb) und die Betreuung der sowjetischen Kollegen und Schüler - sprich Komsomolzen -, die nach dem im Jahre 1971 abgeschlossenen Patenschaftsvertrag mit einer Moskauer Schule regelmäßig alle zwei Jahre im Schüleraustausch nach Berlin kamen.

Jutta Schatz hatte ein ausgesprochenes Organisationstalent. Müller bereitete mit ihr gern das große Weihnachtskonzert vor, das offiziell Solidaritätskonzert genannt wurde, da der Verkaufserlös der von den Kindern der einzelnen Klassen auf den Klassenbasaren verhökerten Dinge wie Bastelarbeiten, Büchern, Naschereien und anderem auf das Solidaritätskonto des Berliner Rundfunks „Dem Frieden die Freiheit“ eingezahlt wurde. Das Programm begann dann auch stets mit den ersten Takten des b-Moll-Klavierkonzertes von Tschaikowski. Dann entfaltete sich ein weihnachtliches Stimmungsbild mit Rezitationen, Weihnachtsliedern, in denen die christlichen Inhalte meist fehlten, die durch „Lichter“, „Tannenbaum“, „Schnee“ und „Frieden“ ersetzt wurden, Instrumentalvorspielen und anschließender Bekanntgabe der erreichten Solidaritätssumme, mit der das Programm endete.

Für das eingezahlte Geld wurde im Berliner Rundfunk der Wunschtitel der Schule gespielt.

Jutta Mofang fuhr mit ihrer Namensvetterin zur Kur, mit einem Mitglied der Schulleitung also. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Frau Sanam mit Jutta Schatz ein Gespräch unter vier Augen geführt hatte, das kurz und eindeutig war:

„Genossin Schatz, du berichtest mir von eurer Kur, nicht wahr?“

Sehr zum Ärger der Direktorin zeigte Genossin Schatz keinerlei Reaktion auf dieses Ansinnen.

„Wann fährst du zur Kur, Jutta?“, erkundigte sich Müller.

Am Montag, den 3. Oktober. Nach den Ferien sind wir wieder da.“

„Hoffentlich ist dann mit eurer Ehe alles wieder in Ordnung. Ich denke außerdem, dass der Flirt mit der Pretorius harmloser ist, als du denkst. Die hat doch einen furchtbar eifersüchtigen Mann, der niemals eine Liaison mit deinem Kurt zuließe. Sie ihrerseits spricht sehr oft über ihr schönes Familienleben.“

„Es ist gut, dass du zu mir gekommen bist. Das Gespräch hat mich etwas beruhigt. Ich war heute schon fast kurz vor dem Selbstmord. Nun habe ich die ganze Zeit nur von mir gesprochen. Hattest du etwas auf dem Herzen?“

Müller erzählte ihr, was bei der Elternversammlung geschehen war. Jutta schüttelte den Kopf:

„Das soll noch jemand verstehen! Wie kann ein Direktor nur so unpädagogisch sein? Sie hat dir ja regelrecht Knüppel vor die Beine geworfen. Ist das vielleicht eine gemeine Person.“

Müller unterbrach das Gespräch mit dem Argument der vorgerückten Zeit und verabschiedete sich von ihr, nachdem er erholsame Tage in Schmiedefeld gewünscht hatte. Der eigentliche Grund des Gesprächsabbruchs war jedoch das Gefühl des Hasses gegenüber Frau Sanam, das er auf keinen Fall stärker werden lassen wollte, da er sich so viel Niedertracht immer noch nicht vorstellen wollte. Er wollte nicht hassen. Er hatte einen Ausweg besprechen wollen, wie er seine Klasse wieder in den Griff bekommen könne. Die Direktorin war fünfzehn Jahre jünger. Da macht man schon einmal Fehler, versuchte er sich einzureden, um diese unguten Emotionen zu unterdrücken.



Er ging voll schwerer Gedanken zurück zum Lehrerzimmer und traf dort eine jüngere Kollegin, die Englisch und Russisch unterrichtete. Ihm fiel wieder die Gefährdetenkartei ein und fragte, wie sie das handhabe.

Die Antwort war ganz schlicht und einfach: "Horst, mach dir doch darüber keine Gedanken. Wenn ich gefragt werde, gibt es in meiner Klasse keine Schüler, auf die diese Kriterien zutreffen. Basta!"


Das letzte Schuljahr

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