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2.2.2.6 Agoraphobie
ОглавлениеLea, 16 Jahre, besucht die neunte Klasse eines Gymnasiums. Die Eltern berichten, dass Lea über große Ängste klage, wenn sie mit der Straßenbahn oder mit einem Bus fahren solle. Sie habe einmal in einem überfüllten Bus Angstzustände erlebt und gefürchtet, keine Luft mehr zu bekommen und den Bus nicht schnell genug verlassen zu können. Seitdem verweigere sie die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, weil sie fürchte, die Straßenbahn oder der Bus könnte einen Unfall haben. Inzwischen meide sie beim Einkaufen Geschäfte, in denen sich viele Menschen aufhalten. Sie äußere die Befürchtung, dann beim Auftreten von Ängsten nicht schnell genug das Geschäft verlassen zu können. Lea sei schon immer ein ängstliches Kind gewesen. Zu Beginn des Grundschulbesuchs habe sie heftige Trennungsängste gezeigt, derentwegen die Familie eine Beratungsstelle aufgesucht habe. Die Mutter selbst berichtet, dass sie an gelegentlich auftretenden Panikattacken leide. Die Situation in der Familie sei aufgrund von Leas Verhalten sehr schwierig geworden. Gemeinsame Familienunternehmungen seien kaum noch möglich. Lea müsse jeden Tag zur Schule gefahren und wieder abgeholt werden. Die Kontakte zu ihren Freundinnen seien fast alle abgebrochen.
Etymologisch setzt sich das Wort »Agoraphobie« aus den griechischen Wörtern agora (»öffentlicher Platz«) und phobos (»Furcht«) zusammen. In der Literatur des 19. Jahrhunderts taucht die Agoraphobie unter dem Begriff »Platzschwindel«, in späteren Zeiten als »Platzangst« auf.
Die Agoraphobie ist gekennzeichnet durch die Tendenz, bestimmten Situationen auszuweichen, in denen Flucht oder Vermeidung nicht möglich oder Hilfe im Fall des Auftretens von Paniksymptomen nicht verfügbar ist. Charakteristisch ist die Angst vor dem Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln, vor dem Besuch von Räumen, in denen viele Menschen sind (Kaufhäusern, Kinos und Restaurants), sowie vor dem Autofahren oder dem Benutzen von Fahrstühlen. Die Jugendlichen fürchten beispielsweise, dass der Aufzug stecken bleiben oder im Kaufhaus ein Feuer ausbrechen könnte und sie dann nicht aus der Situation entkommen könnten. Parallel besteht die Neigung, aktiv Situationen aufzusuchen, die ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Letztlich werden die Situationen als bedrohlich erlebt, die eine Entfernung von einem »sicheren Ort« (meistens dem Zuhause) oder eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit bedeuten – bildlich gesprochen, die Situationen, bei denen sie »in der Falle sitzen«. Eine solche Angst führt im Allgemeinen zu einer anhaltenden Vermeidung vieler Situationen, wodurch die Fähigkeit, zur Schule zu gehen und an Aktivitäten mit Gleichaltrigen teilzunehmen, beeinträchtigt wird. In manchen Fällen können die Betroffenen die Situationen nur in Begleitung einer anderen Person durchstehen.
Die Agoraphobie ist eine Angststörung, die im Kindes- und Jugendalter sehr selten auftritt und erst im jungen Erwachsenenalter einen ersten Auftretensgipfel erreicht. Erst im DSM-III wurde sie als eigenständige phobische Störung aufgeführt, die mit oder ohne Panikattacken einhergehen kann.