Читать книгу Ängste von Kindern und Jugendlichen - Wilhelm Rotthaus - Страница 24
2.2.2 Spezielle Angststörungen 2.2.2.1 Angststörung mit Trennungsangst
ОглавлениеDer achtjährige Jannik wird von seinen Eltern wegen seiner Trennungsängste vorgestellt. Schon als Baby habe er sich ungern von seiner Mutter getrennt. Heute klage er morgens vor dem Schulbesuch über Bauchschmerzen und Übelkeit. In der Mittagsbetreuung verweigere er das Essen. Jannik schlafe nie allein in seinem Zimmer. Manchmal übernachte die Mutter in seinem Bett, oder er suche nachts das elterliche Schlafzimmer auf. Inzwischen weigere er sich auch tagsüber, alleine im Zimmer zu bleiben. Die Trennungsängste seien besonders massiv in neuen, unbekannten Situationen oder wenn die Mutter Termine wahrnehmen müsse. In einer solchen Trennungssituation habe Jannik gegenüber seiner Mutter geäußert, dass er nicht wolle, dass sie sterbe.
Beginnend mit einem Alter von sieben Monaten bis weit in die Vorschulzeit, sind die meisten Kinder nicht gern von ihren Eltern und Geschwistern getrennt. Erst wenn sie in höherem Alter wiederholt in übertriebener Form und mit schwer nachvollziehbarer Verzweiflung auf Trennungen von ihren nahen Familienangehörigen reagieren und wenn es dadurch zur Beeinträchtigung sozialer Aktivitäten kommt, kann man von einer Störung mit Trennungsangst sprechen. Kinder mit Trennungsangst äußern eine überwältigende Angst davor, eine wichtige Bezugsperson zu verlieren. Sie äußern die Befürchtung, einer wichtigen Bezugsperson könne etwas Schlimmes zustoßen, ein Elternteil könne auf der Fahrt zur Arbeit verunglücken oder es könne sonst etwas Schreckliches geschehen, sodass sie ihre Bezugsperson nie wieder sehen würden. Manche Kinder äußern die Befürchtung, sie könnten selbst gekidnappt werden oder verloren gehen. Sie weigern sich dann nicht selten, in den Kindergarten oder in die Schule zu gehen. Andere Kinder weigern sich, tagsüber allein ohne Bezugsperson zu Hause zu sein, abends ohne die Bezugspersonen einzuschlafen oder sind überhaupt nur bereit, mit der Bezugsperson im selben Bett zu schlafen. Eltern berichten über langwierige Zubettgehsituationen, ein altersunangemessenes Einschlafen im elterlichen Bett und das Fehlen altersentsprechender Erfahrungen mit Übernachtungen bei Freunden. Zuweilen treten Albträume auf, die eine Trennung zum Inhalt haben. Andere Kinder klagen über körperliche Symptome wie Herzklopfen, Schwindelgefühle, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und Übelkeit, wenn eine Trennung von der Hauptbezugsperson bevorsteht.
Kinder mit Trennungsangst haben häufig eine ausgeprägte Angst vor Krankheiten, dem Sterben und vor dem Tod. Von ihren Eltern werden sie oft als fordernd und aufmerksamkeitsbedürftig beschrieben. Nicht selten zeigen sie eine hohe Impulsivität sowie eine Schutz- und Pflegebedürftigkeit.
Symptomatik im Altersverlauf
Störungen mit Trennungsangst haben unter den Angststörungen im Kindes- und Jugendalter den frühesten Beginn. Sie treten vorwiegend bei Kindern vor der Pubertät auf. Eine retrospektive Befragung von Kindern mit Trennungsangst oder Überängstlichkeit ergab, dass bei 46 % der Kinder die Störung über eine Dauer von mindestens acht Jahren anhielt und bei etwa einem Drittel der Kinder mehrere Episoden klinischer Angst auftraten (Keller et al. 1992, zit. nach Schneider u. In-Albon 2004, S. 111). Kinder mit Trennungsangst zeigen häufig weitere psychische Störungen, etwa ein Drittel der Kinder eine Komorbidität mit Depressionen; und etwa ein Fünftel der Kinder weist gleichzeitig eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung oder eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten auf. Etwa 10 % der betroffenen Kinder zeigen eine Enuresis. Störungen mit Trennungsangst scheinen im Vergleich zu anderen Angststörungen im Kindes- und Jugendalter einen relativ ungünstigen Verlauf zu nehmen. Kinder mit Trennungsangst zeigen im Erwachsenenalter besonders häufig eine Panikstörung und/oder eine Agoraphobie.