Читать книгу Die gelbe Mafia - Will Berthold - Страница 8
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ОглавлениеDie Lichter waren angegangen. Zehntausende bunter Fixsterne und Reklameschilder überschwemmten die Südost-Metropole mit Glanz und Farbe, ließen selbst die verlebten Fassaden der Nebenstraßen aufleuchten. Jeden Abend begann ›Hongkong by Night‹ mit einer Massenpromenade der Bewohner: Sie strömten aus ihren Wohnpferchen in den Termitenbauten, flüchteten aus verrotteten Fertigungshallen, um beim Straßenbummel etwas Luft zu schöpfen und ein wenig Freude zu tanken.
Im Suzie-Wong-Viertel Wanchai wiesen den Pfadfindern der Abwege die roten Laternen den Weg zu den Sündenpfuhlen. Sowie ein Schiff einlief und die Matrosen Landausgang hatten, zogen ganze Scharen philippinischer Hausmädchen zum Hafen, um die Frau an den Mann zu bringen. Die Filipinas waren die billigsten Käuflichen in einer Stadt, in der man sich die Lotterlieben etwas kosten lassen mußte. Eine Unzahl von Japanern, die ausschließlich zu diesem Zweck nach Hongkong zu fliegen pflegten, verdarben die Preise: Yen-Love.
Gleich nach dem Verlassen des ›Mandarin‹ waren der Kamikaze und seine Begleiterin in eine unübersehbare Menschenmenge geraten und wurden von ihr verschluckt und mitgerissen. Die Seitengassen mit den tiefen Häuserschluchten hatten sich in reißende Bäche verwandelt, in einen Fluß mündend, der zu einem mächtigen Strom anschwoll. Er floß nirgendwohin, da er sich an der nächsten Kreuzung schon wieder teilte oder gewaltsam zurückgestoßen wurde.
Ein Gewimmel von Frauen, Greisen und Kindern, dazwischen reizende China-Girls mit den winzigen Stupsnasen, schwarzen Haaren, mandelförmigen Augen, zierlich und zerbrechlich wie Teepuppen, doch fröhlich plappernd, Arm in Arm oder in Gruppen und dahinter häufig die Mütter, erkennbar an dem besorgten Stolz um ihre Töchter.
Die Freizeit-Chinesen gaben der Stadt ihr unverwechselbares Fluidum von Lärm, Geruch, ausgelassener Fröhlichkeit und stiller Ergebenheit. Der Schauplatz wurde zum Reigen von Überfluß und Not, von Sorglosigkeit und Angst, von Vergnügungssucht und Freßwahn.
Das Liebespaar auf Zeit hatte sich einfach mitreißen lassen. So der Agent jetzt Verfolger hatte, woran er nicht zweifelte, waren es Chinesen, und er konnte ihre Gesichter nicht unterscheiden, auch wenn er es ständig versuchte.
Offensichtlich benahm er sich dabei weniger professionell als sonst: »Wonach hältst du eigentlich so angestrengt Ausschau?« fragte ihn Babs.
»Nach gar nichts«, behauptete er mit einem falschen Lachen. »Höchstens nach Taschendieben. Ich versuche nur zu vermeiden, daß ich einem meiner Geschäftspartner über den Weg laufe, dann wäre nämlich unsere Zweierbeziehung beträchtlich gestört.«
»Wieso das?«
»Wenn man mit einem Hongkong-Chinesen einmal ein Geschäft getätigt hat, wird er unweigerlich auf einem ausgedehnten Essen und auf noch ausgedehnteren Gesprächen bestehen. Und ich will jetzt endlich einmal meinen privaten Urlaub haben«, setzte er grimmig hinzu.
»Das ist ein Wort.«
Es fiel Parker bei Babs nicht schwer, ein perfekter Liebhaber zu sein. Er bedauerte bereits jetzt, daß er die Düsseldorferin in zwei, drei Tagen brutal abhängen müßte. In seinem Job gab es kein Erbarmen, weder sich noch anderen gegenüber. Die Lüge ist der Werkstoff, mit der im Untergrund gearbeitet wird, die Tarnung sein Handwerkszeug; sie war dem Kamikaze so vertraut, daß er mitunter daran zweifelte, sein eigenes Gesicht zu sehen, wenn er in den Spiegel schaute.
In seinem Metier war der Erfolg die Moral, und seine einzige Ausrede, daß es eben Berufe gab, die anrüchig, doch auch unentbehrlich waren. Müllhalden müssen abgetragen, geplatzte Kloröhren ersetzt, Tote gewaschen, Kadaver abgedeckt, Toiletten gesäubert und Tiere von Lohnschlächtern getötet werden; schließlich besteht die Welt nicht nur aus Vegetariern.
Sie trieben weiter im Strom, auf die Anlegestelle der Schiffe zu, die Besucher zu den berühmt-berüchtigten Spielhöhlen nach Macao bringen. Allabendlich verwandelte sich der riesige Parkplatz in einen strahlend hellen Verkaufsbasar, »The poor man’s night club« genannt, der Nachtclub des armen Mannes, der allerdings um Mitternacht endete. Kauflustige und Schaulustige umringten die Stände mit den Billigwaren, mit Ramsch und Plunder. Wenn man Geduld hatte und einen Blick dafür, konnte man an den Hunderten von Verkaufstischen gelegentlich auch schöne kunstgewerbliche Artikel aus Silber, Leder, Elfenbein oder Jade erstehen. Die Tonbandkassetten waren fast immer Raubkopien minderer Qualität, die Uhren gelungene Imitate mit Billigwerken, die Hemden trugen große Namen, verloren aber beim Waschen Farbe und Form.
Die Hongkongbesucher hatten sich an den Türmen von Babylon vorbeigezwängt: babylonisch war hier auch das Sprachgewirr, selbst unter Chinesen, doch einen Satz, den sie unentwegt einander zuriefen, schienen sie alle zu verstehen: »Sik fan mei.«
»Was schreien die denn da immer?« fragte Babs.
»Heute schon gegessen …«, erwiderte der Mentor. »Das ist etwa so, wie wenn man bei uns sagt: ›Wie geht’s?‹ – Ja«, setzte er hinzu, »Chinesen leben, um zu essen, und essen nicht, um zu leben.«
»Was für ein Unterschied!« erwiderte Babs, die Kostverächterin.
Die Garküchen hüllten die endlose Prozession in profanen Weihrauch. Die Schnellgerichte dufteten köstlich und sahen für Europäer übel aus. Vielen Gästen schauderte es vor den wohlriechenden Angeboten. Lachend und schwätzend zog der Korso der Lebenslust weiter, teilte und vereinigte sich wieder. An einem der belagerten Stände hing ein Plakat mit der Aufschrift ›Hundred years old eggs‹, und am übernächsten Stand waren aus den hundert Jahre alten Eiern bereits tausendjährige Produkte des Federviehs geworden. Die Hühnerfrüchte wirkten unappetitlich, wurden aber den Händlern aus den Händen gerissen.
»So was gibt’s doch gar nicht«, sagte Babs.
»Das ist auch leicht übertrieben«, erklärte ihr Begleiter lachend. »In der Regel sind die Eier 45 Tage in einem kalkhaltigen Schlamm unter einer Reisschicht dicht vergraben, dabei werden sie zu einer dunkelgrünen Wabbelmasse. Behutsam zu Tage gefördert wie archäologische Raritäten, wird die Schale mit einer Lehmschicht überzogen und wachsweich gekocht. Diese Delikatesse darf bei keinem chinesischen Festbankett fehlen.«
»Mahlzeit«, antwortete die Blondine.
»Apropos«, entgegnete ihr Mentor, »hast du noch immer keinen Appetit?«
»Nicht einmal auf zehnjährige Eier«, erwiderte sie und schüttelte sich.
Ein Taxi brachte sie nach Aberdeen. Hunderte von Dschunken passierend, schipperte sie ein Sampan zu dem schwimmenden Luxusrestaurant ›Jumbo‹. Die Touristenattraktion war mit Lampen und Lampions prächtig illuminiert, wirkte wie ein Ozeandampfer, auf dem täglich ein Captain’s Dinner stattfand. Zwischen dem Ufer und der Freß-Galeere herrschte reger Pendelverkehr.
Ein Ober, der aussah wie der Kapitän und eine Art Admiralsuniform trug, empfing die beiden wie Staatsbesucher und geleitete sie an einen Zweiertisch mittschiffs. Sie saßen direkt am Fenster, hatten einen herrlichen Ausblick auf die Wohnboote und die dahinterliegenden Hochhäuser.
Babs hatte ihren Baedecker gelesen; sie wußte, daß auf diesen schwimmenden Behausungen Siebzig-und Achtzigjährige lebten, die nicht ein einziges Mal das Festland betreten hatten und womöglich mit vier Frauen gleichzeitig verheiratet waren, was das Gesetz in ihrer Jugend noch erlaubt hatte. Zehntausende von Menschen – früher waren es siebzigtausend gewesen, viele hatte die Regierung inzwischen zwangsweise auf dem Festland angesiedelt – waren hier geboren, aufgewachsen, hatten hier Kinder bekommen und waren auf ihren Hausbooten gestorben. Man nennt diese seltsamen Hafen-Insulaner auch ›egg-people‹, weil sie früher ihre Steuern mit Eiern bezahlt hatten.
Nach pikanten Vorgerichten wählte Parker als Hauptgang ›beggar’s chicken‹.
»Ein Bettlerhuhn?« fragte Babs.
»Es ist mindestens so schmackhaft wie eine Pekingente, aber nicht so fett und daher sehr bekömmlich.«
Gutes Essen braucht Weile. Dann wurde, eingehüllt in einer Lehmkruste, Hongkongs Spezialität aufgetragen. Mit einem Hämmerchen klopfte Parker die Schale auseinander. Dann entfaltete er die Lotosblätter, in denen das mit Pilzen, Weißkohl, Zwiebeln und Kräutern gefüllte Huhn herausgebacken worden war. Dem Topf entstieg ein köstlicher Duft wie einst Aphrodite dem Meeresschaum. Dazu tranken die Genießer, nicht ganz stilecht, eine Flasche Burgunder. Die junge Frau ging ziemlich geschickt mit den Eßstäbchen um. Sie hatte in einem Düsseldorfer Chinarestaurant ein wenig vorgeübt. Sie vergaß alles, was sie über Hundeleber, Affenhirn, Kamelhöcker, Tibetkatzen, Entenfedern und junge Mäuse als Tafelfreuden gehört hatte.
Bereits beim Betreten des riesigen Speiseraums war dem Kamikaze am Eingang rechts eine Runde vorwiegend chinesischer Geschäftsleute aufgefallen, erkennbar an ihren dunklen Anzügen, die sie immer trugen, auch wenn die Temperatur im Schatten 35 Grad überstieg und die Luftfeuchtigkeit 93 Prozent erreicht hatte. ›Jumbo‹ war in erster Linie ein Touristentreffpunkt. Parker wunderte sich, daß sich so viele einheimische Busineß-Leute hier zum Nachtessen getroffen hatten, vielleicht den Gweilos zuliebe, die an ihren Tischen saßen.
Er musterte sie in seiner gekonnt unauffälligen Art. Es war nichts Außergewöhnliches an ihnen, aber sie fielen dem Kamikaze auf. Vielleicht war es Einbildung oder der sechste Sinn: das Gespür seines Metiers hatte sich gemeldet.
Er beobachtete die chinesische Runde mit den zwei europäischen oder amerikanischen Gästen: Offensichtlich war nur, daß sich der Kellner, sogar unter Vernachlässigung der Nachbartische, ständig in ihrer Nähe aufhielt. Entweder erwartete er für seine Aufmerksamkeit ein besonders hohes Trinkgeld, oder aber er interessierte sich über Gebühr für das Gespräch der gemischten Gesellschaft.
Einer der Geschäftsleute, ein korpulenter Mann, erhob sich und ging mit watschelndem Gang zur Toilette. Er hatte Hängebacken, und seine extrem schmalen Augen standen wie waagerechte Striche in seinem Gesicht.
Der Chinese passierte achtlos Parkers Tisch.
Fünf Minuten später kam der Watschelnde wieder zu seinen Gästen zurück. Der Kamikaze konnte ihn diesmal nur von hinten sehen und zog es vor, seiner Reisefreundin tief in die Augen zu blicken, wie Humphrey Bogart in ›Casablanca‹ Ingrid Bergman.
Die Runde am Eingang bezahlte und verließ das Restaurant. Der Kamikaze registrierte: vier Chinesen und zwei Weiße. Dann gingen seine Augen im Lokal wieder streunen.
»Wäre es denn wirklich so ein Beinbruch, wenn du einem deiner chinesischen Partner über den Weg laufen würdest?« fragte Babs.
»Das nicht«, behauptete er. »Aber kannst du dir denn nicht vorstellen, daß ich lieber mit dir zusammen bin?«
»Wie galant«, entgegnete die Düsseldorferin.
»Leider nimmt die Zeit unserer Zweisamkeit mit jeder Stunde um sechzig Minuten ab«, stellte der Meister der Verstellung fest und wunderte sich, wie anders es klang, wenn er einmal nicht lügen mußte.
Er zahlte.
Sie gingen auf den Ausgang zu.
Von draußen drängte, acht bis zehn Meter entfernt, ein Kellner heran, den Parker bislang nicht gesehen hatte. Plötzlich hielt der Mann eine Pistole in der Hand.
Ihr Lauf war direkt auf ihn gerichtet.
»Achtung!« schrie er, riß Babs zu Boden, warf sich über sie.
Drei Schüsse peitschten über sie hinweg, trafen den neugierigen Ober.
Im Restaurant-Schiff brach Panik aus. Die Gäste schrien, warfen Tische um, flatterten wie geköpfte Hühner durcheinander, während der Mörder die Waffe wegsteckte und flüchtete.
»Hast du dir weh getan?« fragte der Kamikaze und hob seine Begleiterin auf.
»Mann, hast du Nerven«, erwiderte sie. »Was war denn eigentlich los?«
»Das weiß ich auch nicht, uns hat es vermutlich nicht gegolten«, erwiderte er. »Aber wir müssen verschwinden, bevor wir von der Polizei stundenlang vernommen werden.«
Auf dem Weg zum Ufer passierten sie das Polizeiboot. Babs und Parker fuhren mit dem Taxi zum ›Mandarin‹. Im Apartment schalteten sie das englischsprachige Programm ein, aber es brachte nur flotte Musik.
Am nächsten Tag las Parker in den Hongkonger Zeitungen eine kurze Notiz, daß an Bord des ›Jumbo‹ ein amoklaufender Kellner aus noch ungeklärtem Motiv einen Kollegen erschossen hatte und danach unerkannt entkommen war.