Читать книгу Nacktgespräche - Wilfried Heinrich - Страница 5
ОглавлениеProteine auf der Flucht
Dicere argentum, silere aurum est. Ohne Latinum, deshalb lieber auf Niederländisch? Spreken is zilver, zwijgen is goud. Es ist das Sprichwort von Silber und Gold, das dazu auffordert, den Mund manchmal besser auf stumm zu stellen, gilt fast überall auf der Welt. Die Finnen, Perser und Türken kennen es, genauso die Japaner und Araber oder Kroaten.
Nur haben ihn seine testosteronschwangeren Hirnzellen schlecht beraten. Sie haben ihn reden lassen statt zum nächsten Kraftgerät weiterzuschicken.
„Ganz viel Eiweiß, das knallt richtig rein, ein Omelette mit zehn Eiern direkt nach dem Training. Glaub mir, brauchst du jeden Tag, weiß jeder.“
Dieser artikulatorische Dummfall ist erst mal der Schlusspunkt eines längeren Statements des muskelstarken Kerls. Eigentlich sehr schicke Proportionen, von den Schultern runter bis zu den Waden. Was trotzdem gegen optische Sympathiepunkte spricht, ist seine eigenwillige Körperbemalung. Entweder die ganz spezielle Kreation eines unverstandenen Künstlers oder durch die Hand eines Tattoo-Legasthenikers entstanden.
Sein Statement richtet sich an seinen Kumpel rechts neben ihm, kantige Figur eines Billy-Regals, Kontrastprogramm zu der Bizeps-Maschine. Dabei wollte er gar nicht so genau wissen, warum manche ständig diese Eiweißmengen benötigen, ganz unabhängig davon, dass ihm das Krafttraining völlig artfremd erscheint. Trotzdem hatte er brav zugehört und dabei immerhin interessante Sachen erfahren. Dass Muskeln zu einem Großteil aus Eiweiß bestehen und dass Protein-Shakes nichts für seinen Bizeps-Kumpel sind, sie könnten immerhin aus schlechtem Eiweiß bestehen.
„Jedes Kilo von deinem Körpergewicht braucht jeden Tag zwei Gramm Protein, echt jeden Tag von Montag bis Freitag und auch am Wochenende“, klärt der auf. Das summiert sich bei ihm nach seiner klugen Rechnung auf ungefähr zweihundert Gramm. Er würde sich meistens noch einen Nachschlag gönnen.
„Viel hilft viel und wenn zu viel, dann strullst du’s wieder aus.“
Der Muckiträger strotzt vor Selbstüberzeugung, und er sonnt sich darin, dass er nach seinem mathematischen Exkurs in einige wissbegierige Blicke schauen darf. Läuft bei ihm.
„Die Proteine killen dein Fett und machen das zu mega Kraftfleisch,“ sagt er und bringt seinen Oberkörper durch eine seitliche Drehung in eine Präsentationsposition.
„Kollege, guck mich an! In ein paar Wochen hab ich über neun Kilo mehr Muskeln gekriegt.“
Wie viele Wochen es tatsächlich waren, lässt er offen und überhaupt: Wurden Muskeln früher nicht in Krafteinheiten statt anhand der Gewichtszunahme gemessen? Habe ich etwas falsch verstanden?
Egal, seine Erfolgsbotschaft geht aus einem breit lächelnden Mund heraus, auf seinen Lippen funkeln Glückshormone.
„Richtig Tonnen stemmen und danach einen geilen Eierkuchen. Du darfst nur nicht lange warten, weil beim Powern die Muskeln geil auf Proteine werden. Du musst dir die Eierkuchen ganz direkt nach dem Training machen, innerhalb einer Stunde reinstopfen.“ Willkommen im Bizeps-Seminar.
Einigen Gesichtern sehe ich ihre ungläubigen Gedanken an, selbst seinem Kumpel erscheinen diese Mengen Proteine suspekt.
„Kriegt dein Magen dann keinen Koller bei so viel Eiweiß?“ Gutes Hochdeutsch aus einem mitteleuropäischen Wohlstandsgesicht, fetter Basston im Wortklang.
„Nix, null Nebenwirkungen, wirklich. Ist gesund. Du musst nur viel trinken, die Nieren brauchen das.“ Sicher, und Petersilie verzwergt durch Helene Fischer-Beschallung auf eine kaum sichtbare Höhe?
Sein anschmeichelnder Blick tastet sich nach rechts und links durch die Gesichter der anderen. Er wünscht Beifall dafür, dass er uns diese Erkenntnis mitgeteilt hat. Sie bleiben aber still.
Bis auf Rüdiger. Er bekommt von mir diesen Namen, weil nach meinen Gedankenbildern Männer in seiner Erscheinung typischerweise Rüdiger heißen. Untersetzt, quadratisch, den Kalorien sehr zugetan, Glatze bis zu den Knöcheln herunter. Ein Geschenk für lästerhafte Augen.
„Täusche dich mal nicht! Sehr wohl rebelliert dein Körper, wenn du ihn ständig mit zu großen Mengen Eiweiß versorgst.“
Warum mischt er sich jetzt ein? Ist es überhaupt angebracht, mit einer derart unterlegenen Muskelperformance den Besserwisser spielen zu wollen? Natürlich, warum nicht? Wo es FKK gibt, sieht je nach ästhetischem Anspruch auch mindestens die Hälfte der Nackten genetisch zweifelhaft aus, meinungslos müssen sie trotzdem nicht sein. Erst recht wie in Rüdigers Fall, wenn optische Schlechtnoten durch etwas intellektuellen Habitus verbessert werden können. Was nicht jeder anerkennt.
„Vergiss es Kollege, lass es. Ich merke nichts, absolut nichts.“
Die Gegenwehr des Kraftstrotzers wirkt vor allem trotzig. Seine Tonlage ringt um Selbstbewusstsein, seine Stimme verliert an Kontrolle, auch die Gesichtszüge beginnen einen unruhigen Tanz. Er spürt, dass seine Selbstverteidigung nicht ausreichend funktioniert, er kramt deshalb schnell nach einem hoffentlich offensiven Argument. Es kommt nur ein allgemeiner Widerspruch dabei heraus.
„Was überall normal ist bei Muskelsportlern, soll bei mir auf einmal scheiße sein?“ Er merkt selbst, wie blass er gerade daher kommt, deshalb wiederholt er trotzig:
„Vergiss es, Kollege!“
Rüdiger bleibt unbeirrt. Er weiß es besser und er will deutlich machen, dass er es besser weiß. Mir erschließt sich nicht, warum er bei so einem für uns alle trivialen Thema auf Konfrontation macht.
„Warte ab, auf einmal kriegst du fürchterlichen Mundgeruch und dein ganzer Körper beginnt gewaltig nach Nagellackentferner zu duften. Klasse Perspektive, oder?“ Es folgt ein Nachschlag mit arrogant erscheinender Gewinnermiene:
„Lass im Kopf mal einen Film ablaufen, wie dann dein nächstes Date abgeht.“
Es entsteht eine Mischung aus spontanem Lachen, amüsiertem Stirnrunzeln und feixendem Augenspiel um die beiden herum.
„Woher willst du das wissen? Vielleicht hast du Ahnung von Fettzellen, aber wir reden hier ja über Muskeln.“
Attacke, endlich versucht er, Rüdigers körperliche Nachteilserscheinung zu einem Treffer für sich zu machen. Doch der lässt die Anspielung regungslos an sich abgleiten, sie rinnt wie der Schweiß an seinem Körper herunter. Dafür zündet er eine nächste Salve.
„So ganz nebenbei kriegst du auch noch ziemliche Verdauungsprobleme und obendrein öfter schlechte Laune. Ewig auf dem Klo hocken und ständig Stress mit allen um dich herum, beste Grüße von deinen Proteinen.“
Rüdigers emotionsblasse Mimik lässt immer noch nicht erkennen, was es ihm bringt, sein Gegenüber als aufgepumpten Schönling zurechtlegen zu wollen. Dass er irgendetwas in dieser Hinsicht verfolgt, lässt sich kaum noch übersehen. Positiv interpretiert stecken edle Motive dahinter: Ihn aufklären und Bewusstsein für die möglichen Konsequenzen eines starken Eiweißkonsums zu schärfen. Also ein bisschen den sozial verpflichteten Gutmenschen geben.
So sieht’s für mich aber nicht aus. Eher glaube ich langsam aus seinem aufleuchtenden Mienenspiel herauslesen zu können, dass er die seltene Chance nutzen möchte, einem an Körperschönheit völlig überlegenen Kerl endlich mal so richtig eine in die Fresse geben zu können. Einfach nur aus neidischer Lust.
Jedenfalls lässt er nicht locker und wird immer gezielter.
„Ist dir beim Blick in den Spiegel schon mal aufgefallen, dass sich einige deiner Proteine scheinbar nicht wohl fühlen und deshalb wieder die Flucht nach draußen angetreten haben?“
Mir erschließt sich dieser Satz nicht direkt, der Muskulöse versteht diese Beschreibung ebenfalls nicht, jedenfalls reagiert er mit einem Unverständnisblick. Er fühlt sich provoziert.
„Willst mich ankotzen?“
Was sich bei seinen anfänglichen Erzählungen zu der Proteinzufuhr so vergnügt anhörte, hat sich nun in eine defensive, fast kleinlaut-piepsige Stimme verwandelt. Selbstzweifelnde Grinsefalten überlagern nun sein Gesicht. Hat er doch eine Vermutung, was Rüdiger mit den flüchtenden Proteinen gemeint haben könnte? Und fühlt er sich deshalb im Klammergriff?
Ja, er ahnt es nicht nur, sondern er weiß es sogar genau. Rüdiger hat ihn in der Ecke, und überhaupt, er sei Doc, offenbart er. Sein Blick fixiert die Akne-Pusteln auf den Schultern.
„Schau dich mal im Spiegel an, viel Ausschlag. Der kommt garantiert von einem Übermaß Whey-Protein. Hab ich recht, zu den Eiern schluckst du noch Whey-Shakes?“
„Was für Dinger?“, fragt jemand.
„Hochkonzentrierte Präparate für die Muskelzucht“, schlaut ihn Rüdiger auf und nagelt seinen zunehmend dominanten Blick starr in die Augen des Muskelmodels.
„Sag einfach, mischst du dir das?“, penetriert er.
Der wendet erst sein Gesicht ab, seine Pupillen wandern unruhig über den Boden, nach längeren Sekunden antwortet er mit dem zerrissenen Selbstbewusstsein eines Ertappten.
„Ja schon, manchmal, aber nicht oft.“ Leichte Vibrationen in der Stimme, Muskeln machen doch nicht selbstbewusster, während sich Rüdiger auf der Zielgeraden fühlt. Er kann seine Häme endgültig nicht mehr verbergen. Oder will es nicht.
„Lass es, du tust dir nichts Gutes! Das Zeug kommt als Proteine bei dir durch die Tür und flüchtet als Eiter irgendwo wieder raus.“ So verpackt man vorgegebene Fürsorglichkeit in einer Splitterbombe. Aber er wird je nach Sicht noch deutlicher oder noch gemeiner.
„Die Hässlichkeit von Akne übertrumpft die Schönheit von Muskeln, sie lassen einen unappetitlich aussehen.“
War das jetzt ein böses Foul oder ein faires Tackling? Die meisten um die beiden herum, ich auch, schauen uns betreten an. Von niemandem kommt eine Rote Karte, mir tut der Gefoulte sogar ein bisschen leid. In meiner ersten Reaktion. Und in der zweiten Reaktion finde ich ihn nun einfach waschlappig, ihm ist mental völlig die Puste ausgegangen. Keine wilde Empörung, wenigstens einen böslaunigen Protest loswerden. Doch nichts, gar nichts geschieht.
Stattdessen nur der Versuch, mit künstlich-souveränem Lächeln irgendwie Haltung zu wahren. Diese selbstbetrügerische Gesichtsmaske von Menschen, denen das Wasser bis zur Unterlippe steht, die aber wenigstens in Würde untergehen wollen. Noch ein kurzer Blickwechsel mit seinem möbelformigen Buddy, seine Gedanken durchlaufen einige Kontrollschleifen seines Hirns, dann kommt endlich eine Reaktion von ihm und sie überrascht auch noch.
„Gib zu, du bist nicht wirklich Arzt?“ Blickpause, fast bettelnd: „Stimmt’s?“
Rüdiger zieht lässig die Augenbrauen hoch, bringt seine Gesichtszüge in einen selbstzufriedenen Spaßmodus und rückt seinen Oberkörper zurecht. Alles zusammen macht sein Doppelkinn erkennbarer als vorher.
„Nichts von dem, was ich gesagt habe, war falsch. Und ja, Doc bin ich auch.“
Warum verklausuliert er seine Antwort?
Rüdiger bekommt seine Sonnengrimasse nicht mehr weg, ein rundes Standbild.
„Natürlich bin ich Arzt.“ Kunstpause, keine Bewegung in seinem Gesicht.
„Tierarzt.“
Mittellautes Schmunzeln um ihn herum, nur kurz von einem empörten Zischen einer zierlichen, spätreifen Frau weiter links von ihm unterbrochen. Und ja, auf einmal wird das Muster seiner Story erkennbar. Fehlt jetzt nur noch das Leckerchen für unsere Muskelschönheit.