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Der Traum vom zügellosen Leben
ОглавлениеDer Traum vom zügellosen Leben
(23.) „Ich bin in einem Tramwaywaggon, der zur Franz-Josef-Bahn fährt. Ein Pferd ist vorgespannt mit einem Zügel aus einem dünnen Strick. Der Strick zerreißt...“
Diesen Traum träumte ich im Herbat nach Rückkehr meiner Frau aus einer Sommerfrische an der Franz- Josef-Bahn. Eine deutliche Wunscherfüllung, das zügellose Leben eines Strohwitwers fortzuführen; offenbar eine dunkle Unterströmung des Unbewussten. In Wirklichkeit war ich glücklich darüber, dass meine Frau die Zügel des Haushaltes wieder in die Hand genommen hatte und ich in geordneten Verhältnissen leben konnte. Meine Strohwitwerfreiheiten habe ich niemals ausgenützt. –
Aber ein geheimer Wunsch war doch vorhanden!
Das Zugpferd bin natürlich ich. Eine beliebte Symbolik für den Ehemann im Gegensatze zur Frau, die als Wächter erscheint. Die Bande, die mich an die Ehe knüpfen, sind in diesem Traume sehr dünne. Der Strick reißt. (Doppelsinnig: der Strick, d. h. der leichtsinnige Kerl reißt aus!) Auch der Todeswunsch dringt durch die Traumgedanken. Die Parzen (Schicksalsgöttinnen) durchschneiden den Lebensfaden (Der Lebensfaden heißt im Volksmunde auch der Penis. (Anthropophyteia. II. Bd. S. 112.) Das Schuldbewusstsein sich durch Onanie (Ziehen am Lebensfaden) das Leben verkürzt zu haben, ist ebenfalls ein latenter Traumgedanke. Die Vorwürfe, die man sich wegen der infantilen Onanie macht, spielen in den Neurosen eine große Rolle und finden sich als schwer aufzulösende Vexierbilder gleich den Todesgedanken in den meisten Träumen). Der Lebensfaden reißt.
Die infantile Schichte ist durch die Franz-Josef-Bahn — (Kaiser Franz Josef = Vater) bezeichnet. Ich komme wieder in das Jugendland, ich kehre zur Mutter zurück und... verlasse meine Frau.
Wir haben gesehen, wie der Traum unsere geheimen Wünsche erfüllt oder… unsere geheime Angst enthüllt. Angst und Wunsch sind Geschwister. Es gibt im Traume keine Angst, die nicht einmal ein Wunsch gewesen. Ich habe in meinem Buche „Nervöse Angstzustände“ (Urban und Schwarzenberg 1908) an einer großen Reihe von Angstträumen den Beweis erbracht, wie die geheimen Wünsche der Neurotiker im Traume als Angst auftreten.
Ich möchte dieses Kapitel mit einem kurzen, aber lehrreichen Traum beschließen, der die Beziehungen zur Angst in einwandfreier Weise klarlegt.
Ein ca. 80jähriger Mann leidet an einer schweren Perversion. Er begehrt nur Kinder unter 10 Jahren. Diese Leidenschaft hat er mit Energie und Erfolg bekämpft. Er wusste seine Bestie in Ketten zu halten. Eine seiner Lieblingsideen war es, sich eine Situation auszudenken, in der die Ausführung der Perversion für ihn keine Sünde wäre. Z. B., wenn ihn Räuber dazu zwingen würden… Dann wäre er ja unschuldig und könnte sich vor der irdischen und himmlischen Gerechtigkeit mit Hinweis auf die vis major (höhere Gewalt) verteidigen.
Dieser Mann träumte:
(24.) „Ich wurde auf freiem Felde von einem Pülcher (Ein Wiener Ausdruck für einen „Strolch“), einem sehr starken Burschen verfolgt. Dieser hatte ein kleines Mädchen mit. Ich fürchtete, dass er mich zwingen könnte, mit dem Mädchen den Geschlechtsakt auszuführen, dachte mir aber dann: schließlich würde ich mir heute schon nicht gar so starke Gewissensbisse daraus machen. Ich lief und traf dann Leute, so dass ich gerettet war.“
Der Träumer möchte also einen sündhaften Akt vollziehen unter Umständen, die ihn von der Sünde freisprechen. Er sucht die force majeure (höhere Gewalt) des Schicksals, in der Gestalt eines „Pülchers“ (Wiener Ausdruck für Strolch). Aber selbst dieser alte Wunsch ist jetzt infolge der Hemmung in Furcht verwandelt. (Vergleiche den Fall eines Rabbiners in „Nervöse Angstzustände“, Seite 165.)
Dieser Traum ist die Übertragung einer wachen Phantasie ins Traumleben. Er zeigt uns ein sonderbares Grenzgebiet, wo Wunsch und Angst in einen Affekt zusammenfließen.
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