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Vorwort des Autors
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Alles seelische Geschehen wird von dem Gesetze der „Bipolarität“ beherrscht. Jedem Triebe entspricht ein Gegentrieb; jeder Tugend ein Laster; jedem „Oben“ ein „Unten“; jeder Stärke eine Schwäche. Niemals werden wir das Wesen eines Menschen verstehen können, wenn wir auf diese Erscheinung keine Rücksicht nehmen.
Mein Werk behandelt die Geheimnisse der menschlichen Seele. Wollte man die Menschen nur nach den Ergebnissen dieser Forschungen beurteilen, man täte ihnen Unrecht. Denn dieses Buch handelt vom Bösen im Menschen und zwar nur vom Bösen. Wir dürfen aber nie vergessen, dass es auch ein Gutes gibt.
Vielleicht kann ich mich am besten durch einen Vergleich verständlich machen. Ein Fremder kommt in eine ihm unbekannte Stadt; er besichtigt mit großer Gründlichkeit und Begeisterung die Stätten der Kunst und entzückt sich an allem Schönen und Sehenswertem, das die Kultur bietet. Er verlässt dann die Stadt mit dem Bewusstsein, sie bei einer Gründlichkeit genau kennen gelernt zu haben. Ein anderer Reisender sagt sich, nachdem er das Programm des Reiseführers absolviert hat: Jetzt will ich auch etwas von der Kehrseite des Erhabenen kennen lernen. Er lässt sich durch die Stätten des Elends, des Lasters und des Verbrechens führen. Er weiß, dass es hinter der prunkvollen Außenseite auch ein weniger schönes Inneres gibt, und er lernt aufs Neue, dass nur der die Lichtseiten beurteilen kann, der auch die Schattenseiten studiert hat.
Meine Forschungen befassen sich mit den Abgründen der menschlichen Seele.
Sie sind nicht für unerfahrene Laien berechnet, in deren Köpfen sie leicht Verwirrung anrichten könnten, statt Klarheit zu bringen.
Ärzten, Juristen, Seelsorgern, Pädagogen und Psychologen werden sie gewiss manche Anregung und eine Erweiterung ihres geistigen Horizontes erschaffen. Es ist höchste Zeit, dass wir den Phänomenen des Traumlebens mehr Aufmerksamkeit schenken. Hier eröffnen sich Einblicke in die Tiefen der menschlichen Seele, die uns eigentlich erst das Verständnis alles Psychischen ermöglichen.
Ich habe mich bei der Abfassung dieses Buches, das die Frucht jahrelanger, mühevoller Arbeiten darstellt, hauptsächlich von praktischen Gesichtspunkten leiten lassen. Das Theoretische und die bisherige Literatur über den Traum finden sich bei Freud so vorzüglich behandelt, dass ich alle, die sich für dieses Thema interessieren, auf das grundlegende und gedankenreiche Werk dieses Autors verweise.
Meine Arbeit will nicht nur gelesen, sie will auch nachgeprüft werden. Jede Kritik ist mir willkommen, wenn sie nicht von blinder Voreingenommenheit diktiert wurde. Denn manches in diesem Buche wird dem nicht in die Probleme der Traumdeutung Eingeweihten gesucht und gekünstelt vorkommen.
So ist es mir selber ergangen, als ich mich mit den Träumen zu beschäftigen begann. Eine Überzeugung kann nicht durch Lektüre allein, sie muss durch eigene Nachprüfung erworben werden.
Eine Tatsache möchte ich noch hervorbeben: Die Traumdeutung ist eine werdende Wissenschaft. Alles ist im Fluss, alles im Entstehen.
Auch dieses Buch soll nur eine Stufe sein. Wer kann es jetzt ermessen, wie stolz einmal der Bau ragen wird, zu dem diese Stufe hinauf führt?
Wien im Januar 1911.
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