Читать книгу Nacktgespräche - Wilfried Heinrich - Страница 7
ОглавлениеToleranz ist eine Straßennutte
Viel Herbst auf der Straße, zwei kurz aufeinander folgende Schauer haben mich bis auf die Haut durchnässt. Nicht nur deshalb schlechte Laune. Im Eingang wartet ein Mädel, beidhändig auf Krücken gestützt. „Better limp than crawl“, sagen große Buchstaben auf ihrem Shirt, sie macht’s mit Selbstironie.
Später, nach der diesmal schwerfälligen Trainingssession, überwiegend an Cardio-Geräten, dringt mal wieder ein lauter Wortwechsel durch die gläserne Saunatür. Nicht wirklich borstig, sogar mit einigen höheren Tönen, und doch kontrovers. Ich bekomme nur Diskussionsfetzen mit, weil der Duschstrahl zu stark auf den Kopf prasselt und meine Ohren füllt. Doch die reichen mir, ich identifiziere einen sattsam bekannten Nervgrund: Jemand sitzt im Saunalaken eingehüllt auf der Bank, die intimen Körperstellen völlig bedeckt, während andere nach Vorschrift nackt schwitzen. Textilumhüllt saunen geht nicht, ein silberfarbenes Schild, vielleicht fünfzehn mal zwanzig Zentimeter groß, verweist extra darauf. Jeder muss sich entblößen, gültig für alle. Doch da sich nicht jeder daran hält, zetteln Vorschriftsmeckerer immer wieder Streit an.
Warum pochen sie unbedingt auf völliges Nacktsein? Ihre Augen könnten sich doch ungehemmt voyeuristisch betätigen, sich genüsslich an den Schamlippen oder Gemächten der anderen Saunahocker bedienen, in abendlichen Stoßzeiten ist noch mehr für die Augen drin. Sogar fetischistische Blicke könnten sie ungeschoren umher tanzen lassen.
Ein Perser und ein Norddeutscher liegen diesmal im Clinch. Der Ausländer, Ende dreißig, etwas athletisch, allein durch sein Lächelgesicht eine Bereicherung. Sehr abweichend die Anmutung des anderen, ein checkheftgepflegter Grauhaariger in den Fünfzigern, seine dröhnige Stimme klingt deutlich lauter. Ich vermute in ihm einen Pauschalurlauber mit Frühbucherrabatt-Fetisch, immer eine Reiserücktrittsversicherung dabei. Ein Beziehungswaise, dessen mal mehr und mal weniger hektisches Augenzucken nichts Gutes ahnen lässt. Er gehört zum Typ Mensch, von dem in den ersten Sekunden spürbar negative Energie ausgeht und für den das Sympathie-Ranking nur hintere Plätze übrig hat. Vorsorglich unterstelle ich ihm noch, er würde frühmorgens Hotelliegen am Pool mit Handtüchern reservieren. Für sich allein, sein täglich kleiner Sieg.
Natürlich denke ich das klischeehaft, aber erstens klebt an jedem Vorurteil auch ein klein bisschen Wahres und zweitens braucht mein misslauniges Gemüt gerade einen Gegner.
Als ich die Tür öffne und ihn das offenbar stört, stockt er in seinem Redefluss. Nur kurze Sekunden, bis er sich den nächsten Satz im Kopf zurechtgelegt hat.
Sie trennt offenbar deutlich mehr als der Meinungsstreit darüber, wie ernst die Enthüllungspflicht zu nehmen sei. Sie fixieren sich, Stirn zu Stirn, kampfeswillig. Noch ein tierisches Röhren dazu, dann wäre es ein Hirschkampf. Vielleicht hat sich der Perser in den Brunftplatz des Grauhaarigen gewagt.
„Denk, was du willst, freier als hier kriegst du’s nirgendwo“, sagt der Hellhäutige, die Finger beider Hände miteinander verschränkt, reibende Handflächen. „Rückgrat zeigen heißt auch, sich zu Regeln zu bekennen.“
„Wenn Regeln zu den Menschen passen, dann ja und nur dann“, klingt es ihm entgegen, trocken ausgesprochen. Kopfschütteln des Persers, es kommt von ganz tief, seine Augen verlieren sich dabei, Falten auf der Stirn. Er gibt ein Friedensangebot von sich, mit nun zugewandter Stimme, das Kampfgeweih zurückgezogen. Schneller als ich mich überhaupt in die Situation hineindenken konnte, hat er wieder abgerüstet.
„Wir haben hier ganz einfach nur die Kontroverse, ob ich mir beim Saunen ein Handtuch umschlagen kann oder, wie das Schild sagt, komplett entblößt sein muss. Belassen wir es einfach dabei, dass wir da unterschiedlich denken? Und genießen die Saunahitze, ok?“
Doch falsch kalkuliert, der Grauhaarige besteht auf seiner Position, er bleibt in seiner starren Besserwisserstimmung.
„Wenn du bei mir rumfragen könntest, jeder kennt mich als überaus tolerant und genauso als sehr gutmütig, das würdest du überall hören. Aber das Schild hängt nun mal nicht umsonst da. Was ihr bei euch macht, ist eure Sache, bei uns gibt es diese Regel.“
Warum auch immer will er den verbalen Handtuchstreit stur weiterführen und tritt bei dem Perser, vermutlich ungewollt, sogar aufs Eskalationspedal. Ein Wort mit hoher Reizkraft zündelt.
„Du sprichst von Toleranz, dann zeige hier doch deine Toleranz! Sag einfach: Ist ok, wie du hier sitzt! Aber nein, deine Toleranz scheitert bei dir doch schon an diesem kleinen Problemchen“, sein Ton bekommt wieder das Röhrige eines brünstigen Hirschs.
„Ich sag dir eines: Toleranz ist oft eine Straßennutte, ganz billig käuflich. Der Mensch gönnt sie sich besonders dann, wenn sich dafür ein persönlicher Vorteil einstecken lässt. Lauf mal zwei Tage mit fremdländischem Gesicht herum oder gib dir mal einen arabischen Namen, dann begreifst du, dass dir das Gegenteil von Toleranz jeden Tag zig Mal in die Eier tritt!“
Er stockt mit nachdenklichen Gesichtszügen und hochgezogenen Augenbrauen, Meinung und Diktion verschmelzen. Wie weit ist die Empörung von der gedanklichen Vision eines Fausthiebs entfernt?
Seine Muskeln an Oberkörper und Beinen scharren sichtbar mit den Hufen, sie wollen anders als sein Kopf, aber er bleibt kontrolliert. Ein Haufen aggressiver Traurigkeit.
„Sobald an eurem liberalen Verständnis ein Preisschild hängt, also sobald man merkt, dass es irgendetwas kostet, machen die Menschen ganz schnell einen ganz großen Schritt zurück. Ein dunkelhäutiger Kita-Erzieher, außerdem noch männlich und keine Frau, muss das bei den eigenen Kindern unbedingt sein? Besser nicht, der würde meinem Kind nur was Falsches von der Welt erzählen.“
„Ich versteh nix mehr“, meldet sich der eben noch dröhnig laute Grauhaarige ein bisschen gelangweilt. „In welcher Welt bist du gerade, was ist dein Thema? Ich will nur, dass bitteschön die Saunaordnung eingehalten wird, für alles andere such dir andere Opfer.“
„Dein Preis wäre es, hinzunehmen, dass dich andere völlig nackt sehen, umgekehrt jedoch nicht. Bereits daran scheitert deine Toleranz, das ist mein Thema.“ Es ist der Versuch des Persers zu sehen, seinen Atmen wieder gleichmäßiger herunter zu regeln.
„Mein Thema ist vor allem, dass ich nicht weiß, ob du das Handtuch meinst oder mich als Mensch mit fremdländischem Aussehen. Denn ich weiß, dass sich alle gerne ein Toleranzetikett auf die Stirn klatschen, aber viele von tolerant so weit entfernt sind wie das Hühnerküken vom Einser-Abi.“
Grinsen bei einigen der Umhersitzenden, gute Auflockerung, Punkt für ihn, sein Gesicht spricht jedoch eine völlig andere als spaßige Sprache. Zusammengepresste Lippen, tiefe Mundwinkel, er hält nur kurz inne. Weiter Gas geben oder den Fuß vom Pedal nehmen? Er entscheidet sich für die direkte Variante.
„Ich meine nicht die mit innerlich festgetackerter Aversion gegen Ausländer, die geben sich keine Mühe, unerkannt zu bleiben, die erkennt man sofort. Ich meine die, die sich hinter ihrem freundschaftlichen Grinsen verbergen. Bei denen Fremdengenuss und Fremdenbedenken Tür an Tür in einem Kopf wohnen und die je nach Bedarf mal die eine und mal die andere Karte ziehen. Für beide Alternativen immer Argumente parat, so wie es gerade passt.“
Seine klare und korrekte Sprache zu den differenzierten Aussagen beeindruckt mich.
„Ein klasse Deutsch sprichst du“, meine ich ihn loben zu müssen und ernte eine Ohrfeige.
„Versuche gar nicht erst zu erraten, wie oft ich solche dummen Sätze schon gehört habe, meist aus zutraulich geformten Lippen. Finde ich alles andere als amüsant.“
Sein Blick fixiert mich sekundenlang, er transportiert für lang anhaltende Sekunden eine ungeheure Schärfe.
„Gutes Persisch können nur die Perser und deine Sprache in Gut können wirklich nur Deutsche? Wie dumm ist das gedacht?“
„Bitte?“ Es sollte ein ehrliches Kompliment mit direktem Bezug zu mir sein, sage ich ihm, da mein eigenes Fremdsprachentalent eher kärglich ausgeprägt ist und mich seine Satzkonstruktionen sprachästhetisch umso mehr begeistern. Dass es spürbar sei, wie er die deutsche Semantik innerlich lebe.
„Akzeptiert, aber dann akzeptiere auch meine Verärgerung“, äußert er mit einem selbstbejahenden Nicken und will schnell wieder zu seinem eigentlichen Diskussionspunkt zurück, zur fremdenfreundlichen Liberalität als Lippenbekenntnis. Mich lässt er wieder beiseite und bezieht mich nicht mal mehr im Augenwinkel ein, der Grauhaarige ist ihm wichtiger.
„Scharenweise Menschen laufen mit falschen Ideen und Motiven hinter ihren freundlich gesonnenen Gesichtern herum.“
Sein Satz wird von den plötzlichen Geräuschen in der Sauna fast geschluckt, einige Leute geben sich gerade die Klinke in die Hand, ein unruhiges Hinein und Heraus. Der Perser wartet geduldig, bis wieder mehr Ruhe herrscht.
„Mit den falschen Gesichtern meine ich Menschen, die ihre eigene Kultur grundsätzlich als am wertvollsten darstellen und dies Menschen anderer Herkunft deutlich spüren lassen, statt die Verbindung zueinander zu suchen.“
Es klingt nach tiefen Verletzungen, dass seine Aussagen sich in neu formulierten Sätzen zunehmend wiederholen. Der grauhaarige Mitfünfziger, der gerade noch eine entspannte Körperhaltung eingenommen hatte, aus der ich ableitete, er wolle keinen weiteren Clinch führen, findet darin ein Stichwort, das nun seine Energie neu entfacht.
„Das ist Heimatstolz, was gibt es gegen Heimatstolz einzuwenden? Hast du den nicht auch? Dann wärst du zu bedauern.“
Meine Klischee-Schubladen in mir machen sich wieder bemerkbar. Das Wort Heimatstolz höre ich nicht gerne in diesem Kontext von Toleranz, es klingt sehr abgrenzend, umso mehr, wenn das Wort extra wiederholt wird. Entweder sieht der Perser die kleine Zündschnur nicht oder er will sich davon nicht irritieren lassen.
„Heimatstolz kritisiere ich gar nicht, ja natürlich gibt es ihn auch bei mir. Er ist sogar ganz groß, aber nicht überbetont. Dadurch führen die verschiedenen Kulturen zu sehr ein Parallelleben und versuchen zu wenig wie Zahnräder ineinanderzugreifen. Das macht das Miteinander so fürchterlich schwierig und verführt Menschen zu unnötigen Konfrontationen, sehen wir doch jeden Tag.“
Sinnierend fixiert er den Mitfünfziger. Für mich wird nicht erkennbar, ob er ihn mit seinem Blick missionieren oder auf die Anklagebank setzen will, eben schon und jetzt immer noch nicht.
„Es entstehen Missverständnisse und daraus wird Kapital geschlagen. Und weil das so einfach geht, werden gerne klar beabsichtigt Missverständnisse gesät, das funktioniert als Methode immer.“
Sein Gegenpart wuschelt mit der rechten Hand durch die Haare und präsentiert auf seiner hochgezogenen Stirn eine überpointierte Verwunderung.
„Gehört es nicht auch zur Neigung des Menschen, sich gegenseitig Noten zu geben? Überall wird gewertet, also darf ich doch auch zu der Meinung kommen, dass ich meine Lebensgrundsätze besser finde als die von anderen. Steht mir dieses Recht nicht zu?“
Einige auf den Holzbänken beobachten den Dialog, niemand zeigt sonderliches Interesse, sich einzubringen. Schade, etwas Gegenwind würde die Atmosphäre farbiger machen, vielleicht liegt’s am Iraner, an seiner dozierenden Kritik.
Und dem stellt sich die Frage nach besseren oder schlechteren Kulturen gar nicht. Die Verschiedenartigkeiten gegenseitig als positive Ergänzung zu verstehen und Brücken zueinander zu bauen, das wäre eine hervorragende Aufgabe, argumentiert er nun.
„Die Vielfalt dieses Planeten von ihren Grenzen befreien, das ist ein spannenderer Gedanke als sich gegenseitig Noten zu geben. Dann verfeinden wir uns auch nicht mehr wegen völliger Nebensächlichkeiten, ob hier jemand mit oder ohne Handtuch am Leib sitzt.“
Mir fallen direkt Menschen ein, die solche Sätze als feuergewaltigen migrantischen Angriff bezeichnen würden. Auch ein Onkel väterlicherseits. Muslime sind für ihn VW-Käfer mit lahmen 34 PS, ganz ohne Elektronik. Für Europäer und Amerikaner hat er das Bild der BMWs und Porsches, vielfach mehr PS, da quietschen die Reifen beim Anfahren und intelligente Assistenzsysteme sowieso. Das hatte er als witzigen Vergleich auf der Hochzeit seiner Tochter Melani von sich gegeben. „Wer so spricht, hat ein Alkoholproblem“, flüsterte mir damals sein Sohn zu und schob mich vorsichtshalber beiseite, um mich vor weiterem zu schonen. Und ja, es war Alkohol im Spiel.
Der Perser atmet jetzt deutlich hörbarer. Seine Gedanken scheinen seinen ganzen Körper erfasst zu haben, manche Sätze klingen nun herausgepresst. Er denkt beim Sprechen in sich hinein, es könnte böser herauskommen, wenn er äußern würde, was er empfindet.
„Was hilft es uns, wenn jeder dem Nachbarn am Gartenzaun seiner eigenen Kultur abschätzig zuruft, seine Äste würden herüber ragen? Wir müssen die Gartenzäune gegenseitig öffnen, allein das kann der Weg sein.“
Er nickt selbstbestätigend vor sich hin. Mehrmals, auch wir sollen damit gemeint sein.
Schnelle Reaktion des Liegestuhlreservierers. Er fühlt sich, war zu erwarten, an die Wand gestellt und kontert mit einer Liste Wohltaten der Kultur seiner Gesellschaft. Der persönliche Einsatz vieler Menschen während der Flüchtlingskrise zum Beispiel, große Integrationsbemühungen in der Politik, mutige Bürger würden für ihre Selbstlosigkeit öffentlich ausgezeichnet, die Meinungsfreiheit nennt er auch.
„Ist alles in den Verfassungen verbrieft, darauf werden Eide geleistet.“ Und mit dem Mienenspiel eines Menschen, der kein Interesse an langen Diskussionen hat, sondern seine Meinung widerspruchslos respektiert sehen will: „Aber wie sieht es in Wirklichkeit woanders aus?“
Auf der obersten Sitzbank erzeugt jemand Unruhe. Ein älterer Herr verliert beim Heruntersteigen etwas seine Koordination, muss sich an fremden Schultern auffangen, ihm sind die ungewollten Körperberührungen peinlich. Der Perser beobachtet ihn unbeteiligt, er sucht Argumente für seinen Widerspruch zusammen, er nennt sie in ruhiger und mindestens ebenso selbstsicherer Stimme wie sein Meinungskontrahent.
„Du siehst nur, was du sehen möchtest, öffne mal ein bisschen deine Augen. Nimm die Zerrissenheit zwischen den Völkerstämmen in den arabischen Ländern, nimm die Reibereien der verschiedenen Ethnien. In den USA werden Schwarze schneller abgeurteilt als Weiße, und das, obwohl Amerika der moralische Sheriff auf diesem Planeten sein will. Bei uns knöpft man sich die Juden wieder vor. Sowas ist für dich eine tolerante Welt?“
Wieder unterbricht er sich selbst, zeigt sich nachdenklich und setzt dann mit einem fragenden Gesichtsausdruck fort.
„Wir müssen, glaube ich, mal einen ganz anderen Blick entwickeln, uns wohl zu dem Mut aufraffen, anzuerkennen, dass Selbstlosigkeit und die Freude an sozialer Harmonie nicht zu den zentralen Wesenszügen der Menschen gehören, sie sind nicht automatisch da, wir müssen sie mit großer Anstrengung entwickeln. Und dafür müssen wir erkennen lernen, dass in jedem von uns auch eine egoistische Gestalt steckt, die uns zu ihrer Marionette machen will.“
In dem Migrantengesicht würde ich jetzt gerne sehen, dass seine Skepsis nur stimmungsgeleitet und weniger seine Überzeugung ist. Denn so einfach im Vorbeigehen möchte ich mir meinen Glauben an die Toleranz nicht zerfleddern lassen. Ich werde enttäuscht, er denkt genauso, wie ich es lieber nicht hören möchte.
Sein Oberkörper senkt sich etwas nach hinten, er legt den Hinterkopf auf der höher gelegenen Sitzbank auf. Wirkt unbequem. Er sinniert, streckt dann den Kopf wieder empor, will nochmal für seine Meinung werben, lässt es aber erst mal doch.
Auch der Vorschriftsmeckerer beschränkt sich auf ein distanziertes Schmunzeln, seine Blicke geistern ziellos in dem Saunaraum herum. Ich würde mich gerne entziehen, zu grundsätzlich und zu abstrakt wirkt die Diskussion auf mich.
So schwitzen wir eine Zeitlang unbeteiligt vor uns hin.
Doch dann: Attacke, unerwartet, mit einer Stimme wie die einer verstimmten Gitarre. Der Perser bekommt seine zweite Luft, der Ausgangspunkt scheint ihn nicht loszulassen.
„Deine Toleranz hört genau ein paar Zentimeter vor dem silbernen Schild mit der Entblößungspflicht auf. Du wolltest dir gar nicht erst Gedanken machen, warum sich Menschen wie ich nicht nackt in der Öffentlichkeit zeigen, du hast sofort mit deutschen Vorschriften argumentiert. Kein Widerrede, keine Toleranz, hier herrscht Ordnung, schau gefälligst auf das Schild, das ist deine Wahrheit und deine Toleranz!“
Was ist passiert? Wieso jetzt die neue Spannung, warum zum Geweihkampf zurück? Für mich so schnell nicht zu ergründen.
„Du verwechselst Toleranz und Ordnung, mein Lieber.“ So will der Perser zwar gerade nicht angesprochen werden, zumal ihm jetzt eine Stimme in gleicher Schärfe wie die eigene entgegen schlägt. Aber er mag noch zuhören.
„Mit klaren Ordnungsvorschriften funktioniert es zwischen Menschen, Toleranz steht hinter den Regeln. Nimm das Kinderkarussell, da läuft alles geordnet, genau das ist meine Erwartung. Dagegen bewegst du dich auf dem Autoscooter, wo sich alle ohne Regeln gegenseitig ins Visier nehmen. Dort ersetzen dicke Stoßfänger die Regeln, willst du mir sagen, dass Leben mit dicken Stoßfängern schöner wird?“
Der Vergleich amüsiert, passt so auch nicht ganz, aber der Perser wird müde. Soll er trotzdem gegenhalten?
Nein, erst mal nicht, alles sieht nach einem Patt aus. Beide im Rückzug, die Augen auf sich selbst konzentriert, Frieden. Bis der Grauhaarige nach zwei, drei Minuten die Frage stellt, wo der Perser geboren sei.
„In Karadsch, eine größere Stadt, nicht weit von Teheran entfernt.“
„Schon länger in Deutschland?“
„Seit 13 Jahren.“
„Verheiratet?“
„Ja, und sogar mit einer deutschen Frau.“ Er lässt die Antwort von einem ernst wirkenden Zufriedenheitsgrinsen begleiten, neues Lebenszeichen.
„Glückwunsch, dann scheinst du gut integriert zu sein. Vermute ich mal, gilt das auch beruflich?“
„Auch da. Maschinenbauingenieur, promoviert, fester Job, perfekt zertifiziert nach deutscher DIN-Norm.“
Er betet die Antworten herunter, auswendig gelernt, die Fragen belustigen ihn. Nach winzigen Pause ein offensives Grinsen, es erzählt eine fast schon durchtrieben erscheinende Selbstsicherheit:
„Brauchst du einen Vorzeigemigranten, willst du mich buchen? Bezahlt wird mit ein paar Exemplaren der deutschen Verfassung, Spesen in bar.“
Sein Fröhlichkeitsreservoir ist inzwischen wieder gut aufgefüllt, er lacht und weiß, dass er ein gutes Blatt in den Händen hält. Während ich erst in mich hinein horche und dann frage.
„Macht ihr hier ein Verhör?“ Ich schaue beiden abwechselnd in die Augen, nur von einem kommt eine Reaktion.
Die Duschen klingen gerade wie die Regenschauer vorhin draußen.
„Präzise erkannt.“ Der Iraner nickt vergnügt, ihm ist die Routine anzumerken, mit derartigen Fragen hinterlistig provoziert zu werden und die Konfrontation dann doch immer souveräner als Sieger zu beenden.
Ob das bei seinem jetzigen Gegenüber genauso läuft? Der zeigt zunächst keine Gefühlsreaktion auf den ironischen Unterton des promovierten Maschinenbauingenieurs, nach etwas Überlegung dringt jedoch aus biederen Mundwinkeln eine böse Reaktion nach draußen.
„Um ein gutes Mitglied einer Schafherde zu sein, muss man vor allem erst einmal ein Schaf sein, hat Einstein gesagt.“ Gesprochen fast im Stechschrittrhythmus.
Er schaut in die Runde und will sich selbst bestätigen. „In dem Satz steckt viel Substanz drin, oder?“
Er zwingt mich zum Überlegen. Einstein war der Mann mit der Relativitätstheorie, aber was hat sie mit der Diskussion hier zu tun? Mir erschließt sich kein Zusammenhang. Dass sich in der Buchung eines reiserücktrittsversicherten Pauschalurlaubs relativ viel Schaf verbirgt? Bestimmt nicht, Schafe sind gutmütige Wesen und intelligent. Sie können sich beispielsweise zwei Jahre lang über fünfzig Gesichter ihrer Artgenossen merken.
Eine andere Alternative, seine Äußerung zu entschlüsseln: Er ist das schwarze Schaf und wir tolerieren ihn relativ gutmütig? Oder hat er einfach nur Viertelwissen aufgeschnappt? Sinfonien an Denknuancen traue ich ihm jedenfalls nicht zu.
Letztlich egal, ich muss jetzt eingreifen, mich beschleicht die Idee einer ganz anderen Interpretation!
„Wenn wir den Einstein mal weglassen: Du willst wissen, wie viel Gramm Deutsches in ihm steckt?“
Ich glaube jetzt sogar, dass er das so meint. Die Empörung klopft in den Adern meines Kopfes und drückt sich auch in meiner Stimme aus. Gerne hätte ich noch angefügt, wie armselig er für mich rüberkommt. Ich halte diese Bemerkung nur deshalb zurück, weil ich letztlich nur Außenstehender ihres Gesprächs bin. Was an meiner Verärgerung jedoch nichts ändert. Soll er doch im nächsten Leben eine Sandschaufel werden.
Hatte ich erwartet, dass er mir eine scharfe Antwort entgegen wirft, so entwickelt sich die Situation erst mal anders. Seine Reaktion wirkt mimisch und klingt stimmlich besonnen, fast sogar liberal, typische Gesichtszüge eines verständnisvollen Freundes.
„Mag sein, dass nicht alle meine Standpunkte teilen, ich ihre genauso wenig.“ Seine Augenbrauen gehen nach oben.
Aber Vorsicht, meine Intuition hebt den warnenden Finger. Solche rund gelutschten Äußerungen sprechen Politiker oder Menschen mit dunklen Motiven. Sie sollen einschläfern und entpuppen sich dann als Startrampe für ein böses Geschoss. Und genauso kommt es auch, er wird beleidigend. Unterschwellig zwar, doch genau drin steckt die fiese Methode.
„Dir fehlt noch ein wenig das Talent, Kulturunterschiede in ihrer soziologischen Bedeutung betrachten zu können.“ Seine Kritik formuliert er stilistisch erhaben wie populistisch, doch genau darin steckt ihre kalkulierte Wirkung.
„Klär mich auf, was du angeblich besser weißt“, fordere ich angesäuert ein. Wie angenehm waren im Vergleich zu ihm heute die Regenschauer.
„Frag mal deine Frau Google, vielleicht oder bestimmt kann sie dir Nachhilfe geben.“
Der Iraner bekommt Spaß an unserer Konfrontation. Schelmisches Augenzucken, da ich den Vorschriftsmenschen nun an der Backe habe und er sich aufs Zuschauen beschränken kann.
Ich möchte mir mit ihm weder ein Beleidigungsduell liefern noch in einen rhetorischen Schaukampf ziehen oder gar von ihm gezogen und am wenigsten durch lehrerhafte Attitüden belästigt werden. Einerseits, die andere Seite gewinnt jedoch die Oberhand.
„Wie armselig, dass du dich mit einem willkürlich herbei gekramten Zitat erhöhen willst und anderen damit die Laune stiehlst.“ Energische Stimmen in mir drängen mich dazu, ihm einen Tritt in seine empfindlichste Stelle, in seine Überheblichkeit, zu verpassen. Und so passiert es auch.
„Arroganz ist die Kunst, auf die eigene Dummheit stolz zu sein.“
Kaum habe ich den Satz ausgesprochen, plappert er sofort los. Etwas, was er vermutlich bereits im Kopf vorformuliert hatte, denn es kommt gänzlich ohne Bezug auf meine bewusst angelegte Attacke.
„Einsteins Zitat besagt, dass nur gut zusammen passt, was sich sehr ähnelt. Schafe passen nur zu Schafen und nicht zu Wölfen oder Eichhörnchen. Unterschiedliche Wesensarten können nie dauerhaft eine harmonische Einheit bilden, so einfach und so richtig.“
Das ist der Hammer! Entsetzt blicke ich zum Perser hinüber, er sucht mit seinen Augen Halt in meinem Gesicht, wir starren uns an. Hatte er das jetzt wirklich so gesagt? Das macht ja alles noch schlimmer! Wirkte er anfangs nur unsympathisch und charakterlich etwas spärlich, aber jetzt?
Noch während ich überlege, ob und wie ich seine Äußerung kommentieren soll, da übernimmt der Perser schon das Wort. Seine beiden Hände greifen zum Kopf, der bewegt sich automatisiert nach rechts und links, in seinem Gesicht zeichnet sich die Angst vor Geröllmassen ab. Die immer dicker werdenden Blutadern am Hals zeigen mir, dass er sich bemühen muss, einen Kontrollverlust zu vermeiden.
„Ersetze Schaf durch Mensch, dann hast du den richtigen Link zur Wahrheit.“ Ein unruhiges und stechendes, aber auch trauriges Augenspiel, beide Hände wandern nervös über seine Oberschenkel, seine Stimme wird langsam.
„Um ein gutes Mitglied der Menschen zu sein, musst du vor allem erst einmal ein Mensch sein.“ Pause. Blicke können gnadenlos sein, und sein Blick in die Pupillen des dicklichen Beziehungswaisen übertrifft diese Wirkung noch. „Und wieso bist du noch hier?“
Es sind für heute seine letzten Worte. Er bringt seinen schlanken Körper in eine horizontale Schwitzlage, legt beide Handflächen auf sein Gesicht und beendet das Migrantenverhör. So angefressen und trotzdem so souverän wie alle vorherigen Verhöre in den letzten dreizehn Jahren, er hat sie nicht gezählt.
Und ich blicke den Frühbucher an, denke an sein Leben. Das T-Shirt des Mädels von eben kommt wir wieder in den Sinn: „Lieber humpeln als kriechen.“