Читать книгу Zwischenräume im Tagebuch von Jeannine Laube-Moser - Wilhelm Kastberger - Страница 6
Оглавление4 Bernie´s Kindermund
Eines möchte ich hier gleich am Anfang als hilfreiche Orientierung, insbesondre für Dich, anmerken. Es ist gar nicht so einfach, eine halbwegs zusammenhängende Geschichte aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Noch dazu aus meinem verworrenen Hintergrundpotential. Das ist schriftstellerische Schwerarbeit, um nicht den verwechselbaren Begriff einer literarischen Leibeigenschaft hier anwenden zu müssen.
Na ja, Du musst es so sehen: Ein kleines Mädchen, so um die vier, knapp fünf Jahre alt, hatte sie mir erzählt. Vielleicht kannst Du Dich eh noch an die kleine Bernie erinnern. Irgendwann einmal habe ich sie bestimmt Dir gegenüber schon erwähnt. Sicher sogar habe ich sie schon irgendwo in ein paar Zeilen vorgestellt. Du weißt es nicht? Gut, dann habe ich Dich mit jemand ganz anderem verwechselt.
Also Du weißt es ja eh schon. Bernie ist ein liebes, aufgewecktes kleines Mädchen. Sie wohnt mit ihrem Vater Alfred, mit ihrer Mutter Renata und ihrem älteren Bruder Pauli irgendwo in Kaprun. Renata, das solltest Du auch wissen, ist die Tochter meiner unter mir wohnenden Nachbarn Froschkopf. Renata hat noch die um zwei Jahre ältere Schwester Roswitha. Die wohnt allerdings angeblich mit ihrer Familie in Nordamerika. Aber viel mehr weiß ich über die Familienverhältnisse der Froschkopfs auch nicht. So ist es halt, wie es ist.
Bernie kommt gerne zur Oma und zum Opa auf Besuch. Wenn ich ehrlich sein sollte, dann müsste ich vermerken, dass sie sich eigentlich mehr zum Opa hingezogen fühlt. Wenn sie schon mal im Haus ist, dann besucht sie mich. Fast immer habe ich für Bernie einen Marmorkuchen auf Reserve irgendwo im Speisekasterl. Nicht nur Bernie mag diesen sehr gerne, sondern auch meine Freundin Margot. Weil die ist nämlich als Frau ein überdurchschnittlich versagendes Backgenie.
Margot kann beim besten Willen es sich selbst nicht erklären, wie ich es immer wieder fertigbringe, dass der helle Teig sich mit dem dunklen in der Backform in ein derart kompliziertes Mischverhältnis wagt und sich dann auch noch ungeniert backen lässt. Vorgeführt habe ich das der Margot schon öfters und ihr überdies anschaulich erklärt, dass man nur mit der groben Gabel Muster in die Teigmasse kratzen bräuchte, um am Ende diesen herrlichen Anschnitt bewundern zu können. Freilich geht es auch anders. Man kann mit Zahnstochern auch im Teig herumwurschteln, dann kommen halt andere Muster dabei heraus. Letztlich wird der Marmorkuchen so und so auch verspeist. Nur aufgepasst, das mit den Zahnstochern meine ich. Wenn einer nämlich abbricht und Du merkst es nicht, na dann …
Es könnte an einem Freitag gewesen sein. Oder war es doch der Mittwoch? Im Grunde ist es ja egal! So gegen drei Uhr nachmittags war´s auf alle Fälle und ungefähr zwei drei Wochen vor Weihnachten war’s auch. So ungefähr dürfte das mit der Zeit schon hinkommen. Also da klopfte es halt an meiner Wohnungstür. Klopfen ist zwar nicht der passende Ausdruck dafür. Es bumperte eher, und zwar ordentlich laut, obwohl eine elektronische Bimmel-bammel-bummel-Einrichtung, mit gut sichtbarem roten Druckknopf draußen rechts an der Wand, gleich neben meiner Wohnungstür, verfügbar gewesen wäre.
Leise, ohne den geringsten Lärm zu machen, schlich ich mich an die Tür heran, guckte durch den winzigen Spion hinaus - und sah – nichts! Gleich darauf bumperte es abermals, immerhin nicht mehr so laut, aber doch laut genug, dass ich beinahe einen Schreck bekommen hätte, wenn ich von Natur aus schreckhaft gewesen wäre. Also gut, ich habe mein Herz aus dem Hosenboden wieder in eine halbwegs normale Stellung gebracht und mich entschlossen, einen winzigen Spalt der Türe zu öffnen.
Und da stand sie - die Bernie. Sie wollte mich ja nur besuchen, sagte sie, weil es ihr bei ihrer Oma, die ja unter mir wohnt und noch dazu Valentina Feitelkramer-Froschkopf heißt, fad ist. Die Frau kennst Du ja auch schon zur Genüge.
Auch gut dachte ich mir, Bernie möchte wahrscheinlich einen Marmorkuchen. Ich habe am Vormittag wieder einen gebacken. Der Duft von Schokolade und Vanille dürfte sich wieder einmal im Haus verbreitet haben. Es war also kein Geheimnis. Ich habe frischen Marmorkuchen in Bereitschaft.
Am Küchentisch stand schon ein Kuchenteller mit einem verführerischen Stück davon und daneben stand eine Tasse Kaffee.
Bernie war schon sehr aufgeregt, als sie hereinkam. Sie war in Erwartung, nach einer Zeit der Entbehrung, ein Stück Marmorkuchen von mir zu kriegen und genüsslich schnabulieren zu dürfen. Rasch holte ich noch ein Teller aus dem Küchenkasterl heraus und schnitt ein großes Stück vom Marmorkuchen ab. Ich weiß es ja, Bernie ist ein kleines Schleckermäulchen.
Was Bernie mir dann in ihrer Erzählfreude bei einem lauwarmen Kaukau und Marmorkuchen alles brühwarm auf den Tisch geklatscht hatte, könnte ich beim besten Willen nicht mehr zur Gänze reproduzieren, wenn ich mir nicht einerseits Notizen gemacht und als Ergänzung heimlich stückweise das Gespräch mit meinem Smartphone aufgenommen hätte.
Ich versuche halt so gut es eben geht, Dir hier und jetzt die teilweise sehr leidenschaftlich hervorsprudelnde Erzählfreude, die aus dem Mund der Bernie, gekonnt vermischt mit Kuchenbröseln und Rührankaukau einigermaßen zusammenhängend zu berichten.
Nur eines noch! Bitte sei so gut und erzähle die folgenden Episoden von Bernie nicht an unsere gemeinsamen Freunde weiter, sonst würde ich mir womöglich noch ein weiteres Problem mit meiner unteren Nachbarin, der Valentina Feitelkramer-Froschkopf, aufhalsen.
Also pass obacht, was die Bernie mir – keineswegs immer mit vollem Mund - so alles ausgesprochen hatte. Freilich hat sie einiges auch angesprochen, über das ich nicht bereit bin, auch nur Fragmente dieser Wortfetzen in einem Zwischenraum meines Tagebuches einfließen zu lassen. Bernie verwendete halt ihre kindgerechte Sprache. Fallweise ist auch auf der Dialektebene ausgerutscht. Mein Gott was soll´s. Diese sprachlichen Rutschpartien habe ich ohnehin, soweit es mir möglich gewesen ist, in ein verständliches Tohuwabohu umzuwandeln versucht, aber ihr keinesfalls eine verfremdete Sinndeutung gegeben.
„Du weißt es ja, Oma Schani (Oma Schani sagt sie, seit sie sprechen kann zu mir), ich mag ja deinen Marmorkuchen sehr gerne. Kann ich bitte noch ein kleines Stück davon haben?“
Bernie zeigte mir mit ihrem rechten kleinen Zeigefinger und dem noch kleineren Daumen daneben, einen Zwischenraum andeutend von vielleicht drei vier Zentimetern.
„Die Mama und die Oma sind eh nicht da. Weil übermorgen werde ich nämlich fünfeinhalb Jahre alt. Das hat mir meine Mama gesagt! Eigentlich gehe ich furchtbar gerne gar nicht mehr in den Kindergarten. Aber dem Papa und der Mama, auch meinen zwei Freundinnen und dem Baldi sowieso, erzähle ich halt gerne meine Erlebnisse. Ja, ja, freilich dir auch.
Dem Pauli interessiert das gar nicht, wenn ich vom Kindergarten mit ihm reden möchte. Der verkriecht sich in seinem Zimmer und macht angeblich seine Schulaufgaben. Das sagt er jedenfalls der Mama und ich muss ihn daher in Ruhe lassen. Dass ich nicht lache. Dir Oma Schani darf ich es ja sagen. Und du versprichst mir hoch und heilig, dass du es niemanden weitererzählst. Versprochen?
Danke, dass ich mit Dir über meine Geheimnisse reden darf. Weißt du, der Pauli versteckt sich unter seinem Stockbett und dort spielt mit dem Tablet vom Papa. Das weiß ich ganz genau. Wenn der Pauli in der Schule ist, dann klemmt er vorher das Ding von unten zwischen die Matratze und dem Holzdingsbums ein. Niemand kann es sehen. Nur wenn man unters Bett kriecht, so wie ich, dann schon. Und der Papa sucht schon die längste Zeit sein Tablet. Ich hätte es ihm ja schon sagen können, wo es steckt, aber er gibt mir keine Belohnung für meinen Deut. Der Pauli schon. Er hat mir für mein Schweigen zwei Euro geschenkt, das müsste der Papa schon mit einem Fünfer überbieten, damit ich ohne schlechten Gewissen meinen Bruder verpetzen kann.
Also schau Oma Schani!
Im Kindergarten tun sie alle so, als wären sie sehr nett zu mir. Fast alle - das stimmt ja dann auch wirklich. Nur die Marika, die blöde Kuh, und der Sven sind doof. Denen zwei verstecke ich dann hin und wieder ihre Hauspatschen und lege sie einfach nur ins Schuhregal im Oberstock ab, wo die andere Gruppe der Ganzkleinen spielt. Die suchen dann wie verrückt und auch unsere Kindergartentante schimpft dabei.
Aber nur eine Kindergartentante bei uns ist immer grantig. Sie heißt Berta und schaut jedes Mal so Berta-böse drein, wenn jemand von unserer Gruppe nur so aus Spaß Tante Berta ruft. Oder etwas tut, was ihr gar nicht passt. Lange Nase machen, das gefällt ihr gar nicht. Oder gar die Zunge herausstrecken. Ich weiß, das tut man nicht. Ich tue es auch nur bei Notwehr. Schau wir müssen uns doch auch wehren. Oder? Danach schaut Berta noch böser drein und schlackert wie eine Wilde mit ihrem klappdürren Zeigefinger. Nur wenn’s ganz arg laut zugeht, dann schüttelt sie sogar ihre Faust pfeilgrad in die Höhe. Aber mit mir schimpfen tut sie eh nicht mehr. Das hat ihr der Papa beim Elternsprechtag verboten, sagt er.“
Eigentlich wollte ich Bernie nicht unterbrechen, aber sie hatte offensichtlich mit einer inneren Wut auf die Berta, mit einem heftigen Zug den Kakao ausgetrunken. Gleich darauf wollte ich ihr schon nachschenken. Sie kam mir aber zuvor und unterbrach ihre Erzählung nur mit einem Satz:
„Oh ja, bitte ein paar Schluck Kaukau mag ich auch. Danke. Aber dein Kuchen ist einsame Spitze. Die Oma da unten kann das nicht so gut und der Opa …? Das weiß ich nicht, ob der überhaupt Kuchenbacken kann. Er bekommt ja von der Oma nicht sehr viel Kuchen. Ich auch nicht.
Da ist schon die Manuela eine ganz andere. Weißt du, die ist nicht so groß wie die andern drei Tanten, weil sie immer am Boden mit uns herumrutscht. Ihre Jeanshose hat wahrscheinlich deshalb schon mehrere Löcher. Ihre beiden Knies schauen nackert heraus. Die Mama sagt, das sei modern jetzt. Ich weiß nicht so recht. Die Manuela lächelt uns Kinder den ganzen Vormittag an. Weil am Nachmittag bin ich sowieso nicht da. Und gerade am Nachmittag soll sie nervöser werden, so sagt das halt der Baldi. Und der Baldi ist mein Freund, weißt du. Und der muss halt bleiben …
Na ja, eine richtige Tante soll die Manuela auch noch nicht sein. Sie wurde noch nicht getadelt oder wie das heißt. Jedenfalls darf sie alles im Kindergarten tun. Auch mit der Gitarre spielen. Das kann sie so gut und sie singt auch mit uns. Und die Tante Berta kann das gar nicht. Singen meine ich. Sie krächzt nur zum Gaudium von uns Kindern herum. Dann wird sie gleich noch böser und stampft davon. Berta ist auch viel älter als die Manuela. Und nächstes Jahr wird sie die Chefin sein. Die Manuela meine ich.
Ja, ja der Kaukau ist spitze Oma Schani. Kann ich noch einen Schluck Wasser drauftrinken. Danke.
Aldi ist auch in meiner Gruppe. Eigentlich heißt sie Aldilina und kommt von ganz weit her. Sprechen kann sie, sag ich dir, sogar eine ganz andere Sprache. Wir Kinder verstehen sie ganz gut, wenn so herumdeutelt. Manuela auch. Nur die böse Berta hat kein Verständnis. Aldi redet halt ein bisschen komisch Deutsch. Einmal komisch war sie auch in der Pause. Sie musste aufs Klo. Und ich auch. Wir gingen dann zusammen ins Mädchenklo. Aldi lief gleich ganz aufgeregt hinaus aus dem – wie heißt man den das nur – aus dem Klo natürlich. Sie sagte irgendwas Komisches und meinte hinter dem – Du weißt schon – steht ein Igel.
Manuela begann laut zu lachen. Nein, nein, Oma Schani, sie musste sich sogar den Bauch halten vor lauter Lachen. Geweint hat sie auch nebenbei. Ich und Aldi wussten nicht warum. Manuela erklärte dann der Aldi das ist doch kein Igel nicht, sondern ein Klo Besen. Aldi war ganz blass geworden und sagte zur Manuela, die Mama macht das bei ihr immer mit dem Papier. Daraufhin musste die Manuela von der Tante Greti abgelöst werden.
Wir sind ja die Schneckerl-Gruppe. Weißt du, an der Tür hängt eine Riesenschnecke mit einem riesigen rosaroten Schneckenhaus und mit einem Sattel obendrauf. Da könnte man sich hinaufsetzen, wenn es eine wirkliche Schnecke gewesen wäre. Aber es ist nur ein Bild – schade.
In unserer Gruppe ist auch die Tante Greti dabei. Sie wohnt im Kindergarten obenauf, und wenn sie stressig ist, dann hat sie noch so groooße grüne und orange Lockenroller und auch Mikadostaberl im Haar drin stecken. Einmal hat sie der Baldi so der Hand gezupft und gefragt: Tante Greti wie viele Fernsehprogramme kannst du mit deiner Antenne empfangen ...?
Da haben wir Mädchen alle laut gelacht und den Baldi aufgeklärt. Weil er als Bub kannte diese Haarverdrehspielereien überhaupt gar nie nicht. Weißt Du, seine Mama Rita, hat extrem kurze Haare und manchmal sind sie auch noch rot. Na ja, sooo rot nicht, eher sogar dunkelrot bis lila. Im Sommer sind sie sogar grellgrün. Der Papa meint dann ihre Haare wären ein Futter für die Elefanten. Weil sie so groß auch noch ist. Sie bringt den Baldi selbst alle Tage mit dem Auto zum Kindergarten. Nur abgeholt wird er meistens von seiner Oma.
Du Oma Schani!
Obwohl ich nicht sehr gerne in den Kindergarten gehen will, taug´s ma do scho a. Ich kann mit den andern Kindern herumtoben und tanzen, so wie ich möchte und werde nicht von vorne bis hinten immer nur bemuttert und bemuttert und bemuttert. Freilich darf ich dort im Kindergarten-Garten auch herumlaufen und werde nur ab und zu von der Manuela eingebremst. Weil draußen steht sie ja herum, passt auf und raucht auch manchmal ganz heimlich eine Zigarette. Das tut sie aber nur wegen der lästigen Bremsen, sagt sie. Und deswegen glaube ich halt, ist sie auch viel größer als drinnen.
Doch der Papa sagt … ja bitte ein Schluck Wasser, mein Mund trocknet schon fast aus … der Papa meint, Zigarettenrauchen darf man eigentlich im Kindergarten nicht. Auch nicht wegen der Bremsen. Ich tu das sowieso nicht und der Baldi hat das bestimmt auch noch nie probiert.
Laura heißt sie. Sie ist meine Freundin. Der Baldi mag sie auch, aber nur wegen ihrer Puppe. Die heißt auch Laura und hat hinten einen gelben Stern auf ihrem Kleid. Nein, die raucht sowieso nicht. Puppen können das doch gar nicht.
Normalerweise braucht die Manuela das auch nicht tun. Also mich einbremsen, meine ich. Weil manches Mal bin ich sogar ein folgsames kleines Mädchen, das sagt sogar meine Mama, wenn sie gut aufgelegt ist. Aber der Papa sagt das öfters zu mir. Zuerst hebt er mich auf seinen Schoß, erzählt mir irgendeinen Blödsinn, und wenn ich den nicht verstanden habe, dann meint er ich sei ein braves Mädchen.
Aber der Tomi nicht. Der ist nicht brav, weil er ein Polizist werden möchte. Jawohl das hat er uns gesagt, als wir alle zusammen, und die drei Tanten, mit dem Bus zur Polizei gefahren sind. Zurück sind wir dann mit dem Zug gefahren. Die Schaffnerin kontrollierte die Fahrkarten. Wir Kinder hatten keine, dafür bekamen wir eine. Nicht alle, aber vier oder fünf waren es schon. Ich habe auch eine gekriegt, schau … Ich habe sie auch schon bemalt.
Nein danke, Marmorkuchen mag ich keinen mehr, aber bitte kann ich den Schokoregenschirm, ja genau den dort drüben mit dem roten … danke Oma Schani …
Bei der Polizei haben wir uns alles Anschauen dürfen, aber nichts angreifen. Das war blöd. Eine junge Polizeifrau hat uns herumgeführt. Sie hat uns auch jede Menge Fotos von Gaunern gezeigt die gesucht werden. Ich habe keinen wiedererkennen können und der Baldi auch nicht. Die Manuela durfte sogar hinter die Gittertür gehen. Nur rauchen durfte sie nicht dabei. Überall Rauchverbot hat man uns gesagt.
Viel g’scheiter wäre es gewesen, wenn die Polizeifrau die Tante Berta hinter Gitter gebracht hätte. Nicht die Manuela. Aber die Tante Berta wollte und wollte nicht, freiwillig schon gar nicht, obwohl wir Kinder geklatscht haben und obendrein eine Mordsgaudi gehabt hätten, wenn sie eingesperrt worden wäre. Aber nichts da! Wir wurden sie nicht los. Niemand wurde eingesperrt, auch der Tomi nicht. Und der hat draußen dann die Tante Berta gefragt, warum die Polizei zuerst von den Gaunern Foto macht, und die Leute dann wieder freilässt. Ja und dann wieder von vorne anfängt sie zu suchen … Das hat nicht nur der Tomi nicht verstanden, auch die Tante Berta nicht - und ich auch nicht.
Ich darf bis morgen bei Oma und Opa bleiben, weil der Papa und die Mama ins Theater gehen. Der Pauli schläft eine Nacht bei seinem Freund Peter. Ach ja, in unserer Schneckerl Gruppe haben wir zwei Buben, die Peter heißen. Der eine ist der blonde Peter und andere der Schwarze Peter. Ja und Schwarzerpeterspielen tu ich manchmal daheim auch. Nur der Pauli wird immer gleich so wütend, wenn er den Schwarzen Peter als Letzter von uns in die Hand bekommt.
Aber jetzt muss ich gehen, weil sonst muss mich die Oma abholen, obwohl sie leise zum Opa einmal gesagt hat – da geh ich um alles in der Welt nicht rauf. Ich schon.
Pfiat di i Oma Schani, morgn kimm i wieda “.
Mit dieser lieblichen Androhung verließ sie, nach dem ich ihr die Wohnungstüre geöffnet hatte, ohne sich umzudrehen meine Wohnung.
Einen Tag später!
Es war gegen halb drei Uhr am Nachmittag. Es pumperte jemand so laut gegen meine Wohnungstür, dass ich als leicht Hörbehinderte es auf jeden Fall mitkriegen musste. Eine leise Vorahnung hatte ich schon, wer das sein könnte. Sicherlich die Bernie. Gestern schon hatte sie mir ihren heutigen Besuch angekündigt. Ich öffnete einen schmalen Spalt von meiner Wohnungstür. Tatsächlich, es war Bernie!
Gestern war sie mit einem blauen Freizeitanzug bekleidet. Na ja, auch hübsch, könnte man behaupten wollen. Aber heute war sie fesch. Einfach fesch. Sie trug ein zart mit Blumen gemustertes helles Kleid mit einem nur angedeuteten, aber gebundenen Brustteiler und dazu leider unpassende klobige Hauspatschen. Diese unförmigen Beschützer ihrer sehr kleinen Füße wurden von ihrer Großmutter gemacht, sagte Bernie einmal zu mir voll Stolz.
Bernies halblange mittelbraune Haare wurden wahrscheinlich von ihrer Mama kunstgerecht mit zwei Zöpfchen, die mit jeweils einer kleinen roten Masche geschmückt gewesen sind, kindgerecht drapiert. In ihrer linken Hand hielt sie Anton. Den kannte ich auch schon eine Zeitlang.
Du musst nämlich wissen, Anton ist so eine zerlumpte Stoffpuppe, eine typische Fetzenpuppe halt, mit frisierunfähigen, langfransigen, grellroten und querstehenden struppigen Wollhaaren. Die passten überhaupt nicht zu einem Anton. Eher schon zu einem – wie heißt er gleich – egal. Nein, das ist nicht egal glaube ich. Allerdings fällt mir grade der Name von der quirligen Geisterpuppe nicht ein. Du kennst diese Figur bestimmt, wo auch der der Meister Eder ...
Anton hat auch zwei aufgemalte, gleichermaßen freche wie lustige Augen und drunter einen gezeichneten Strichmund. Nicht einmal eine Nase hatte der Anton mehr, die man ihm hätte putzen können. Na ja, wenn er, wie schon so oft, einen Niesanfall bekommt, den er zwar nur über ihre Besitzerin anzudeuten vermochte.
Auch die Hände und Füße von Anton waren eine schlapprige Angelegenheit. Sie konnten in alle Richtungen bewegt werden. Nicht so wie der Bauch und der Kopf. Die waren offenbar kerniger ausgestopft. Und die hellbraunen Stoffüberzüge derselben waren schon so stark abgegriffen, dass ihre darunter versteckten Innereien zum Durchschimmern angehalten waren. Aber sieh Dir doch das an: Das Hemd von Anton wurde offenbar aus demselben Stoff geschneidert, wie das Kleid von Bernie! Nur die halblange Hose war hochmodern. Die war nämlich löchrig und mit Kaukauflecken übersäht.
Schlagfertig war Bernie immer schon gewesen. Und sie weiß ganz genau, was sie will. Sie weiß freilich auch, dass es bei mir hier oben immer einen Marmorkuchen gibt. Fast immer, das würde der Wahrheit entsprechen. Leider kann sie draußen an der Türglocke noch nicht läuten, weil sie mit ihren kurzen Händen, ihren kleinen Fingern und trotz ihrer klobigen Hauspatschen den Druckknopf der Glocke noch nicht ganz erreichen kann. Es fehlen ihr gut und gerne noch knappe zwei Zentimeter. Nächstes Jahr wird’s dann schon gehen. Deswegen muss sie halt noch immer an meine Wohnungstür pumpern.
Na ja, ich habe sie ja schon erwartet. Gestern hatte sie mir jede Menge über ihren Kindergarten erzählt. Heute wird sie höchstwahrscheinlich mich mit ihrer ausgeprägten Vorwitzigkeit unterhalten wollen, dachte ich mir und war daher auf jede Überraschung vorbereitet. Umgekehrt war ich ja neugierig, mit welchen der Fantasie zugeordneten, abenteuerlichen Gschichterln ihr Kindermund mich gleich einmal überraschen werden wird.
In der Küche, auf der Eckbank, hatte sie ihren Stammplatz. Um die Ebene des Küchentisches für Bernie problemlos erreichbar machen zu können, musste ich erst einige Polster zurecht und aufeinanderlegen, auf die sie sich dann draufsetzen konnte. Die Gefahr bestand ja nur beim Kaukau. Da kann es sehr leicht passieren, dass der abgebogene Plastikstrohhalm, der für sie als Trinkhilfe an sich praktisch sein kann, dann aber doch für Überschwemmungen am Tisch die Verantwortung trägt. Kaukauflecken, vor allem auf ihrem Kleidchen, sind dann schon weniger erfreulich. Solche sollten jedenfalls für ihre Mama unsichtbar bleiben. Beim Anton ist es so und so wurscht. Der hatte ja schon lebenslang auf seiner Hose jede Menge Kaukauflecken angesammelt.
Um Dir wieder einen fast lückenlosen Bericht über Bernies Erzählfreude machen zu können, habe ich vorgesorgt. Noch gestern am späten Abend habe ich die Stromversorgung bei meinem Smartphone auf einhundert Prozent hinaufgetrieben. Jetzt am Nachmittag liegt der Ladezustand immerhin noch bei dem ansehnlichen Wert von knapp über neunzig. Das dürfte für einen halbstündigen, ohne Unterbrechung geführten Monolog, von Bernie ausreichend sein.
„Weißt du Oma Schani, ich bin immer dann ganz brav, wenn ich bei dir bin oder beim MAXI Markt. Im Kindergarten auch, aber nur manchmal. Im MAXI Markt überhaupt, wenn die unruhige Zeit hereinzubrechen droht.
Oma Schani das ist gewaltig. Dann kommen nämlich aus den versteckten Lautsprechern dort oben Werbedurchsagen über die gestrigen Krapfen heraus. Dieses Getue mit Vanillesoße vermischt sich dann mit der weniger heiligen Musik. Alles zusammengerechnet muss einen Schall erzeugen, der meiner Mama ordentlich am Nerv zwickt. Das sagt sie es jedenfalls. Mir ist das wurscht. Ich esse eh keine Krapfen. Einmal schon. Aber da spritzte schon beim Hineinbeißen die Marmelade heraus und der Mama direkt in Gesicht. Seither esse ich keine MAXI Markt Krapfen mehr.
Nein danke, Wurscht mag ich heute keine nicht. Aber wenn du vielleicht … genau jaaa jaaa das bitte, wenn du noch ein kleines Stück vom Marmorkuchen von gestern für mich übrig hast … das ist super Oma Schani … Nein, danke, Kaukau soll ich heute keinen mehr trinken bei dir, hat die Mama am Telefon gesagt … ich war gestern am Abend noch vertropft … Aber Milch mit ein bisschen Ovomaltine oder wie das heißt, wäre auch gut. Es schaut zwar aus wie Kaukau, ist aber keiner und die Mama kennt sich eh nicht aus.
Weißt du, wegen der Musik beim MAXI Markt stöpselt sich der Papa immer seine Ohren mit einem Taschentuch zu. Das schaut dann obercool aus und die Mama geht dann nicht mehr mit ihm nebenher, wenn die weißen Fetzen vom Papiertaschentuch aus seinem Ohrwascheln heraushängen. Ich schwör dir, der Papa hört und sieht dann nichts mehr. Und die Mama zwickt mit einem irren Tempo mit dem vergitterten rollenden Einkaufswagerl zwischen die Regale hindurch. Ich hab auch einmal so einen schweren Wagen schieben dürfen. Der Papa hat mir das erlaubt. Sehr weit ging das allerdings nicht gut. Nur so um die Kurve halt - bis hin zur Pyramide.
Hast du bitte ein Stück Küchenrolle – ja nass bitte – mein Mund ist wahrscheinlich genauso voll mit Marmorschokolade, wie meine Hände … schau … mhh danke, das hast du gut gemacht …
Also ich schob ihn bis zur Pyramide. Stell dir vor, die hat jemand mit Bohnendosen gebaut. Das war vielleicht ein Hallo, sag ich dir. Sogar der Papa mit den Taschentuchohrstöpseln kam gleich darauf angebraust und wäre beinahe mit einer vollen Bohnendose ohne die zu bezahlen - verstehst du - bei der Kassa vorbeigerollt. Beinahe ist nicht ganz richtig. Es waren schon zwei oder drei solche Dosen, mit denen er wie eine Rakete davongeschossen ist.
Ich durfte ja nicht einmal lachen, weil mir selbst schon das Grinsen von der Mama, die irgendwo in der Nähe mit einer Regalwanderung beschäftigt gewesen ist, verboten worden ist. Danach dürfte der Papa auf seiner Bohnendosenflucht obendrein noch mit einem halbleeren Einkaufswagerl zusammengestoßen sein. Er brachte schließlich dieses willen- und frauenlose Gefährt ungebremst bis zur Kassa drei hin. Aber genau dort war so ein Sperrbalken und der hat zum Glück meinen Papa wieder aufgefangen.
Ovomaltine hast du keine? Ist ja egal. Wenn du der Mama nichts davon sagst … Oma Schani - dann wäre mir ein Kaukau viel, viel lieber als eine lauwarme Milch … einen Tee? Nein danke, ich bin ja nicht krank.
Ich kann aber nichts dafür für den Zusammenstoß, weißt du. Das sage ich gleich dazu. Weil ich gar nicht nach vorne geschaut habe. Und dort vorne stand dann die angeblich schön aufgestapelte Dosenpyramide mit roten Bohnen, grünen Erbsen sogar Ananasscheiben waren dabei. Stell dir das einmal vor. Ein kleines Stück weiter vorne stand eh schon die Mama.
Die Verkäuferin war der Meinung, es war eine schön aufgestapelte Pyramide. Sie musste dann die herumrollenden Dosen einsammeln und irgendwann wieder aufbauen. Weil auch ihr Chef, der böse dreingeschaut hatte, daher gekommen ist und ihr den Wiederaufbau genehmigt hatte.
Ganz ehrlich und das kannst du mir schon glauben – Oma Schani - schuld war wirklich nur der Papa, weil er hat mich alleine mit Wagerl herumkurven lassen und ich wollte nur damit zu ihm hinfahren. Und so teuer sei das auch nicht gewesen, hatte er daheim zur Mama gesagt. Nur von der Versicherung hat er noch nichts gekriegt, weil heuer schon zweimal die Versicherung bei uns – allein schon wegen meiner Unfälle - zahlen musste. Und zum Doktor musste er auch nur zweimal hingehen. Wegen der Dosenverstauchung des Scheißbeins. Nein, nein, Oma Schani, so hat das auch die Mama gesagt.
Schau mal, wie gerne würde ich einmal die herumliegenden Spielsachen beim MAXI Markt berühren oder gar angreifen. Aber nichts da. Die Mama hat dafür keine Zeit nicht. Sie lässt sich mit ihrem Einkaufszettel, den sie fast immer in einer Hand hält und mit der anderen den Wagen vor sich herschiebt, von einem Regal zum anderen hetzen.
Oma Schani, hast du den Mann im Fernsehen gesehen? Nicht? Ich meine, den mit der Schildkrötenpuppe, die in Wirklichkeit ein Geldspukautomat sein soll, aber es eh nicht ist. Und sprechen tut sie auch mit dem Mann. Der Papa sagt der Mann ist ein Bauchredner. Ich kann nur mit dem Mund reden, das mit dem Bauch habe ich schon oft probiert, das geht nicht bei mir. Die Schildkrötenpuppe sagt dann zu dem Mann – hetz mich nicht. Dann muss ich immer so laut lachen, dass die Mama aus der Küche herbeigeeilt kommt. Also hetz mich nicht, sagt dann auch der Papa zur Mama. Vor drei Wochen hätte er nur eine Schraube beim Küchenkasterl festgemachen sollen. Er tat es aber bis heute nicht. Und das Küchenkasterl kam dabei fast zum Einsturz.
Ich glaube an der Hetzerei beim MAXI Markt ist der Ultraschall schuld. Na ja, der Schall halt dort oben, der aus den Lautsprechern ständig herausrieselt. Weil die Mama bleibt ja auch fast nie für einen kleinen Moment an so einem Spielzeugregal stehen. Da muss ich schon zum Husten anfangen, dann hält sie kurz an und ich kann zum Spielzeugregal hinüber flüchten. Aber immer funktioniert mein Trick auch nicht.
Mama murmelte immer leise so vor sich hin, zeigte mal auf diese und mal auf die anderen bunten Schachteln und will mir allen Ernstes einreden, dass der ganze Krempel dort hinten in der Ecke erst vom Christkindl abgeholt werden soll.
Bitte das ist doch purer Blödsinn. Das glaubst du wohl auch nicht, Oma Schani, oder? Aber das darf ich der Mama nicht sagen, weil die glaubt noch, dass ich es auch glaube.
Schön langsam bekomme ich wieder einen Appetit auf ein kleines Stück. Hast du noch irgendwas davon? Vom vielen Erzählen werde ich hungrig auch noch. Ja genau der Marmorkuchen, der ist Spitze. Bitte kann ich noch ein kleines Stück Marmorkuchen haben? Freilich schmeckt er mir gut. Sogar die Mama sagt immer, deinen Kuchen würde sie niemals unseren Hund geben, wenn wir einen hätten. Und die Oma – da unten – hat nie einen und wenn, ist der so staubtrocken, dass der Opa immer seine Ohren zuhalten muss. Warum? Das ist doch ganz klar! Er sagt es ja selber, dass der Kuchen, wenn er ihn essen würde, bei seinen Ohren links und mehr noch rechts hinausstauben würde. Da wird dann die Oma grantig und nimmt meinem armen Opa den ganzen Teller einfach weg. Wir beide flüchten dann ins Kinderzimmer, wo wir ein geheimes Versteck für besondere Ausfälle haben. Das ist aber leider so weit oben, dass es nur der Opa erreichen kann. Schokobons und Kekse gibt’s da. Das ist die Geheimwaffe gegen den verstaubten Kuchen von der Oma.
Ja, ja genau! Das mit Christkindl! So einen Blödsinn erzählt die Mama mir immer und immer wieder. Ich werde wie eine Gefangene im Einkaufswagen von ihr herumgeschubst und kann nicht ausbrechen. Oma Schani ich sage dir, ich habe dabei nicht einmal die geringste Möglichkeit, so ein rotes Plastikauto anzugreifen. So was geht doch nicht. Oder? Angeblich wird das Christkindl das Auto später einmal zu irgendeinem Tomi oder vielleicht gar zum Baldi hin bringen. Und das weiß ich bestimmt: So etwas ist eigentlich unmöglich!
Ganz klar! Also schau, liebe Oma Schani – ganz ehrlich das weiß doch jeder. So ein kleines Christkindl, das angeblich noch mit Windeln auf Stroh oder so einem Zeugs in einem Gitterbetterl liegt, das hat doch bitteschön überhaupt keine Schanze nicht, so ein mordsdrum Plastikauto, ob es jetzt Rot oder Blau ist, irgendwem, und dem Tomi schon gar nicht, hinzutragen. Die Greti bei uns im Kindergarten hat auch eine kleine Schwester mit gut einem halben Jahr. Die soll zwar nicht auf Stroh liegen aber immerhin braucht sie noch Windeln. Selbst die könnte das nicht machen, obwohl sie eigentlich schon älter sein müsste als das Christkindl, das immer erst zu Weihnachten auf die Welt kommt.
Na gut, wenn schon … aber erstens wohnt der Tomi nicht im Ort, sondern viel weiter droben bei den gelben Siedlungshäusern. Ja und zweitens hat er schon eines. Das weiß ich genau. Ein Gelbes hat er. Na ja und! Ob Gelb oder Rot, das ist doch schnurzi pfurzi egal. Oder nicht?
Der Baldi hat nur einen Bagger und er könnte schon, wenn ich es mir so recht überlege, einen Plastiklastwagen dazu brauchen. Noch dazu wohnt er drunten am Baggersee. Da könnt das Christkindl mit ihrer Mama sogar mit dem Boot hinfahren. Weil alleine schwimmen, das würde die Mama vom Christkindl auch nicht gerne sehen wollen. Bei dieser Kälte draußen vor dem MAXI Markt würde sich das Christkindl bestimmt auch verkühlen. So stell ich mir das vor. Weil die Moni in unserer Gruppe ist schon eine Woche krank. Die hat sich auch verkühlt und ist nicht im Baggersee herumgeschwommen.
Und jetzt frag ich dich, Oma Schani, warum soll ich nicht das rote Plastikauto beim MAXI Markt angreifen dürfen, wenn der Baldi ohnehin mein Freund ist.
Ich versteh das nicht. Da wird man in so einem vergitterten Unikum hineingedrückt. Und viel zu klein bin ich auch noch. Daher ist es ja gar nicht möglich, dass ich aus dem vergitterten Einkaufswagerl so mir nichts dir nichts herauszukraxeln hätte können. Das geht einfach nicht! Verstehst du mich.
Oh je jetzt habe ich mein Taschentuch bei der Oma unten vergessen. Danke ein Stück Küchenrolle geht auch. Ja danke, der Kaukau war gut und jetzt ist eh nichts mehr drinnen, sonst wäre er ja bestimmt schon kalt geworden.
Also schau! Ich muss in dem rollenden Käfig so lange drin sitzenbleiben, bis mein Papa oder die Mama die Ungefährlichkeit meiner Bewegungen von mir verlangt, sozusagen ich solle brav mich am Wagerl anhalten und nebenher gehen. Die Versicherung zahlt angeblich keine von mir verursachten Schäden mehr. Der letzte Bohnendosenunfall war genug, das sagte jedenfalls der Versicherungsmensch zum Papa.
Wenn ich nun der Mama das heilige Versprechen abgegeben hätte, brav neben dem Wagerl zu bleiben, dann wäre ich vielleicht aus dem Gefängnis herausgekommen. Weil ohne ihre Hilfe könnte ich das ja gar nicht. Auch nicht einmal könnte ich den klitzekleinsten Fluchtversuch unternehmen, geschweige denn in so ein Prachtexemplar von einem roten Plastikauto hineinzusteigen.
Wenn nur ich und mein Papa im Geschäft gewesen wären, dann hätte er mir das sicherlich nicht verboten. Erstens hört er im MAXI Markt kaum was und zweitens schaut er nur so herum oder auf die Uhr. Die Mama braucht nämlich viel zu lange zum Einkaufen. Wenn sie beispielweise zwei Paprika, oder sagen wir vier, also einen grünen, einen gelben und zwei rote kaufen möchte, na ja, dann kann es schon sein, dass sie fast so viel Zeit verplempert, wie der Papa braucht, wenn er eine Tageszeitung von vorn bis hinten durchliest.
Nur der Papa hätte mich auch nicht in den Einkaufswagen hineinsetzt, weil er nimmt ja seit meinem Dosenunfall nie mehr einen mit. Das macht nur die Mama. Bei ihr muss ich mich in so einen hineinzwängen und das immer nur vor Weihnachten. Begreifst du das? Ich kann doch gehen! Schau her, bitteschön, geht doch. Oder?
Der Papa setzt sich ja selbst auch manches Mal hinter ein Lenkrad von einem tollen Gebrauchtwagen. Die Knallroten sind ihm am Liebsten. Dabei tut er so, als gehöre das Vehikel eh schon uns. Aber Schneckn!
Von der Mama kann ich noch viel lernen. Sie ist eine tolle Schauspielerin. Du kennst sie ja ein bisschen. Sie macht das ganz genauso wie die Frau – ich weiß nicht, wie sie genau heißt – Stöckelschuh oder so ähnlich. Ja genau, die bei den Rosenheim-Cops mittut! Ist eh egal. Das schau ich manchmal zusammen mit der Mama an, bevor ich ins Bett gehen muss.
Also die Mama greift dann langsam in ihre rote Umhängtasche hinein. Sie macht das genauso langsam wie die Frau Stöckelschuh, damit es ja alle rund um uns sehen können. Sogar auch mein größerer Bruder der Pauli könnte das beobachten, wenn er zufällig mit von der Partie ist. Der Pauli ist nämlich auch so Auto narrisch, wie der Papa.
Ja, bitte gerne, noch ein bisschen warmen Kaukau dazu, das freut sicherlich auch den Marmorkuchen in meinen Bauch. Aber nichts meiner Mama sagen … und der Oma bitte auch nicht.
Weißt du, sie hat zuhause auch eine blaue, ja eine Handtasche halt, die nimmt sie aber nur dann, wenn sie alleine ist oder mit mir zum Einkaufen geht.
Also gut nochmal! Für dich ganz alleine Oma Schani zum Mitschreiben. Sie zieht dann aus der roten Tasche sehr, sehr langsam ihre Geldbörse heraus, öffnet sie auch nur so zum Schein - genauso tut sie das, so wie ich jetzt dir zeige - dann schüttelt sie mit einem aufgepressten ernsten Gesichtsausdruck ihren Kopf hin und her, nimmt die Geldbörse in die andere Hand, ja genau wie im Film die Frau Stöckelschuh bei den Rosenheim-Cops, und gibt sie wieder in die rote Umhängetasche zurück. Das war’s dann. Ich weiß bis heute nicht, was das sein soll. Aber ich glaube der Papa kapiert das auch nicht.
Du Oma Schani, was sind eigentlich Cops? Kann man die Cops lutschen oder einkleben. Aha - so net …
Wahrscheinlich will die Mama mit ihrem Geldbörserltrick mir und dem Papa damit nur weißmachen, dass sie im Moment halt etwas zu wenig Kleingeld hat. Und schon wurde Papas Traum wieder einmal weggewaschen. Nein, nein, geweint hat er nie. Gemotzt hat er schon. Aber zur Strafe muss er sich wieder in seine - nicht in unsere, so sagt das auch die Mama - alte verbeulte Blechkiste hineinzwicken. Ich habe ja einen funkelnagelneuen grünblau gestreiften Kindersitz, den der Papa irgendwann einmal bei einem Flohmarkt beim MAXI Markt um sündteure dreizehn Euro gekauft hatte. Aber da war mein Bruder der Pauli schon zwei Jahre alt und jetzt geht er schon längst in die Schule und den Kindersitz braucht er ja nimmer.
Ach ja, ich muss dir doch noch schnell die Geschichte vom Kindergarten erzählen. Die habe ich nämlich gestern vergessen. Du weißt ja noch, aber ich sage es dir noch einmal. Alle, na ja, fast alle, sind sehr nett zu mir. Auch der Baldi, der Flegel. Er ist aber mein bester Freund. Nur unsere Kindergartentanten in der Schneckerl Gruppe sagen zu ihm Flegel öfters. Eigentlich darf ich seit vorgestern nicht mehr Tanten sagen. Ich muss Pädagoginnen zu ihnen sagen, obwohl ich gar nicht weiß, was das sein soll. Das eine weiß ich schon, in Wirklichkeit sind sie ja auch keine Tanten nicht. Jedenfalls nicht die meinen und dem Baldi seine schon gar nicht.
Ich habe schon irgendwo zwei echte Tanten. Nur eine davon ist ein bisschen weniger echt. Wir sagen nur so zu ihr, weil sie mir und meinem Bruder Pauli, der übrigens eine viel, viel größere Naschkatze ist als ich, Süßigkeiten heimlich zusteckt. Und wegen dem ist sie halt unserer Tante geworden. Ganz einfach, oder? Du bist ja auch meine Oma Schani und nicht meine echte, oder?
Ganz anders ist die echte Tante. Die kommt vielleicht einmal in den Sommerferien zu uns, bringt unseren gesamten Familienzeitplan durcheinander, wie der Papa sagt, und verschwindet dann wieder für ein Jahr oder mehr.
Und wenn sie wiederkommt, dann kenne ich sie nicht mehr. Das ist mir aber wieder wurscht, weil der Papa sagt dann, wir, damit meint er mich und meinen Bruder, sollen wenigsten die paar Tage so halbwegs brav sein, solange die alte Schreckschraube bei uns wohnt.
Weißt du Oma Schani, er hatte tatsächlich Schreckschraube gesagt! Ich habe mir zwei Tage lang in meinen Träumen so eine Schraube vorstellen müssen. Das war schrecklich, das kannst du mir schon glauben. Ich holte mir auch aus der Werkzeugkiste vom Papa eine Schraube nach der anderen heraus, hielt diese zwischen meinen Fingern in die Luft und verglich sie mit dem Gesicht der Tante. Ich kann dir versichern, dass der Papa nur schöne und keine solchen Schreckschrauben in seinem Werkzeugkoffer gehabt hat.
Ich muss jetzt gschwind aufs Klo … nein ich geh besser zur Oma hinunter und komm dann schon wieder rauf zu dir.“
05 Da Spur Sepp und da Pfarra
Jeder und jede von uns in der Gemeinde, also auch ich, kann zum Herrn Pfarrer Bartl Fuchskrapfen gehen und ihn um einen Gefallen bitten. Freilich auch um einen heiligen Segen, dass mir zukünftig keine angeschwärzten Kasnockn mehr gelingen mögen. Weil an-schwärzten möchte ich schon gar niemanden nicht. Auch nicht meine Nachbarin, die Valentina Feitelkramer-Froschkopf.
Allerdings ohne telefonische oder gar schriftliche Voranmeldung bei seiner umsichtigen Haushaltsmitarbeiterin geht es prinzipiell eigentlich niemals. Und schon gar nicht an Sonn- und Feiertagen. Da ist ja dem Hochwürden sein Hauptarbeitstag, obwohl das Gebot der Sonntagsruhe, nicht nur bei der Hausfrauengewerkschaft eine Forderung gewesen war.
Dem Pfarrer ist es völlig wurscht - Sonntagsruhe hin oder her - ob der auf ihn zugehende Mensch ein Gläubiger ist oder keiner. Nur die lupenreinen Teufelsaustreiber, also jenen harten Kern, der sich aus den männlichen und vielmehr noch aus den weiblichen Über-katholischen hervorgetan hatte, solche Schafe in seiner Herde liebt er nicht so besonders. Und seine liebevoll für ihn umsorgende weibliche Kratzbürste kann die Knieschemelpolierer ohnehin nicht ausstehen.
Derartige Schafsböcke, so meinte der Pfarrer in vertraulichen Ge-sprächen im Wirts- oder Caféhaus über das heilige Beichtgeheimnis, gibt’s in unserer Nachbargemeinde auch. Das verkündete er angeblich immer und immer wieder. Zwar tut er das nicht ausge-sprochen direkt in seinen Sonntagspredigten, aber halt so nebenbei. Eines Tages wollte ich ihn, in einer für mich jedenfalls mysteriösen Angelegenheit, sprechen.
Pfarrer Bartl Fuchskrapfen ist ein Studierter. Das habe ich lange Zeit nicht gewusst. Er soll sogar ein Doktor sein, aber nebenbei auch ein Magister. Das ist er durchaus. Bevor er in unsere Ge-meinde versetzt worden ist, hatte er draußen in Bayern die klös-terliche Disziplin erfahren dürfen, wie er einmal gemeint hat. Aber um sich aus dieser zu befreien, hatte er dann den Doktor der Psy-chiatrie gemacht. Eigentlich ist er auch ein Psychotherapeut. Das bitte wissen nur einige seiner Mitbrüder und auch die halbe Ge-meinde hier im Dorf.
Nun weißt Du es auch. Aber bitte erzähle es nicht den andern wei-ter, weil das geht den Ungläubigen in den entfernteren Nachbar-gemeinden gar nichts an. Derartiges Werbetrommelrühren, im Hinblick auf seine psychotherapeutischen Sprechstunden, meine ich, will nämlich der Hochwürdige Herr überhaupt nicht. Sonst müsste er womöglich noch einen weit größeren Zulauf seiner Schäfchen befürchten. Und einen Hirtenhund, der alle miteinander Zusam-menhalt verschaffen würde, den hatte er ja nicht. Nur seine Wirtschafterin halt.
Und in den Beichtstühlen in unserer Kirche, die unsereiner kaum mehr von innen kennt, ist sowieso eine psychotherapeutische Be-handlung, nicht einmal ansatzweise möglich. Das hat auch einen Grund: Die Wissenschaften der Psychotherapie und jene der Theo-logie verhalten sich, wie ich gelesen habe, untereinander angeblich wie zwei aufeinander keineswegs zugehende, aber im Regelfall wie trennende Geschwister. Daher sitzt auch unser Pfarrer Bartl Fuchskrapfen oftmals nicht nur in, sondern auch zwischen den Beichtstühlen.
Im Laufe der Zeit erfährt auch eine schüchterne Dorfbewohnerin, so wie ich glaube eine zu sein, schön langsam die versteckten Ge-heimnisse unserer Dorfbewohner. Schuld an dieser Informations-vielfalt sind freilich nicht nur die Bezirkszeitungen, sondern vielmehr schon seine Wirtschafterin. Die wird nämlich nicht müde, die kleinsten Geheimnisse über verschiedenste Einfältigkeiten mancher Dorfbewohner, sei es beim Supermarkt oder im Wartezimmer beim Doktor, herumzuerzählen. Ihre Weisheiten bekommt sie angeblich vom Pfarrer selbst. Unbewusst, muss ich selbstverständlich dazwischen schreiben, weil der Mann mit seiner Doppelbelastung seine Beichtstuhlerlebnisse wahrscheinlich im Schlaf von der Theo-logie in die Psychotherapie hinüberrettet.
Ich versteh ihn ganz gut, unseren Pfarrer Bartl Fuchskrapfen. Aber wer von den eingefleischten Katholischen bei uns hier am Land hat schon das Gespür für den Hintergrund einer Gutmütigkeit von ei-nem Geistlichen. Das ist auch wahrscheinlich einer der Gründe dafür, warum er das rein persönliche Gespräch, mit der kleinen Minderheit der lupenreinen Teufelsaustreiber, vermeidet. Bald hätte ich dazu angemerkt: `Wie der Teufel das Weihwasser.` Aber das tue ich nicht. Das kannst Du, wenn Du das liest, ohne Weiteres, auch gegen meinen Willen wieder herausstreichen.
Schau, in regelmäßigen Abständen gibt der Herr Pfarrer in den pe-riodisch printmedientreuen Ausgaben seine Stellungnahmen zu aktuellen oder historisch gewachsenen Ereignissen ab. Dies tut er in der inzwischen farblich und politisch sehr bunten Pfarrnachrich-tenlandschaft. Für die ganz Unbelehrbaren seiner Schafe greift er schon hin und wieder zu hammerschlagkräftigen Formulierungen, um diese gehörig nachzusalzen, oder gar stark zu überpfeffern. Zwar sind seine Aufsätze am Rande meist theologisch fundiert, jedoch dermaßen grobschlächtig ausformuliert, sodass diese be-wusst kaum von psychotherapeutischem Belang sein können. Und so bleibt dem Bischof deswegen auch kein Einspruchsgrund über, wenn es auch die Beichtstuhlabnützenden gerne anders gesehen hätten.
Mein Gott, dem Herrn Pfarrer seine Schreibkünste sind unergründ-lich. Diese erstrecken sich über die verschiedensten Themen der Leidensgeschichte insgesamt, die ihm im Laufe der Zeit aus unserm Dorfleben bekanntgeworden und wieder eingefallen sind. Ganz besonders unterstreicht er jene, die im Kernpunkt das markante, tiefschwarze Klientel betreffen.
Der Pfarrer Bartl Fuchskrapfen ist auch, zwar nicht immer, aber dafür immer öfter ein geschickter Wortverdreher. Deshalb meint er nicht alleine nur das politisch relevante schwarze Gedankengut der mehrheitlichen Gemeindevertretung. Er könnte ja ohne Weiteres auch Grün, Rot oder Blau gemeint haben. Aber so eine Farbenviel-falt besitzen wird ja nicht in unserer Gemeindestube. Die schriftli-chen Auswürfe, der am Beginn stets mit seinen persönlichen Ge-danken zu Glaubensfragen geschmückt sind, bekommen dann oh-nehin jeder Haushalt zum Lesen und für die darauffolgende zeitlich unbestimmte Selbstentsorgung zugestellt. Darin werden aber auch sehr interessante Standpunkte, nicht nur zu kirchlichen Fragen, sondern vor allem mehrheitlich von seinen engsten Nichtmitarbei-tern aus den Sitzungsprotokollen des Pfarrgemeinderates, abge-druckt. Hin und wieder durchkreuzt die ernüchternde Rhetorik auch das geistig anspruchsvolle Lyrische.
Du wirst mich auslachen, diese Kurzgedichte sammle ich schon eine Weile und ich muss den unbekannten Autoren mein Lob und Anerkennung aussprechen. Sie werden von Mal zu Mal unverständ-licher.
Zum Beispiel das hier:
Weil’s mir gut geht
ist es auch nicht zu spät
auf manches zu vertrauen
und nicht
auf andere schauen.
Und gerade das, macht ein Gedicht spannend, meine Freunde. Diese meist fünf Zeilen zu analysieren - ich glaube so sagt man - wenn man diese auf Punkt und Beistrich in einzelne Gedankensplit-ter zerlegen muss, um sich an die eigentlichen Ölfilter heranzutas-ten, benötige ich schon ein oder drei Wochen dazu. Aber dann – habe ich es noch immer nicht kapiert und lege es zu meinen ande-ren Undurchdringlichkeiten dazu.
Ich gebe es ja zu, freiwillig komme ich äußerst selten, und auch hier nicht sehr oft, in unsere Kirche. Wenn überhaupt, dann bei größeren Hochzeiten oder kleineren Beerdigungen. Dabei kann es schon sein, dass ich mit meiner Sitznachbarin Vroni hinter mir, oder der Trude links vor mir, im Kirchengestühl eine nicht ganz heilige Gesprächsrunde angeregt und dadurch den lieben Herrn Pfarrers Predigt gar nicht recht gehört, geschweige denn verstanden habe. Daran ist aber keineswegs er schuld, sondern eher meine offenbar langsam fortschreitende Schwerhörigkeit.
Nein, nein, das muss ich Dir rasch noch erzählen:
Eines Tages, ich glaube es war der Montag vor drei Wochen so gegen halb neun, es kann auch später gewesen sein – der Dienst-tag, also vorgestern war es keinesfalls - da ging ich einkaufen.
Vor dem Supermarkt stand dieses Mal keine Zeitungsanbettlerin, son-dern ein mittelgroßer Kastenwagen mit einer verführerischen Auf-schrift. Kommen sie zum Gratis-Hörtest.
Ich ging also näher an das Fahrzeug heran und war gleich vollauf vom Anblick begeistert. Es kam mir nämlich ziemlich zeitgleich schon ein flott aussehender Mann entgegen. Er dürfte so um die Vierzig gewesen sein. Jedenfalls war er mit einem weißen Hemd mit gestickter Kragenaufschrift sowie mit einer scheußlichen Krawatte und dunkler Hose bekleidet. Auf der rechten Seite, in Brusthöhe war ein kleines Schildchen mit der Aufschrift Herr Kleiderstätter angeheftet.
Unzweideutig, als wäre ich eine Vertraute des Kleiderstätters, hatte er mich auch schon eingefangen und angesprochen. Das ging alles blitzschnell, sogar rasanter als meine Gehirnstrukturen zu funktionieren bereit war. Ich habe ja da hinten, genau wo ich jetzt mit dem Zeigefinger hinzeige, so eine Art von Notfallprogramm selbst installiert. Reaktionszeit überschritten!
Sehr höflich, das muss ich hier schon betonen, bat er mich, ich möchte doch mit ihm in den Kastenwagen einsteigen. Um Him-melswillen würde der Herr Pfarrer sagen, `Schani steige nie mit fremden Männern in ein fremdes Auto´. Aber, wenn man einen braucht, ist halt weit und breit kein Pfarrer in der Nähe.
Ich kann Dich beruhigen. Der Herr Kleiderstätter wollte mir im Wa-geninneren nur Apparaturen zeigen, die ich bestimmt noch nie gesehen habe. So war’s dann nicht. Ich war schon einmal bei einem HNO-Doktor und der hatte auch so was Ähnliches.
Vollkommen gratis machte er mit mir einen fünf Minuten andau-ernden Gehörlosentest. Aber umsonst war er auch. Das Resultat, was anschließend aus dem Drucker herauskam, war seiner be-scheidenen Meinung nach, katastrophal. Das war für mich jeden-falls keine Überraschung.
Ich bekam in der Folge einen Warenwertegutschein für eine ge-nauere Untersuchung. Er würde, so sagte jedenfalls der Herr Klei-derstätter, für mich extra weitere zwei Stunden für ein genaueres Gehörlosenprofil aufwenden müssen. Mit dem mir ausgehändigten Gutschein bräuchte ich nur fünfzig Prozent der Unkosten belegen. Weil so eine Untersuchung wäre dann nicht mehr gänzlich gratis.
Was glaubst Du, was dann geschah! Aus meinem hintersten, bereits im Verwirrungszustand befindlichen Gedächtnisabteil schrie man mir förmlich eine Blitzwarnung entgegen. Zusätzlich schleppten Gehilfen dieser Abteilung Bilder in mein Bewusstsein herein, die ich nie ver-gessen werde.
Ich weiß nicht, ob Du Dich noch daran erinnerst. Es war nämlich so: Damals im vergangenen Mai nahm ich bedenkenlos ein Angebot an, in welchem man mir zugesichert hatte, dass ich ein E-Bike um fünf-zig Prozent günstiger als der Listenpreis, erwerben könne. Das war freilich ein ausgemachter Blödsinn und eine Lehre fürs Leben obendrein. Auf solche Angebote werde ich nicht mehr so schnell hereinfallen.
Doch der Herr Kleiderstätter machte mir ein so tolles Sonderange-bot, welches ich in dem technisch hochverstrahlten Kastenwagen gar nicht abschlagen konnte. Ich wollte nur so rasch als möglich aus der fahrbaren Audioprüfkabine halbwegs lebendig wieder her-auskommen.
Es gab für mich nur eines. Die Flucht! Zu meiner Freude erreichte mich hier drin im Oberstüberl, gerade noch im entscheidenden Augenblick, eine unmissverständliche Eingebung! Ich möge doch meine Füße in die Hände nehmen und bedingungslos davonlaufen und zehn Eier kaufen.
Den Wisch, den mir der freundliche Kleiderstätter beim Verlassen der Gehörlosenuntersuchungsanstalt, versehen mit einer Termin-vorlage ins Hauptgeschäft, mit besten Empfehlungen der Firma, in die Hand gedrückt hatte, den verlor ich schon absichtlich im roten Mistkübel, gleich nach dem Eingang in den Supermarkt.
Entschuldige bitte hier meine kleine Abschweifung, aber es musste sein.
Also zurück zum Pfarrer. Er ist halt auch schon ein mittelalterlicher Mann. Mitte fünfzig wird er sein und er braucht für die Weitsicht nicht nur ein Gefühl für seine Schäfchen, wie er bei jeder Gelegen-heit immerfort betont, sondern auch eine hartlauerische Sehhilfe. Und so eine hat er auch. Ich weiß es und Du weißt es bestimmt auch. Stell Dir vor, er hat er sogar zwei davon. Eine wie unser Landesbischof, so eine mit rosaroter Einfassung und eine mit schwarzem oder dunkelbraunen Rahmengestell. Zu hohen Festta-gen, beispielsweise bei Hochzeiten, trägt er angeblich die rosarote Brille. Damit schaut er auch wesentlich jünger, dynamischer und intelligenter aus. Diese Meinung hat zumindest die eine Hälfte der Gutgesinnten. Die anderen, nicht gerade von Liebenswürdigkeit belasteten Menschen in unserer Gemeinde, haben mit seiner rosa-roten Weltanschauung dort und da schon auch Probleme. Mir per-sönlich ist das letztlich egal, aus welchem Fenster er herausschaut. Sein mit Falten durchzogenes Gesicht, obenauf mit der kreisrunden Glatze eines Kapuzinerpaters, tritt dadurch eher in den Hintergrund.
Völliges Gegenteil erzeugt der dunkle Brillenrahmen. Wenn er mit diesem seine Augen zupflastert, dann muss er gezwungenermaßen seinen Kopf leicht absenken. Stattdessen hält er seine gefalteten, aber nicht faltenfreien Hände, andächtig vor sein Gesicht. Mein Gott, er ist halt nur ein Mensch. Aber gleichfalls auch ein armer Teufl.
Hier denke ich ganz besonders an die äußerliche Erscheinung seiner Haushälterin, weil Pfarrersköchin darf man laut dem letzten Konzil oder war es nur ein Empfehlungsschreiben vom Papst, genau weiß ich das nicht mehr, keineswegs mehr in den Mund nehmen.
Der Anlass für die angebliche päpstliche Entscheidung war für uns Katholischen relativ klar erkennbar. Kein Pfarrer sollte jemals mehr von der kirchlich zugelassenen Wirtschafterin ohne allgemein verständliche Gemütserregung erkennen zu lassen, eingekocht werden dürfen. Ein Mann muss ein Mann bleiben! Auch mit rosaro-ten Brillen – basta!
Die gute, angeblich sehr genügsame Seele heißt übrigens Kathi. Mit vollem Namen Katherina Strohreisinger. Das ist in unserem Dorf kein Geheimnis, weil Strohresingers gibt’s jede Menge. Zwar heißen nicht alle so, aber sie sind so.
Frag mich bitte nicht, wie die Kathi den Laden im Pfarrhaus schau-kelt. Viel Gewicht an Körpermasse trägt sie ja nicht mit sich herum. Vielleicht ist sie Vegetarierin. Keiner im Dorf weiß was Genaueres. Bei einer Köchin, sage ich Dir, ist das ein überaus schlechtes Zeichen, wenn das Schlüsselbein schon so hervortreten muss, um sich nach Essbaren umzuschauen. Andererseits könnte einem zu-fällig vorbeikommenden Hungernden beim Anblick solcher Spiral-knochen schon regelrecht schlecht werden.
Kathi kann vermutlich gar nicht kochen. Oder sie übt sich mit ihren Künsten streng in der Körner- und Gemüseverwertung. Einen überdimensionierten Pfarrgarten betreut sie ja auch noch. Wenn ich vielleicht einmal in der Woche oder zweimal im Monat dort vorbei-gehe und es ist nicht gerade das Zwölfuhrläuten am Programm, dann kann man getrost davon ausgehen, dass die gute Kathi am Gartenzaun steht und mit vorbeikommenden Dorfbewohnern sich in ein tiefes kräuter-und körndlverbundenes Gespräch bereits hin-einmanövriert hatte. Danach könnte man Zeugnis ablegen, wie der Magen des Kostvernachlässigten im Pfarrhaus vor Hunger und Un-geduld aus dem Fenster seines Arbeitszimmers vom ersten Stock aus in den Garten hinunterknurrt. Angeblich laut fluchen hat man Hochwürden bisher noch nie gehört. Es wäre ihm aber nicht zu verdenken gewesen.
Ganz gewiss weiß ich es nicht. Gemunkelt wird darüber. Wahr-scheinlich hat die Kathi linksdrehende Spreißelhaxn. Ähnlich wie die Lärchenstecken vom Zaun des Schönschreckbauern. So drückt man sich halt bei uns im Pinzgau bei anatomischen Ungereimtheiten der unteren Extremitäten gerne aus. Aber bitte versteh mich nicht falsch. Wahrscheinlich habe ich nur deshalb gesagt, weil gesehen dürften ihre Stelzen noch kaum wer haben. Ich schon gar nicht. Und unserem Geistlichen Rat mute ich diesen Anblick nicht einmal auf einer kilometerweiten Entfernung und dann nur bei absoluter Finsternis zu.
Na ja, die Kathi Strohreisinger ist eben eine zaundürre Gestalt mit altmodischem bodenlangen Gewand. Da kann man nichts machen.
Hingegen schaut ihr Chef gar nicht so schlecht aus. Vielleicht ein bisschen blass an den Dienstagen, wo allgemein im Haus gefastet wird, aber sonst … Na ja, es wird ihm schon so recht sein. Weil zwischen Mittwoch und Samstag, immer um die Abendstunden herum, plant er, wenn möglich sogar selbst, seine außerpfarrhäus-lichen Verpflichtungen schon so ein, dass seine leibliche Zufrie-denheit an den jeweiligen Orten auch gehörig hochgewürdigt wird.
Zum Beispiel: Am Freitag vor zwei Wochen wurde das fünfund-zwanzigjährige Ordinationsjubiläum von Doktor Alfred Burusmeister in einem würdigen Rahmen gefeiert.
Neben der rot-grünen Gemeindevertretung und dem tiefschwarzen Regierenden war freilich auch Hochwürden eingeladen.
Er saß mit seiner feierlichen rosaroten Brille ganz vorne bei den Dorfoberen am Biertisch, der mit weißen Leintüchern abgedeckt und mit Tro-ckenblumen aus dem Pfarrgarten und vielleicht sogar vom Hoch-spurhof geschmückt worden war. Die zwei Ordinationsgehilfinnen spielten diesmal nicht mit Spritzen herum, sondern schenkten Gspritzten an die Gäste aus. Sämtliche Stammkunden des Medizi-ners waren da. Na ja, ich und meine Nachbarin, die unausstehliche Valentina Feitelkramer-Froschkopf, auch. Am Gabentisch lag unter vielen anderen Ess- und Trinkbaren eine überlange geräucherte Wurst. Der Geistliche wurde schon ganz blass, alleine beim Anblick derselben.
Alle wissen es! Und die Boshaftigkeit überschreitet gemäß jeglicher Tischmanieren die Grenzen des Erträglichen. Gemeint ist hier wirk-lich der arme Beichtvater der Gemeinde. Doktor Burusmeister wusste es freilich am aller Besten, im Pfarrhaus werden ihm solche Leckerbissen, wie Fleisch, ausgerechnet an einem Freitag, nicht angeboten. Deshalb fragte der Doktor den Pfarrer, wo er die Wurst anschneiden möchte. Da nahm das Schicksalhafte seinen Lauf. Wie undisziplinierte Schrotkugeln kam es aus seinem Mund geschossen. Und er meinte es ehrlich: „Dahoam in meiner Pfarrkanzle natürlich, wo denn sonst!“
Dass so ein Pfarrer, wie unser Fuchskrapfen, auch hin und wieder seine Ruhe und Erholung von der Strohreisinger Kathi dringend notwendig hat, ist selbst für Ungläubige verständlich. Deshalb schmiedet er ja halt auch ab und zu solche geheimen Fluchtgedan-ken. Diese führen ihn dann regelmäßig zu den verschiedensten sporadisch ausgerufenen Anlässen in seine Pfarrgemeinden und halt auch dort und da in Versuchung. Wie zum Beispiel die schon erwähnte Ordinationsfeier. Er muss ja in weiteren vier Gemeinden in der Umgebung seinen Geistlichen Rat mit angemessener Würde repräsentieren.
Hochwürden ist nämlich dem guten gemütlichen In-sich-hinein-futtern nicht abgeneigt. Das sieht man ihn auch an. Vor allem au-ßerhalb seines Pfarrhauses jagt er gerne den verführerischen Köst-lichkeiten nach. Vornehmlich solchen Delikatessen, die mit dem vegetarischen Firlefanz seiner umsorgenden Strohreisinger Kathi niemals ein Naheverhältnis haben werden und die zu keiner Zeit auf seinen heimischen Tischen ungastlich herumstehen. So was weiß halt jeder bei uns im Dorf.
Der fromme Mann ist ja mit seinen zirka einen Meter neunzig eine stattliche Beschwerung. Da gibt es nichts zu deuteln. Obendrein wird durch ihn persönlich die vordere Auswölbung seiner recht gut eingebetteten Rippen keinesfalls beim Anfuttern außer Haus ver-nachlässigt. Wenn er zum Beispiel an Feiertagen nach dem Zeleb-rieren vor die Kirche tritt und er da noch mit seinem schwarzen Kaftan samt der violetten Bauchbinde verkleidet ist, dann wäre es für einen Militärhubschrauber, ich denke an so ein handliches Gerät mit vier Propellern drauf, ein leichtes auf dem Bauchansatz von unserem Herrn Pfarrer eine Landeübung zu machen.
Auf die Idee ist zum Glück noch nicht einmal der Verteidigungsmi-nister, geschweige denn der Spur Sepp gekommen. Dieser geplagte Mensch, ich meine hier den Spur Sepp, der wurde erst vorige Wo-che aus dem Krankhaus entlassen.
Der Grund war eindeutig: Er und seine Jungbäuerin leiden nämlich am chronischen Veganer-Syndrom. Er deutlich weniger als sie.
Na ja, der Spur Sepp, das möchte ich hier auch klar unterstrichen wissen, ist ein sehr fleißiger Dorfbewohner hoch droben auf der Sonnseite des Tales. Er und seine Frau Marie Theres, sowie die Altbäuerin und der Altbauer, also dem Spur Sepp seine Eltern, be-wirtschaften mustergültig den Hochspurhof.
Von meinem Schlafzimmer aus könnte ich den Bauernhof gut se-hen, wenn mir nicht die drei blöden gemeindeeigenen Fichten mit ihren zig meterhohen Wipfeln die Sicht verstellen würden. Das macht aber gar nichts. Dafür sehe ich drüben auf der Schattseite auch nicht mehr.
Kinder gibt es am Hochspurhof bislang keine. Das ist an sich auch kein Wunder nicht, sagen die Leute. Bei diesem kohlkopfjausenden Ehepaar fehlen einfach die Spur-Elemente. All das und noch we-sentlich mehr kann man im Warteraum bei unserem Doktor Alfred Burusmeister aus erster Hand erfahren. Ich persönlich kann und möchte dazu auch mit meinem Senf die Salatpletschen um keine Spur nicht verfeinern. Zum einen weiß ich über die veganische Krankheit viel zu wenig und über die medizinisch notwendige The-rapie noch weniger. Nur so viel vielleicht: Sie ist ansteckend.
Also aufpassen, wenn man in die Nähe vom Hochspurhof kommt und dort womöglich von der Bäuerin Marie Theres zu einer Jause eingeladen werden sollte. Was wahrscheinlich eher unwahrscheinlich ist.
Deshalb komme ich gar nicht in Verlegenheit, auf den Berg zum Hochspurhof hinaufzuklettern. Mit meinem neuen E-Bike traue ich mich sowieso nicht auf den Sonnberg hinaufzufahren. Viel schlim-mer stelle ich mir das Hinunterradeln vor. Gut, ich weiß jetzt Be-scheid. Ich weiß, dass ich für Notfälle je eine Bremse für das Vor-der- und Hinterrad zur Verfügung habe. Aber den Stecken von einer Haselnussstaude habe ich lediglich hinten drauf, um die zwei Hunde verjagen zu können.
Im Winter, wenn zumindest bodenbedeckt der Schnee die steinige Landschaft zu fließenden Formen werden lässt, dann solltest Du unbedingt einmal zum Hochspurhof hinauf gehen. Du kannst auch hinauffahren. Die Ansteckungsgefahr, etwa dort oben Veganer zu werden, ist statistisch um diese Jahreszeit fast null. Viele Schilang-läufer aus dem Dorf und aus der näheren Umgebung fahren mit ihren Autos samt ihren Langlaufschiern dorthinauf und müssen, ob sie wollen oder nicht, beim Hochspurhof vorbei. Die Meisten von ihnen versuchen sogar die Sportler des Jahres nachzuahmen, in dem sie wie verrückt die Hochspurhofloipe hin und her sausen. Für die anfallenden Notarzteinsätze gibt einen freizuhaltenden Um-kehrplatz, der auch im Notfall als Hubschrauberlandeplatz bedient werden kann.
All das organisiert der Spur Sepp. Warum ich das weiß? Das ist einfach erklärt. Die Tratschereien aus dem Wartezimmer der Ordi reichen dafür nicht aus.
Nein, es gibt zusätzlich zweimal im Jahr einen Gemeindebrief und hier werden auch dem Spur Sepp seine Leistungen erläutert. Bald kritisiert und dann hin und wieder auch gelobt.
Der Spur Sepp darf alles dort oben tun. Um der Wahrheit auf die Sprünge zu helfen, sollte er eigentlich im Auftrag der Gemeinde-vertretung, selbstverständlich auch mit dem Segen des Bürger-meisters, trotz seiner veganen Ansteckungsgefahr, im Winter die Loipen und im Sommer insgesamt dreiundzwanzigkilometerlange Wanderwege pflegen.
Außerhalb seiner gemeindedienstlichen Aufgaben hat er daheim, neben seiner Frau, auch noch den Bauernhof, zugegeben ohne Vie-chereien, zum Umhegen und zu pflegen. Statt Rindviecher gibt es jede Menge Kohlköpfe, die nicht nur auf dem Acker dahin welken. Die Hochspurhofner Jungbauersleute sind nämlich rundum Grünfuttereigenversorger. Sie ernähren sich in den wärmeren Jah-reszeiten von dem Grünzeug, das sie im Garten anbauen und dar-über hinaus kaufen sie im Lagerhaus, seltener schon im Super-markt ein.
Nicht so wie auf dem etwas mehr als zweihundert Meter weiter unterhalb befindlichen Niederspurhof. Das dort gemähte Gras wird an die Rindviecher, Ziegen, Schweine und Schafe verfüttert und die werden erst danach dem Eigengebrauch zum Verzehr zugeführt. Und Hendln haben die, sag ich Dir, so schöne gibt’s nicht einmal im Zoo in Salzburg. Eine Kleintierhendlzucht haben die Niederspurhofer auch. Wenn keine Vogelgrippe in der Luft liegt, dann kann man sie ganz gut tagsüber vom Weg aus beobachten, wie sie die Körndln vom Boden herauspicken.
Sowas käme bei den chronischen Veganern gar nicht infrage. Frei-lich gibt’s bei der Familie vom Spur Sepp Junior das nicht. Keine Goas und auch keine Schafe nicht sind am Hof. Nur die Altbäurin füttert halt, von der Jungbäurin gut versteckt, zwei Hendln auf ihrem Dachboden droben. Weil, ohne mit ihren zwei Eiern spielen zu dürfen, das wiederum kann sich auch die Alte nicht vorstellen. Nebenbei muss sie ja noch ihren Spur Sepp Senior versorgen. Er und seine Altbäuerin halten sich ja nicht ausschließlich an die Gebote der Jungen. Das brauchen sie auch nicht, denn sie wohnen schon jahrelang ein paar Schritte vom eigentlichen Bauernhaus entfernt, in einem uralten Austragshäusl.
So schräg oberhalb, zwischen den beiden Häusern, stand immer schon ein Selchkamin und gleich daneben das Plumpsklo mit Herz-erl. Aber seit die Jungbäurin das Regiment als militante Verteidigerin der veganen Lebensart führt, musste nur die Selch stillgelegt werden. Freilich soll es noch anderen bevorzugt modernen Komfort im Bauernhaus selbst geben. Wie zum Beispiel eine Badewanne. Böse Zungen behaupten jedenfalls, dass diese vor zig Jahren noch am Feld gestanden ist und damals den weidenden Tieren als Tränke gedient haben soll. Das ist aber nur ein Gerücht. Davon hat aber die Jungbäurin offenbar keine Ahnung.
Das stimmt aber, weil der Installateur aus dem Nachbardorf, den ich persönlich gut kenne und ein weitschichtiger Verwandter meiner Tante Gusti gewesen sein soll, erzählte mir vor zwei oder drei Wochen, dass er im Austraghaus vom Hochspurhof ein fabrikneues Wasserklo eingebaut hatte.
Die Alternative, wie schon bemerkt, das Häuschen, das steht immer noch fünfzig Meter abseits, nämlich zwischen dem Haupt-und Ne-benhaus. Dort oben sagt man heute noch: „I muass aufs Häusl geh!
Die spionagebetreibenden Dorfratschn haben am Hochspurhof noch ganz was anderes entdeckt. Quasi im Vertrauen wurde die Sensation im ganzen Dorf über die verschiedensten Multiplikatoren, wie das heutzutage heißt, weitererzählt. Da trägt auch unsere Briefträgerin einen Teil der Mitschuld. Schön langsam wird mir auch klar, warum die Bezirkszeitung nicht mittwochs, sondern erst oft am Freitag in meinem Briefkasten landet.
Da ist nämlich Folgendes passiert: Seit der Spur Sepp aus dem Krankenhaus, und zwar gegen den Willen der Ärzte, also ausge-rechnet nach seinem Sturschädel, entlassen worden war, da hatte man ihn auf neutralem nachbarschaftlichen Gemeindegebiet beo-bachtet, wie er beim SPAR-Supermarkt eine Spur hinterlassen hat. Und zwar hatte er ein Stück Brot, samt einen halben Kranz Braun-schweiger gekauft. Das wäre ja grundsätzlich nicht verboten ge-wesen. Nur soll er dann dieses überaus schädliche Zeugs heimlich zu seinem Auto geschleppt und dort dann gierig hinter dem Lenkrad in sich hinein gefuttert haben.
Den Allradler vom Spur Sepp kennt bei uns jedes Schulkind. Am SPAR-Parkplatz soll das auffällige dunkelgraue Fahrzeug, mit seiner kleinen Ladefläche und der Aufschrift hinten – Hochspurhof das Paradies für Veganer - öfters schon beobachtet worden sein. Ver-ständlicherweise spricht sich so ein außergewöhnliches Verhalten eines heißhungrigen Lebakas-Fleischverweigerers schnell im Dorf herum. Wenn nur eine winzige Spur davon der Wahrheit entspre-chen sollte - die Betonung liegt auf sollte - was die Leute über den Spur Sepp Tag für Tag so daher schwafeln, dann wäre sein Verhal-ten gewiss rücksichtslos, zumindest seiner Frau gegenüber.
Das musst Du Dir so vorstellen: Die bedauernswerte Marie Theres steht daheim am Herd, rührt mit ihrem abgenützten hölzernen Kochlöffel langmächtig in der Kohlsuppe herum, kocht jede Menge Karotten als Beilage, wegen der Vitamine halt, und schält nebenbei jede freie Minute die Erdäpfel. Selbstverständlich bemüht sie sich auch, für ihren fleischverachteten Ehemann das luxuriöseste, vi-taminreichste Essen warmzuhalten. Und er – was macht er? Er sitzt in seinem Auto und haut sich den Bauch mit der Lebakasrindn voll.
Ich kann mir ja beim besten Willen nicht vorstellen, warum die Ma-rie Theres dreimal im Monat zum Beichten geht. Aus religiösen Gründen bestimmt nicht, weil eine Heilige ist sie auf keinen Fall. Wahrscheinlich nur deshalb, um die Dorfneuigkeiten nach der Beicht aus erster oder übertragener Hand zu erfahren.
Und der bauernschlaue Ehemann betrügt sie an einem außer Haus befindlichen fleischlichen Futtertrog und genießt wahrscheinlich seine Wurscht auch noch.
So arm, wie die Leute im Dorf immer tun, ist die Marie Theres Spur, geborene Birkenberger, aus dem Geschlecht der ehemals hochangesehen Birkenberger aus Niederbayern, auch wieder nicht. Freilich ist sie zaundürr. Beinahe wie Haushälterin vom Herrn Pfar-rer. Der erkennbare, ins Gesicht springende Unterschied, dürfte eher im Gwand der Zwei zu finden sein.
Die hoch angesehene Hochspurbäuerin Marie Theres schaut, zu-mindest wenn sie ins Dorf herunterkommt, fast immer wie ein achtzehnjähriges Mädel aus. Überhaupt mit ihrer modernen, hori-zontal bewusst zerrissenen, aber niemals unsauberen Jeanshose, würde sie auf die Männer wie ein Magnet wirken. Freilich müsste dann der horizontale Einriss an einer Stelle für erotische Ausstrah-lung sein. Aber solche Stellen gibt’s bei der Frau ja nicht.
Auch bei ihrer Oberbekleidung ist sie je nach Jahreszeit wählerisch. Da sind gar keine Einnäher für Ausbuchtungen der fraulichen Oberweiten vorgesehen, weil´s die gar nicht für ihre Flachbett-brustkaramellen braucht. Völlig übertrieben kommen mir dann ihre viel zu großen, mehr klobigen ungeputzten Plastiktretern vor, weil lederne Schuhe für eine geweihte Veganerin bereits eine Sünde darstellen.
Die Couturiers, also die Modedesigner, haben auch mit der Kathi Strohreisinger niemals nie ein Geschäft gemacht. Die sieht man werktags immer nur mit dem graubraunen, leicht fleckigen boden-langen Schürzenrock herumsausen. Zur Kirchzeit hat sie dann meist einen dunkelblauen langen Rock und zu den hohen Feiertagen sogar ein farblich ausgewaschenes, ebenfalls bis zu den Knöcheln reichendes Trachtendirndl an.
Auch in der Aussprache der Zwei erkennt der aufmerksame Zuhö-rer, aber ganz bestimmt der Herr Pfarrer, feine dialektische Unter-schiede. Nicht so wie bei der Kathi Strohreisinger, deren Derbheit sich mit einer scheinheiligen Hochsprache vermischt.
Die Hochspurbäuerin Marie Theres wählt in der Frauenrunde vor dem Kirchentor schon eine ausgesuchte veganische Ausdrucksform, wobei sie Kraftausdrücke, wie zum Beispiel Schwein gehabt oder Stierschädel oder gar saumäßig aus ihrem Vokabular, grundlegend verbannt hatte. Solche tierisch vernetzten Wörter, seien sie auch nur liebevoll ausgesprochen, wären ihrer Ansicht gewiss tod-sündenverdächtig.
Freilich flucht sie auch. Und wie! Dabei ist sie oftmals sogar fuchs-teufelswild. Das belegt wiederum ihr Bedürfnis, öfters als ihre Ve-ganer Kolleginnen, beichten zu gehen. Übrigens das bezeugen auch ihre Schwiegereltern. Die Austragbauern. Sie schmeißt halt dann in einem unbeherrschten Erregungszustand ihrem geliebten Spur Sepp schon mal harmlose Kraftausdrücke an den Schädel oder sonst wohin. Wie beispielweise Du Kohlkopf-du grausiger oder gar das zweideutig auslegbare Wortkarussell Du vadrahte Karottenspindl. Derartige Flüche kommen ihr aber nur über die Lippen, wenn der Gatte nicht so spurt, wie sie es ihm aufgetragen hatte. Dabei ist eher sie spindeldürr und nicht er.
Ich habe schön langsam den Verdacht, und gelesen habe ich es auch schon, dass man als infizierter Veganer ein armer Teufl ist.
Deshalb wird man auch solche Kraftausdrücke in Kauf zu nehmen haben, weil die gehören offenbar zum Krankheitsbild dazu. Gegen diese ansteckenden, seuchenartigen veganen Erscheinungsformen gibt es ja kaum Medikamente. Höchstens werden hin und wieder ein paar Ersatzteile in Form von Pillen von den Hausärzten ver-schrieben, die zwar rezeptpflichtig aber nicht krankenkassenab-rechnungsfähig sind. Das war’s aber schon. Vielleicht ist der Spur Sepp allein schon durch die heimlichen Besuche beim SPAR mit seiner Braunschweiger auf der Spur der Besserung. Wünschen würde wir es ihm gewiss.
Dir habe ich es ja schon erzählt. Freilich, Dir auch! Allerdings ist es bereits eine Weile her und ich weiß nicht, ob Du oder Du dort hinten Dich noch daran erinnerst.
Letztendlich ist es ja nichts Dramatisches oder gar Verwerfliches. Ganz im Gegenteil. Für die heutige Zeit eigentlich sogar etwas Willkommenes. Man sucht nach mir - oder auch nicht. Jedoch der Auffindungsort bleibt für so manche im Verborgenen.
Nicht dem Herrn Pfarrer. Wie ich schon mehrmals Dir gegenüber betonen durfte, ist er ja ein g’scheiter Mann und dem bleibt kaum was verborgen. Nur in dieser Sache ist auch er mit seinem Latein ziemlich am Ende. Obwohl, das gehört auch hierher, lateinisch pre-digen kann er, wenn er will. Das versteht dann keine Sau, auch nicht die Frau Veganer. Das hat mir die Kathi Strohreisinger erzählt.
Im Grunde ist es ja kein Geheimnis, das ich hier offenbaren möch-te. Es ist nur ein bescheidener Wunschtraum meinerseits, der wirklich schon sehr oft in Erfüllung gegangen ist.
Um die Spannung entsprechend abzukürzen, weil sonst wird die Geschichte ja eselslang, sage ich es frei aus meiner Seele heraus. Ich betreibe jetzt täglich Sport. Da brauchst Du dort hinten gar nicht so zu lachen. Ich tue es ja fast täglich. Das ist nicht ge-schwindelt. Nein, ganz im Ernst und so schlimm, wie ich mir das anfangs vorgestellt habe, ist es auch wieder nicht. Also gut pro Wo-che mache ich an zwei bis vier Tagen Bewegungsübungen. Ich gehe zu Fuß zuerst einmal von der Wohnung über die zwei Stiegen hinunter vors Haus. Dann schau ich zum Himmel und zum Nieder-spurhof hinauf. Das geht ganz schön in die Knochen, sag ich Dir.
Sport habe ich immer schon gemacht. Eigentlich könnte man es sogar als eine Art von Krafttraining heißen. Man benötigt dazu keine größeren Gerätschaften, wie im Fitnesscenter. Da genügen ganz einfache Haushaltsartikel. Früher übte ich gerne, quasi so neben bei, allerdings beidhändig verstehst Du, mithilfe der Daumen- und Zeigefingermuskulatur, mit zwei Tafeln Ritter-Sport auf einmal. Und die brach ich dann nach wochenlanger Übung auch mühelos ent-zwei.
Daraufhin erlöste ich die Rippen aus dem gesundheitsschädlichen aluminiumhaltigen Eingemachten und vertilgte sie genießerisch die dunkle Energie. Jedoch immer brav nach Rezeptvorlage, sodass kein schlechtes Gewissen nicht aufzukommen musste. Die schwar-zen Rippen sollen sogar vorbeugend zur Herzstärkung wirksam sein. Nur so eine, wie die vegane Marie Theres, könnte meinem Ritter-Sport niemals was abgewinnen.
Bei meinen sportlichen Abenteuern in der freien Natur machte ich in letzter Zeit kuriose Entdeckungen. Es kommen mir alle möglichen Leute unter, die sich ganz eigenwillig verhalten. Ob das nun Ältere oder Jüngere sind, das ist egal. Du wirst vielleicht solche Gestalten auch schon umherirren gesehen haben. Die schieben ständig so ein Smartphone, so wie ich eines habe, ganz seltsam vor sich her und spähen mit schier hervortretenden Stilaugen auf das Display. Wenn sie vermuten, etwas erspäht zu haben, das ihnen in ein Suchschema passt, dann schreien sie wie wild auf. Manchmal kniet sich so ein bemitleidenswerter Mensch mitten auf Weg hin, markiert eine vermeintliche Fundstelle mit einer mitgebrachten roten oder gelben Kreide oder auch mit einem Nagellack. Danach schreien sie wieder irgendwelche, für mich jedenfalls unverständliche Urlaute.
Und hier kommt unser Pfarrer, der Spur Sepp, aber auch die be-vorzugte Beichtgeherin Marie Theres wieder ins Spiel. Die ist dies-bezüglich sehr, sehr auffällig. Die Frau habe ich nämlich auch schon bei solchen mysteriösen Anbetungsritualen angetroffen. Sogar unweit der Arztpraxis von Doktor Alfred Burusmeister und freilich ein paar Tage danach auf ihrem Acker mit den gelben Rüben und Kohlköpfen. Und die begrenzen ja teilweise den Weg zum Nie-derspurhof.
Na ja, was soll ich Dir sagen. Vor zwei Wochen war ich zufällig in Zell am See. Dort habe ich einige solche Tiefgläubigen gesehen. Manche breiten sogar einen Teppich am Gehsteig aus und legen ihr Handy gleich daneben hin. Andere wiederum fuhren mit einem Elektroboot auf den Zellersee hinaus und fuchtelten genauso mit ihrem Smartphone in der Luft herum. Diese Auffälligkeiten konnte ich mir anfangs gar nicht erklären.
Wegen dieser mysteriösen Geschehnisse ging ich halt zum Pfarrer, was ich ja schon eingangs bekanntgegeben habe. Ich vermutete nämlich, dass mit dem albernen Verhalten der bedauernswerten Mitmenschen eine neue religiöse Strömung auf uns zu kommt. Und genau so beurteilte es auch unser Geistlicher Rat, der Pfarrer Bartl Fuchskrapfen - nicht.
`Meine liebe Schani`, hat er gsagt, `sei ohne Sorge´, hat er gsagt, ´das ist nur ein moderner fiebriger Freizeitvirus´, genauso hat er gsagt, fiebrig hat er gesagt, `des käme alles von den über-reagierenden Andächtigen aus Amerika,´ hat er gsagt, ´und das hätte mit der Entstehung einer neuen Religion genauso wenig zu tun, hat er gsagt, wie der Spur Sepp mit einer Braunschweiger.` Und das hat er zum Schluss noch gesagt.
Ob er sich da nicht im totalen Vergaloppieren verrennt hat? Ich meine den sonst umsichtigen und zwischen Schweinsbraten und Karotten wohl abwägenden Herrn Pfarrer. Das mit der Braun-schweiger, meine ich, lasse ich ja noch gelten. Aber schau einmal hinein in den Fernseher. Die Nachrichten zeigen das richtige Bild. In letzter Zeit werden von diesen Religionsfanatikern, wenn´s auch offiziell keine sein sollen, nicht nur bei uns, aber sonst sogar in Bruck geradezu überschwemmt. Mein lieber Freund, so schauts aus.
Und das alles sollen Viren sein? Fiebrige auch noch dazu! Nein, Monster sind das. Verstehst Du mich jetzt! Monster! Und zwar hundsgemeine Pokémon-Go Monster.
06 Das Gurkerl in Paradeuniform
Durchdringend und hintergründig steigen im Gegenlicht Nebel empor. In Vereinigung verwaschen, versucht der leise Wind, mutig erzogen, die Gesetze der Kraft, das Aufsteigen zu unterdrücken. Unverbraucht im Willen durchlebt er in meinem Traum ein neues Auf.
Mein lieber Spitz, so einen Beginn hast Du Dir gewiss nach dieser Überschrift nicht erwartet. Das war mir am Anfang schon klar geworden, doch ich wollte dieses Mal mit einer Überraschung aufwarten. Schuld an diesem literarischen Ausreißer war wirklich nur dieses Sauwetter. Seit vorgestern konnten wir nach langen zwei Wochen in unserem Dorf wieder einmal die Sonne über unsere Köpfe begrüßen.
Bitte verzeih mir den Ausdruck - Sauwetter. Ich weiß, so ein Sager ist für eine Dame, wie ich glaube, eine zu sein, ungebührlich. Dann schon gleich Schei..Wetter, das versteht auch der hinter Dir. Und eine Dame bin ich erst recht nicht. Schon eher eine von Denkfehlern behaftete Frau.
Ich habe mir nämlich gedenkt: Es nützt ohnehin nichts. Man muss dem abwechslungsreichen atmosphärischen Launen nur so entgegenkommen, was es uns, und vor allem mir, in seiner meteorologisch schwer verdaulichen Aufmerksamkeit und Freundlichkeit zu bieten hat. Es gab also keinen Umweg und so entschloss ich mich, den unausweichlichen Launen trotz alledem liebevoll und ohne Groll im Bauch meine lyrische Aufwartung zu machen. Ob das mir nun gelungen ist oder nicht, das wird man später einmal erfahren können.
Was ich eingangs mit diesen paar Zeilen eigentlich sagen wollte, weiß ich heute nicht mehr. Nur eines vielleicht: Für die Allgemeinheit dürfte es kaum von Bedeutung sein. Für mich aber schon, wenn zum Beispiel, wie es im Gedicht heißt … im Gegenlicht die Nebel emporsteigen … da komme ich dann schon ins Grübeln.
Ein halbes Leben lang schleppe ich schon in einem immer schwerer werdenden Rucksack eine Last mit mir herum, die ich allerdings bewundernswerterweise auch nicht als solche empfinde. Und letztlich auch nicht loswerden möchte.
Ich habe bislang noch nie mit jemandem darüber geredet. Außer mit meiner Freundin Margot und jetzt halt mit Dir. Margot ist es ja gerade, die mich herausfordert. Sie bedrängt mich ständig. Sie meint, ich solle doch einfach den unliebsam gewordenen Ranzen einfach ablegen, der mich Nacht für Nacht, oder zumindest viele Nächte lang, aufwühlt und ins Schwitzen bringt. Aber wohin damit? Ich könnte die Last auch einen Traummann überlassen, hat sie gemeint. Der könnte mir beim Aufschnüren behilflich sein und in einem Zug meine Ideen herausnehmen. Aber so blöd bin ich auch wieder nicht. Erstens, wo soll so einen Traummann auf die Schnelle aus dem Hut zaubern? Und zweitens, so ein traumdeutender Psychiater kommt mir auf keinen Fall in mein revierfreundliches Wohnzimmer.
Aber ganz so einfach, wie die Margot sich das vorstellt, ist es halt ganz und gar nicht. Ich feile ja vehement daran, um den Ballast, an jener Stelle, wo er versucht, mich auf den Boden zu drücken, zu vermindern. Unter uns - ich möchte einerseits die schönen Traumreisen samt den damit verbundenen Erlebnissen nicht missen. Aber andererseits wäre ich schon etwas erleichtert, wenn ich nicht gar so viel Schwerarbeit zu leisten hätte.
Schau, wenn ich zum Beispiel nicht nach Griechenland, sondern auch nicht nach Mexiko reisen möchte, kann ich das ja sofort machen. Vorige Woche war ich sogar nicht in London und da muss es geregnet haben, weil ich beim Aufwachen ganz verschwitzt unter meiner Decke gelegen bin. So gesehen bin ich eine Traumweitgereiste.
Mittlerweile stehe ich relativ wieder fest mit beiden Füssen am Boden. Obwohl, das muss ich hier auch offenlegen, gerne immer schon eine Brückenbauerin werden wollte.
Das einzige Hindernis, nämlich einen solchen Beruf, außerhalb meiner Traumwelt, versteht sich, zu ergreifen, war meine überqualifizierte Volksschulausbildung. Doch allein schon der Gedanke Brückenbauerin sein zu wollen, das gab mir schon einen gehörigen Auftrieb.
Es müssten ja nicht zig tonnenschwere Brücken aus vernieteten Winkeleisenträgern sein. Nein, nein, an das dachte ich sowieso nicht. Meine Konstruktionen sehen eigentlich völlig anders aus. Auch an hundsgemeinen Holzbrücken bin ich schon gar nicht interessiert, weil ich bereits als Kind elterlicherseits verpflichtend zum Holzaufschlichten arg missbraucht worden bin.
Was glaubst Du wie viele Schiefer ich mir beispielsweise beim Aufstapeln von den schweren Lärchenhölzern in die Hände gerammt habe. Unzählige.
Na ja, einige Schiefer habe ich mir auch schon öfters außerhalb meiner Traumwelten eingezogen. Allerdings nicht nur in die Hände. Doch die Brücken, die ich immer wieder aus meinem Traumgedächtnis hervorhole, später dann nachzeichne und stets mit den neuersten Zwirntechniken verfeinere, die sind ganz einfach herzustellende Luftbrücken. Ich kann diese nach Lust und Laune zum Beispiel jede Nacht im Schlaf, dass sogar mehrmals in der Woche, wieder abbauen und an einem völlig anderen Nestzentrum neu errichten. Diese Umbauten gehen relativ rasch vonstatten. Meistens arbeite ich fieberhaft an einem oder sogar an mehreren Konstrukten gleichzeitig. Die REM-Phase oder wie das heißt, unterstützt meine Vorhaben ohne jegliches gewerkschaftliches Aufzumucksen.
Ich bin nämlich eine nächtliche Vielreisende. Ich glaube das weißt Du mittlerweile ohnehin. Für mich ist es ein Klacks, sozusagen ein Schnippen mit den Fingerspitzen. Obwohl ich das einige Male schon probiert habe. Das Schnippen meine ich. So einfach, wie das im Fernsehen ausschaut, ist es bestimmt nicht. Ich sehe hier die Frau Stockerl von den Rosenheimern vor mir, wenn sie mit ihren zwei Fingern der rechten Hand einen Schnalzer erzeugt, den sie wahrscheinlich oft genug üben muss, bis der sitzt und gleichzeitig aber ihre Zauberhände in die Luft schwingt, das ist dann der sprichwörtliche Klacks.
So ein Klacks ist es für mich auch, wenn ich beispielsweise eine Traumbrücke in Oberbringshausen oder wie jüngst eine Drahtseilzugbrücke aus dem Nichts in Geröskyskinzu, in tiefster Provinz in Ungarn, hochziehen kann. Und das geschieht alles mit einer Leichtigkeit im bewährten Schani-Schwebeverfahren. So was lernst Du in der HTL nie und nimmer.
Freilich, das erklärt auch meinen Frühstückshunger alle zwei bis drei Tage einerseits, und eine periodisch erscheinende Restmüdigkeit am Morgen, auf der anderen Seite. Vielleicht wäre es besser, so meint die Margot, wenn ich am Rücken schlafen würde und nicht auf der linken Seite. Davon verspreche ich mir allerdings sehr wenig bis gar nichts. Dann hätte ich ja andauernd nur die Unterseiten der Brücken im Visier und das kann auf die Dauer auch nicht gesund sein. Stell Dir vor irgendein gelockertes Teil würde herunterfallen. Nicht auszudenken. Ich habe ein Hochbett.
Tagsüber komme ich mit meiner Reisefreudigkeit ja kaum über Zell am See hinaus. Höchstens im Jahr dreimal. Meine reisefiebrigen Unternehmungsgelüste entwickeln sich nur nachts. Hauptsächlich bei Vollmond. Wahrscheinlich wegen der guten Ausleuchtung, die für eine Brückenbauerin, wie ich eine bin, unverzichtbar ist. In diesem, von Vollmond beherrschten Zeitabschnitt, ist mein Drang reisen zu wollen, unschlagbar. Es kann schon passieren, dass ich eine Überbrückung bis Krimml schaffe. Vor zwei Wochen war ich sogar beim Brunetti in Venedig.
Ach ja, den Brunetti kennst Du sicherlich. Er ist ein ganz feiner ruhiger Kerl mit einem Viereinhalbtagesbart und immer mit dunkelblauem Anzug ohne Krawatte unterwegs. Brunetti war sogar bereit, mich mitten in der stockfinsteren Nacht, zwar auch bei Vollmond aber mit schwarzen Wolkenvorhängen überzogenen Himmel, zuerst mit einer Gondel unter die unzähligen Brücken und danach über diese durch das Aqua alta zu führen. Er sprach mit mir in einem akzentfreien Deutsch. Jedenfalls habe ich ihn gut verstanden. Seine Ehefrau soll sogar eine Professorin sein, die habe ich nicht verstanden. Ok! Von einigen persönlichen Erlebnissen hatte er mir bei unserem gemeinsamen Spaziergang über und unter den Brücken von Venedig berichtet. Die habe ich leider auch vergessen.
Am Morgen bin ich aufgewacht. Noch vor dem Frühstück musste ich erst im Computer nachlesen, was Aqua alta eigentlich zu bedeuten hatte. Meine Füße waren jedenfalls trocken geblieben.
Oft genug bin ich über sogenannte Traumzweideutigkeiten so lala drüber gestolpert. Vor allem in letzter Zeit, wo ich, von wem oder warum auch immer, genötigt worden bin, über das anhaftende Brückenbausyndrom am Traumweg zu erscheinen. Diese Brücke nach Venedig, von der vorhin die Rede war, war eine sehr eigenwillige. Ich musste sie wahrscheinlich auf Pfähle gesetzt haben, weil die Reise dorthin sich in meinem Unterbewusstsein so verheddert haben dürfte, dass ein Transport in die höher gelegene Etage des Realbewussten unkompliziert verlaufen ist.
Durchaus gäbe es Unmengen über meine virtuellen Brücken zu erzählen. Ich denke mir, eine meiner zahlreichen im Traum herbeigewünschten Konstruktionen, könnte für Dich bedeutsam sein. Die habe ich bislang auch noch nicht abgetragen und auch bisher niemanden davon erzählt. Du und mein Tagebuch werden die Ersten sein.
Es ist schon eine Zeitlang her. Aber es war für mich damals durchaus wieder einmal eine besonders anstrengende Nacht. Das kannst Du mir glauben. Sozusagen eine Art von Illusion tauchte aus dem fernen Horizont neben mir plötzlich auf. Es war eine außerordentlich hübsche junge Frau mit einem jugendlichen Gesicht. Na ja, was soll ich sagen: Die kommt auf mich zugeschwebt. Genau, wie im Märchen! Sie machte mir ein verblüffendes Angebot. Ich hätte zwei Wünsche frei, raunte sie mir zu. Sie wusste offenbar von meinen nächtlich aktiven Mitgefühlen, die bei mir im Brückenbau stets als tragende Pfeiler eingesetzt werden. Deshalb war es auch für das schöne Fantasiegebilde keine Überraschung, als ich mit einer mir ungewöhnlichen, ja beinahe eingedämmten, zögernden Stimmlage meinen Wunsch genannt haben dürfte.
`Ich würde mir sehr gerne - eine gutbrauchbare Brücke - für alle Menschen von hier nach Venedig in die Stadt meiner Träume wünschen.` Die letzten Worte dürfte ich so schnell herausgesprudelt haben, dass sie in meinem Gedächtnis unauffindbar geworden sind. Hier habe ich nur eine Art von logischer Ergänzung angefügt. Ob ich damit richtig liege oder eben falsch, das weiß ich nicht.
Jedenfalls die von mir immer noch wahrgenommene flatternde Einbildung fuchtelte wie eine wildgewordene Gans in der Luft herum. Der unerwartete Ablehnungsbescheid kam auf der Stelle. Ich fühlte mich wahrscheinlich unter meiner Bettdecke, die ich wiederum nicht gefühlt haben dürfte, enttäuscht.
Offenbar sehr zögerlich durfte ich den zweiten Wunsch formulieren. Zugegeben, der hätte mit dem Brückenbau nur im Entferntesten in Zusammenhang gebracht werden können. Vermutlich war ich nur neugierig auf die Reaktion einer Illusion. Blitzschnell erträumte ich einen verwegenen Wunschgedanken, der vermutlich irgendwo auf einer Ablage in einem Magazin in meiner hintersten Gedächtnisabteilung verstaubt auf Befreiung gelauert hatte. Unbedacht versuchte ich diesen an meine Traumpartnerin zu übertragen.
`Ich würde mir sehr gerne wünschen, das System der Gedankenüberbrückungen von den Männern kennenzulernen.`
Sicher bin ich mir nicht, ob ich das Wort für Wort so gesagt habe. Allem Anschein nach dürfte es schon so gewesen sein. Zumindest in ähnlicher Modulation versuchte ich, ihr den Wunsch mithilfe meiner Gedankenübertragung mitzuteilen.
Eine Schamesröte dürfte mir jedoch über mein nachtbleiches Gesicht gehaucht sein. Es ist mir aber bis heute total schleierhaft, wie ich überhaupt, wenn auch nur in einem Traum, auf so ein utopisches Stillleben einer Erkundungsabsicht gekommen bin.
Als professionelle Brückenbauerin im freien Land der Emanzipationen kann man so ein tiefgründiges Sehnsuchtsbild, noch dazu, wenn man aufgefordert wird, wohl auch äußern dürfen. Oder?
Die scheinbar von Mystik umgebende, ferner noch Wünsche anbietende, strahlende junge Frauengestalt tänzelte ein paar Mal mit ihrem wehenden seidenen, in verschiedenen Farben getöntem Kleid um mich herum. Währenddessen zog sie gekonnt, wie eine Schauspielerin auf einer Weltbühne, ihre zwei weißen Handschuhe aus. Sodann schwebten plötzlich ein Bleistift und ein Block in ihre von Zauber umstrahlten Hände. Blitzschnell rechnete sie und drehte sich danach langsam vor meinen Augen mehrmals um ihre eigene Achse.
Nach diesem Zaubertanz fuhr sie mit den behandschuhten Händen durch ihre glänzenden langlockigen, keineswegs blendend blonden, aber sehr leuchtend hellen Haare hindurch. Immer wieder bewegte sie ihren Kopf hin und her und hin und her. Dann geschah es! Mit einem Ruck hob sie sich mit den Zehenspitzen vom Boden ein Stück weit ab, drehte sich nochmals und schaute mich mit ihren großen Kulleraugen an. Beinahe sah es so aus, als würde sie auf der Stelle von fremden Kräften umgestimmt werden.
`Schani,` flüsterte sie mir zu, `sollte die Brücke nach Venedig auch mit Zusatzbeleuchtungen und überdacht, oder besser sogar, drei- statt zweispurig errichtet werden?`
Im Moment überragender Begeisterung wartete meine Zustimmung noch eine kleine Weile. Im Hintergrund verborgen blieb das mahnende ICH. Erstmals unbeachtet. Von Kräften einer unbestimmten Macht wird es regelrecht abgedrängt und dem ängstlichen Brückenbauer wird von der erbarmungslosen Entscheidung des einfallenden JA überrascht. Das beidseitige Wohlwollen wird in dieser Szene brüderlich vermerkt werden. Nur das gemeine ICH, vom Übermut betrunken gemacht, schreit abermals JA.
Schweißnass kroch ich aus dem Bett heraus! Es war genau vier Uhr und neunzehn Minuten. Den Brückenbau nach Venedig habe ich vollendet und seit dieser Zeit nie mehr davon geträumt.
Ein wenig schwanken, zwischen Ahnung und Prophezeiung, darf ich ja noch! Das ist nichts Abwegiges. Auch das Träumen gehört irgendwie dazu.
Schau mal, für Traumforscher würden meine wirren nächtlichen Schwärmereien, in denen ich mit dem Brückenbauen scheinbar die halbe Nacht eine Vollzeitbeschäftigung angenommen habe, einen regelrechten Fundus an Erkenntnissen bedeuten.
Eines kann ich Dir ja noch verraten, ohne dass die Schamesröte über meinen Rücken von unten nach oben ziehen muss. Ich meine hier genau jenen Bereich, wo bei den meisten Menschen die Hauptleitung ihrer veganen Hirnströme in Richtung Blasenausgang eingepflanzt sind. Na, ja, und die dann halt keine Ruhe nicht geben, wenn´s einmal pressiert.
Du verstehst mich schon. Oder?
Also ich verrate Dir jetzt ein Geheimnis: In meinem Wohnzimmerschrank, in der zweiten unteren Schublade, liegt, zwar nicht immer, aber größtenteils schon, unter den Kontoauszügen meiner Zentralbank, gut versteckt ein rotgedeckelter Notizblock. Darin habe ich einige meiner Träume bereits aufgeschrieben. Allerdings in einer Reihenfolge, von der ich überzeugt bin, sie auch so geträumt zu haben und nicht anders. Mittlerweile dürfte ich eine ganze Kette interessanter Brückenkonstruktionen entworfen, oder verträumt und mit Illusionen vernetzt haben.
Der letzte Brückenbauauftragstraum liegt gerademal drei oder vier Wochen zurück. Gleich danach getraute ich mich erstmals hinter das Phänomen der sich vielfach wiederholenden ähnlichen Brückenbauabläufe zu schauen. Dabei entdeckte ich bei mir selbst, dass ich offenbar drauf und dran bin zu versuchen, die in meiner wahrscheinlichen Traumlandschaft so manche scheinbar unüberbrückbaren Zwischenräume, die in der berührbaren Umgebung mir hin und wieder in die Quere kommen, zu verbinden.
Auf einen Traum kann ich mich noch sehr gut zurückerinnern. Ich habe dieses auch in das Notizheft hineingeschrieben. Als eine Art expressive Brückenbauerin saß ich in der psychiatrischen Ambulanz mit meinen zwei Freundinnen Margot und Anita Reisenhübner im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern. Wir wurden von einer langhaxigen, vollbusigen und noch dazu schwarzhaarigen Krankenschwester in den Untersuchungsraum geführt. Mich hatte man schon in der Kartei als Brückenbauerin evident. Nur meine zwei Freundinnen mussten erst vom Doktor untersucht werden. Er war so eine Art von Lichtgestalt, weißer Mantel, weiße Haare, kreisrunde Brille und geschminkte dunkelrote Lippen. Was der Doktor den beiden so alles gefragt hatte, blieb mir verborgen. Nur entscheidende Fragen nicht.
Erste Frage vom Doktor an Margot: "Wieviel ist drei Mal vier?"
Margot sagte: "viertausendachthundertfünfundzwanzig“.
Zweite Frage vom Doktor an Anita Reisenhübner: "Wieviel ist drei Mal vier?"
Anita Reisenhübner überlegte nicht und antwortete prompt: „Donnerstag.“
Und nun fragte mich auch noch der Doktor: "Schani, wieviel ist drei Mal vier?"
Ich antworte ebenso rasch und überzeugt: "Zwölf."
Der Doktor meinte: "Sehr gut Schani, jetzt erklärst du den beiden, wie Du auf das Ergebnis gekommen bist.
Ich sagte frei heraus und ohne mit meiner falschen Wimper zu zucken: "Das ist doch klar Doktorchen. Schau mal, ich habe viertausendachthundertfünfundzwanzig durch Donnerstag geteilt."
Dann bin ich kerzengerade im Bett gesessen, den Kopf voller Mathematik, das Notizbuch geholt und den Traum zügig aufgeschrieben. Es kann nur sein, dass ich ein paar Eckdaten vergessen habe.
Zeitweilig gelingt es mir ja, Seile zur Verbindung im mitmenschlichen Bereich zweckdienlich zu spannen. Das ist in meiner Gedankenvorstellung auch eine Brücke. Was sollte es sonst sein!
Ich entsinne mich noch recht gut. Es war einmal in längst vergangenen Nächten, da erschien mir ein fremder unbekannter Mann und der knüpfte eigens für mich einen Bindefaden. Du weißt schon, so ein buntes Ding vielleicht, das man an Freunde verteilen kann. Aber so etwas war es schlussendlich dann auch nicht. Dieser Unbekannte versuchte irgendwie eine doch nicht unbeträchtliche Distanz, eines bislang von mir niemals vermuteten Zwischenraumes, zu überbrücken. Und zwar tat er das mithilfe einer doppelt so großen Ansichtskarte, wie sie heutzutage kaum üblich sind. So ein Monstrum von einer Karte habe ich weder beim Hofer noch beim Lidl oder gar beim Kaspar Oberhauser gesehen.
Du wirst wahrscheinlich mit dem Kaspar Oberhauser noch keinen Kontakt gehabt haben. Er ist nämlich der eigenverantwortliche Filialleiter von unserem Supermarkt. Sozusagen der löbliche Nahversorger und wahrscheinlich fallweise sogar der Hahn im Korb bei einigen Kundinnen. Wenn wir den Kaspar Oberhauser mit seinen drei Angestellten nicht hätten, da würden wir ganz schön unterm Platzregen zu leiden haben. Der nächste SPAR-Einkaufsladen ist immerhin fünf Kilometer weit von meiner Wohnung beziehungsweise von unserem Dorf entfernt. Dorthin soll sich der Spur Sepp verdrücken, wenn er Gusto auf eine Braunschweiger verspürt.
Doch bleiben wir beim Kaspar Oberhauser. Er schaut auf seine Kundschaft, vorwiegend auf die hübsche Weiblichkeit und damit auch auf sich selbst. Ich dürfte wahrscheinlich den Grenzwert seiner Begehrlichkeiten schon überschritten haben.
Kaspar Oberhauser mit seinen fünfunddreißig Lebensjahren und gut einen Meter achtzig, wurde sogar als zweiter Brandschutzmeister bei unserer Feuerwehr eingestellt. Weil anbrennen lässt er als cleverer Dorfbewohner kaum etwas. Dafür umsorgt er nach seinen Einsätzen im Revier und freilich auch nach dem übervorsichtigen Hinausgrasen, umso mehr seine liebe, aber strengkatholische und deswegen auch eifersuchtsanfällige Ehefrau.
Mein lieber Schwan, die müht sich Tag für Tag, nicht nur wegen ihrer übertragenen Erziehungsaufgaben der ehelichen Kinder ab, sondern sie sitzt, wenn ihr die Zeit gnädig ist, auch an der Kassa im Geschäft und kurbelt dort ihr Geschick, wie eine alleinherrschende Gebieterin, zu Höchstformen an. Die Schnelligkeit ihrer eingesetzten Zieh- und Fliehkräfte sind weitum bekannt. Mit einer fast königlich anmutenden Verbissenheit bemüht sie sich tagtäglich, zum Beispiel Obst oder plastikverpackte Gartenerde mit brachialer Kraftanstrengung an der elektronischen Registrierkasse vorbeizuziehen, was freilich auch Spuren hinterlässt.
Inzwischen sind ihre Tätigkeiten bereits zum dorfeigenen Kult angewachsen. Das kannst Du mir glauben.
Viele Kunden kommen aus den Nachbardörfern nicht nur wegen der aktuellen Sonderangebote von Minus was weiß ich was, sondern sie wollen das leidenschaftslose, in vertikalen Stirn- und Zornesfalten verunzierte Gesicht der Trude Oberhauser bei ihrem Kassascannen betrachten.
Jedenfalls ist es für die Beobachter immer interessant zu beobachten, wie sie fortwährend Hunderte von kiloschweren Waren hin und herschiebt und die Euros so nebenbei einkassiert. Erstklassig, das kann man wohl sagen, war ihr Verhältnis zur Registrierkassenverordnung. Der fabrikneue Scanner bewältigt seine Arbeit mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit, die sie selbst kaum zu überbieten vermochte. Und was der noch alles zusätzlich zu leisten imstande ist, da kann ich wirklich nur sagen - Kopftuch ab. Ich als Kunde trage zwar selten eines und Hut schon überhaupt nicht. Andererseits habe ich auch keine Chance zu so einem Gerät, welches in Bruchteilen einer Zeit die Einzelpreise zu einer Gesamtsumme verbinden kann und nur manches Mal bei Stromausfall ordentlich danebenhaut. Dann gelingt ihr das Meisterstück der Rechenkunst. Zum Beispiel schnellt das Angebot für den Salat statt um einen Euro fünfundzwanzig auf unverhältnismäßige achtundvierzig Euro und zweiundfünfzig Cent hinauf.
Trude Oberhauser ist die eigentliche Konzessionsinhaberin. Sie hatte seinerzeit das Geschäft von ihren bereits verstorbenen Eltern übernommen und hat nach der Verehelichung mit ihrem Kasperl, ihn zum alleinigen Geschäftsführer befördert. Seither spielt er den großen Boss. Sie selbst muss halt gelegentlich regulierend eingreifen. Zum einen, als die untergebene Kassenaushilfsjongleurin sowie selbstverständlich auch als Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern.
Na ja, jetzt ist es wieder einmal geschehen. Ich bin von der außergewöhnlich großen Ansichtskarte, die ich in meinem Briefkasten gefunden habe, total auf ein anderes Gleis abgefahren. Bekommen habe ich sie am Donnerstag, die Karte. Weil ich mittwochs grundsätzlich nie Post bekommen kann, schon aus dem einfachen Grund, weil die Postbotin ihre Revierfreizone strikte einhalten muss. Daher wird es der Donnerstag gewesen sein. Nur beschwören könnte ich das auch nicht.
Du ahnst es bestimmt schon und ich weiß es ja. Ich habe halt ein Zeitgefühl wie ein Elefant in der Arktis. Und in der Geografie kenne ich mich genauso gut aus. Also nochmals für Dich zur Erinnerung.
Die Ansichtskarte wurde von Portugal hierher bis zu mir ins Postkastl befördert. Das dauerte gewiss eine halbe Ewigkeit. Die Postgeschwindigkeit, ein eigener Begriff in der EU-Verwaltung innerhalb der Europäischen Staatengemeinschaft, soll ja in den nächsten Jahren, jedenfalls bis zwanzig-zwanzig um ein Vielfaches erhöht werden.
Vorne war zweifelsfrei eine mittelgroße Stadt abgebildet. Fermentelos. Der Schriftzug war nur mit einer Lesehilfe erkennbar. Eigentlich bestand die Vorderansicht aus sechs gleich großen Fotos. Das Siebte im Zentrum war um eine Spur größer. Auf einem war einigermaßen den Stadtkern mit der Basilika zu erkennen.
In der unteren Reihe waren Landschaftsbilder aus der näheren Umgebung zu sehen. Für mich jedenfalls war das Bild rechts unten am Auffälligsten. Ein Binnensee aus der Vogelperspektive. In meiner Fantasie hatte der eine Ähnlichkeit mit den Umrissen der italienischen Stiefelform. Und überall gab es jede Menge Weingärten, genauso wie bei uns im Burgenland oder im Weinviertel.
Nur das in meinen Augen Ausgefallenste war das Bild in der Mitte. Der spontane Eindruck für mich jedenfalls war: „Das ist ein Gurkerl in Paradeuniform.“
Es haben nicht nur meine Gedanken spitzbübisch lachen müssen. Nein! Du wirst mich gleich verstehen. Du musst nur für einen ganz kurzen Moment das Rollo Deiner Pupillen herunterlassen. Ja genauso! Dann könntest Du Dir mit aller Wahrscheinlichkeit ein Gurkerl, zwar nicht im Essigglas, sondern in aufgepeppter Paradeuniform sowieso nicht vorstellen.
Also pass obacht. Das Gurkerl ist quasi ein gepfropfter kleiner Zwerg, ohne Hals und ohne Bauchansatz, dafür aber Stielaugen wie ein Kalb vor dem Gang zum Metzger. Obendrauf eine Art von Kopfbedeckung, dass aber nur dann zutreffen würde, wenn es darunter so etwas wie einen Schädel gegeben hätte. Das war´s nicht. Um die Mitte des Gurkerl´s straffte sich ein Lederriemengürtel oder so was Ähnliches. Der war mit einer wahrscheinlich metallenen Kompassschnalle verziert, die hosenabwärts eine anschauliche Paradeuniform zusammenhält. Uniform und Kopfbedeckung waren farbgleich gehalten. Auf der einen Seite in einem leuchteten Oxyd Grün. Ein Orangerot auf der anderen. Zwei extrakleine Gurkerl-Hände versuchten offenbar krampfhaft irgendwelche undefinierbare Souvenirartikel, vielleicht war es noch ein Kompass, was weiß ich, vom großen Gurkerl-Leib fernzuhalten.
Unter dem Bild konnte ich in deutscher Sprache den Hinweis ganz gut lesen: Das Wahrzeichen von Fermentelos.
Der Text, auf der Rückseite von der Ansichtskarte, war handgeschrieben und einigermaßen gut leserlich. Das war für mich dann doch das wirklich Wichtige daran. Überrascht war ich ja schon, als ich die Karte aus meinem Briefkastenfach herausfischte. Umso mehr steigerte sich meine Überraschung ins schier Unermessliche, als ich schließlich versucht habe, die Wörter zu lesen. Ich musste aber notgedrungen diese Mischkulanz zuerst in eine Reihe und dann in einen sinnreichen Zusammenhang stellen. Im Stiegenhaus blieb ich halt auf der einen oder anderen Stufe stehen, um nachzudenken, was das alles zu bedeuten hat. Letztlich begann ich zu kapieren, was ich hier für eine Post in meinen Händen hielt.
Kaum zu glauben. Und Du kannst mir das auch glauben, wer mich da aufstöbert hatte. Meine angebliche portugiesische Nichte Vanessa Gomes-Moser. Niemals im Traum hätte ich an so eine weitentfernt liegende Brückenkonstruktion gedacht.
Also da stand sinngemäß in halbwegs von mir geordneter Reihenfolge:
„Lipe Schani Tant verzieh mein deitsch aba du und Heini biste vawanda in Estareich die Papa wa Bruda vo meine Papa heite bin i Wandera nach dir kim i mit Fliga noch Soizburganockerl und dan mit Zug nach Zell um 15 und nu wos mecht Samstag kema derfn – i find die scho Vanessa
mei Handy +351-83-46141.25942“
Niemals habe ich von meinen Eltern vernommen, dass es einen Bruder von meinem Vater in Portugal geben soll. Ebenso wenig kenne ich einen Verwandten der Heini heißt. Und, wann bitteschön ist, Samstag? Morgen oder nächste Woche oder gar in einem Monat! Ich werde doch nicht so verbohrt sein und mich jeden Samstag im Jahr, jeweils um fünfzehn Uhr am Zeller Bahnhof herumtreiben. Das kann doch von mir niemand verlangen. Weil neugierig bin ich nicht, das weißt auch Du!
Der nächste Samstag war zwei Tage später nach dem ich die Karte das erste Mal in meinen Händen hatte. Ich fuhr also am besagten Samstag gegen Mittag mit der Pinzgauer Lokalbahn nach Zell am See. Dort trieb ich mich dort ganz unauffällig vor dem Bahnhofsplatz und auf den Bahnsteigen, wenn die Züge aus Salzburg ankamen, herum. Zwischendurch ging ich durch die Unterführung, spazierte zum See und fütterte aus lauter Langeweile die Fische, Enten und Schwäne.
Um fünfzehn Uhr achtundzwanzig sollte nach der Lautsprecherdurchsage der Regionalexpress von Salzburg ankommen und am Bahnsteig drei, allerdings bereits mit großzügiger Verspätung, einfahren. Ich hatte noch Zeit genug.
Du wirst wahrscheinlich noch nie am Bahnhof in Zell am See gewesen sein. Oder doch? Na ja, dann weißt Du vielleicht auch, dass man zu den Bahnsteigen zwei und drei mit einem Lift hinauf und sowohl wieder hinunterfahren kann. Mir ist das Stiegenhinauf- und hinunterhatschen viel lieber, seit ich in einem Lift von der Außenwelt und vor allem von der Rezeption des Hotels Blaugefiederten Grünschnabel buchstäblich ausgeschlossen worden war.
Ich kann mich noch bestens daran erinnern. Der sternelose, aber vier Hauben innehabende Beherbergungsbetrieb wurde damals im Reisebüroprospekt ausdrücklich als Geheimtipp für Liebespaare angepriesen. Mein damaliger Brieffreund und ich haben uns zu einem Wochenende akkurat an diesem Ort verabredet. Wie gesagt, neugierig bin ich mein ganzes Leben nie gewesen, daher ließ ich mich schon ungefähr eine Stunde vor unserer Verabredung mit dem Taxi dorthin bringen. Damit ich ja nichts versäume.
Mein gebuchter Unterstand, in Wahrheit sollte es ein ganz und gar geeigneter Hochstand werden, der für Beobachtungen sowohl für die nähere Umgebung als auch für die Ferne wie geschaffen war, entpuppte sich als ideal. Ich kannte ja meinen Quer- und Zurückschreiber noch nicht persönlich. Ein Foto von ihm habe ich irgendwann schon einmal bekommen. Das Bildchen habe ich aber so gut versteckt, dass ich nicht mehr weiß, wohin ich das teure Stück abgelegt habe.
Wegen der vielen Stiegen und Stufen, die ich hätte bewältigen müssen, um in das Zimmer im vierten Stock zu kommen, wurde mir von der zimmerschlüsselaushändigten, stark überschminkten und nicht gerade geruchfreien älteren Dame der Lift empfohlen. Es war ein Lift aus der Zeit der Christenverfolgung.
Das Haus hatte fünf Stockwerke, wurde aber bestimmt schon vor Urzeiten wie ein Turm gebaut. Zweifellos eine Rarität in der Landschaft. Ob das Bauwerk geeignet gewesen wäre, als Duplikat für den schiefen Turm der Pisa-Studie als Vorzeigeobjekt zu dienen, sei einmal in die Ecke gestellt. Ich jedenfalls stieg in den Einpersonenlift ein. Sehr geräuschvoll ging´s los. Und dann im düsteren Zwischenraum, nämlich zwischen den Stockwerken zwei und drei, blieb der hochtechnisch keinesfalls ausgestattete Nachobenbringer plötzlich stecken. Notsignaltasten oder andere Einrichtungen, die auf meine missliche Lage hingewiesen hätten, gab es in der halb offenen Kabine nicht. Auch meine Hilferufe blieben lange Zeit erfolglos.
Jedenfalls hat es stundenlang gedauert, bis ich wieder aus meinem Käfig heraussteigen konnte. Gottseidank hatte ich eine Literflasche Wasser und dreieinhalb Müsliriegel vom BILLA noch in meinem Gepäck mit dabei. Sonst wäre ich womöglich erfroren auch noch. Es herrschte in dem rundumbetonierten Schlauch eine Zugluft, als würde der Railjet ungebremst an mir vorbeisausen. Den verehrten Brieffreund habe ich nie persönlich kennengelernt, der hat wahrscheinlich das Weite gesucht. Zwischen uns gab es dann auch keinen literarischen Austausch mehr. Du wirst mir verzeihen, wenn ich in keinen Lift mehr hineingehen werde, um mich irgendwo hinauf oder hinunter transportieren zu lassen, auch nicht am Bahnhof in Zell am See.
Also an diesem besagten Samstag am Bahnsteig drei, ging plötzlich die Schiebetüre beim Lift auf und eine mir bestens bekannte männliche Person kam heraus. Er hielt in der linken Hand einen halbverwelkten Blumenstrauß, der offensichtlich nicht für mich bestimmt gewesen war. Und so war es auch.
Der Literat, Buchautor und Geizkragen in einer Person, nämlich Heinrich Otto Stormhänger, stand beinahe angewurzelt auf dem mit Betonziegeln gepflasterten Boden. Er starrte mir ins Gesicht, als ob ich vom Mond oder gar mit der letzten Marsexpedition soeben auf die Erde zurücktransformiert worden bin. Wir gingen uns beide entgegen. Er taste mich mit seinen Augen von oben bis unten ab, als wollte er mich auf der Stelle entkleiden. Darauf meinte er lapidar: „Ach du bist es nur, Schani.“
In dem Augenblick ahnte ich Beängstigendes. Mir sind nämlich Teile des Textes von der Ansichtskarte wieder in mein Bewusstsein gerückt und bei dem Namen – Heini – ins Stocken geraten.
Ich weiß schon, erinnern kann ich mich auch noch sehr gut, große Geschäfte hatte er mit mir nie gemacht. Unbestritten, ich war einmal seine Co-Autorin in einem Roman, der eigentlich ein Besteller werden hätte können, wenn er ihn nicht geschrieben hätte. Das war im Grunde auch ein unüberlegter Schnellschuss eines ungehobelten Pseudokritikers.
Ich weiß noch immer nicht, ob der unsympathische Lobhudler mit mir anbandeln oder mich vergiften wollte. Egal. Der Roman ist zwar dank meiner Zwischenraumschreibekunst nicht völlig aus dem Gleis gerutscht, aber immerhin statt der erhofften Millionenauflage wurden bislang nur zehn Stück an lebende Liebhaber verschenkt.
Vielleicht ist der Heinrich Otto Stormhänger nur deshalb mit einem grantigen Gesicht mir entgegengetreten, weil ich beim Verlag durchgesetzt habe, dass sein voller Name, nämlich auch der Zwischenraum-Otto, am Cover abgedruckt werden muss. Und der Name Otto, das weißt Du ja längst schon, der ist halt bei der Taufe dazwischen hineingerutscht. Einfach so.
Meine Begrüßung fiel wesentlich freundlicher aus als seine. Ich sprach wie ein monoton klingender Dauerton auf der Zufahrt zur Mautstation der Großglocknerstraße: „Wos tuast den du do?“
Heinrich Otto Stormhänger ist kein Freund, sich irgendwo bei irgendwem aufzudrängen, wenn er nicht am fernen Horizont irgendeinen Hoffnungsschimmer bereits zu erkennen glaubt, der ihm lohnende Überraschungen prophezeit. Der halbverwelkte Blumenstrauß, vom Supermarkt aus der Vorwoche, in seiner Hand, ist eine Vorahnung dessen, was seinen Charakter wiederspiegelt. Ja, die fetzigen, kraftloswirkenden Blütenstengeln wiesen eben genau auf seine ausgeprägte Persönlichkeit hin.
In seiner rechten Hand hielt er dieselbe Ansichtskarte, die ich in meiner Handtasche aufbewahrt hatte. Das erkannte ich erst im zweiten Hinschauanlauf, quasi aus nächster Nähe. Allerdings hielt er das große Drum in der Mitte gefaltet. Die Innenseite mit dem Geschriebenen war verdeckt. Ich habe eigens eine meiner größeren Handtaschen genommen, damit ich die Ansichtskarte unversehrt transportieren konnte, das war dem Heini offenbar wurscht.
Niemand wird mein Erstaunen besser verstehen können, als ich selbst. Hättest Du vielleicht jemals daran denken können, ich könnte mit dem Querkopf, der jetzt neben mir breitbeinig stand, verwandt sein. Nicht im Traum sage ich Dir. Und eine Brücke hätte ich zu ihm niemals bauen lassen, da hätte ich mich im Bett dummgestellt und überdies quergelegt. Darauf kannst Du einen heben, wenn Dir danach sein sollte.
„Hot dir die Vanessa a so a Kartn zuakäma lassn. Bist du vielleicht goar da Heini?“
Wortlos übergab mir Heinrich Otto Stormhänger seine gefaltete Karte und zeigte mir nicht nur die Vorderansicht, sondern breitete das Geschriebene mit seinen beiden Händen ultralangsam vor meinen Augäpfeln aus. Da stand tatsächlich ein ähnliches Texttohuwabohu drauf, aber vollkommen fremdländisch. Zuhause, vor einigen Tagen, als ich diese Karte bekam, nährte sich schon mein dringender Verdacht, dass die gute Vanessa ihre Deutschvokabeln in eine Mischmaschine verfrachtet und nach einem Durchlauf von Sechsundsechzig Drehungen den Buchstabensalat einfach auf dieses Breitformat hinaufgekippt hatte.
Mein Verdacht, dass dies so geschehen sein konnte, erhärtete sich zunehmend. Ich habe den portugiesischen Text mit meinem Handy noch am Bahnsteig fotografieren dürfen und daher kann ihn Dir fehlerfrei wiedergeben:
Caro Heinrich perdoe a minha du alemão e Shani são os únicos parentes na Áustria. Eu sei que você pode ler Português. Eu serei sábado com o avião para Salzburgo e, em seguida, pegar o trem para Zell am See. Espero que você e Shani fazer. Vanessa
telefone +351-83-46141.25942“
„Du kannst des lesn, Heinrich?“ Habe ich ihn gefragt. Spontan hatte er mir darauf geantwortet: „Posso ler um pouco de Português e escrever e nem falar – was so viel heißt: ich kann ein wenig portugiesisch lesen und schreiben und auch sprechen.“
Ich wäre beinahe ausgeflippt, weil bei dem Knacker konnte ich mir das einfach nicht vorstellen, dass der auch noch eine wildfremde Sprache sprechen kann.
In dem Moment fuhr der Regionalexpress in den Bahnsteig drei ein. Nach dem der Zug zum Stillstand gekommen war, öffneten sich so nach und nach die Türen der vier Waggons. Aus dem vorletzten Waggon stieg jemand mit einem rot – grünen Rolli aus, auf dem noch in der Mitte ein gelbes kompassähnliches Gebilde groß aufgedruckt gewesen war. Das nämliche Gurkerl in Paradeuniform!
Mir blieb nur noch eine ergänzende Frage.
„Jo und mia sand mit derer Vanessa verwandt – oder?“
„Ja freilich“, sprudelte der Heini heraus, „ich bin dein Urgroßvater!“