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Kapitel III. – Goethe am Reichs-Kammergericht.
ОглавлениеGoethe trug mehrere Tage nach seinem Eintreffen in Wetzlar seinen Namen eigenhändig in die Matrikel, d.i. in das Album ein, in welches sich die jungen Praktikanten einzeichneten. Die Eintragung lautet buchstäblich:
Johann Wolfg. Goethe
von Frfurt am Mayn
25 May 1772.
Diese Matrikel, seit der Verpflanzung des Kammergerichtes nach Wetzlar (seit 1693) regelmäßig geführt, liegt noch heute in dem dortigen Archiv vollständig vor. Schlagen wir wenige Blätter um, so stoßen wir, fast genau ein Lustrum später, auf den Namen des großen Reichsfreiherrn vom Stein:
Heinricus Fridricus Carolus
de Stein eod. d. et an. (d.h. 30 May 1777),
und nicht ohne Bewegung liest man die Namen der beiden größten Deutschen ihrer Zeit in so naher Nachbarschaft. Und ein dritter im Bunde rückt diesen beiden, wenngleich nicht in der Matrikel, ganz nahe. Der Freiherr v. Hardenberg, der spätere preußische Staatskanzler, erschien wenige Wochen nach Goethes Abreise (mit dem er bekanntlich schon in Leipzig Verkehr gehabt hatte) auf seiner praktischen Bildungsreise auch in Wetzlar, um von da über Frankfurt Darmstadt und die übrigen süddeutschen Höfe zu besuchen. Jene Nameneinzeichnung ist aber die einzige Lebensspur, die der Jurist Goethe in Wetzlar hinterlassen hat. Der Dichter schreibt im Jahre darauf einmal an Kestner: »Ich bin von jeher gewohnt, nur nach meinem Instinkt zu handeln.« Und in der That war es die Art des Genius, der in sich eine größere Welt als außer sich trug, zumal in jener Jugendzeit, rücksichtslos seine eigenen Wege zu gehen, den eingeborenen Trieb frei und unbeirrt walten zu lassen. Pflichtmäßige Zwecke sich setzen zu lassen, war nicht seine Sache. So schob er in Leipzig schon die nächsten Aufgaben zur Seite, so in Straßburg, so nun in Wetzlar. In dem nämlichen Briefe, aus dem wir eben citierten, schreibt der Advokat Goethe in richtiger Selbstkenntnis: »Unter all meinen Talenten ist meine Jurisprudenz der geringsten eins.« Auch das gehörte ja zu dem losen, unstraffen Wesen des Kammergerichtes, daß man jene jungen Volontäre sich selbst überließ. Es blieb denen unter ihnen, welchen daran gelegen war, die Labyrinthe des Reichsprozesses wirklich zu studieren, lediglich selbst überlassen, sich durch einen erprobten Praktiker einführen und zu praktischen Arbeiten anleiten zu lassen. Dies war die Regel; so hat es u.a. der junge Freiherr vom Stein gemacht; wir werden das Gleiche unten bei Kestner, der freilich nicht Praktikant war, zu wiederholen haben. Es machten immer einzelne Prokuratoren und Advokaten des Gerichtes eine Aufgabe daraus, die Praktikanten durch Vorlesungen (zum Teil über Pütters Epitome processus imperii, zum Teil nach eigenen Grundzügen) und »durch Arbeiten aus der gemeinen teutschen Praxi« in die Labyrinthe des Reichsprozesses einzuführen. Die Hauptlehrer der Art in den siebziger und achtziger Jahren waren Noël, Hofmann, Loskant, v. Bostel; und seitdem es eine »Wetzlarische Zeitung« gab (d.h. seit dem 1. Juli 1789) wurde zu diesen reichsrechtlichen Informationen auch öffentlich eingeladen. Von Goethe erfahren wir nichts dergleichen. In der That scheint der Dichter das Äußerste von Enthaltung als juristischer Praktikant geleistet zu haben. Nirgends erwähnt eine Briefstelle irgendwelche Betätigung nach dieser Seite; dagegen bestätigen mehrere Stellen, daß er, statt die Absicht des Vaters erfüllend, »sich In praxi umzusehen«, die seinige walten ließ, d.h. »den Homer, Pindar &c. zu studieren, und was sein Genie, seine Denkungsart und sein Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingaben«. In dem Reichs-Kammergerichts-Archiv zu Wetzlar findet sich, so weit die Untersuchung irgend reicht, kein Aktenstück, Relation oder dergleichen von Goethes Hand oder mit seiner Unterschrift. Schwerlich hat er den von seiner Wohnung wie von dem »Kronprinzen«, seinem geselligen Hauptquartier, ganz nahen Weg zum Sitzungslokal des Gerichtes, das sich damals provisorisch in dem stattlichen Bau am Buttermarkte — jetzt der erste Gasthof der Stadt, »Zum herzoglichen Haus« — befand, häufig gemacht, und die Wege ins Freie, die wir ihn zu allen Tageszeiten jenes schönen Sommers einschlagen sehen, der Aktenluft weit vorgezogen. Vierzig Jahre später, in der Rückerinnerung von »Wahrheit und Dichtung«, scheint Goethe diese Unterlassungssünden gutenteils auf den »ungünstigen Augenblick«, in dem er bei dem Gerichte eingetreten, schieben oder sie hieraus erklären zu wollen; allein auch das ist ein Gedächtnisfehler, denn jene unjuristischen, poetischen Hintergedanken, von denen Kestner nach des Dichters Mitteilung berichtet, hatte dieser aus Frankfurt mitgebracht. Dem widerspricht nicht sein eigener Bericht, daß er für Wetzlar historisch-juristische Vorstudien (namentlich durch die Lektüre von Datt, De pace publica) gemacht habe, denn er sagt ausdrücklich, diese Studien seien zunächst im Interesse des »Götz« unternommen worden, aber auch dem sekundären Interesse am Kammergerichte zugute gekommen. So floß Poesie und Prosa auch hier ineinander. Goethe trat unter dem Kammerrichter Grafen Spaur als Praktikant ein, oder, um mit dem Cameral-Kalender auf das Jahr 1772 zu reden, unter dem »Herrn Frantz des Heiligen Römischen Reichs Grafen Spaur von Pflaum und Valeur, Herrn zu Purgstall Winckel und Pirscheim S. Römisch Kayserlichen Majestät würcklichem Geheimdem Rath und Cammer Richter«, der seit 1763 im Amte war. Die beiden Präsidenten unter ihm waren die Grafen Waltbott von und zu Bassenheim und zu Sayn und Wittgenstein, Burggraf zu Kirchberg u.s.w. Es kann nicht unsere Absicht sein, in Nachahmung von Goethes — lichtvollem und selbst nach juristischem Urteil wertvollem — Geschichtsbild in »Wahrheit und Dichtung« ein Kapitel über Zweck und Geschichte des höchsten Reichsgerichtes hier einzuschalten. Denn nur das Lokale und Historische, was den Dichter in Wetzlar wirklich berührte, hat hier eine Stelle. Daß Goethe in seiner Selbstbiographie jene Digression einfügt — als Lückenbüßer gleichsam für den Mangel persönlichen Materials —, hat man befremdlich gefunden. Aber der Dichter wollte Werthers und seine Leidensgeschichte, die dichterisch längst Gemeingut war, nicht reproduzieren und ist darum allerdings wortkarg genug über das, was eigentlich sein Wetzlarer Sommerleben füllt. Freilich entsteht dadurch dem Leser, der die Originalakten nicht kennt, die schiefe Vorstellung, als ob das Interesse für das Reichs-Kammergericht den poetischen Praktikanten in erster Linie berührt und beschäftigt habe, während es ihn in Wahrheit nicht beschäftigt hat. Haben wir also guten Grund, auf eine Geschichte des Kammergerichtes zu verzichten, so ist doch der Zustand, wie ihn Goethe bei seinem Eintritt vorfand, kurz zu charakterisieren.
Es war ein in manchem Betracht kritischer Moment für das Gericht, als Goethe nach Wetzlar kam. Einmal war seit fünf Jahren die außerordentliche Kammergerichts-Visitation thätig, welche auf Grund eines Regensburger Reichsgutachtens vom Jahre 1766 vom Kaiser Joseph II. , aus dessen Initiative die endliche Ausführung der längst beabsichtigten Maßregel floß, beschlossen worden war.
Der neue Kaiser, überallhin großer Entwürfe voll, wollte auch die Reichsjustiz, die arg verfallene, wieder heben und beleben. Denn er erkannte mit Recht in der Pflege auch dieses Zentralpunktes eine Kräftigung der Reichseinheit überhaupt. So war es wie geschichtliche Ironie, daß das Kammergericht, das bei seiner Gründung von dem deutschen König eher als Eingriff in seine Autorität mit Abneigung behandelt worden war, nun als Stütze der kaiserlichen Stellung erschien. In der That bot sich hier für den Kaiser, der nach Antritt der Reichsregierung kein anderes Feld der Thätigkeit für das Reichsganze vorfand, eine Gelegenheit, dem kaiserlichen Amt und Titel einen wirklichen Inhalt zu geben. Mit Reformversuchen am Reichshofrat hatte er begonnen, freilich ohne durchgreifen zu können; daran schlossen sich alsbald die Schritte gegen die Gebrechen und Mißbräuche am Reichs-Kammergericht. Eine solche Stütze für die kaiserliche Stellung war um so notwendiger, als der kaum vergangene siebenjährige Krieg das Reich in zwei Heerlager auseinandergeworfen und dadurch die zentrale Kraft und das Ansehen des habsburg-lothringischen Hauses geschwächt hatte. Aber die Hauptkräfte damals im Reiche waren gerade die zentrifugalen, und so war es nur natürlich, daß das Reichsgericht bei den Territorialstaaten, die gerade in der Emanzipation vom Reiche ihr Interesse und ihre Zukunft sahen, keineswegs populär war.
Das Verhältnis des Kaisers und der Hauptstände zum höchsten Reichsgericht hatte sich also gerade umgekehrt. Zu dem Kaiser und seinen Reformideen standen die geistlichen und katholischen Kurfürsten, die Reichsstädte, eine Reihe süddeutscher Kleinstaaten; aber der Fortschritt, das wirkliche Streben lag dort nicht, sondern in den Staaten des norddeutschen Protestantismus, in Preußen und Hannover, die zu Großstaaten ausgewachsen waren oder sich an Großmächte anlehnten. Am Reichs-Kammergericht stießen die Reformideen noch auf weit spröderen Widerstand, als bei dem Reichshofrat. Dieser stand in persönlicher Abhängigkeit vom Reichsoberhaupt, die Mitglieder des Kammergerichts aber wurden großenteils von den Reichsständen ernannt und besoldet, der Kaiser hatte nur den Kammerrichter, dessen Stellvertreter und einen Beisitzer zu ernennen. Die größeren Reichsstände aber hatten kein Interesse daran, das an sich so großartige Rechtsinstitut, durch welches jede Rechtskränkung teils der Landesherren unter einander, teils der Unterthanen gegenüber den Landesherren ohne unmittelbares Eingreifen der kaiserlichen Autorität verhütet werden sollte, bei Ehren und Ansehen zu erhalten. Sie pflegten ihre eigenen Hof- und Appellationsgerichte; das Reichsgericht, gerade weil es sie selbst vor sein Forum zog, war ihnen unbequem, daher die Verwahrlosung. Nur die kleinen Stände zeigten zum Teil reichspatriotischen Eifer. — Der jammervolle Zustand, in welchen das höchste Reichsgericht geraten war, kam vor allem von dem Geldmangel und der ständischen Knickerei, wodurch eine ausreichende Besetzung, Normierung und Dotierung, ja die Herrichtung eines würdigen Obdachs, unmöglich oder Jahrzehnte lang verzögert wurde. Bei Goethes Eintritt hatte das Kammergericht nur 17 Assessoren, während der Osnabrücker Friede die Zahl der Beisitzer auf 50, die der Präsidenten auf 4, und zwar pares numero utriusque religionis, festgesetzt hatte. Die Folge war, daß die Zahl der unerledigten Prozesse ins unglaubliche stieg, und die Aussicht, dies Chaos zu ordnen, immer dunkler wurde. Die entmutigende Erfahrung drängte sich immer stärker auf, daß ein Gericht für die Bedürfnisse des Reichs überhaupt unzureichend war.
So betrug im Jahre 1772 die Zahl dieser Prozesse 16,233. Die Unmöglichkeit, das vorliegende und progressiv wachsende Material zu bewältigen, und die Erfahrung, daß nach mühevollem Bearbeiten und schwieriger Entscheidung die Urteile nicht immer ausgelöst wurden, hatten zu der mißlichen Praxis geführt, nur solche Prozesse zu erledigen, auf deren Betrieb die Parteien selbst drangen. Dieses Drängen der »Sollicitanten« aber war von Geldspenden begleitet, die bei der Abhängigkeit des Einkommens der Richter von den eingehenden Gebühren unbedenklich angenommen wurden. Die Reichsdeputation, in fünf Klassen geteilt, sollte jedesmal durch 24 Abgeordnete an Ort und Stelle in Wetzlar die Prozesse revidieren, die Gebrechen des Gerichtshofes untersuchen und einen Entwurf zur Reform abfassen. Daß diese große Visitation während der neun Jahre ihres Zusammenseins so wenig ausrichtete, lag teils in der Übereilung, mit welcher — ganz im Geist und Stil josephinischer Reformen — das verwickelte Geschäft eingeleitet und betrieben wurde, teils wieder in der großen Langsamkeit, mit welcher an Ort und Stelle verfahren wurde. Am 21. Mai 1767 war der Visitationskongreß eröffnet worden, zwei Monate später fand die Verpflichtung der Subdelegierten der Reichsstände durch die kaiserlichen Kommissarien statt, dann verstrichen anderthalb Jahre, ehe man mit der ernstlichen Untersuchung der Personalgebrechen des Kammergerichtes begann. So mußte die erste Klasse der Visitationsgesandten, die schon 1768 von der zweiten abgelöst werden sollte, bis zum Herbst 1774 zusammenbleiben. Und dieser Schneckengang wurde auch ferner bei der Visitation festgehalten. Es waren also außerordentliche Verhältnisse, die den jungen Praktikanten empfingen; günstige insofern, als das Personal dadurch mannichfaltiger und interessanter wurde, da sich sittliche Kontraste mit fast dramatischem Interesse zwischen dem »richtenden und gerichteten Gericht« dem Beobachter darstellten. Allerdings betonen und wiederholen wir, daß es keineswegs bloß jenes »traurige Bild« des Moments war, das den Dichter abschreckte, »tiefer in ein Geschäft einzugehen, das, an sich selbst verwickelt, nun gar durch Unthaten so verworren erschien«. Goethe war, und ganz begreiflich, der Sache überhaupt abhold. Denn die aktuellen Zustände des Gerichts ließen sich vorher schon von dem nahen Frankfurt aus erkennen; und zu lernen war, da das Gericht immerhin in Thätigkeit blieb, Anlaß genug. Ungünstig waren die Verhältnisse, da der ruhige Rechtsgang und die Gelegenheit, diesen kennen zu lernen, hierdurch gestört ward und vielfach Unruhe und Erregung an die Stelle traten. Freilich hatte sich der Visitationskongreß zu zwei wirksamen Schritten ermannt. Im Frühjahr 1771 war ein Frankfurter Schutzjude, Nathan Aaron Wetzlar, wegen schnöder Justizmäklerei verhaftet worden, und im Juni des nämlichen Jahres folgte die Verhaftung der drei hochadeligen Kammergerichts-Beisitzer, der Freiherren v. Reuß (genannt Haberkorn), v. Pape (genannt v. Papius), und v. Nettelbla, denen wegen schlimmster Bestechung der Prozeß gemacht wurde. Und einer der infam kassierten Assessoren trieb die Frechheit so weit, daß er die Annahme von Geschenken in einer gedruckten Schrift verteidigte. Im Anschluß an die gemachten Erfahrungen wurden die Mißbräuche der Sollicitatur abgestellt und die Geheimhaltung der Reformen anbefohlen. Der andere Schritt war die endlich durchgesetzte Vermehrung der Richterstellen, die Anfang 1772 vor den Regensburger Reichstag gebracht wurde, der nach fast vierjährigem Warten dahin schlüssig wurde, das Richterkollegium auf 25 Mitglieder zu vermehren.
Aber während so die Visitation, wenn auch nach der alten Reichsdevise: festina lente, wirkliche Lebenszeichen zu geben begann, geriet sie selbst in die Gefahr, in Zwietracht unverrichteter Dinge auseinanderzugehen. Diese Krisis war wenige Wochen vor Goethes Ankunft in Wetzlar eingetreten. Unter den Mitgliedern des Visitationskongresses trat durch Geschäftstüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit der herzoglich bremische Subdelegierte, Hofrat J.Ph. Falcke, hervor. Er galt für den ersten Juristen des Kongresses und war als scharfer Gegner der bequemen Lässigkeit namentlich von seinen katholischen Kollegen, voran von dem damaligen kaiserlichen Prinzipalkommissarius Grafen Colloredo und Waldsee selbst, gefürchtet und gehaßt. Aber, wie es in einem Briefe des jungen Jerusalem heißt, seine juristische Überlegenheit und penible Gründlichkeit hatte auch die Jalousie »aller Protestanten« gegen sich. Auch an sittlichem Mut fehlte es ihm nicht, um so weniger, als sein amtliches Selbstgefühl durch das Bewußtsein, das Organ eines Souveräns zu sein, der zugleich Regent einer der ersten Großmächte war, mächtig gehoben wurde. Dieser, Korreferent in einer Sache, wo der kurtrierische Subdelegierte Referent war, flocht starke Ausfälle und Verdächtigungen gegen diejenigen Visitationsmitglieder ein, die nur mit Widerstreben dem Vorgehen gegen jene pflichtvergessenen Beisitzer zugestimmt hatten. Die Erregung des Ehrenmannes spiegelt sich auch in dem religiösen Gepräge, das er seinen Äußerungen aufdrückt. Es seien »alle menschmögliche visitationswidrige Künste und Vorspiegelungen angewandt worden, um dieses durch den Beistand der göttlichen Vorsehung zustande gebrachte Werk und die pflichtmäßige Beförderung desselben zu hintertreiben. Über eine so unwürdige Gesinnung müsse jeder patriotische Justizeiferer, von Verdruß und Abscheu hingerissen, erzittern. Von den dabei gebrauchten geheimen Künsten seien nur die Wirkungen zu spüren gewesen. Vielleicht würden sie, zu ihrer Stunde, noch in dieser Zeitlichkeit an den Tag kommen, wenigstens aber dereinst am Tage des allgemeinen Weltgerichts den in das Innerste der Herzen dringenden Augen des Weltrichters unverborgen erscheinen, dann in ihrer Abscheulichkeit entdeckt, und auf der Stelle mit dem dafür gebührenden Lohne vergolten werden.« Diese Invektiven, die der Urheber sich weigerte zu Protokoll zu geben oder dem Kongresse zur näheren Einsicht vorzulegen, führten schließlich zu einer Erklärung des kurmainzischen Direktoriums, die kaiserlichen Kommissarien und mehrere Visitationsmitglieder sähen sich unter diesen Umständen verhindert, mit dem herzoglich bremischen Subdelegierten fortan in dem Kongresse zu sitzen. So entstand eine Scheidung fast genau nach der Konfession. Das ganze Visitationswerk schien gescheitert; erst nach Goethes Entfernung von Wetzlar, Ende Januar 1773, gelang es, durch eine Erklärung des ersten Veranlassers den Frieden wiederherzustellen und das gemeinsame Weiterarbeiten zu ermöglichen. Während der ganzen Dauer aber von Goethes Verweilen am Reichs-Kammergericht stockte das Visitationsgeschäft.
Man muß sagen: sowohl die Gründe, die dasselbe nötig gemacht, wie das Geschäft selbst, führten nach wenigen Jahren in immer weiteren Kreisen zu einer bedenklichen Diskreditierung des ganzen Instituts. Das kaiserliche Edikt hatte Großes angekündigt, hohe Erwartungen rege gemacht, alle Welt hatte den Kaiser, diesen Hort der Gerechtigkeit, gepriesen, und von der Wiedergeburt jenes »Palladiums der deutschen Freiheit« goldne Tage geordneter Rechtszustände erwartet. Und nun um so ärgere Enttäuschung! Die Schäden lagen aufgedeckt, der Glaube versagte, daß die Heilung für die Zukunft gefunden sei. Die stärkeren Freiheitsregungen der nächstfolgenden Zeit übten auch an dem ehrwürdigen Tribunal ihre rückhaltlose Kritik. »Das Kammergericht, sagte eine Broschüre von 1787, dieser Sitz der Parteilichkeit, der Bestechung, der Schikane, der endlosen Vorenthaltung des Rechts, wird noch immer für das Palladium der deutschen Freiheit gehalten. Man sehe, wie bemittelte Personen eilen, nach Wetzlar zu kommen, ihren Sachen Aufenthalt oder Wendung zu verschaffen; wie die Parteien laufen, vom Referenten zu erfahren, wie alt Streitigkeiten geworden sind. Die einzige Regel des Rechts, die in Wetzlar gilt, ist: beati possidentes.« — Es ist charakteristisch, daß dieselbe Schrift, die sich gegen das alte Reichsinstitut richtet, noch weiter geht und die Frage, ob auch die Wahl eines Reichsoberhauptes noch zweckdienlich, ob der Reichsverband überhaupt haltbar sei, prüft und mit einem runden Nein beantwortet.
Solche Stimmungen wagten sich zu Goethes Zeit noch nicht hervor, die Keime aber auch dazu waren genugsam vorhanden. Auch in Goethes Freundeskreis, wenn sie auch dort über die Linie der Ironie oder der Gleichgültigkeit kaum hinausgingen. Wir werden hierauf zurückkommen. Von Goethe selbst könnte man voraussetzen, daß er als Dichter an dem Labyrinthischen des Reichsprozesses mit dem grauen Hintergrund und Halbdunkel althistorischer Entwickelung eine Art romantischen Interesses genommen hätte, wie denn nach eigener Versicherung (wie wir oben sahen) »Götz« und das Kammergericht nach Idee und Ursprung sich vielfach in ihm berührten.
Allein jene Romantik übertrug sich ihm doch nicht auf die Wirklichkeit. Goethes Wesen drang auf Klarheit, Einfachheit, Durchsichtigkeit und Übersichtlichkeit, auf plastische Faßbarkeit. Das mephistophelische Verdikt über die sich forterbende Krankheit von Gesetz und Rechten, so wie das »garstige, politische Lied« vom »lieben heiligen Römischen Reich« in Auerbachs Keller gehen gewiß auch auf reichskammergerichtliche Eindrücke zurück und sprechen des Dichters eigenes Bekenntnis aus. Und mit dem Lichtvollen seiner intellektuellen Natur stimmte die ethische Klarheit, die sich von der förmlichen, scheinhaften, alles verschleifenden Rechtspraxis und von den verdrehenden und ausweichenden Fechterstreichen angewidert fühlte. Schon in den Anfängen seiner Frankfurter Advokatur zeigt sich dieser präcise Sinn, das Betonen der Rechtsprinzipien statt der Vorschriften des positiven Rechtes, in dem er wenig heimisch war, aber auch das Geltendmachen rein menschlicher Stimmungen in den Anreden an die Richter. Bestand also wirklich in den Wünschen des Vaters das Projekt, dem Sohne in Wetzlar eventuell eine dauernde Stätte am Reichs-Kammergerichte anzubahnen, so ward der letztere vis-à-vis der wirklichen Verhältnisse um so gründlicher von dieser Idee kuriert.
Schon in seiner Vaterstadt war ihm die Reichsromantik und der Reichszopf verleidet; die Wetzlarer Erfahrungen steigerten diese Stimmung, und der Dichter folgte nur seiner Natur, wenn er drei Jahre später sich von einem kleinen Territorialstaat, in welchem das moderne fortschreitende Leben pulsierte, dauernd fesseln ließ.