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Zwei

Am Donnerstag den 25. Mai 1995 ging der fürstliche Dano Georgiev Aleksandov gegen sechs Uhr am Morgen zu den Stallungen und holte sich sein Lieblingspferd heraus, sattelte es und ritt, wie er es nahezu jeden Tag gemacht hatte, ins Land hinein. Üblicherweise kam er so gegen neun oder halb zehn Uhr wieder vom Ausritt auf den Schlossgutshof zurück. Diesmal nicht! Sein Pferd kam gegen sieben Uhr zehn zurück. Alleine!

Es galoppierte schweißnass in den Hof, blieb vor Tränke stehen und trank vom frischen Brunnenwasser.

Einer der Arbeiter bemerkte sofort das reiterlose Pferd. Er lief zum Schloss, betrat eilends mit seinen schmutzigen Schuhen die Küche und schlug aufgeregt, wie er war, Alarm. Die Köchin Boryana konnte es zuerst gar nicht fassen, dass der ungehobelte Stallarbeiter mit seinem dreckigen Gewand und seinen nach Pferdemist stickenden Händen und Schuhen sich ohne Weiteres in ihre Küche gewagt hatte. Doch die Meldung des Mannes erstickte im selben Moment das angesetzte Donnerwetter bei Boryana.

Sie ließ den Mann stehen, wo er gerade wie festgenagelt stand und lief so gut es eben ging über die zwei oder drei Treppen hinauf in den ersten Stock. Boryana blieb für einen Moment stehen, atmete tief ein und aus, klopfte an die fast zwei Meter zwanzig hohe Tür, hinter der sich eine ehemals gut eingerichtete Bibliothek befand. Leider gab es zu dieser Zeit gerade noch zwölf etwas unhandliche Geschichtsbücher, die allesamt ungelesen und teilweise verstaubt in den schier leeren Regalen standen.

Boryana wusste, wo sich die gnädige Frau am frühen Morgen bis zum Eintreffen ihres Gemahles aufzuhalten pflegt. Mit Grausen dachte die Köchin daran, wie man sich beispielsweise mit solchen, für sie unvorstellbaren Literaturschinken erholen kann. Aber warum sollte sich die Gnädigste erholen? Dass schien eine der zentralen Standartfragen in den letzten Wochen bei der Köchin geworden zu sein.

Boryana konnte solche Bücher nicht lesen. Zumindest nicht solche in Schweinsleder gebundenen kiloschweren Exemplare. Angeblich waren deren Inhalte auf die mittelalterliche Periode, wo das Fürstengeschlecht rücksichtslos die Regentschaft nachkam, ausgerichtet. Dieses Thema hatte bei ihr ohnehin eine denkbar schlechte Meinung hinterlassen. Da waren ihr schon Liebesgeschichten und Heiratsgedichte wesentlich angenehmer. Ihre gesamte Bibliothek in ihrer Kammer umfasste zwei derartige Büchlein, die sie zwar schon fast auswendig konnte, aber darin immer wieder nachlesen musste.

So stand halt Boryana vor der Tür zur Bibliothek. Sie klopfte an, machte die Tür einen Spaltbreit auf und sagte:

„Guten Morgen.“

Dann kollerten ihr Tränen über die Wange und wollte über die Treppe wieder in ihr Küchenreich abzischen. Doch die gnädige Frau war schneller. Sie holte ihre Köchin noch auf der ersten Stufe ein, ergriff ihren rechten Ärmel, sah ihr in die tränenden Augen und fragte sie, was den plötzlich mit ihr los sei.

Boryana wiederholte weinerlich die Meldung, die sie gerade von dem noch im Flur stehenden Arbeiter bekommen hatte.

Dano Georgiev Aleksandov wurde zwei Stunden später von seinen Stallarbeitern unter einem Baum mit einem Genickbruch aufgefunden. Drei Tage danach fand die Beisetzung am gutseigenen kleinen Friedhof statt. Immerhin war das eine der kürzesten Ehegemeinschaften, die je auf diesen Gutshof stattgefunden hatte.

Die Zeit der Trauer ging schneller vorbei, als die Witwe je denken konnte. Sie war in diesem Jahr mit Arbeit völlig zugedeckt und auch manches Mal leicht überfordert. Sie musste hart kämpfen und war vorwiegend mit der Beseitigung von Müll sowie gleichzeitig mit den angedachten Projekten, die sie mit ihrem verunglückten Mann schon eingehend besprochen hatte, beschäftigt. Unter dem Begriff Müll sollte man nicht Mist oder Ähnliches verstehen, besser man würde es mit Ballastabwerfen umschreiben.

Und da gab es doch jede Menge davon.

Im Jahre neunzehnhundertsechsundneunzig wurde nämlich von seitens der Witwe mit viel Energie und einem kaum beschreibbaren Ehrgeiz begonnen, eine wunderschöne Blütengartenlandschaft zu errichten, von der ja bereits schon die Rede gewesen war. Der völlig herabgewirtschaftete, brachliegende Wiesenboden sollte wieder zu neuem Leben erweckt werden. Die Idee der Gutsherrin begann eigentlich mit einem Zaubermärchen.

So unwahrscheinlich das auch klingen mag.

Dieses Zaubermärchen beginnt zwar nicht mit – Es war einmal – oder anderen den Brüdern Grimm angelehnten Einführungen, sondern mit beinharten durchgezogenen Regieanweisungen, mit massiven Erdbewegungen durch Maschinen und Menschen. Das Gesamtkonzept sollte letztendlich den Geist der bühnenerfahrenen Gutsbesitzerin widerspiegeln.

Sie hatte selbstverständlich im In- und Ausland genügend Freude an der Strippe. Unter anderem auch ein Ehepaar aus dem südlichsten Teil von Bulgarien. Die beiden waren anerkannte Landschafts- und Gartenarchitekten. Diese Drei gemeinsam gestalteten nun auf der etwas mehr als fünf Hektar großen Wiese dieses mehr als ansehnliche Kunstwerk eines in Zukunft zu nennenden Blütengartenmeeres.

Um das Zaubermärchen für die Besucher des Blütengartenmeeres noch ein wenig realistischer erscheinen zu lassen, ließ man auch die Sicht auf das Schloss in die Architektur der neugeschaffenen, nicht mehr total flachen, sondern künstlich stückweit hügeligen Landschaft miteinfließen. Deutlich noch ein Stück weiter abgerückt von der nicht linear gezeichneten Armutsgrenze vom Dorf Selinkovac, sieht man rund zweihundert Meter vom besuchbaren Blütengartenmeer-Areal entfernt, in einer leichten natürlichen Senke, teilweise Umrisse von dem grauen schlossartigen Gebäude hervortreten. Rund um dieses Bauwerk stehen seit Menschengedenken riesengroße Laubbäume sowie eine schon brüchig gewordene, jedoch immer noch der Qualität entsprechend, mannshohe Festungsmauer. Die Bäume und die Mauer verdecken zum Teil die Sicht auf das Haus.

In Wahrheit ist es ja kein richtiges Schloss. Es wird nur landläufig bei den Dorfbewohnern so genannt. Zu früheren Zeiten war es ein typisches Herrenhaus, besser noch ein Gutshaus, weil es neben der Landwirtschaft auch noch Stallungen für eine ansehnliche Pferdezucht gegeben hatte.

Neunzehnhundertsechsundneunzig wurden von der jetzigen Gutsherrin sämtliche Pferde, bis auf zwei ihrer Lieblingsstuten, verkauft. Sie konzentrierte sich ab nun auf die Kerngeschäfte, um die Lebensfähigkeit des Gutshofes mit seiner umgebenden Atmosphäre zu erhalten.

Dazu gehörte das Blütengartenmeer, das nach dreijähriger Vorlaufzeit, also ungefähr ab dem Jahr zweitausend, jede Menge an Besuchern aus dem Inn- und Ausland herbeilocken sollte. Viel lieber waren der Frau selbstverständlich die ausländischen Besucher, weil die zugegebenermaßen mehr Pulver in ihren Taschen mitführten. Und auf das kam es ja schlussendlich bei ihr an. Sie war süchtig nach Geld, geradezu manisch verrückt danach.

Das gehört jetzt, in diesem Augenblick, wirklich in die Vergangenheit des letzten Jahrhunderts eingereiht. Man durfte, vor allem in Anwesenheit gewisser Personen, gar nicht mehr offiziell über Geld sprechen, außer bei dem Geplapper in der Spelunke, wo noch heute hinter vorgehaltener Hand darüber gemunkelt wird.

Im Blütengartenmeer wurden auch Irrwege angelegt, die so ähnlich wie Labyrinthe gestaltet worden sind. Wenn man mal hineingeraten ist, wird man nur vielleicht eine Spur mehr an Selbstvertrauen benötigen, um wieder den Verstrickungen entfliehen zu können. Am besten man schreitet vorwärts geradeaus. Klüger wäre es aber manches Mal nach rückwärtszugehen. Das könnte wiederum womöglich mit erheblicher Mühe verbunden sein.

Vermutlich gibt es auch andere, nämlich die oberirdischen Verbindungswege zwischen dem Blütengartenmeer, wie die Anlage offiziell auf der Internetwebseite www.bluetengartenmeer.com oder www.flowersgardensea.com beworben wird, und dem Schloss. Es muss sie ja geben, nur wurden diese Wege für die Besucher keineswegs freizugänglich gemacht. Man hatte den Eindruck, irgendwie scheint das alles noch aus der Dornröschenzeit zu sein.

Also doch ein wenig vom Zaubermärchen!

Vor allem bei den unterirdischen Gängen und Stollen, die gewiss nicht alle erhalten geblieben sind, da dürfte das Mystische aus der Sagen- und Märchenwelt noch tiefer im Verborgenen ruhen. Aber ein oder zwei solche unterirdischen Verbindungen wurden wieder instandgesetzt und begehbar gemacht. Man kann diese Stollen mit Fackeln oder Taschenlampen, ohne auf Überraschungen, wie zum Beispiel auf weißverschleierte Schlossgeister, stoßen zu müssen, durchgehen. An eine Elektrifizierung im Stollen wurde auch gedacht. Das heißt, das zweihundertfünfundvierzig Meter lange Stollensystem wird in absehbarer Zeit mit Stegleitungen und in regelmäßigen Abständen mit einfachen Glühbirnen, die aus den Restbeständen der Baumärkte stammen dürften, bestückt werden.

Wie man sogar in Selinkovac und selbstverständlich auch im Schloss weiß, hatte jüngst eine neue EU-Verordnung die Beleuchtungswirtschaft aus dem Gleichgewicht geworfen und dabei die gute alte Glühbirne der Verdammnis zugeführt. Das kam für die dunklen Mächte der Finsternis wie gerufen.

Die nicht immer friedlichen Dorfbewohner bekamen den Umbruch, der im Schloss stattgefunden hatte, leibhaftig mit. Es gab einige Land- und Stallarbeiter, für die es keine Verwendung mehr gab. Diese Leute waren nicht bereit, einfache Gartenarbeiten zu machen. So standen sie halt eines Tages ohne Arbeit da. Andere wiederum, die so flexibel gewesen waren, sich von der Mistgabel auf die Gartenschaufel umschulen zu lassen, für diese paar Jungs war die Umstellung niemals zu einem Problem geworden.

Die gestrenge, wahrscheinlich auch in mancher Hinsicht ungerechte Gutsherrin Mariella Nadja Todorova, hatte im Trauerjahr, wie bereits erzählt, nicht nur die Stallungen leer geräumt und fast alle Pferde verkauft, sie hat auch einen Großteil der Ländereien an die Bauern zu günstigen Konditionen auf neunundneunzig Jahre verpachtet.

Mariella Nadja Todorova war schier besessen von dem Gedanken, nämlich das Blütengartenmeer als einziges Vorzeigeprojekt der gesamten Region, auch vorantreiben zu wollen. Sie wollte unter allen Umständen auf dem riesigen Areal zwischen dem Dorf und dem eingefriedeten Schlosshof einen wunderschönen Blütengarten haben, der ebenso, wie sie selbst, einen internationalen Bekanntheitsgrad samt dazugehörender Bewunderung erreichen würde.

Um dieses Projekt an den Startplatz führen zu können, erarbeitete sie gemeinsam mit dem Architektenehepaar einen logistisch ausgeklügelten Plan aus. Das war gar nicht so einfach. Doch das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Man hätte theoretisch mit dem durchkomponierten Aktenbündel Erfolge auch auf einen kleineren Containerhafen am Schwarzen Meer verzeichnen können.

Kurz und gut, man benötigte auf alle Fälle Fachpersonal, das heißt gutwillige Aufseher und ebensolche fleißige Hilfsarbeiter. Das war jedenfalls Grund genug, vor allem aber deshalb, um eine glaubwürdige Entschuldigung für die radikale Umschichtung der bestandenen Personalressourcen zu erwirken.

Ende neunzehnhundertsechsundneunzig war es dann soweit. Die Vorbereitungsarbeiten für ein zu erwartendes Blütenmeer waren an und für sich abgeschlossen. Schwere Baumaschinen wurden auf Tiefladern aus den Städten herangekarrt, haben wochenlang herumgeackert und wurden danach wieder abtransportiert.

Ungezählte Lastwagen mit oder ohne Anhänger sowie mehrere geschlossene Sattelzüge mit holländischen Beschriftungen brachten monatelang Blumen, Stauden, kleinere Bäume und Ziersträucher sowie auch Dekorationsmaterial auf die Baustelle.

Die von der Pferdemist- zur Gartenschaufel umgeschulten Landarbeiter wurden von den zwei angestellten Berufsgärtnern soweit instruiert, dass sie einfache gestalterische Tätigkeiten ohne Weiteres alleine machen konnten. Insgesamt waren beim Aufbau über hundert Frauen und Männer beschäftigt. Darunter befanden sich auch die zwei Vorarbeiter Adam und Bohdan.

Die Arbeiten gingen zufriedenstellend für die im Zwangsruhestand befindliche Opernsängerin und neuerdings Gutsfrau über die bisweilen noch schmucklose, aber erdverbundene Bühne.

Unberührt blieb aber die uralte, breite und entsprechend hohe gemauerte Einfriedung, die das Schlossareal als Ganzes regelrecht umarmen und beschützen wollte. In der Vorzeit dürfte diese Mauer tatsächlich ein Schutz gegen Angriffe von Feinden gedient haben. Aber ganz soweit dürfte man mit derartigen Vermutungen auch im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht danebenliegen.

Wer im Gutshof wohnte und vor allem was jahraus und jahrein dort geschah, das wusste man bis vor Kurzem nicht so genau. Heute benötigt man gewiss kein Rätselheft mehr, um die Geschehnisse zu ergründen. Im Dorf kannte man die Gepflogenheiten in den fürstlichen Gemächern recht gut. Man war sozusagen bestens informiert darüber.

Das Blütengartenmeer zeigte sich in den kommenden Jahren von seiner prächtigsten Seite. Das kann man wohl ohne Übertreibung so unterschreiben. Es war für alle, für die Dorfbewohner, für die Arbeiter und letztlich für die zahlreichen Besucher, eine gebefreudig angelegte Augenweide.

Im Frühling, vielmehr noch in den Sommermonaten, ja sogar noch tief in den Herbst hinein, zeigte die Anlage mit Stolz, ihre mit Farben und Düften angeregten Blütenreize.

Jede Menge Besucher, durchwegs Touristen, die überwiegend aus dem Ausland herbeigekarrt worden sind, lustwandelten oder drängten sich Jahr für Jahr während der Öffnungszeiten auf den schmalen und breiteren Wegen.

Für die Gartenbesucher war das dahinterliegende schlossähnliche Gebäude ohnehin nie von Interesse. Es gibt auch keine Hinweisschilder im Garten, noch Andeutungen im zweiblättrigen Reiseführer, was es eigentlich mit dem Schloss für eine Bewandtnis hat. Von den Menschen im Dorf, schon gar nicht vom einzigen Gastwirt, sind ohnehin keine Antworten zu erwarten. Die schweigen alle besser noch wie ein Grab. Ganz gewiss den Fremden gegenüber!

Auch die auf den Grünflächen zwischen den Blütenstauden und anderen Zierpflanzen herumirrenden Gärtner schütteln auf Fragen, die im Zusammenhang mit dem Schloss stehen, sowieso nur ihre Köpfe. Mehr kommt da nicht raus.

Seit das Internet, selbstredend auch in diesem Land, sich auf dem Vormarsch befindet, lockt dieses Blütengartenmeer zu bestimmten Jahreszeiten zunehmend eine glücklicherweise nur überschaubare Menge an Besuchern an. Für einen Massentourismus bestand schon bei der Planung kein Interesse. Deshalb wurden auch die Parkplätze, samt der Zufahrt mit einem gehörigen Augenmaß errichtet.

Auf diesem Areal, also außerhalb der Schlossmauer, befinden sich seit ehe und je halbverfallene Gebäudereste und auch einige wenige ganz guterhaltene. Die wurden im Rahmen der Projektgestaltung auch in das Gesamtbild der Gartenarchitektur miteinbezogen. Mit gelber und weißer Farbe wurden diese Bruchstücke, die wahrscheinlich aus einer längst vergangenen Baukunstperiode stammten, geschönt und höchstwahrscheinlich damit auch zusammengeklebt.

Unübersehbar sind für jeden wissbegierigen Kulturreisenden sowie Pflanzenliebhaber, gerade in dieser von den üblichen Reiserouten verschont gebliebenen Kleinod, die ungewollt kulturell botanische Sollbruchstelle. Diese zeigt einen krassen Zwischenraum im Zusammenleben mit der Dorfgemeinschaft einerseits und andererseits mit dem zunehmend herankommenden Tourismus auf. Vorausgesetzt man sieht und spürt ihn auch. Nur weiß man es nicht immer auf Anhieb.

Man lebt hier sozusagen eigentlich zweigeteilt: Dort drüben hinter den zwei Hügeln, die mittlere Armut mit ihren anscheinend glücklich aussehenden Menschen. Vielleicht zwei oder drei Kilometer weit von der Armut in Richtung Südosten, der riesige blütenreiche Garten mit prachtvollen uralten, aber bestmöglich restaurierten kleineren, in Gelbtönen gehaltenen Gebäuderesten, die auch zum Teil für Besucher zugänglich gehalten werden.

Das Prachtstück unter diesen veralterden Bauwerken im Garten ist zweifellos die neu adaptierte Orangerie. Rein von außen betrachtet gibt das Gebäude nicht viel her, das ist schon wahr. Es ist sicherlich ein altes, vielleicht auch kein erhaltungswürdiges Baudenkmal. Wahrscheinlich wurden seinerzeit nicht so lieblose Häuser aufgebaut, wie heutzutage in unserer Salzburger Heimat Zweckbauten errichtet werden.

In der angeblich modernen Zeit stellen hoch qualifizierte Baumeister und Architekten irgendwelche betonierte kastenartige Gebilde um sündteures Geld in die Landschaft und waren noch dazu von sich überzeugt, dass sie damit Meisterwerke errichtet haben.

Doch die Orangerie ist für sich selbst schon ein kleines Meisterwerk. Sie ist mit zierlichen niederen sowie mit robusten höher gewachsenen, zum Teil exotischen Pflanzen prall gefüllt. Kaum ein Mitteleuropäer, vermutlich auch nicht der Fernsehgärtner vom ORF, dürften jemals derartige Prachtstücke gesehen haben. Diese Wunderwerke der Natur zieren das zirka einhundertfünfzig Meter langgezogene und vielleicht fünfzehn Meter breite steinerne, bei näherer Untersuchung leider lieblos gelb heruntergestrichenes Bauwerk. In dieser Größenordnung gibt es weder bei uns in Salzburg noch im angrenzenden Bayern ein vergleichbares Objekt.

Von Jahr zu Jahr erhöhten sich die Anzahl der Gewächse um ein Vielfaches. Vergleichsweise, sozusagen im Parallelschwung vermehrten sich ebenso die ganzjährigen Arbeitsplätze. Was wiederum für die Region besonders wichtig gewesen war.

Selbstverständlich drängt sich für die Touristeninvasionen neben dem Freilandblütenmeer, die Orangerie zunehmend in den Vordergrund ihrer Betrachtungen. Unbestritten ist es ja eine ganzjährige traumhafte Augenweide.

An der Rückseite dieses riesigen Komplexes gibt es mehrere Zugänge zu Räumlichkeiten, die angeblich als Geräteschuppen dienen. Mehr wurde den Gschaftigen gar nicht gesagt.

Von außen konnte man es gar nicht so einfach aufspüren und wer es nicht wusste, vermutlich war es die überwiegende Mehrheit der Dorfbewohner, fand es auch nicht. Undurchsichtig mit rankenden Pflanzen wild verwachsen, konnte man überhaupt nichts auf den ersten Blick erkennen. Den immergrünen Kletterpflanzen übertrug man offensichtlich die Aufgabe, als Vorhang zu dienen. Und diese behinderten die freie Sicht zu einem Eingang.

Eine Geheimtür!

Unbestritten. Es ist eine Geheimtür, hinter der es zu früheren Zeiten nicht nur Geheimnisse geben hatte. Ältere Dorfbewohner wussten von diesem Zugang und sie wussten auch, dass sich dahinter eine fünfundzwanzigstufige hölzerne Treppe verbarg, die in ein zwar nicht streng geheimes, aber gut geschütztes Kellergeschoss hinunterführte.

Vor dreißig oder vierzig Jahren, ganz genau weiß man es heute nicht mehr, befand sich unter dem Gebäude der jetzigen Orangerie ein riesiger Gemüse- und Kartoffelkeller. Und nicht nur das, es gab auch einige abgetrennte Wohnräume, die damals ausschließlich zur Unterbringung der Landarbeiter vom Schlossgut gedient haben dürften.

Der Verwendungszweck hatte sich im Laufe der Zeit doch wesentlich geändert. Man brachte schon lange kein Gemüse oder keine Kartoffeln in den Keller. Auch die kleinen Wohnräume wurden lange Zeit schon nicht mehr benötigt. Lediglich der Modergeruch ist immer noch allgegenwärtig.

Aber den Gerüchten zufolge existieren immer noch einige verwirrende finstere Geheimgänge. Niemand weiß so recht, wohin diese führen. Wer sich dort unten im Dunklen nicht orientieren konnte, würde sich auch tatsächlich verirren. Es gab ja kein hereinströmendes Tageslicht, nur einen festgetretenen Lehmboden, der den Schall unterdrückte wie nichts sonst.

Die Menschen dürften zu jener Zeit Fackeln und vielleicht auch Kerzen zur Beleuchtung verwendet haben. Möglicherweise wurden sogar Karbidlampen, wie sie seinerzeit die Bergarbeiter in Gebrauch hatten, eingesetzt. Man weiß das alles nicht mehr. Schriftliche Aufzeichnungen, so eine Art Schlosschronik, gab es angeblich nicht.

Die Gutsfrau Mariella Nadja Todorova hatte von diesem geheimen Ort, geschweige denn von der Geheimtüre, überhaupt keine Ahnung und das sollte auch noch eine Zeit lang so bleiben. Sie war nie ein Kind von Traurigkeit und lebte gut damit. Für sie lag die Welt, trotz aller Belastungen am Gutshof, offen vor ihren Füssen.

Eines Tages, es war im Monat Juni 2013, erhielt sie einen Brief von Javier de Rossi. Dieser Mann ist kein herkömmlicher Dirigent aus irgendeiner ländlichen Amateurmusikkapelle. Nein, er ist so etwas wie ein Star in dieser elitären Gruppierung. Während ihrer Sängerkarriere als Opernsängerin hatte sie auch mehrfach Gelegenheiten, seine facettenreichen Persönlichkeitseigenschaften kennenzulernen.

Javier de Rossi inszenierte im Sommer 2013 bei den Salzburger Festspielen zwei große Opern. Zu Festspielprämieren, samt den dazugehörigen Feierlichkeiten, wurde sie mit berührend begleitenden Worten, die offenbar von ihm selbst in deutscher Sprache handschriftlich verfasst worden waren, eingeladen.

Mariella Nadja Todorova nahm die gastfreundliche Einladung, ohne länger nachzudenken an, buchte im Internet ihr Flugticket und flog anfangs August 2013 mit Bulgaria Air von Sofia nach Salzburg.

Die Wiedersehensfreuden zwischen dem Einlader einerseits und der eingeladenen Primadonna andererseits hielten sich allerdings streng an die Etikette. Wie sich zum Leidwesen von Mariella Nadja Todorova herausgestellt hatte, machte Javier de Rossi ohne seine Frau an seiner Seite keine privaten Experimente mehr. Das schien zu bedeuten, dass dem ehemaligen Charmeur von seiner Angetrauten persönlich die Fallbäume der Entbehrlichkeit vor seinen Augen und seiner Nase herabgelassen worden sind.

Die ehemals gefeierte Primadonna wurde vom Ehepaar de Rossi am Flugplatz in Salzburg mit einem Taxi abgeholt und sogleich ins Hotel gefahren. Mariella Nadja Todorova hatte ihre Flugreise in einem eher komfortlosen Flugzeug der Type Tupolew, noch dazu mit allerhand thermischen schlaglochartigen Unregelmäßigkeiten, hinter sich gebracht. Im Hotelzimmer verbrachte sie nun geraume Zeit zum Ausruhen und noch mehr hinter einem riesigen Doppelspiegel. Dabei versuchte sie nun, entsprechend der Salzburger Festspielzeit, sich artgerecht herauszuputzen. Stunden später schlenderten sie dann als quasi abmontierte ehemalige Promadonna in der Kulturinnenstadt von Salzburg ziel- und planlos umher. Man erkannte sie nicht mehr! Eigentlich traurig.

Mariella Nadja Todorova wollte über die formelle Einladung von Javier de Rossi hinaus, noch persönliche Interessen am Salzburgaufenthalt wahrnehmen. So hatte sie sich das entsprechende Konzept schon zuhause vor ihrem Abflug zurechtgelegt. Sie hatte sich nämlich vorgenommen, neben den bereits zugesagten Prämieren Einladungen, noch zwei Opernaufführungen sowie auch das eine oder andere Solokonzert besuchen zu wollen. Deshalb verlängerte sie dann selbsttätig ihren Aufenthalt noch um eine Woche. Sie blieb also bis Ende August in Salzburg.

Für sie war die briefliche Einladung jedenfalls eine Überraschung. Ob diese nun fremdgesteuert oder von irgendwem von langer Hand vorbereitet worden war oder nicht, das war ihr in Anbetracht der beglückten Umstände eigentlich auch egal. Nur sie war immer schon ein wenig misstrauisch gewesen und ließ Zufälle gar nicht gerne an sich herankommen.

Mit kleinen Ausnahmen versteht sich. Zum Beispiel galant geführte Annäherungsmanöver, insbesondere solche, die vom anderen Geschlecht ausgestrahlt werden, denen war sie allerdings nicht nur mit ihren Sinnen ausgeliefert, sondern oftmals sogar körperlich buchstäblich unterlegen. Solche Begebenheiten gehörten aber bereits der länger zurückliegenden Vergangenheit an.

Am Ankunftstag abends um neunzehn Uhr dreißig begann auch schon die erste Opernaufführung. Und dieser Abend sollte ihr eine weitaus größere Überraschung zu bieten haben, als sie sich je im Traum hätte vorstellen können.

Die Überraschung saß nun rein zufällig, wie sie zu allererst vermutet hatte, neben ihr auf einem gepolsterten Logenplatz. Unter ihrer kaum geschminkten Gesichtslandschaft dürften dann doch unbeabsichtigte Rottöne, wie eine Rakete, die soeben auf Cape Canaveral Air Force Station abgeschossen worden war, hervorgetreten sein.

Sie hatte ihn seinerzeit auf einer Tournee in Argentinien kennengelernt. Damals stand auch der gute Javier de Rossi am Dirigentenpult. Was für ein Zufall!

Ein alter Bekannter also, der hier neben sie Platz genommen hatte, beziehungsweise, der schon vor ihrem Erscheinen in der Loge gewesen war. Nein, bitte als alt würde sie den gutaussehenden Vertreter des männlichen Geschlechts auch im Moment der Betrachtung nicht bezeichnen mögen. Er war ja angeblich gut fünf Jahre jünger als sie. Und eine so toll herausgeputzte Dame dürfe man beileibe nicht nach ihrem Geburtsdatum fragen. Das gehört sich nicht. Ausgenommen man weiß es ja, wie im Falle von Mariella Nadja Todorova, wo man ihre Daten vollinhaltlich aus dem Internet jederzeit entnehmen kann. Im Facebook zum Beispiel. Oder auf frühere schon längere Zeit nicht mehr aktualisierte Homepages.

Nur über den neben ihr sitzenden Mann selbst gab es keine absolut richtigen Daten im Web. Das hatte selbstverständlich auch seine Gründe und hiervon gab es halt einige mehr.

Der Stardirigent Javier de Rossi hatte seinerzeit als junger Wilder, wie man damals die Strömung verharmloste, das Techtelmechtel zwischen den beiden in Argentinien hautnah mitgekriegt. Es besteht jedenfalls unbestritten Grund zur Annahme, dass sich Javier de Rossi mit der immerhin gezielt ausgesprochenen Einladung rächen werde wollen. Seine Frau Alice spielt in dem theatralischen Rachefeldzug eine für Altistinnen komponierte Hauptrolle.

Oder? Stimmt doch!

Javier de Rossi sieht das naturgemäß ganz anders. Das ganze Prozedere als Rachefeldzug zu benennen, wäre für ihn ein viel zu schlimmes Wort und vor allem eine viel zu einfache Lösung.

Unbestritten, eine gewisse Genugtuung würde es ihm schon bereiten, wenn er gegen den aufgeblasenen Pfau schlussendlich als Sieger dastehen würde. Was selbstverständlich nur akademisch gemeint sein kann. Weil Treue wem Treue gebührt, das war schon (fast) immer sein Slogan gewesen.

Um der Glaubwürdigkeit, als auch der Ehrlichkeit, einen ihnen gebührenden Auftritt zu verhelfen, darf man schon aus dem musikalischen Nähkästchen das eine oder andere ausplaudern.

Seinerzeit in Argentinien war das so, zumindest aus der Sicht der Beteiligten. Der damals in einem Opernhaus verpflichtete Musikdirektor Javier de Rossi war im Kollegium als vielbeachteter Frauenheld wie ein bunter Kanarienvogel, weit über das glänzende Programmheft hinaus, bekannt. Er umwarb nicht nur auf den virtuos musikalisch basierenden Wegen seine Primadonna, sondern versuchte auch, über den inzwischen ausgeleierten Trampelpfad „Der sinnlichen Täuschung“ das Ziel seiner männlichen Begierde zu erreichen.

Sie hingegen lehnte Flirts, aber auch mögliche, rasch hervorbrechend und eventuell sogar nachhaltige Scheinbilder, die noch dazu von einem im Grunde beruflich mit ihr verbundenen Vorgesetzten den Ausgang gefunden hätten, grundlegend ab. Sie wollte von ihm, selbstverständlich nur bildlich gesprochen, auf Siegerpodeste feierlich gehoben werden. Ja, das wollte sie schon! Aber mehr nicht. Zum Hinuntersteigen benötigte sie keine Hilfe und seine schon gar nicht mehr. Das schaffte sie alleine noch sehr gut.

Zudem war damals und auch noch heute Javier de Rossi mit der gutaussehenden Alice de Rossi, eine inzwischen berühmt gewordene Altistin, verheiratet. Das Ehepaar hatte auch noch zwei liebreizende Kinder im Gepäck. Heute dürften diese bereits dem Erwachsenenalter schon sehr nahe gekommen sein.

Der edle Ritter Javier wollte damals ganz bestimmt nicht nur am Klavier die Stimmlagen von Alt auf Sopran einer Prüfung unterziehen. Eher wollte er die beiden Gesangfreudigen hinsichtlich ihrer verfügbaren und einsetzbaren Oktaven vergleichen. Selbstverständlich nur in Wahrung des guten Glaubens versteht sich.

Womöglich reizte es ihn, auch abseits jeglichem musikalischen Bereichen, Tauschgeschäfte auf des Messers Schneide der Qualifizierten balancieren zu können. Auf solche gefährlichen und vor allem scharfen Balanceakte wollte sich die hochgefeierte Operndiva und Sopranistin Mariella Nadja Todorova keinesfalls begeben.

Javier de Rossi war und ist noch immer in ihren Augen ein lieber Kerl. Ihm fehlte aber eine entsprechende charismatische Ausstrahlung. Emotional fehlte ihm sogar der Sexappeal, der zu mindestens Frauen magnetisch zum An- beziehungsweise zum Ausziehen veranlassen würde.

Im Gegenteil, er trägt andauern, ob nun beim Mittag- oder Abendessen, wahrscheinlich auch beim Frühstück und in den finsteren Nachtstunden im Schlafzimmer, betont taktvoll seine streng musikalische Disziplin zur Schau. Darüber hinaus bewertet er das zu erreichende Ergebnis auch noch mit Noten. Erschreckend.

Im Innersten seiner Gefühlswelt, wenn er zum Beispiel einmal die Noten der Partitur für den Bruchteil einer Zeit beiseitegelegt hatte, ist er in Wahrheit ein mit allen Wassern gewaschener Schürzenjäger, der gewiss nicht aus dem Zillertal entflohen ist.

Mariella Nadja Todorova und der Dirigent sind auch im Wesen grundverschiedene Menschen. Er liebt die Musik und die Frauen über alles. Sie das Geld, die Juwelen und all den Reichtum, den sie nur für sich selbst verfügbar machen konnte.

Diese Lebensphilosophie führt zu Problemen, wie man weiß.

Damals in Argentinien umkreiste in ihrer Nähe ständig ein anderer männlicher Schatten, der auch bei Dunkelheit von ihr nicht zu weichen bereit gewesen war. Somit stand ihr nicht nur eine helfende Hand zur Verfügung. Oftmals waren es sogar beide, die mit beidseitigem Vergnügen stets bereit gewesen sind, die sing- und trinkfeste Operndiva, vorzüglich in schwachen Momenten auf den Pfad der sündhaften Begehrlichkeit zu lenken. Solche Augenblicke der Freude gab es gewiss mehrere, doch darüber schweigen sich die Chronisten bis heute aus. Lediglich in den Klatschbörsen diverser Schmuddel Lektüren könnten man bei Ausgrabungen ohne Weiteres fündig werden.

Beim Stardirigenten und Musikdirektor Javier de Rossi musste sich bei dem Anblick der Geschehnisse zwangsläufig alles zurückziehen, wovon er überzeugt gewesen war, dieses ihr bieten zu können. Das war jedenfalls für das arme Musikgenie eine herbe Enttäuschung gewesen.

Aber so schnell konnten die beiden auf hohem Niveau rivalisierenden Männer, die wegen ihrer Herzdame unabhängig voneinander eine schnöde Werbekampagne veranstalteten, gar nicht ein – beziehungsweise ausatmen, da musste auch schon der Vorhang fallen. Die stolze Mariella Nadja Todorova war vertraglich gezwungen, ihrem Manager Folge leisten. Sie musste umgehend zum nächsten Arrangement nach Nordamerika weiterreisen. Punkt und aus!

Gerne wäre sie bei dem aufgeblasenen Pfau, wie ihn der Herr Musikdirektor mehrfach geheißen hatte, geblieben. Darüber dachte sie oft und sehr intensiv nach. Doch ihre rasant steil bergauf davoneilende Karriere trieb sie förmlich wie eine Wildgewordene vor sich her. Vielleicht war sie tief in ihrem Innersten schon wehrlos geworden.

Demgegenüber stand zweifellos ihr Können und was noch ausschlaggebender für sie gewesen sein dürfte, sie wollte unter gar keinen Umständen auf Glitzer und Gloria sowie auf den Applaus, der in Strömen aus dem Publikum kam, verzichten. Überdies, und das schien das Wesentlichste gewesen zu sein, musste sie ihre Vertragsverpflichtungen erfüllen. Daran war nicht einmal leise zu rütteln.

Die Rückseite der Medaille war ebenso glasklar. Der offenbar schwerreiche Mann, der sich ihr gegenüber Santino nannte, konnte aus geschäftlichen Gründen auch nicht so mir nichts dir nichts all seine vorgeschobenen Errungenschaften aufgeben. Angeblich hätte er frühestens erst in zwei Jahren das Land verlassen können.

Mariella Nadja Todorova fühlte sich damals wie eine Zerrissene, wie aus der Literatur von Shakespeare. Oder erdachte das jemand anderer? Wurscht. Dieses Dilemma, das auf sie zukommen hätte können, wollte sie nicht erleben. Jeder unbeteiligte Außenstehende wird das wohl auch verstehen.

Das war sozusagen die Vorgeschichte einer ausgeschlagenen Liebeserklärung einerseits und einer durchaus stattgefundenen Liebelei, die womöglich eine Zeit lang von Schmetterlingen im Bauch der Dame begleitet worden war. Wer weiß das schon!

Nur Javier de Rossi hätte damals in Argentinien vermutlich diesen arroganten, salonlöwenauftretenden Playboy leicht durchschauen können, wenn er mehr von seiner Zeit dafür investiert hätte. Die Zeit nahm er sich nicht. Auch wollte er seine Nase nicht zum Herumschnüffeln in private Angelegenheiten allenfalls entehren. So blieb er in all den Jahren bei seiner angetrauten Altistin Alice. Gelegentlich wühlte er halt mit mehr oder manches Mal mit deutlich weniger Erfolg in den unter Naturschutz befindlichen Gärten von Sopranistinnen. Diesen Zauber der Soprannaturgewalten suchte er leidenschaftlich zu ergründen. Weil Alt hatte er ja zuhause.

Doch eines kann mit Gewissheit behauptet werden und wahrscheinlich sogar von einer unbestimmten Nachhaltigkeit geprägt worden sein: Javier de Rossi erlitt durch den Abweisungsantrag von Mariella Nadja Todorova in seinem gespaltenen Doppel-Ich-System tiefschürfende seelische Verletzungen. Zum Glück begnügte sich sein EGO letztlich mit einigen Kratzspuren, die allerdings bis heute kein Psychiater zur Gänze ausradieren konnte.

Daher war der gute Mann ständig bemüht, in seinen konzertanten Interpretationen Szenen unter Zuhilfenahme von staccato düstre Pläne zu schmieden. Er hoffte innig, dass es ihm eines Tages gelingen möge, dem seinerzeitigen Getue zwischen dem aufgeblasenen Pfau und der Sängerin, einen Streichcode zu verpassen, der dann hoffentlich die übriggebliebenen Kratzer endgültig beseitigen würde. Bestimmt würde er das bei Gelegenheit mit den Tönen der Dichtkunst, samt dem eingeschmuggelten staccato bewusst in Szene setzen.

Alice und Javier de Rossi wussten vermutlich als eine der wenigen lebende Zeitgenossen stets Bescheid, wo sich die zwei ehemaligen Turteltäubchen aufhalten. Alle beide sind zurzeit in Europa. Allerdings in verschiedenen Staaten der Europäischen Union. Diese Details waren ohnehin nicht ausschlaggebend für die Erstellung eines Masterplanes.

Alice und Javier de Rossi hatten ja schließlich ihre Kontakte zu der liebreizenden Opernsängerin Mariella Nadja Todorova, auch nach ihrem plötzlichen Karriereende, niemals vernachlässigt, geschweige denn je unterbrochen. Es gab neben dem regen E-Mail-Verkehr im Lauf der Jahre auch ungezählte Telefonate. Insbesondere wurden gegenseitige Glückwünsche, zum Beispiel zu Geburtstagen, ausgetauscht. Manches Mal wurden sogar wunderschöne Weihnachts- und Neujahrskarten verschickt. Darüber hinaus musste Alice de Rossi auftragsgemäß ein Familiengeheimnis, das einzig und allein Mariella Nadja Todorova betraf, hüten wie ihren Augapfel.

Die in verschiedenen Melderegistern eingetragenen Wohnadressen des männlichen Pedanten kannte aber nur Javier. Er bewahrte ebenso dieses Geheimnis und offenbarte es nicht einmal vor seiner Ehefrau.

Die beiden Männer hatten hin und wieder Geschäftliches miteinander zu besprechen. Was genau, das weiß vermutlich nur Jedermanns-Teufel. Weil der war ja auch zweimal dabei. In den vergangenen zwei Jahren wurde hierfür ein spezielles Restaurant in Salzburg als Treffpunkt ausgewählt.

Wenn Javier die geheimsten aller Klatschereien, die rund um den aufgeblasenen Pfau sogar unterhalb der letzten Schublade gehandelt worden waren, voll und ganz Beachtung schenken würde, dann, ja dann müsste er eigentlich heute noch zur Polizei gehen. Das wollte er dann auch wieder nicht.

So wusste halt Javier de Rossi noch bedeutend mehr über ihn, als es für die beidseitigen Geschäftsbeziehungen notwendig gewesen wäre. Doch darüber sprechen wollte er auf keinen Fall. Seiner Meinung nach käme es einer unseriösen Haltung gleich. Nirgends gab es objektive Beweise und im Gerüchtemeer ging er nicht fischen. Deshalb lagen die Informationen mehr oder weniger im Gebot des Schweigens vergraben.

Santino war so eine Art von Kosename, den er sich einschmeichelnderweise, während seiner langjährigen Aufenthalte in Argentinien und in anderen südamerikanischen Staaten nur für das fesche attraktive weibliche Geschlecht vorbehalten hatte. Sein richtiger Name ist Maximilian Graf.

Er ist deutscher Staatsbürger und lebte in den letzten fünfzehn Jahren in Südamerika, vorwiegend in Argentinien. Dort hatte er sich auch ein kleines Imperium aufgebaut, das ihm zu ansehnlichem Reichtum verholfen haben musste. Welcher Art von Geschäften er dort nachgegangen ist, weiß nicht einmal Google. Und das ist heutzutage schon eine Besonderheit.

Seit Ende zweitausendzehn lebt und fuhrwerkt der Gute als angeblicher Geschäftsmann im südbayrischen Raum. Verzeihung - er frisst und sauft sich quer durch die politische und kulturelle Oberschicht und erlangt darüber hinaus durch seine dubiose Spendenfreudigkeit ein respektables Ansehen. Auch bei den Oberbürgermeistern und bei den einen oder anderen Landtagsabgeordneten genießt er bereits das kumpelhafte Du - und woasst eh wos – und noch viel mehr des Preußens unschöne Ausdrücke.

Mittlerweile wird Maximilian Graf auch in seinem ausgesuchten personifizierten Umfeld schlicht und einfach Maxl gerufen, was selbstverständlich bei profunden Theaterbesuchern eine sogenannte Gedankenverknüpfung zum hinreichend bekannten Komödienstadel bewirken hätte können, wenn auch das Äußere gepasst hätte. Das war zum Glück nicht so, sonst würden so manche ehrwürdigen damaligen Schauspieler in ihrer Grabesbühne den Vorhang zu machen.

Jedenfalls ist der Graf Maxl ein ausgefuchster zugleich ideenreicher und sprachenbegabter Fuhrwerker. Zwar nicht unbedingt von Berufs wegen, aber immerhin ein solcher. Gerüchte zufolge dürfte er dem Diplomatischen Corps zwar nicht zugehörig gewesen sein, aber trotzdem mit einigen von diesen Großkopferten immer noch mitmischen oder zumindest mit der oder dem mitgemischt haben. Mithilfe einigen wenigen, am internationalen Bankett herumstreunenden Damen und Herren, gelangte er, nicht nur in Argentinien, nach entsprechenden Schmieraktionen zu Ehre und Anerkennung.

Wie das im täglichen Leben für Normalsterbliche machbar sein könnte, bleibt dem Talent der Auserwählten vorbehalten. Und so ein mit allen Wassern gewaschener Komödiant war halt der Maxl ebenso.

Um das Umfeld etwas näher ausleuchten zu können, darf noch hinzugefügt werden, dass zwei seiner damaligen engsten Mitarbeiter in den letzten drei Jahren auf Staatskosten in einem ehemaligen Urlaubsparadies, im Einzugsgebiet von Buenos Aires, direkt am Rio de la Plata, mehr festsaßen, als freiherumzulaufen. Die beiden deutschen Staatsbürger kehrten mit einer Lufthansamaschine, mit freundlicher Begleitung von zwei bewaffneten Staatsdienern der Republik Argentinien, die ihnen überdies als Andenken silberfarbige metallene Armbänder verspasst hatten, wieder nach Deutschland zurück.

Um es präziser darzustellen: Die vier Personen landeten auf dem Airport in München, wobei die zwei Deutschen die silberfarbige Erinnerung an die Staatsmacht von Argentinien wieder zurückgeben mussten. Quasi als Entschädigung dafür erhielten sie dann bei der freundlichen Übergabe von zwei finster dreinschauenden Langweilern postwendend, allerdings vorübergehend, zumindest Ähnliches in stahlharter deutscher Präzisionsarbeit.

Unser Dirigent Javier de Rossi hatte zwar niemals den Reisepass vom aufgeblasenen Pfau Santino, gesehen oder gar in der Hand gehabt, aber er wusste seit Längerem aus zuverlässiger Quelle, wie dieser Mann tatsächlich heißt.

Diese hervorsprudelnde Quelle ergoss sich aus einem Jagdrevier im Berchtesgadener Land. Der dazugehörige Jagdpächter ist niemand anderer als der Industrielle mit dem klingenden Namen Dietwald Rothgleiber. Ursprünglich ist er ein Zuagroasster aus Berlin, wie die eingeborenen Bayern im Gebirge so daherreden. Über diesen überaus freundlichen und integrationsfähigen Preußen in Bayern wird man das eine oder andere noch aus dieser Erzählung vernehmen können.

Der eigentliche Ursprung, aus der alles Mögliche wie Unmögliche nur so heraussprudelt, ist wahrlich ein Mann. Er ist die leibhaftige Tratschkiste, aus der man alles Erfahren konnte, was man gerade hören wollte. Das ist eigentlich das Geheimnis. Der Wahrheitsgehalt liegt selbstverständlich hier nicht auf der Waage, sondern eher schon im Argen.

Überaus redefreudig ist er schon immer gewesen, der Aufsichtsjäger von Dietwald Rothgleiber. Seinen richtigen, nämlich den urkundenfähigen Namen Mürzschlaghofer Peter, den kennt kaum wer in der Region. Ganz gewiss wird sich noch seine Frau Resi an den Familiennamen erinnern. Eigentlich heißt sie ja Theresia Magdalena Mürzschlaghofer, geborene Schneider. Aber Schneider heißt sie schon sehr lange nicht mehr.

Ihr Mann, der vor einigen Jahren zum Aufsichtsjäger ernannt worden war, wird von allen Jagdgästen ausnahmslos nur Mürz Peda gerufen. Unter diesen Doppelnamen kennt man ihn auch unter den Jägern in der Region, sogar bis hinauf zum Chiemsee auffallend gut.

Zweimal schon war der Dirigent Javier de Rossi als Jagdgast beim Mürz Peda. Wir alle Lebenden und stets Jagdbegeisterten wissen, ja kennen vor allem das alles durchdringende Sprichwort: „Da Teifl schloft net.“

Und dieser Lehrspruch hat schon etwas auf sich.

So war es auch hier einmal im Berchtesgadener Land, und zwar im Jahre zweitausendzehn oder elf. Jedenfalls spielte der Jedermann nicht mehr vor dem Dom zu Salzburg. Präziser kann man die Zeit nicht mehr zuordnen oder zurückverfolgen. Auf jeden Fall war ein gemeinsamer Jagdausflug an einem wunderschönen Herbsttag angesagt. Da stand er plötzlich neben ihn. Der Santino!

In weniger als zwei Minuten stellte er sich selbst unter seinem Namen Maximilian Graf, genannt Maxl, vor und tat so, als würde er ihn nicht mehr erkennen. Also gut dachte sich Javier de Rossi, ein Schauspieler war er auch noch. Und was für einer, das musste er wohl oder übel zur Kenntnis nehmen.

Erst nach zwei Tagen, am Ende des weniger erfolgreichen Jagdausfluges, stellte ihm Javier de Rossi ein paar verhängnisvolle Fragen, auf die der sprachengewandete Santino spontan, ohne zu überlegen, eine Antwort parat hatte.

Aufgrund dieser zum Schein vor sich hergetragenen Ehrlichkeit ließ sich Javier de Rossi nicht lumpen. Er stellte zumindest eine Einladung zu einem Fest im Rahmen der Salzburger Festspiele, das in Bälde stattfinden werden wird, für den Lumpen aus Neugierde in Aussicht.

Ganz hundertprozentig überzeugt war Javier de Rossi, hinsichtlich des Namens Maximilian Graf immer noch nicht. Das war aber letztendlich rein akademisch spekulative Nervensache, mehr nicht. Viel interessanter schien ihm doch der Hinweis von einem Insider aus dem Orchestergraben zu sein. Aus diesem mit Kreativität vollgestopften Untergrund wurde ihm vertraulich zugeflüstert, welche Art von Geschäften dieser Maximilian Graf, vornehmlich in bevorzugten Gesellschaftskreisen, im Grunde nachzugehen pflegt.

Javier de Rossi exerzierte mit der gespreizten Aufgeregtheit und Wildheit seiner Oberarme, wie ein unentschlossener Partitur Studierender, der sich vor dem nahenden Ertrinkungstod zu retten versucht, seine gefühlte Dramatik. Desgleichen übertrug er mit anwachsender Sturheit die Geheimnisse aus dem vor ihm liegenden Notenbild auf die brav vor ihm sitzenden Musiker.

Diese Art von Bewegungsrhythmen vollführte er beinahe graziös am Pult des Dirigenten Macht, allerdings mit seinem ihm zugewiesenen meterlangen Zahnstocher. Diesen Zahnstocher, ein Instrument Relikt aus der Vorvergangenheit, taktierte er wohlüberlegt stets vor den Augen der Musizierenden. Der war stets griffbereit in seiner Hand, um damit Ungewöhnliches, ja derweil sogar auch sehr Erstaunliches zu vollbringen. Im Grunde waren es - nüchtern betrachtet - Noten! Ja, einfache, mit allen möglichen Firlefanz versehene Musiknoten, die stets ausgebreitet vor ihm lagen.

Erstaunlicherweise gab es noch Gerüchte, die aus der Basis seiner Saiteninstrumentenquäler über Noten ganz anderer Art entstanden sind. Dieses Herumgerede bedrückte ihn so sehr, dass seine Gedanken unaufhörlich ziel- und planlos zwischen den vernetzten Grundmustern in seinem Hirn wie wild herumschwirrten.

Außerdem kämpfte er seit jener Zeit mit nervösen Schlafstörungen, die ihn vorwiegend Untertags am Dirigentenpult zu überfallen drohten. Er bemühte sich deshalb auch um ärztlichen Beistand. Helfen konnte ihm niemand, nicht einmal eine flotte medizinisch ausgebildete Assistentin. Das daure eben alles seine Zeit, wurde ihm vertraulich des Öfteren zugeflüstert. Bloß eine Beruhigung seines Selbst trat nicht ein.

Wie schon vorhin angemerkt, vertiefte er sogar in der Höchstform des Aufgewühlt-Seins seine geschäftlichen Beziehungen zum Graf Maxl.

Ein psychologisch wertvoller, wohldurchdachter Pakt, den er mit seiner geschätzten Altistin auf der Bühne, zugleich seiner Ehefrau sozusagen im heimatlichen Hafen, geschlossen hatte, brachte schlussendlich die beiden auf die geniale Erleuchtung. Einzig und alleine aus der egoistischen Grundidee heraus, seine Schlafstörungen endgültig und dauerhaft beseitigen zu wollen, kam ihm das Übereinkommen mit seiner Alice auf wundersame Weise entgegen.

Deshalb dachte er auch relativ lange darüber nach. So lange, bis die Bilder klar vor seinem geistigen Auge aufgetaucht sind. Dann formulierte und speicherte er die etwas verkompliziert anmutende Geschichte in seinem Hinterkopf beispielsweise so ab: Es würde ihn und seiner Alice eine besondere, allerdings hinterfotzige Ehre sein, die Neogutsfrau und ehemalige Sopranistin nach Salzburg einzuladen.

Wesentlich weniger von seinem außerordentlich vorhandenen geistigen Fassungsvermögen verlangte das unter allen Umständen notwendige Gegengewicht. Es sollte nämlich ein virtuelles Zusammenspiel zwischen Mariella Nadja Todorova einerseits und mit ihrem ehemaligen Verehrer Santino abseits der Bühne werden. Hier in Bayern verwendete er den klangvollen, aristokratisch klingenden Namen - Maximilian Graf.

Geschickt ließ Javier de Rossi von seinem Sekretariat alles soweit arrangieren, damit ja keine Zu- und Zwischenfälle seine Vorhaben plötzlich auf verschiedenen Gleisen in den Kopfbahnhof rollen.

Das war schon eine Meisterleistung an verbrauchter Logistik, wenn man mit einem Auge scharf auf die Opernprämieren von Die Meistersinger von Nürnberg hinschielen musste und mit dem anderen ein Drama an übermenschlichem Wirrwarr in Szene setzen sollte. Aber ohne den Mechanismus der Regie zu Hilfe zu nehmen, geht es halt kaum bis gar nicht. Das ist im Reich der Kunst ebenso, als auch in der politischen Landschaft. Ob es einem nun recht ist oder nicht.

Die Verteilung und die Bewertung der Freikarten zu den Erstaufführungen der Opern Don Carlo und Die Meistersinger von Nürnberg sowie dem Konzert El Sistema - Simón Bolívar String Quartett war ohnehin nur ein Klacks. Bei den Zimmerreservierungen da musste man sich schon sehr anstrengen, damit das gewünschte Ziel schließlich auch erreicht werden konnte. Ansonsten wäre der gesamte Plan vermutlich bereits am Beginn zum Scheitern verurteilt.

Es war nicht nur die Unterbringung im selben Hotel während der Hochsaison und Festspielzeit ein Problem, sondern es sollten die zu buchenden Appartements im selben Stockwerk sein und womöglich noch Tür an Tür angrenzen. Das waren zwar der guten Wünsche viel auf einmal. Nahezu alle angesprochenen Hotelmanager bekamen heftigen Schluckauf ob dieser ausgefallenen Sonderwunschbetreuung. Ausgebucht ist ausgebucht, obwohl schon mitunter überbucht. Auch gut! Aber Badewannen kann man sehr schwer im Keller aufstellen, denn dort ruhen ja die fleißigen Mitarbeiter der Touristennächtigungsbranche.

Nur Javier de Rossi, der so viel Geld in den verschiedensten Währungen zur Umsetzung für die Wirtschaftsbelebung der Stadt laufend mühsamst herankarrt, den muss man weiß Gott entgegenkommen. So angespornt ließ der Stardirigent all seine eingespannten Zugpferde vorrangig den schwerbeladenen Karren hauptsächlich im Festspielbezirk der Stadt in der herumziehen.

Schließlich gelang es einer jungen frischgefangenen Mitarbeiterin, nach zweitägigen Umplanungen sämtlicher Fixtermine im Hotel, alle Wünsche ihres Chefs, zumindest die von ihm geforderten, auf einen Nenner zu heben. Das war jedenfalls eine sehr lobenswerte Aufgabenlösung, für die sich der Dirigent dann auch bei der jungen Frau mit einer zusätzlichen Freikarte bedankte.

Und die hätte er sich auch sparen können. Sie hatte ja schon zwei. Aber es gab wie immer ein Schlupfloch. Nämlich der Schwarzmarkt. Dieser hatte in seiner Bewertung im Vorjahr ausgedehnte und wohl dotierte Ausmaße erreicht. Gerade dort wird hoffentlich so eine kleine Eintrittskarte von einer hübschen jungen Dame in Smartes umzuwandeln sein. So ähnlich könnte bei der Empfängerin der unkomplizierte Gedankenablauf, augenblicklich nach dem Erhalt des Tickets, über ihre geistige Bühne abgelaufen sein.

Während der vergangenen zwei Wochen habe ich hin und herüberlegt, wie ich mit den Lesern, und zwar mit euch allen, ja genau mit ihnen auch, in Zukunft verkehren möchte. Bei uns im Pinzgau ist das nämlich so: Wenn man sich untereinander schon ein bisschen kennengelernt hat, so wie wir zum Beispiel, da genügt dann schon ein Nebeneinandersitzen im Theater oder halt auch im Caféhaus bei uns im Dorf. Dabei kann es schon vorkommen, dass man sich locker und ungezwungen miteinander zu unterhalten versucht. Die Themen über die man diskutiert sind dabei völlig wurscht und nebensächlich.

Um es kurz zu machen, ich bin die Jeannine.

Wer das nicht aussprechen kann, soll mich halt Schani nennen. Meinen Vornamen habe ich mir ja, wie die meisten Kinder auch, selbst nicht aussuchen dürfen. Als die Entscheidung bei meinen Eltern darüber gefallen ist, war ich ja noch ein kleiner Windel Popper. Pampas oder das andere moderne Zeugs gab es ja damals zu meiner Zeit noch nicht.

So – ich möchte mich in aller Form zunächst bei euch für euer Verständnis bedanken. Ich glaube mir werden in Zukunft ganz gut miteinander auskommen. Für mich ist es jedenfalls angenehmer euch mit dem wohlwollenden Du anzusprechen, als mit dem ausgeflippten und überdrehten Siezen. Einverstanden?

Ob das Du-Wort Angebot auch der vorwärtsdenkende bücherschreibende Erzähler je einmal annehmen wird? Darauf bin ich schon sehr gespannt.

Ich werde es, trotz aller Bedenken, versuchen und mit euch ab sofort im Du-Jargon kommunizieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass Persönlichkeiten, wie zum Beispiel die Kanzlerin vom Nachbarland oder ein kaltgestellter Fifa-Präsident oder gar Unterstandslosgewordene diese Aufsätze ohnehin nicht lesen werden. Somit schließe ich ein Klagelied aus diesem Personenkreis jedenfalls aus.

Vielleicht ist es Dir selbst schon aufgefallen, dass hin und wieder einige wenige Gedanken nach vorwärts in die versteckten Winkel in unser Dorfleben drängen. Bei mir ist es so. Wachsam und ängstlich zugleich beleben diese elitären Gedankensplitter eigentlich das Groteske, welche zu meiner Überraschung mit außergewöhnlichen Gedächtnissen ausgestattet sind.

Wenn ich die Gelegenheit habe, so wie jetzt, und meine Scharfsinnigkeit nach vorwärts ausrichte, dann sind die vorherrschenden Wächter, die rund um meine Versuchsanstalt der Heiterkeit herumgeistern, gefordert. Sie alleine selektieren den Zustrom streng nach den Regeln der Gleichmäßigkeit. Sie riegeln ab und sie sperren ab. Aber trotz alledem gestatten meine Zerebrum-Garden auch manches Mal, jedoch nur für einen Augenblick, fremde Gedankencluster hinter meiner Fassade zu kratzen.

Nur eines können diese Heerscharen wohl nicht: Mich daran hindern, mein Vorwärtsdenken zu beschleunigen. Im Grunde meines Herzens bin ich nicht dafür, mein Tempo zu erhöhen. Ganz im Gegenteil. Ich würde behaupten wollen, ich sei der Ursprung der Entschleunigung. Wohl weiß ich, dass die verordnete Entschleunigung in Wirklichkeit auf den Getreideacker gehört und dort abgedroschen werden sollte.

Nur mir fehlen, so blöd das auch klingen mag, die passenden Worte dazu.

Als ich so in mir selbst herumgestochert und wiederholt in diesem mir vorliegenden Manuskript nachgelesen habe, da stieß ich auch auf Anna Maria Fichtlzauber. Da habe ich aber meine Augen noch weiter herausgedrückt, den Absatz gleich zweimal gelesen und erstaunt meinen edlen Kopf geschüttelt.

Da brauchst Du gar nicht zu grinsen. Ich weiß es ja, so edel ist er auch wieder nicht. Doch ich kann es bis heute noch nicht fassen, wie es dem Schreiberling gelingen konnte, diesen abgetakelten Jungbrunnen von einer ribiselsauren Frau kennenzulernen. Du wirst es ja irgendwo weiter hinten erfahren und einige unwichtige Details von ihr noch nachlesen können.

Die Fichtlzauberin, wie sie in würdiger Weise von uns Einheimischen, allerdings hinter vorgehaltener Hand versteht sich, getauft worden war, kenne ich persönlich schon geraume Zeit. Aber die Cornelia von Plast, von der unser Autor bereits erzählt hatte – oder kommt das später - ist mir wiederum gänzlich unbekannt.

In meiner Eigenschaft als Vorwärtsdränglerin dürfte ich dabei etwas Wesentliches übersehen haben. Bei Gelegenheit werde ich mich um diese Person schlaumachen und bitte jetzt schon bei Dir um Entschuldigung. Es könnte ja sein, dass mein guter Vorschreiber bei seinen Recherchen auch winzige Kleinigkeiten übersehen oder gar überhört hat.

Inzwischen wirst Du ja zur Einsicht gekommen sein, dass es zwischen dem Vorwärts, also meiner Wenigkeit und dem Rückwärts, sozusagen die absolute Gedankenlangsamkeit von ihm, Du weißt schon wen ich meine, gravierende Unterschiede geben muss.

In der Tat - Du hast ja recht wie immer. Es gibt sie wirklich.

Gerade dieser Zwischenraum ist möglicherweise der Unterschied. Schon die ganze Zeit über versuche ich, mit den Lesern dieser Zeilen – auch mit Dir selbstverständlich, zumindest auf eine telepathische Art und Weise, in Kontakt zu kommen. Leider waren die bisher an mich gerichteten Schwingungen, die möglicherweise aus Klubs der Schwester- und Bruderschaften übergeleitet und herbeigeströmt sind, bescheiden genug, um nicht zu sagen wertlos.

Jedenfalls gilt diese Wahrnehmung im Speziellen nur für meine Gedankenentwicklungen, mehr schon nicht. Also bis später!

Zwischen Heinrich und Jeanniene

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