Читать книгу Wyatt Earp Paket 3 – Western - William Mark D. - Страница 15
ОглавлениеIm Osten kroch schon das Morgengrauen über den Horizont. Aber in den Winkeln der Straßen von Tombstone nistete noch die Nacht. Aus einzelnen Kaminen zogen schon schwefelgelbe Rauchfäden in den Himmel.
Von Südwesten her trottete auf müdem, schweiß- und staubbedecktem Gaul ein Reiter auf die Stadt zu: ein untersetzter, kleiner Mann mit schmalen Schultern, überlangen Armen, hagerem, bärtigem Gesicht und einem Augenpaar, das etwas Asiatisches an sich hatte. Der Mann mochte Mitte Vierzig sein, trug einen grauen Schlapphut, dessen Krempe staubbedeckt war, eine graue Joppe, die ebenfalls völlig von Staub überzogen war, und einen patronengespickten Waffengurt, der tief über dem linken Oberschenkel einen großen Smith & Wesson Revolver hielt. Die engen Yerney-Hosen waren vom feinen Flugsand derartig mit Staub bedeckt, daß sie vorn eine hellere Farbe angenommen zu haben schienen.
Tief hing der Reiter über der Mähne seines braunen Wallachs.
Beide Hände hatte er um den Sattelknauf gekrampft. Ganz starr war sein Blick nach vorn gerichtet, dorthin, wo jeden Augenblick hinter einer Bodenwelle die Häuser der Stadt auftauchen konnten.
Der Reiter hatte einen weiten Weg hinter sich; den Weg von Nogales nach Tombstone.
Endlich tauchten in der Ferne die ersten Häuser der Stadt auf. Das heißt, es waren erst die Hütten der berüchtigten Miner Camps, die im Südwesten der Stadt lagen und seit langem ein großes Ärgernis für Tombstone darstellten.
Müde trottete der Braune auf die ersten Hütten zu. Ein großer, zottiger Hund kam aus einem Hoftor, überquerte die Straße, blieb dann stehen, sah sich nach dem Reiter um und lief schweifwedelnd weiter.
Der Mann wandte keinen Blick von der Straße. Es schien so, als hielte er sich mit letzter Anstrengung im Sattel.
Dann hatte er die erste Straße erreicht und hielt auf ein altes, windschiefes Haus zu, dessen Hoftor offenstand.
Der Reiter rutschte aus dem Sattel und stand einen Augenblick benommen neben seinem Gaul. Dann stieg er mit hölzernen Bewegungen die beiden Vorstufen hinauf und klopfte an die Haustür.
Es dauerte sehr lange, bis eine junge Frau an einem der Fenster erschien. Unwillig blickte sie auf den Fremden.
»Was wollen Sie?« fragte sie.
Der Mann wischte sich übers Gesicht.
»Ich suche einen Freund«, erklärte er mit schnarrender Stimme.
»Einen Freund?« wiederholte die junge Frau argwöhnisch. »Wer sind Sie denn?«
Der Reiter kam auf sie zu, nahm seinen Hut ab und schlug den Staub heraus.
»Mein Name ist Cornelly, Jeff Cornelly aus Nogales. Vielleicht können Sie es ihm sagen.«
Die Frau zog die Brauen zusammen und entgegnete etwas leiser: »Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen, Mr. Cornelly.«
Da trat der Mann noch näher ans Fenster und zischte: »Stellen Sie sich doch nicht so an. Ich bin Cornelly, der Sheriff von Nogales!«
Die Frau wich zurück und blickte ihn ärgerlich an.
»Ich verstehe Sie wirklich nicht, Mr. Cornelly…«
»Damned!« entgegnete der Mann. »Ich will Kirk McLowery sprechen.«
Da wurden die Augen der Frau schmal. Mit nicht ganz sicherer Stimme erklärte sie: »Kirk McLowery? Ich kenne ihn nicht.«
Der Mann schob den Unterkiefer vor, blickte nach allen Seiten und knurrte dann: »Es ist unnötig, Miss, daß Sie mir irgendeine Story erzählen. Sie sind doch Lourie Flanagan. Ich weiß genau, daß sich Kirk hier aufhält.«
Eine dunkle Röte überzog das Gesicht des Mädchens.
»Ja, ich bin Lourie Flanagan. Aber ich weiß nicht, wen Sie hier suchen. Ich kenne keinen Mr. McLowery.«
Der gefürchtete Sheriff zischte: »Hören Sie, Miss Flanagan. Ich bin aus Nogales geflohen…«
»Geflohen? Vor wem denn?«
»Herrgott, das kann ich Ihnen doch nicht hier auf dem Vorbau erklären! Rufen Sie Kirk McLowery!«
Das Mädchen gab auf. »Ich werde Ihnen die Tür öffnen.«
Es dauerte nicht sehr lange, da vernahm Cornelly Schritte im Korridor, und die Tür wurde geöffnet. Aber es war nicht Lourie Flanagan, die vor ihm stand, sondern ein Mann: groß, schlank, hager, mit olivfarbenem Gesicht, scharf ausrasiertem Schnurrbart, hochaufgeschwungenen schwarzen Brauen und dunklen Augen. Der Mann hatte ein gutgeschnittenes Gesicht, aber irgend etwas darin wirkte diabolisch. Sein Haar war schwarz, glatt und glänzend. Er trug ein weißes Rüschenhemd, das oben am Hals offenstand. Er war anscheinend nicht dazu gekommen, sich eine Halsschleife umzubinden. Auch eine Jacke oder Weste trug er nicht. Aber einen großen büffelledernen Revolvergurt hoch in der Hüfte, der an langen Lederschuhen zwei schwere Peacemaker Colts hielt.
Seine langen geraden Beine steckten in enganliegenden schwarzen Levishosen, die in den kurzen Schäften seiner neuen, hochhackigen Stiefel endeten.
Der Mann hieß Kirk McLowery und war der Bruder jener beiden Desperados, die vor zwei Jahren beim Kampf im O.K.–Corral ihr Leben gelassen hatten.
Beim Anblick des frühen Besuchers richtete sich der Mann aus dem San Pedro Valley zu seiner eindrucksvollen Höhe auf, zog die linke Augenbraue hoch in die Stirn und fragte mokant: »Cornelly, was wollen Sie hier?« Die mehr als frostige Begrüßung traf den geflüchteten Sheriff sehr.
Er wurde einen Schein bleicher und keuchte: »Ich mußte aus Nogales flüchten, Kirk.«
»Und?«
Cornelly wich einen halben Schritt zurück.
»Ich… mußte flüchten! Sie verstehen mich offenbar nicht, Kirk. Wyatt Earp ist hinter mir her.«
Sofort verdüsterte sich das Gesicht des Desperados.
»Was geht das mich an?«
Cornelly rang schwer nach Atem und stülpte sich seinen Hut auf den Schädel.
»Kirk… ich dachte, wir wären Freunde.«
»Freunde?« Verächtlich stieß der Outlaw beide Hände in die Hosentaschen. »Nein, Jeff Cornelly, wir sind keine Freunde. Was wollen Sie also?«
»Ich dachte, Sie könnten mir weiterhelfen«, stammelte der Sheriff.
»Wie soll ich Ihnen weiterhelfen? Sie sind in Tombstone. Da sind Sie weit genug geritten.«
»Ich verstehe Sie nicht, Kirk…«, stammelte der verräterische Sheriff.
»Denken Sie darüber nach.«
Rums! fiel die Tür vor Cornellys Nase ins Schloß.
Zitternd vor Wut und Hoffnungslosigkeit, stand der Mann auf dem Vorbau und starrte auf die abblätternde Farbe der Tür.
Ich muß etwas unternehmen! zuckte es durch das Hirn des Geflüchteten. Ich kann mich nicht so von ihm wegschicken lassen. Er ist der einzige, der mir hier helfen wird.
Flüchtig, nur für einen winzigen Augenblick, kam ihm der Gedanke an einen anderen Mann, der etwa von gleicher Größe war, aber ein pockennarbiges, verwegenes und gefährliches Gesicht und gelbe glimmende Augen hatte: Phin Clanton! Aber nein. Cornelly verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Die Clantons waren noch unzugänglicher. Außerdem lag ihre Ranch mehr als achtzehn Meilen von der Stadt entfernt. Das war noch aussichtsloser. Er mußte Hilfe bei Kirk McLowery finden: wenn überhaupt, dann bei ihm. Er hatte großen Einfluß in der Stadt, und man würde bei ihm kaum nach einem geflüchteten Sheriff suchen.
Verzweifelt klopfte er noch einmal gegen die Tür. Sie wurde sofort geöffnet.
Kirk McLowery blickte den untersetzten Mann böse an.
»Was wollen Sie noch?«
»Mr. McLowery…«, stammelte der Sheriff in unterwürfigem Ton, »ich bitte Sie, helfen Sie mir. Ich… habe fest damit gerechnet…«
»Ihr Fehler!« unterbrach ihn der Desperado schroff.
Da zerrte der Sheriff eine große Geldnote aus der Tasche, der er nach kurzem Zögern noch drei weitere hinzufügte, faltete sie zusammen, und reichte sie dem Mann aus dem San Pedro Valley.
Kirk McLowery würdigte die Dollarnoten keines Blickes.
»Verschwinden Sie, Cornelly!«
Der Sheriff stieß einen Fluch durch die Zähne: »Das werden Sie bereuen, McLowery!«
Wie ein Geschoß schnellte die Rechte des Desperados vor, packte Cornelly am Rockaufschlag und zerrte ihn zu sich heran.
McLowery überragte Cornelly fast um Haupteslänge.
»Hör zu, Cornelly«, zischte er, »ich liebe es nicht, in dieser Weise angeredet zu werden. Merk es dir, sonst wirst du nicht alt.«
Er stieß ihn mit einem derben Ruck von sich und warf die Tür krachend ins Schloß.
Jetzt wußte Jeff Cornelly, daß jede weitere Bitte nutzlos war. Dieser Mann war eiskalt und brutal.
Cornelly blickte auf seinen zerschundenen, ausgepumpten Gaul und sah dann die Straße hinunter.
Er erwartete das Bild, dem er schon seit Stunden entgegenbangte: eine helle Staubwolke, die von einem schnellen, falbbraunen Hengst herrührte, dessen Reiter niemand anderes war als Wyatt Earp!
Aber der Missourier schien sich die Sache anders überlegt zu haben. Jedenfalls war er ihm nicht sofort von Nogales gefolgt, sonst müßte er den Sheriff, der ein bedeutend langsameres Pferd ritt, längst eingeholt haben.
Cornelly verließ den Vorbau und trat mit gesenktem Kopf auf die Straße.
In tiefer Verzweiflung stand er da, die Zähne zusammengepreßt, mit zitternden Beinen und total erschöpft.
Er war aus Nogales vor dem großen Marshal Earp geflüchtet. Ausgerechnet nach Tombstone hatte er sich gewandt. In die Höhle des Löwen – und doch in die einzige Stadt, in der er hatte hoffen können, Rettung zu finden.
Aber der Mann, von dem er diese Ratschläge erwartet hatte, kannte kein Mitleid, hatte ein kaltes Herz. Kirk McLowery war anders, als seine Brüder Frank und Tom gewesen waren.
An wen sollte er sich jetzt noch wenden?
Schräg gegenüber war Rozy Gingers Saloon. Da war noch alles geschlossen. Die ganze Stadt schien noch zu schlafen. Unten wurden die Tore eines Mietstalls geöffnet, und der schaukelnde Karren eines Traders, der dort über Nacht gestanden hatte, rollte knirschend durch den Sand der Straße davon.
Aus einem Häuserspalt sprang eine große graue Katze und huschte unter den Vorbau.
Gleich darauf war das widerliche Fiepen einer gejagten Ratte zu hören, das kurz darauf in einem so abscheuligen Ton erstarb, daß der Mann erschauerte.
War das nicht ein Abbild seines eigenen Schicksals? War nicht auch er in eine Falle gelaufen? War nicht auch hinter ihm die große graue Katze her, die auch ihn mit tödlicher Sicherheit jagen und packen würde?
Mit einem Ruck wandte er sich um, zerrte sich in den Sattel. Und als er mit dem Fuß nach dem rechten Steigbügel suchte, rutschte er auf der anderen Seite wieder vom Pferd herunter und landete hart auf dem Boden.
Der Stoß fuhr ihm durch den ganzen Körper.
Cornelly richtete sich ächzend auf, machte sich aber nicht erst die Mühe, den Staub aus den Kleidern zu klopfen, sondern zog sich erneut auf den Gaul. Kaum hatte er die Zügelleinen herumgerissen, als ein Schuß brüllend über die Straße heulte und den kleinen Mann wie ein Keulenschlag traf. Jeffry Cornelly wurde nach vorn gestoßen und rutschte über den Hals des Pferdes wieder in den Staub der Straße.
Mit ausgebreiteten Armen lag er da und starrte in den grauvioletten Himmel von Tombstone.
Kirk McLowery war auf der Treppe zum Obergeschoß, als draußen der Schuß fiel. Er blieb stehen, lauschte, wandte sich dannn um und ging hinunter in die Stube. Durch die Gardine sah er Cornelly auf der Straße liegen.
Er ging in den Flur, stieß die Korridortür auf und trat auf den Vorbau.
Der Desperado wußte genau, daß er jetzt von allen Seiten gesehen und beobachtet wurde. Mit schnellen Schritten ging er auf die Straße und blieb neben dem Niedergeschossenen stehen.
Dann wandte er sich um und rief: »Bill! Joe!«
Am Hoftor erschienen zwei halbwüchsige Burschen.
Der Desperado winkte ihnen, und die beiden kamen heran.
»Los, hebt ihn auf und bringt ihn ins Haus!« gebot er ihnen. Dann erst sah er sich nach allen Seiten um. Aber der Todesschütze war nirgends zu sehen.
Mit gesenktem Kopf ging der Desperado ins Haus zurück. Als er die Tür hinter sich zugedrückt hatte, schrie er: »Lourie!«
Am Ende des Flures öffnete sich die Küchentür um einen Spalt; das Gesicht des Mädchens erschien.
»Komm her!« rief ihr McLowery entgegen.
Sie trat auf den Gang hinaus, machte zwei Schritte vorwärts und blieb dann stehen.
Kirk stürmte auf sie zu: »Wer hat ihn erschossen?«
Das Mädchen blickte ihn fassungslos an. »Ich weiß es nicht.«
»Du mußt es doch gesehen haben.«
Lourie Flanagan schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, ich habe es nicht gesehen.«
Da packte er sie am Arm und schüttelte sie wild hin und her. »Du wirst mir sofort sagen, wer ihn ausgelöscht hat.«
»Ich habe doch gesagt, daß ich es nicht gesehen habe. Ich war hinten in der Küche.«
»Das ist nicht wahr. Als ich die Treppe hinaufging, warst du vorn im Wohnzimmer.«
Sie senkte den Kopf. »Ja, ich stand im Wohnzimmer. Ich habe gesehen, wie er vom Pferd fiel. Ich habe auch den Schuß gehört. Aber ich weiß nicht, wer ihn erschossen hat. Das kann ich beschwören.«
»So, das kannst du beschwören? Du wirst dich wundern!« Es blitzte gefährlich in seinen Augen auf.
»Kirk.« Sie blickte ihn flehentlich an. »Was hast du vor?«
»Ich werde den Mörder Jeff Cornellys jetzt suchen.«
Er ging hinauf in das Zimmer, in dem er geschlafen hatte, holte seine Jacke, stülpte sich den Hut auf den Kopf, schnallte sich seinen Waffengurt um und verließ das Haus.
Das Mädchen blickte ihm mit traurigen und angstvollen Augen nach.
McLowery ging hinauf in die Allenstreet und betrat den Vorbau von Behans Sheriffs Office. Als er die Tür aufstoßen wollte, mußte er feststellen, daß sie verschlossen war.
Er stampfte über den Vorbau weiter, überquerte eine Seitengasse und blieb vor dem großen neuen Haus von Burt McIntosh stehen. Vom Hof kamen die Geräusche eines Wagens, der aus einer Scheune geschoben wurde. Deichselketten klirrten aneinander, und die fluchende Stimme eines alten Mannes drang bis auf die Straße.
Kirk trat an das Hoftor und versuchte, es zu öffnen.
Es war von innen verriegelt. Da hämmerte er dagegen.
Gleich darauf war die Stimme des Alten zu hören. »Was ist denn los?«
»Mach auf!« knurrte der Desperado.
Der alte Peon schien diese Stimme genau zu kennen – und zu fürchten.
Er eilte auf das Tor zu, warf den Riegel zurück und öffnete.
Kirk schob das Tor rücksichtslos weiter auf, ohne darauf zu achten, daß er den Alten dadurch zurückstieß.
»Wo ist dein Boß?« fragte er.
»Mr. McIntosh schläft wahrscheinlich noch«, entgegnete der Peon.
»Weck’ ihn!«
Der Alte nickte und entfernte sich.
Nach wenigen Minuten kam er mit einem älteren Mann zurück, dem man ansah, daß er soeben aus dem Bett gekommen sein mußte.
Burt McIntosh blickte dem Mann aus dem San Pedro Valley nicht eben freundlich entgegen.
»Was führt Sie so früh zu mir, Mr. McLowery?«
Der Desperado stemmte die Arme in die Hüften, spreizte die Beine und nahm den Kopf hoch.
Was sollte dieser Auftakt? überlegte der Bürgermeister, während er unsicher nickte.
»Da unser Sheriff sich nicht in der Stadt aufhielt, ist es Ihr Amt, dafür zu sorgen, daß hier Ordnung herrscht.«
»Was haben Sie zu bemängeln, Mr. McLowery?« entgegnete McIntosh, wobei er sich bemühen mußte, das dunkle Angstgefühl, das in ihm aufstieg, zurückzudrängen.
Der Desperado sah sich in dem großen sauberen Hof des Pferdehändlers um und erwiderte: »Vor einer Viertelstunde ist ein Mann ermordet worden.«
McIntosh zog die buschigen Brauen zusammen. »Wer?« fragte er.
»Jeff Cornelly, der Sheriff von Nogales.«
»Cornelly? Ich wußte gar nicht, daß er in Tombstone war…« Argwohn stand in den dunklen Augen des Händlers.
Der Desperado lächelte zynisch. »Muß er ja wohl, Mayor, denn es ist kaum anzunehmen, daß ihn jemand über die Distanz von fast siebzig Meilen erschossen haben könnte.
McIntosh senkte den Kopf, während er die nächste Frage stellte: »Und weiß man, wer ihn getötet hat?«
»Der Mörder hat sich nicht sehen lassen.«
»Sie sagen: der Mörder?« McIntosh zog die Brauen hoch. »Wie kommen Sie darauf, daß er ermordet worden ist?«
Wieder flog das zynische Lächeln über das Gesicht des San Pedro-Mannes. Unendlich verächtlich erklärte er: »Wenn ein Schuß fällt, Mr. McIntosh, und ein Mann kippt aus den Stiefeln – und nirgends ist jemand zu sehen, dann ist das Mord.«
Der Mayor ließ den Kopf sinken und schob die Hände in die Taschen.
Die Sonne war inzwischen über den Horizont gestiegen und bedeckte die Giebel und Dächer der Häuser mit einem purpurnen Licht.
Kirk McLowery machte abrupt kehrt und verließ den Hof des Mayors.
*
Kirk McLowery hatte so laut mit Jeff Cornelly gesprochen, daß die junge Saloonerin Rozy Ginger aufgewacht war, aufstand und ans Fenster trat. Sie blickte verschlafen durch die Gardine auf die Straße und sah drüben auf dem Vorbau den fremden Reiter stehen.
Da es sie nicht interessierte, was dort vorging, wandte sie sich ab, drehte sich dann aber wieder um und blickte verblüfft hinaus.
Drüben in der Mündung der Lemonen Street hielt ein Reiter.
Es war ein mittelgroßer, untersetzter, hagerer Mensch mit seltsam gelbem Gesicht und zottigem Seehundschnurrbart. Seine Augen waren wasserhell und lagen tief unter blonden, nach unten stehenden dichten Brauen. Er trug einen sandfarbenen Melbahut und ein hellblaues Hemd. Seine Jacke war aus braunem Leinenstoff wie auch seine Hose, die unten in überlangen Schaftstiefeln steckte. Er trug keinen Waffengurt. Dafür umspannte seine rechte Hand ein Gewehr, eine siebenundsiebziger Winchester.
Rozy würde sich später genau daran erinnern. Es war eigentlich nichts Besonderes an diesem Mann, und doch hatte er irgend etwas an sich, das den Blick der jungen Frau festhielt.
Jetzt verließ der kleine Mann drüben den Vorbau, trat auf die Straße, zog sich auf sein Pferd und rutschte wieder herunter.
Der zweite Versuch gelang, und als er endlich im Sattel saß, wollte sich die Saloonerin abwenden, um noch ein paar Minuten ins Bett zu kriechen.
Aber sie blickte noch einmal auf den Mann, der dicht an der Hauswand in der Gassenmündung hielt, und sah zu ihrem Schrecken, wie er in diesem Moment die Winchester hochriß.
Der Schuß röhrte über die Straße.
Und der kleine, staubige Mann stürzte getroffen aus dem Sattel.
Die Frau starrte entsetzt auf den Niedergeschossenen. Als sie endlich den Bick hob, um nach dem Mordschützen zu sehen, war er verschwunden.
*
Man war in Tombstone schon an vieles gewöhnt und ganz sicher nicht empfindlich. Aber was da eben geschehen war, war blanker Mord. Das sah sie jetzt, als drüben aus dem Haus der Mann aus dem San Pedro Valley kam und auf den Niedergeschossenen blickte. Der Fremde, der da weggeschleppt wurde, war tot.
Die Frau hatte ein untrügerisches Gefühl dafür, und ganz sicher war es kein gutes Gefühl: schon vor Jahren im Bruchteil einer Sekunde erworben, als ihr Vater oben in Santa Fé in einer Schenke erschossen worden war. Sie hatte es mit ansehen müssen, sie – das damals kleine Mädchen Rozy.
Mit ihrem Schlaf war es vorbei. Sie ging hinunter in die Küche, wusch sich und begann ihr Tagewerk.
Als sie um neun Uhr die Saloontür öffnete, war die Straße noch leer.
Rozy Ginger ging an die Theke zurück, nahm ein Tuch und begann Staub zu wischen.
Plötzlich schrak sie zusammen.
Die hölzernen Schwingarme der Pendeltür wurden auseinandergestoßen und der Mann, der hereinkam, war niemand als der Fremde, der im Morgengrauen den Schuß aus dem Hinterhalt abgegeben hatte.
Der Mörder machte zwei Schritte in den Raum hinein, blieb stehen und blickte die Frau an.
In Rozys Augen stand blanke Angst.
Was will er von mir? Weiß er, daß ich ihn beobachtet habe? Das ist doch ausgeschlossen. Ich hatte doch die Gardinen zugezogen. Nie und nimmer kann er mich da gesehen haben.
Oder doch? Wie eine Eisenklammer saß ihr die bange Frage im Genick.
Mit Gewalt mußte sie sich aus dem Blick des Fremden lösen. Sie nahm ihre Arbeit wieder auf und tat so, als ob die Nähe des Fremden sie nicht im mindesten störte.
Außerdem mußte er ja an die Theke kommen, wenn er irgend etwas wollte.
Aber der Mann blieb stehen, wo er stand: zwei Schritt vor der Pendeltür?– und rührte sich nicht.
Rozy schluckte, sah auf und fragte: »Bitte?«
Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme; wie fremd und hohl sie auf einmal klang.
Der Mann antwortete nicht.
Rozy wischte sich nervös über die Stirn, griff nach einem der Gläser und tauchte es mit einer mechanischen Bewegung in die Spülwanne.
»Sie wünschen einen Whisky…?«
Der Mann sagte nichts, stand immer noch wortlos an der gleichen Stelle und sah sie nur an.
Rozy verlor ihre Fassung mehr und mehr.
»Was wünschen Sie?« Sie schluchzte fast.
Jetzt sah sie, daß die Augen des Mannes vollkommen farblos schienen. Es waren die hellsten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Und auch die härtesten. Wie Tieraugen, dachte sie.
Da setzte sich der Mann in Bewegung, kam auf die Theke zu und blieb dicht davor stehen.
Rozy wich entsetzt bis an die Tür zum Korridor zürück.
Da öffnete der Fremde die Lippen. Seine Stimme hatte etwas seltsam Dämonisches und Überlegenes, sie drang einem unter die Haut. Er sprach nicht laut, im Gegenteil, eher leise gedämpft, und doch schwang in dieser Stimme etwas Unheimliches, etwas Gefährliches mit.
»Mein Name ist Kilby.« Es war eine Stimme ohne jeden Klang, spröde und brüchig.
Der Mann legte seine Hände auf das Thekenblech.
Die Frau starrte gebannt auf seine Hände. Sie waren von der gleichen seltsam pergamentfarbenen Haut überzogen wie der Schädel und erinnerten sie an die Krallen eines Geiers.
Ja, auch sein Gesicht erinnerte sie an einen Geier. Die leicht nach unten gebogene spitze Nase mit den schmalen Flügeln, die großen, hellen Augen mit dem scharfen Blick und den an den Außenwinkeln hart herunterfallenden Lidern, der kantige Schnitt des Jochbeins und der Backenknochen, der Kinnladen und der Stirn. Well, der Fremde erinnerte sie an einen gefährlichen Raubvogel.
»Einen Fire point!« Es klang wie ein Befehl.
Mit zitternden Händen tastete die Frau hinter sich, nahm die kurze, vierkantige Flasche und goß ein, ohne den Blick von dem Mann zu wenden.
Mit einem kurzen Zupacken zog Kilby das Glas an sich; auch diese Bewegung hatte etwas von dem Griff eines Raubvogels.
Er kippte das rubinrote Getränk nicht etwa in sich hinein, sondern nippte nur einmal daran und stellte das Glas dann wieder auf das Thekenblech zurück.
»Sie wohnen allein im Haus?«
Rozy erschrak bis ins Mark.
Was wollte der Mann? Was hatte er vor? Hatte er sie also doch beobachtet. Aber das war fast unmöglich! Sie hatte doch im Zimmer gestanden, von der Gardine verborgen.
Jäh zuckte es ihr durch den Kopf. – Die Gardine. Jetzt glaubte sie, es ganz sicher zu wissen: Sie hatte nach ihr gegriffen, als der Schuß fiel. Erschreckt hatte sie die Hand in die Gardine gekrallt. Und das mußte der Mann gesehen haben.
Es war still in der Schenke.
Rozy hatte die Flasche noch in der Hand.
»Noch… einen?« brachte sie leise über die Lippen.
»Nur keine Hast, Madame. Ich bin noch beim ersten Glas. Bei mir geht alles der Reihe nach.«
Der Reihe nach! Erst hatte er den Mann draußen erschossen, und jetzt war sie dran! Die Mitwisserin!
Rozy schickte ein Stoßgebet gen Himmel.
Plötzlich stieß Kilby den Kopf über die Theke und zischte: »Wer wohnt noch hier?«
Die Frau erschauerte unter dem Klang dieser Stimme. Selbst wenn sie gewollt hätte – sie war wie gelähmt, unfähig ein Wort herauszubringen.
»Reden Sie schon!«
Rozy Ginger flog am ganzen Leib, setzte mehrfach zum Sprechen an und brachte schließlich stammelnd hervor: »Ich weiß nicht, was Sie wollen.«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt. Ich will wissen, ob Sie hier allein im Haus wohnen.«
»Ja… das heißt… eigentlich nicht. Nein, natürlich nicht, denn es wohnen etliche Leute hier bei mir im Haus. Schließlich haben wir neun Räume. Ich habe fünf davon vermietet. An feste Gäste – lauter Männer.«
Der Mann, der sich Kilby nannte, warf klimpernd zwei Geldstücke aufs Thekenblech und ging grußlos hinaus. Als die Pendeltüren hinter ihm zuschwangen, fiel es wie ein Mühlstein von Rozy Gingers Seele. Sie atmete auf, nahm ein Glas, goß sich selbst einen Fire point ein, kippte ihn in die Kehle und ließ gleich noch einen zweiten folgen.
Jetzt wäre es ihre Pflicht gewesen, zum Sheriff zu gehen. Zum Sheriff? Zu Jonny Behan? Mit größter Erleichterung erinnerte sie sich daran, daß Behan nach Phoenix geritten war, um dort Gefangene im großen Jail abzuliefern.
Aber hatte sie nicht vielleicht zum Mayor laufen müssen, um ihm mitzuteilen, was sie wollte?
Nein, eine Rozy Ginger konnte nicht mit einer solchen Nachricht zum Mayor laufen. In ihrer Schenke verkehrte die Unterwelt von Tombstone. Es hätte ihr schlecht angestanden, mit einer Mordklage zum Bürgermeister zu laufen. Jedenfalls war das ihre Ansicht.
Und wie war es mit dem Mann aus dem San Pedro Valley? Sie hatte nicht gewußt, daß Kirk McLowery in der Stadt war. Aber vorhin hatte sie ihn ja auf der Straße gesehen. Sie wußte genau, daß er ein einflußreicher Mann war. Es bestand jedenfalls kein Zweifel daran, daß dieser aufgeputzte herrschsüchtige Kirk McLowery eine Führerrolle in der Stadt einnahm. Die meisten Männer, die in ihrer Bar verkehrten, hatten Angst vor ihm, sahen in ihm eine Art Boß. Woran das lag, wußte Rozy Ginger nicht. Vielleicht, weil er der Bruder des großen Frank McLowery war, der ja in Tombstone auch so etwas Ähnliches dargestellt hatte. Wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen, weil er das Auftreten eines Mannes hatte, das keinen Widerspruch duldete. Er war im Gegensatz zu den meisten anderen Männern redegewandt, ja, er konnte sich sogar geschliffen ausdrücken, was man ganz sicher nur von wenigen Menschen dieser Stadt behaupten konnte.
Aber Rozy Ginger ging nicht hinüber, um mit Kirk McLowery zu sprechen.
Er kam eigentlich nur selten in ihre Schenke. Und wenn, dann ging er nur hindurch, zeigte gegen die Decke, was zu bedeuten hatte, daß er oben in dem großen Zimmer mit seinen Freunden zusammensitzen wollte. Hin und wieder ging sie dann hinauf oder schickte eine der beiden Mägde, um den Sondergästen Getränke hinauszubringen.
Nein, sie würde nicht zu diesem Mann hinübergehen: Weil sie Angst vor ihm hatte. Außerdem sah sie noch die Augen des Fremden vor sich, der gerade hier an ihrer Theke gestanden hatte.
Es war eine seltsame Unruhe in ihr. Was war eigentlich geschehen?
Sie hatte einen Mord beobachtet.
Und der Mörder beobachtete sie!
Die Frau griff sich an den Hals und spürte, daß ihr das Herz bis in die Kehle hämmerte.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Dreizehn Minuten nach neun.
Draußen war immer noch alles still.
Genau in dem Moment, als der große Zeiger vorrückte und federnd innehielt, war auf der Straße harter Hufschlag zu hören. Als er verstummte, stieg ein Mann aus dem Sattel, kam auf den Vorbau, und dann dröhnte sein Schritt auf den Stepwalkbohlen.
Rozy Ginger klammerte die Hände um die Metallkante des Thekenblechs.
Ganz fest hatte sie das Kinn auf die Brust gepreßt und hielt den Atem an.
Der Schritt kam näher, und das scharfe, helle Singen der Sternradsporen drang der Frau bis in den letzten Nerv. Rozy Ginger kannte diesen Schritt genau.
Es lag viele Jahre zurück, da sie ihn zum erstenmal gehört hatte.
Damals in Santa Fé
Es war an einem Sonntagvormittag gewesen, genau um diese Stunde. Ihr Vater lag mit blutigem Schädel am Boden, und vor ihm stand der Mann, der ihn niedergeschossen hatte, der Bandit Galvestone. Alle anderen waren geflüchtet, nur dieser Mann stand noch da – und sie, die halbwüchsige Rozy Ginger.
In den Augen des stoppelbärtigen Mörders glomm ein böses Begehren.
In jener furchtbaren Minute hatte sie diesen Schritt draußen gehört. Es war ihr einerlei gewesen, wer da kam. Aber dieser Mann mußte sie retten.
Seine große Gestalt hatte den Eingang verdunkelt und einen riesigen Schlagschatten in den Schankraum geworfen. Mit beiden Händen wurden die Pendeltüren auseinandergestoßen, und er trat ein.
Es war ein sehr großer Mann, wenigstens sieben Fuß hoch, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, wetterbraunem, markantgeschnittenem, edlem Gesicht und tiefblauen Augen, die von langen Wimpern beschattet wurden. Sein Haar war lackschwarz. Schwarz, breitrandig und flachkronig sein Hut. Sein weißes Hemd wurde oben von einer schwarzen Samtschleife zusammengehalten. Er trug eine kurze Boleroweste und eine enganliegende schwarze Levishose, die unten über die mit texanischen Steppereien bedeckten Stiefelschäfte auslief. Sein Waffengurt war aus schwarzem Büffelleder, patronengespickt, und hielt an beiden Enden zwei große Revolver mit schwarzen Knäufen. Die Waffe auf der linken Seite besaß einen überlangen Lauf, der unten aus dem Lederschuh herausblickte, sechskantig und brüniert. Eine im ganzen Westen berühmte Waffe, ein echter Buntline Special.
Die Waffe war fast so berühmt und eindrucksvoll wie ihr Besitzer, der große Marshal Wyatt Earp. Nie würde sie die Minute vergessen, in der er plötzlich in der Tür erschienen war.
Und das gewiß nicht nur deshalb, weil er sie aus einer fürchterlichen Lage befreit hatte, sondern weil seine Erscheinung einen unendlich tiefen Eindruck auf das Mädchen gemacht hatte.
Inzwischen waren Jahre vergangen, und Rozy Ginger hatte den Marshal noch mehrmals gesehen, in Santa Fé und auch hier in Tombstone. Aber sie hatten kaum noch ein Wort miteinander gewechselt.
Er hatte damals dagestanden mit gespreizten Beinen, die Hände über der Brust gekreuzt, den Kopf etwas gesenkt, eine Hälfte des Gesichts vom Schatten des Hutrandes verdeckt. Rozy sah ihn noch vor sich, als wäre es heute gewesen.
Plötzlich stieß sie einen halberstickten Schrei aus. Hatte sie geträumt?
Der Mann stand ja wirklich da vorn in der Tür.
»Wyatt Earp!« entfuhr es ihr.
Der Mann kam an die Theke, legte die linke Hand auf die Kante des Schanktisches und tippte an den Hutrand.
»Hallo, Miss Ginger!«
»Marshal!« stammelte sie.
»Sie sind ja erschrocken, Miss Ginger?«
»Mr. Earp, ich bin so überrascht, Sie plötzlich hier zu sehen.«
»Überrascht? Weshalb?«
»Waren Sie nicht in Nog…«
»Wo?« fragte er rasch.
»Ich hörte, daß Sie in Nogales waren.«
»Aha, das hörten Sie?«
Der Missourier griff mit der Linken in die Westentasche, zog sein Lederetui hervor und entnahm diesem eine seiner großen, starken schwarzen Zigarren, schob sie zwischen seine kräftigen weißen Zähne und riß ein Zündholz unter der Thekenkante an.
Durch die blaue feine Rauchwolke hindurch sah er in die Augen der Frau.
»Haben Sie mir etwas zu sagen, Rozy?«
Er hatte Rozy gesagt! Ihr Herz begann wild zu hämmern. Sie senkte den kopf. Wie sie sich vor ihm schämte!
Er hatte ihr damals das Leben gerettet – und von dieser Stunde an hatte er einen Platz in ihrem Herzen, den niemand mehr einnehmen könnte. Aber um nichts in der Welt hätte sie dieses Geheimnis verraten.
Damals, als sie die Aushilfsstellung im großen Crystal Palace bekommen hatte, war er eines Tages gekommen. Wie hatte ihr Herz gehämmert, als er plötzlich in der Tür erschienen war. Und dann hatte sie seinen Blick gespürt, der sie nur kurz streifte. Ein Blick voller Verachtung.
»Nein.« Sie hatte es leise und mit belegter Stimme gesagt.
»Schade.«
Sie wagte nicht aufzusehen, weil sie genau wußte, daß sie dem Blick seiner Augen niemals standgehalten hätte. Sie wandte die Augen von den blutroten Tropfen des Fire point und starrte auf die große, braune, kantige Männerhand, die plötzlich von der Theke verschwand.
Wyatt Earp ging auf die Tür zu. Da blieb er noch einmal stehen und sagte, ohne sich umzudrehen: »Ich bin von Nogales bis hierher einem Verbrecher gefolgt, der ein führendes Mitglied der Galgenmänner zu sein scheint. Sein Name ist Cornelly. Jeff Cornelly. Er war drüben Sheriff. Leider.«
Er wartete noch zwei Sekunden, dann schob er die Schwingarme der Tür auseineinander und ging hinaus.
Rozy hatte den Kopf hochgeworfen. Ihr Atem ging heftig. Schreien hätte sie mögen. Schreien!
Aber sie brachte die Lippen nicht auseinander. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Zu viele Männer gab es in Tombstone, die jeden Schritt des Marshals beobachteten. Und wenn er jetzt irgend etwas wußte, dann wußte er schon jetzt auf jeden Fall zuviel.
Und wie schnell man in Tombstone sterben kann, hatte sie ja erst vor wenigen Stunden erlebt.
Wenn sie sprach, hätte sie nicht nur von dem Mörder Kilby, sondern auch von Kirk McLowery reden müssen. Und sie wußte, daß der Marshal vor dem Ritt nach Nogales Kirk McLowery in Tombstone gesucht hatte.
Wyatt blickte die Straße hinunter. An ihrem Ende hielten zwei Reiter. Beide saßen auf blanken Rapphengsten. Der eine war groß, fast wie der Marshal selbst, trug einen nach neuester Mode geschneiderten Anzug, ein weißes Rüschenhemd und eine schwarze Halsschleife. Er hatte ein blaßbraunes, aristokratisch geschnittenes Gesicht, das von einem eisblauen Augenpaar beherrscht wurde.
Doc Holliday!
Der andere Reiter war ein Mann wie ein Scheunentor: riesengroß, von wahrhaft herkulischem Körperbau, sein Gesicht war gebräunt, hart, kantig, eckig; in intensivstem Grün flimmerten die Augen. Sein Haar war schwarz wie das des Marshals.
Der gewaltige Sechsgalonenhut auf seinem Schädel war blütenweiß und schien eben erst gekauft. Der Hüne trug ein gelbes Hemd ohne Weste; ein schwarzes Halstuch, einen breiten Waffengurt, enganliegende schwarze Levishosen, die über die hochhackigen Stiefel ausliefen, und einen schweren Kreuzgurt, der über beiden Oberschenkeln zwei gewaltige Revolver hielt, deren dunkelrote Läufe seltsamerweise nach vorn gerichtet waren. Wer den Mann so sah, konnte sich nicht vorstellen, daß er einen dieser Colts wirklich schnell aus dem Halfter befördern konnte. Aber wer ihn kannte, den Texaner Luke Short, der dachte anders über diesen Punkt.
Langsam ging der Marshal vom Vorbau auf die Straße hinunter, und während er auf die beiden Gefährten zuschritt, beobachtete er unauffällig die rechte Häuserfront.
Luke Short hatte sich mit dem rechten Ellbogen auf den Sattelknopf gestützt.
»Nun?« fragte er.
Wyatt schüttelte den Kopf. »Nichts.«
»Das ist doch ausgeschlossen!« versetzte der Goliath. »Wir haben doch seine Fährte bis in die Gasse verfolgt. Und wie ich Sie kenne, waren Sie auf der richtigen Fährte.«
»Ganz sicher.«
»Aber der Kerl kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«
»Natürlich nicht.« Wieder streifte der Blick des Missouriers die gegenüberliegende Häuserwände. »Nein, in Luft hat er sich nicht aufgelöst. Er ist hier irgendwo in den Häusern verschwunden.«
Sie wußten, daß es im Augenblick sinnlos war, weiter nach Cornelly zu suchen; er hatte sich versteckt – oder war versteckt worden. Gerade hier in der Gasse, in der Rozy Gingers Bar lag, gab es viele Leute, die ganz sicher zu den Banditen hielten. Es war damals schon eine berüchtigte C-Street (Clanton-Straße).
Da sahen die drei Freunde einen Mann auf sich zukommen, den sie hier am allerwenigstens erwartet hätten. Er war mittelgroß, schmächtig. Mitte der Dreißig, hatte ein blasses, käsiges Gesicht und einen Backenbart, der ihm überhaupt nicht stand. Der schwarze Stetson unterstrich die Blässe seines Gesichts noch, und der dunkelgraue Anzug sowie das weiße Hemd und die braune Schleife wirkten nicht gepflegt.
Auf der linken Seite seiner Jacke blinkte ein großer sechszackiger Stern.
Das war Jonny Behan, der Mann, der sich selbst Sheriff von Tombstone nannte, aber nichts weiter war als ein vor mehreren Jahren von Sheriff Shibell vorübergehend eingesetzter Hilfssheriff. Daß er heute noch den Stern trug, verdankte er zweifellos den Machenschaften von Leuten, die einen schwachen Sheriff in der Stadt brauchten, nicht aber einen Mann mit Persönlichkeit, Fähigkeiten oder Leistungen. Dieser Jonny Behan war einer der seltsamsten Männer, die es im Westen je gegeben hatte. Niemals hatte er den Mut gehabt, gegen Banditen vorzugehen. Die Clanton Gang beispielsweise hatte sich in der Stadt bewegt, wie sie wollte. Tat, was sie wollte, und scherte sich einen Dreck um diesen Sheriff. Was immer auch in Tombstone Ungesetzliches geschah, Sheriff Behan hatte sich stets erst dann darum gekümmert, wenn die Gefahr vorüber war.
Jetzt stand er da, mit hängenden Armen, und blickte nicht sehr zuversichtlich auf den Marshal.
»He, Earp!« rief er plötzlich mit seiner dünnen Stimme.
Wyatt, breitbeinig und mit verschränkten Armen, blickte ihm entgegen.
»Schon zurück aus Phoenix? Ich hoffe, Sie haben die Gefangenen alle abgeliefert.«
Da drehte sich der Hilfssheriff sofort um und trippelte davon. Es wirkte so komisch, daß Luke Short in ein schallendes Gelächter ausbrach.
Da blieb Behan stehen, wandte sich ihnen zu und rief zur Verwunderung des Marshals: »Earp, wenn Sie Cornelly suchen…«
Wyatt war sofort bei ihm, packte ihn am Arm und zerrte ihn zu sich heran. »Was haben Sie da eben gesagt, Behan?«
Der Sheriff sah ihn unsicher an. »Ich habe gesagt, wenn Sie Cornelly suchen… ich könnte Sie zu ihm führen.«
Wyatt ließ ihn los.
»All right, Behan, tun Sie das!«
Der Marshal war gespannt, wohin ihn der Sheriff führen würde. Seiner Ansicht nach konnte Cornelly sich nur in dieser Straße aufhalten.
Aber zu seiner größten Verwunderung steuerte Jonny Behan auf die Allenstreet zu.
Schräg gegenüber vom Occidental Saloon lag etwas zurück aus der Häuserzeile ein kleiner Holzbau, unansehnlich und verwittert. Das Tor hing nicht mehr fest in den Angeln. Und als Jonny Behan es jetzt aufzog, quietschte es scheußlich.
Doc Holliday hatte, als der Marshal sich mit Behan entfernte, einen Pfiff ausgestoßen, worauf aus einer Häusernische ein Pferd angetrabt kam. Es war der Schwarzfalbe Wyatt Earps. Der Spieler nahm ihn an die Zügelleine und folgte dann mit Luke Short dem Marshal.
Wyatts Gesicht verfinsterte sich, als Behan ihn auf den scheunenartigen Bau zuführte.
Er blieb stehen und packte den Sheriff am Arm.
»Was soll das bedeuten? Er ist doch nicht im Totenhaus!«
»Kommen Sie nur.« Der Hohn in der Stimme Behans war unüberhörbar. Er öffnete das Tor noch weiter, machte eine einladende Bewegung mit der linken und zischelte grinsend: »Hier ist Ihr Mann!«
Wyatt ging an ihm vorbei und blickte in den Schuppen, der der Stadt Tombstone seit vielen Jahren als Totenhaus diente.
Auf einem umgekippten Wagenkasten lag der Körper eines Mannes. In dem Halbdunkel, das hier herrschte, war sein Gesicht nicht sofort zu erkennen.
Als der Marshal jedoch an die mehr als dürftige Bahre herantrat, erkannte er den Toten.
Es war Jeffrey Cornelly, der ehemalige Sheriff von Nogales. Der Mann, dem er über siebzig Meilen gefolgt war.
Cornelly hatte drüben in Nogales an der mexikanischen Grenze mehrere schwere Verbrechen begangen, die ihm der Missourier hätte nachweisen können.
Und nun lag er da auf dem Karrenboden mit marmornem, verzerrtem, entstelltem Gesicht, weitaufgerissenen Augen und offenstehendem Mund. Ein Bild fürchterlichen Todeskampfes.
Da vernahm der Marshal hinter sich die näselnde Stimme Behans.
»Er ist ermordet worden, Wyatt.«
Der Missourier rührte sich nicht.
Behan war nahe an den Marshal herangetreten und blickte ihm über die Schulter.
Da öffneten sich die Lippen des Missouriers. Heiser stieß er hervor: »Wer hat ihn gebracht?«
Behan zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es nicht.«
Wyatt fuhr herum und ergriff ihn am Arm. »Ich habe Sie gefragt, wer ihn hergebracht hat.«
Hündische Angst stand in den Augen des wankelmütigen Mannes. »Das weiß ich nicht. Als ich vorhin kam, muß er schon hier gelegen haben. Ich bin ja erst heute morgen zurückgekommen. Ich habe das Office aufgeschlossen, und als ich dann hier im Totenhaus nachsah…«
»Sie haben sofort im Totenhaus nachgesehen?«
»Was? Nein… sofort natürlich nicht. Aber nach einer Weile…«
»Wann?«
»Ich kann das nicht mehr genau sagen. Vielleicht um acht – oder um…«
»Sie müssen es genau wissen.«
»Es kann auch halb neun gewesen sein. Jedenfalls, als ich hier hereinkam, sah ich ihn da liegen.«
»Und Sie wußten sofort, wer es ist?«
»Ja, natürlich. Ich kannte ihn doch. Er ist ein paarmal hiergewesen mit den Boys und…«
Jäh brach er ab. Wyatt zog ihn dicht zu sich heran.
»Behan«, in den Augen des Marshals stand ein dunkles Feuer. »Sie werden mir jetzt die Wahrheit sagen, sonst gnade Ihnen Gott.«
Der Papier-Sheriff versuchte, sich von dem eisenharten Griff des Missouriers zu befreien.
»Earp! Ich bitte Sie, was fällt Ihnen ein? Sie würgen mich ja. Ich habe gesagt, was ich weiß…«
Der Marshal ließ ihn los.
»Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie sofort, nachdem Sie in die Stadt gekommen sind, hier in dem Totenhaus nach dem Rechten gesehen haben? Das ist doch so unglaubwürdig wie nur irgendwas, Behan!«
»Aber es war so!« beharrte der Mann.
»Das werde ich noch feststellen. Und wehe, Sie hängen mit der Geschichte zusammen.«
Wyatt wandte sich zurück zur Tür, die jetzt durch die Riesengestalt des Texaners verschattet wurde.
Doc Holliday war draußen bei den Pferden stehengeblieben und sah sich forschend auf der Straße um.
War es ein Zufall, daß drüben neben dem Eingang des Occidental Saloons ein junger Mann vorn auf dem Geländer lehnte und mit hängendem Kopf die Straße hinunterblickte?
Er hatte einen Grashalm im Mund und kaute darauf herum.
Es war dem Georgier, als beobachte der Mann heimlich unterm Hutrand hervor den Eingang des Totenhauses.
Das konnte jedoch auch ein Irrtum sein, denn jemand, der zufällig auf der anderen Straßenseite stand, brauchte nicht einmal besonders neugierig zu sein, geschweige denn, eine dunkle Absicht zu verfolgen, wenn er den Männern zusah, die das Totenhaus betraten.
Was dem Georgier nicht gefiel, war die Tatsache, daß der Mann es zu verbergen suchte.
Der Spieler hatte die drei Pferde an den Zügelleinen, führte sie hinüber an die Halfterstangen, wo er sie unangebunden stehenließ. Dann trat er auf den Vorbau und ging auf den Eingang der Schenke zu. Ehe er die Tür erreicht hatte, wandte er den Kopf.
»Ein Bekannter von dir, der Mann, der da drüben liegt?«
Der Angesprochene wandte den Kopf und richtete sich langsam auf. Er mochte vielleicht achtzehn Jahre alt sein, hatte breite Schultern und eine wuchtige, untersetzte Gestalt. Affenartig lang waren seine Arme, deren schwere Hände bis über die Kniegelenke herunterhingen.
»Wie meinen Sie das, Mister?«
»Ich fragte, ob er ein Bekannter von dir ist, der Stumme, der da drüben liegt.«
Der Bursche zog die Brauen zusammen und knurrte: »Ich kenne den Mann überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wer da liegt. Ich kümmere mich nicht um das, was hier in der Stadt vorgeht. Und Fremde, die interessieren mich erst recht nicht. Schon gar nicht solche Strolche wie der da…«
Er brach ab, weil er merkte, daß er sich versprochen hatte.
Holliday tat, als habe er es nicht mitbekommen. »Du bist aus der Stadt hier?«
»Natürlich.«
»Also hast du auch ein Quartier hier?«
»Ja, sicher.«
»Du hast die Stadt heute nicht verlassen?«
»Nein. Wie kommen Sie darauf? Was soll überhaupt die ganze Fragerei, Mister.«
»Nichts weiter, Boy. Ich dachte nur, weil du dir die Augen nach uns aussiehst. Wenn du ihn sehen willst, den Mann, den du angeblich nicht kennst, dann geh doch hinüber. Er liegt auf dem Karren, auf dem schon viele Männer mit Blei im Leib gelegen haben. Es ist Jeff Cornelly, der ehemalige Sheriff von Nogales. Du weißt es genau.«
Da stieß der Bursche sich vom Geländer ab, machte drei Schritte auf den Spieler zu, ballte die Fäuste und fauchte: »Hören Sie zu, Mister. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Und es ist mir auch egal. Und wenn Sie glauben, daß ich Angst vor Ihnen habe, weil sich all die anderen vor Ihnen fürchten, dann haben Sie sich ge…« Und wieder brach er ab, weil er merkte, was er sich da geleistet hatte.
Holliday lachte spöttisch. »Du machst mir Spaß, Sonny.«
Er trat in die Kneipe, ließ sich einen Brandy geben, zahlte und ging wieder hinaus.
Der Bursche lehnte immer noch am Geländer und starrte auf die Straße.
Soeben hatte Wyatt Earp das Totenhaus verlassen. Luke Short folgte ihm. Und dann kam Jonny Behan, der den Riegel vorwarf.
Doc Holliday überquerte die Straße und blieb vor dem Marshal stehen.
»Kennen Sie den Burschen da drüben?«
»Nein.«
Behan meldete sich sofort: »Ich kenne ihn. Es ist Elvis Huxley.«
»Wohnt er hier in der Stadt?« fragte Holliday rasch.
»Ja.«
»Scheint ein Lügner und außerdem ein neugieriger Kerl zu sein.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Er hat behauptet, daß er heute die Stadt noch nicht verlassen habe. Das ist eine Lüge, denn den großen Binsenhalm, den er da zwischen den Zähnen hält, kann er in ganz Tombstone nicht finden. Dazu müßte er sogar ein ziemliches Stück hinaus in die Prärie reiten. Außerdem hat er behauptet, daß er nicht wüßte, wer hier im Totenhaus liegt. Dabei blickt er unablässig herüber, um ja alles genau mitzubekommen, was seinen Boß interessiert.«
Die drei letzten Worte hatten Behan zusammenzucken lassen. »Was soll das heißen?« krächzte er.
Holliday sah ihn erstaunt an. »Nanu, Sheriff, ich habe doch nicht von Ihnen gesprochen, sondern von ihm und seinem Boß.«
»Sie meinen doch etwas Bestimmtes.«
Der Spieler nahm seinen Hut ab und klopfte den Staub heraus.
Behan wich zurück, bis er gegen die Treppe seines eigenen Office stieß, ging dann hinauf, trat auf den Vorbau, und ehe er die Tür öffnete, rief er: »Earp. Man weiß, daß Sie Cornelly verfolgt haben. Und jetzt ist er tot. Eine Kugel im Rücken.«
Mit zwei, drei Sätzen war der Marshal auf dem Vorbau, sprang dem Hilfssheriff entgegen, riß ihn von der Tür weg und preßte ihn gegen die Wand.
»Behan, was wollten Sie damit sagen?«
»Ich? Gar nichts. Aber es fragt sich nur, was die Leute dazu sagen werden. Die Bürger von Tombstone und die anderen…«
Wyatt stieß den Laumann derb gegen die Tür.
»Das haben Sie sich fein ausgedacht!«
Er wandte sich ab und ging mit den beiden Freunden zu den Pferden hinüber.
Der Bursche, der drüben gestanden hatte, war verschwunden.
Doc Holliday sah sich verblüfft um. »He! Wo ist der Mann denn geblieben?«
Luke Short knurrte: »Der ist zu seinem Boß geritten, genau wie Sie es vermutet haben.«
Wyatt zog sich in den Sattel. Holliday folgte seinem Beispiel.
Luke Short stand noch unschlüssig neben seinem Pferd. »Also, Marshal, wenn Sie mir jetzt erzählen, daß Sie nach Flagstaff oder nach Phoenix oder meinethalben auch nach Santa Fé reiten wollen, dann bin ich dabei – aber erst, wenn ich ein paar Eier und fünf Schinkenbrote verdrückt habe.«
In den Augen des Missouriers stand ein Lächeln. »All right, Luke. Wir sind auf dem Weg zu den Schinkenbroten.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Wo es den besten Schinken gibt: zu Nellie Cashman.«
Die Inhaberin des Russian Hauses, eines eleganten Etablissements am Südrand der Stadt, freute sich sehr, als sie die drei Ankömmlinge gewahrte.
Jeder bekam wieder sein altes Zimmer, und dann saßen die drei um den Frühstückstisch, um sich zunächst einmal zu kräftigen.
Gleich nach dem Frühstück erhob sich der Marshal.
»Sie wollen schon weg?« fragte der Texaner.
»Ja, ich muß mit dem Mayor sprechen.«
Holliday winkte ab. »Das können Sie sich sparen.«
»Ich weiß, aber ich muß es trotzdem tun.«
Burt McIntosh hatte den Missourier schon vom Fenster aus kommen sehen.
Er hörte das Klopfen an der Haustür und schickte seine Tochter hinaus, ihn einzulassen.
Mary McIntosh war eine bläßliche, unansehnliche junge Frau mit einem von Sommersprossen bedeckten Gesicht. Sie errötete, als sie den Marshal erkannte, und führte ihn sofort ins Haus.
Der Mayor hatte sich neben seinen Schreibtisch gestellt, die Linke auf die helle Eichenplatte gestützt, die Rechte in die Hüfte gestemmt. So blickte er dem Missourier entgegen.
»Aha, Mr. Earp«, tat er überrascht. »Was führt Sie denn zu mir?«
»Ich nehme an, daß Sie das wissen«, antwortete Wyatt. »Ich war eben im Totenhaus und habe Jeff Cornelly gesehen.«
»Ja, ich hörte davon, daß er ermordet worden ist.«
»Von wem hörten Sie das?«
»Na – die ganze Stadt weiß es doch.«
»Mich würde interessieren, wer es Ihnen mitgeteilt hat.«
»Das weiß ich nicht mehr. Hat es Behan gesagt oder war es…?«
»Wer?«
McIntosh wandte sich um, ging um seinen großen Schreibtisch herum und ließ sich in seinen Lehnstuhl fallen. Er lehnte den Kopf zurück gegen das Holz, fuhr mit der Zunge nachdenklich unter der linken Wange her und meinte dann wie nebenbei: »Wissen Sie, Marshal, es ist eine sonderbare Stadt, dieses Tombstone. Manche Leute brauchen Jahre, bis sie sich hier eingewöhnen. Ich habe auch fast ein Jahrzehnt gebraucht, um hier Fuß zu fassen. Und nun bin ich Mayor dieser Stadt.«
»Was soll die Einleitung?« unterbrach ihn der Missourier. »Also erzählen Sie schon, was Sie sagen wollen.«
»Was ich Ihnen sagen will, Wyatt Earp, ist folgendes: Es wohnen viele Leute hier in der Stadt, die Sie nicht mögen.«
»Das interessiert mich nicht und beruht ganz sicher auf Gegenseitigkeit.«
McIntosh lächelte süßlich und entgegnete: »Ich möchte nicht behaupten, daß auch ich zu diesen Leuten gehöre, Mr. Earp. Aber Sie haben hier sehr viele Feinde. Vor allem seit dem unseligen Tag des O.K.-Corrals sind die Gemüter doch sehr gegen Sie eingenommen…«
Der Marshal trat an den Schreibtisch heran und schlug mit der Faust auf die Platte, daß die beiden Tintenfässer hochsprangen.
»Lassen Sie endlich die Katze aus dem Sack, McIntosh.«
»Nun, wenn Sie so darauf bestehen – Sie hätten es ja ohnehin erfahren müssen. Es liegt eine schwere Beschuldigung gegen Sie vor.«
Der Marshal blickte ihn entgeistert an. »Eine Beschuldigung gegen mich? Von wem denn?«
McIntosh lehnte sich noch weiter zurück, schob die Arme weit über die Lehnen vor und trommelte auf der Tischkante herum.
»Sie werden des Mordes an Sheriff Jeffry Cornelly beschuldigt, Mr. Earp.«
Wyatts Gesicht versteinerte. »Das ist doch wohl nicht möglich. Und Sie glauben das?«
McIntosh zog die Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. Ölig entgegnete er: »Es ist nicht meine Aufgabe, etwas zu glauben oder nicht zu glauben. Ich bin der Mayor dieser Stadt und habe den Sheriff zu unterstützen.«
»Den Sheriff?« rief Wyatt. Dann lachte er. »Jetzt geht mir ein Licht auf. All right, McIntosh, wie Sie wollen. Aber eines sage ich Ihnen: von dieser Geschichte hätten Sie besser die Hände weggelassen.«
Der Mayor wurde plötzlich um einen Schein bleicher. Er mußte an das denken, was er soeben noch erwähnt hatte: an den mörderischen Kampf im O.K.-Corral. Daran, daß dieser Mann, der da vor ihm stand, den härtesten Kampf nicht fürchtete, und rücksichtslos sein Leben für das Gesetz einsetzte. Das hatte er jedenfalls in dem mörderischen Fight gegen die Clantons einwandfrei bewiesen.
Und er, Burt McIntosh, war kein Mann, der einen solchen Fight durchstehen würde. Überhaupt war er kein Mann des Kampfes, und so wenig für den Posten eines Mayors geeignet wie etwa Jonny Behan für den eines Gesetzesmannes in dieser Stadt.
Aber er hatte sich im Stadtrat um diesen Posten gerissen. Es ging ihm um das Ansehen, das damit verbunden war, und nicht zuletzt auch um die Dollars, die außerdem dafür gezahlt wurden. Aber wie alles seine zwei Seiten hat, so offenbarte auch der Posten eines Bürgermeisters von Tombstone jetzt seine Schattenseiten.
In den Stunden, die seit dem Besuch Kirk McLowerys vergangen waren, hatte sich einiges ereignet. Zunächst war Class Claiborne bei ihm aufgetaucht. Anschließend Jamex Curly Bill und dann die beiden Flanagans, die in der ganzen Stadt gefürchtet waren. Und alle hatten sie das gleiche von ihm gefordert: Wyatt Earp als Mörder von Jeff Cornelly festsetzen zu lassen.
Das war natürlich leicht gesagt und schwer getan.
Und als er hörte, daß Jonny Behan zurückgekommen war, suchte er ihn auf und erklärte ihm, was die Leute von ihm verlangten.
Jonny Behan zog sich in seiner Schneckenmanier sofort zurück und entgegnete, daß er mit all diesen Dingen nichts zu tun hatte, weil er nicht Zeuge der Schießerei gewesen sei.
»Das müssen Sie schon selbst erledigen, Mayor«, hatte er geantwortet. Aber McIntosh war zumindest so gerissen wie er und verstand es, ihm klarzumachen, daß es nicht die Sache eines Bürgermeisters, sondern die des Sheriffs sei. So hatte er ihn zu Wyatt Earp geschickt.
Wyatt blickte den Mayor eine Weile nachdenklich an, dann schob er die Hände in die Taschen und fragte halblaut: »Mich interessiert nur noch eines, McIntosh: Woher wußten Sie und woher wußten die anderen, daß ich in Tombstone bin?«
McIntoshs Gesicht wurde von flammender Röte übergossen. »Das geht mich nichts an, Mr. Earp. Ich habe nur meines Amtes zu walten.«
Wyatt wandte sich um und ging zur Tür. Da blieb er noch einmal stehen und sagte über die Schulter zurück: »Sie wissen genau, daß ich Jeff Cornelly nicht ermordet habe, McIntosh. Aber das sage ich Ihnen: Ich werde den Mörder finden und jeden, der mit ihm unter einer Decke steckt, zur Rechenschaft ziehen.«
Die schwere Zimmertür fiel krachend ins Schloß.
Draußen schreckte das bleiche Mädchen, das im Flur gelauscht hatte, zusammen und preßte sich an die Wand, als der Mann an ihr vorbei zur Tür ging.
Wyatt ging die breite Straße hinauf, der Freemontstreet, und suchte seinen alten Freund John Clum auf.
Der weißhaarige Gründer mehrerer Indianerreservate in Arizona und langjährige Bürgermeister von Tombstone lag im Bett und blickte dem Marshal mit frohen Augen entgegen.
Er war vor einigen Tagen hier vor seinem Haus nachts schwer angeschossen worden, hatte sich aber zusehends von der Schußverletzung erholt.
»Hallo, Wyatt.Da sind Sie ja.«
Der Missourier ließ sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder, nahm seinen Hut ab und berichtete dem Freund, was er inzwischen erlebt hatte.
Clum winkte ab. »Der Teufel soll dieses Nest holen. Ich habe ja gewußt, daß es hier wieder losgehen wird. Vor anderthalb Jahren war meine Tochter bei mir zu Besuch und wollte mich hinauf nach St. Louis mitnehmen. Wäre ich nur mitgefahren, dann säße ich heute in meinem Lehnstuhl oben in ihrem Haus oder hinten im Garten, spielte Karten und könnte den Herrgott einen guten Mann sein lassen.«
»Aber das können Sie hier auch, Mr. Clum. Sie sind ja nicht mehr der Mayor von Tombstone und brauchen sich nicht mehr mit diesen Dingen abzugeben.«
Mit einem Ruck setzte sich der Genesende auf. In seinen Augen leuchtete es plötzlich auf.
»So, ich bin nicht mehr der Mayor. Das ist richtig. Aber vielleicht haben wir beide uns zu früh gefreut. Übermorgen ist in Tombstone Bürgermeisterwahl.«
»Aber Sie werden sich doch nicht aufstellen lassen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber glauben Sie, die fragen mich? Vor einer Stunde ist Bret Lancona hiergewesen und hat mir die Listen gezeigt. Ich dachte, mich laust der Affe, als ich meinen Namen unter denen der drei Kandidaten entdeckte. Ich sagte, du bist verrückt, Lancona, das kommt nicht in Frage. Außerdem bin ich krank, und bin alt und will nicht mehr. Aber der Bursche lächelte nur und meinte, auf mich käme es dabei gar nicht an. Wenn die Bevölkerung mich haben wolle, dann müsse ich da sein, sonst brauchte ich ja nicht hier zu leben.« Der Zeitungsmann seufzte tief und fuhr dann fort: »So geht es einem, wenn man solch einem Kaff nicht ade sagen kann.«
Der Missourier blickte nachdenklich durch das Fenster hinaus in den Garten. »Wissen Sie, John, es gibt hier einiges, worüber ich mir gern klar würde. Einmal ist da die Beschuldigung gegen mich. Und dann ist da der Tote. Wer hat ihn erschossen?«
»Einer, dem er im Wege war.«
»Es ist nicht ausgeschlossen, daß er Nogales mit Cornelly zusammen verlassen hat. Mit Sicherheit weiß ich das natürlich nicht. Wir haben unterwegs mehrere Leute gefragt, die Cornelly gesehen haben. Es war ein Reiter bei ihm, aber nur bis Silver Grown etwa. Von dieser Siedlung an muß er allein geritten sein. Wir haben in der kleinen Siedlung Nachforschungen angestellt, aber völlig ergebnislos. Die Leute dort sind verschüchtert und reden nichts. Trotzdem bin ich überzeugt, daß es nicht Phin Clanton war, der ihn ermordet hat. Cornelly ist dieses ganze Stück über vierzig Meilen allein in die Stadt geritten. Vielleicht ist er beobachtet worden, als er durch die Miner-Camps kam und in die Stadt ritt. Aber wer hatte ein Interesse daran, ihn zu töten?«
Clum lehnte sich in die Kissen zurück und schloß die Augen. »Das mag der Teufel wissen«, kam es leise über seine welken Lippen.
Wyatt erhob sich, ergriff seine Hand, drückte sie leicht und erklärte: »Ich sehe gelegentlich wieder nach Ihnen, John.« Dann ging er.
Es war kurz vor zwölf Uhr, als er mit Doc Holliday vor McLowells Schmiede ankam.
Die Schmiede stand links vom Totenhaus.
McLowell war ein bärtiger Mann in den Fünfzigern, der weniger redete als ein Fisch. Er hatte keinen schlechten Ruf in der Stadt, und Wyatt wußte von seinem Bruder Virgil, der ja lange hier in Tombstone Marshal gewesen war, daß der Blacksmith sich nie mit den Clantons abgegeben hatte.
»Haben Sie zufällig gesehen, wann der Tote nach nebenan gebracht worden ist?«
Der Blacksmith hatte in der Linken eine riesige Zange, mit der er ein glühendes Eisenstück über den Amboß hielt, während er mit einem schweren Vorschlaghammer, den er mit der Rechten handhabte, bearbeitete.
Er schüttelte nur den Kopf.
Da meinte der Spieler, während er sich der Straße zuwandte: »Kommen Sie, Marshal, wir vertrödeln nur Zeit. Vielleicht hat Jonny Ahslan etwas gesehen.«
Da hob der bärtige Blacksmith den Kopf. »Ahslan«, knurrte er. »Wie kann diese lahmte Ente etwas gesehen haben. Der Bursche wohnt ja oben in der Freemmonstreet.«
Er konnte also doch reden!
Holliday wandte sich um und blickte den Schmied an.
»Nun, wenn Sie nichts gesehen haben, ist es doch nicht ausgeschlossen, daß vielleicht Mr. Ahslan etwas gesehen hat.«
»Wie sollte denn das möglich sein? Ich wohne neben dem Totenhaus und nicht er.«
»Trotzdem. Der Marshal wird ihn fragen.«
Da richtete sich der Schmied auf und schleuderte das Eisenstück in die glühende Esse, stellte den Hammer ab und hob die Zange, während er auf die linke Wand deutete, wo das Totenhaus an seine Werkstatt anschloß.
»Ich kümmere mich nie um die Dinge, die da vorgehen. Aber heute morgen habe ich zufällig gesehen, wie sie einen Mann hineinschleppten.«
»Wer schleppte ihn hinein?«
»Ich kannte die Burschen nicht.«
»Wie viele waren es?«
»Drei.«
»Und Sie kannten wirklich keinen von ihnen?« fragte der Missourier eindringlich.
Der Schmied schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wie spät war es?«
»Ich glaube, sechs Uhr.«
»Seit sechs Uhr liegt er also dort«, meinte der Missourier und fuhr fort: »Haben Sie Jonny Behan kommen sehen?«
»Nein.«
»Erinnern Sie sich bitte genau.«
Der Schmied schüttelte den Kopf.
Da sagte der Georgier. »Kommen Sie, Marshal. Ahslan wird sich bestimmt genau daran erinnern.«
McLowell knurrte. »Ja, wenn ich es recht bedenke, dann habe ich ihn kommen sehen. Er kam so gegen, so – gegen neun.«
»Und? Kam er allein?«
»Ja, er kam allein. Aber…«, er brach ab.
»Vorm Office wartete jemand auf ihn.«
Der Schmied sah den Marshal an. »Woher wissen Sie das? Und wenn Sie es wissen, weshalb fragen Sie mich?«
»Wer wartete vor dem Office auf ihn?«
Der Schmied senkte den Kopf, nahm den Hammer auf und knurrte: »Das kann ich nicht sagen.«
»Warum können Sie es nicht sagen?«
»Das wissen Sie genauso gut wie ich. Wenn man hier in Tombstone den Mund auftut, kann es einem leicht passieren, daß man ihn nicht mehr selbst schließen kann.«
»Kommen Sie doch, Marshal!« rief der Georgier von der Tür her. »Wir müssen mit Ahslan sprechen!«
Da schleuderte der Schmied seine Zange so wild von sich, daß sie klirrend auf eine Metallplatte schlug.
»Ashlan! Was wollen Sie denn von ihm? Was weiß er denn überhaupt? Nichts! Er hat ein großes Maul im Stadtrat und überall sonst. Ich weiß genau, daß der Bursche mir nicht grün ist, seit ich ihm meine Tochter nicht gegeben habe, dieser Säufer. Und übrigens, Marshal, Sie können sich doch denken, daß ich Ihnen nicht sagen kann, wer vor Behans Tür gestanden hat. Denn wenn ich es sage, weiß der Mann genau, daß Sie es nur von mir erfahren haben können. Er hat mich gesehen.«
Wyatt nickte. »Schon gut.« Dann ging er mit Doc Holliday hinaus.
Sie überquerten die Straße, suchten den Oriental Saloon auf und sprachen ein paar Minuten mit dem Wirt.
Aber auch er konnte ihnen keine Auskunft geben.
Als sie wieder auf der Straße waren meinte Doc Holliday: »Und Rozy Ginger?«
»Sie hat Angst«, antwortete der Marshal.
Sie waren die Allenstreet hinaufgegangen, bis etwa auf die Höhe der Gasse, die zu Rozy Gingers Bar führte.
Hier an der Ecke war ein Barbershop, den sie betraten.
Während sich der Spieler gleich in den Rasierstuhl setzte, blieb der Marshal hinterm Fenster stehen und beobachtete die Gassenmündung. Plötzlich sah er aus Hormanns Mietstall einen alten Mann mit zottigem weißgelbem Bart kommen, der einen Sack auf dem Rücken trug und auf die Gassenmündung zuhielt.
»He, das ist doch der alte Flanagan!« entfuhr es Wyatt.
Der Barbier warf einen Blick hinaus und nickte. »Ja, er geht zum Mittagessen heim.«
»Heim? Wohnt er denn nicht mehr hinter der Sägemühle, also in ganz entgegengesetzter Richtung?«
»Nein«, versetzte der Barbier, während er dem Georgier das weiße Tuch um Rücken und Hals legte, »die Flanagans wohnen doch seit über einem Jahr schon unten in der Gasse.«
»Ach…?«
»Schräg gegenüber von Rozy Gingers Bar.«
Doc Holliday nahm mit einem Ruck das weiße Handtuch von seinem Kragen, drückte es dem Barber in die Hand, stand auf und erklärte: »Ich habe es mir überlegt, der Bart ist noch nicht lang genug.«
Mit schnellen Schritten gingen die beiden Dodger die Gasse hinunter, und als sie in der Nähe von Rozys Bar angelangt waren, deutete der Missourier mit dem Kopf auf ein ziemlich großes Gebäude, das der Bar fast gegenüber lag.
»Es kann nur das Haus sein. Es gehörte Mike Andrews. Er war damals schon schwer verschuldet und ein fürchterlicher Trinker. Vielleicht ist er gestorben.«
Sie hielten auf das Haus zu. Wyatt betätigte den Messingklopfer, und gleich darauf kam Lourie Flanagan an die Tür. Als sie sah, wer vor ihr stand, fuhr sie entgeistert zurück.
Der Marshal wandte sich um und rannte in die Küche.
Gleich darauf tauchte der struppige Alte auf. Gebeugt, mit zerzaustem Bart, offenem Hemd und einer Hose, die von den zerfransten Trägern fast bis zu den Achseln hochgezogen wurde, so stand er vor dem Missourier.
»Daß wir uns einmal wiedersehen, Marshal«, meinte er mit trotziger Stimme, während er sich mit der Rechten durch den schmierigen Kragen fuhr.
»Ich hätte gern mit Ihren Jungen gesprochen, Mr. Flanagan.«
»Mit wem?« entgegnete der Alte rauh, warf den Kopf hoch, und in seinen fahlblauen Augen stand ein lauernder Zug. »Ich habe mehrere Söhne. Ingesamt fünf, Marshal.«
»Mich interessiert nur, wo Hal und Ed sind.«
»Hal und Ed?« wiederholte der Alte. »Well, die sind in der Stadt. Sie arbeiten.«
»Ach, und wo, wenn ich fragen darf?«
»Unten in der Sägemühle, wo wir früher alle gewohnt haben.«
»Und hier im Haus ist keiner von ihnen?«
»Nein«, entgegnete der Alte.
»Aber sie schlafen hier?«
»Ja.«
Da trat der Marshal nahe an den Alten heran, senkte den Blick in seine Augen und erklärte: »Mr. Flanagan. Heute morgen ist hier in der Straße ein Mann ermordet worden.«
Thomas Flanagan wich zurück. »Hier?«
»Sie wissen also schon davon?«
»Wenn Sie die Sache mit Conelly meinen – ich habe davon gehört. Im Mietstall, wo ich beschäftigt bin. Das weiß doch jetzt jeder in der Stadt. Wie sollte ich es denn nicht erfahren. Aber daß er hier ermordet worden sein soll.«
»Sie wissen von der Sache?«
»Ich? Nein.« Der Alte schüttelte den Kopf. Und dann stand auf einmal ein hämisches Lächeln in seinem Gesicht, als er den schiefgelegten Kopf etwas anhob. »Sie wissen bestimmt mehr davon als ich.«
»Flanagan, Sie wissen, was hier gespielt wird. Und offenbar wollen Sie sich mitschuldig machen. Wenn Sie etwa auf die idiotische Beschuldigung anspielen, die da gegen mich erhoben wurde, dann muß ich Sie enttäuschen. Machen Sie sich da keine unnötigen Hoffnungen. Sie wissen etwas von der Geschichte! Cornelly ist hier ermordet worden. Hier, in dieser Straße. Vor Ihrem Haus.«
Aber der Alte war zäh wie Leder. Er schwieg, blickte den Marshal sogar kaltlächelnd an, als er erklärte: »Dann geben Sie sich mal Mühe, Earp, damit Sie den Mörder finden, ehe man Sie selber an den Galgen bringt.«
»Wenn Sie damit zu tun haben, Flanagan, dann geht es hart auf hart. Und diesmal sind Sie auch mit dabei. Verlassen Sie sich darauf.«
Jetzt war eine winzige Spur Angst in den Augen des Alten. »Was wollen Sie mir denn nachweisen, Earp. Ich habe nichts mit der Geschichte zu tun.«
Wyatt wandte sich grußlos ab und verließ mit Doc Holliday das Haus. Als sie oben die Allenstreet erreicht hatten, blieb er stehen und sah nachdenklich zu dem Mietstall hinüber.
»Wo ist Cornellys Pferd?«
Der Spieler blickte auf die Fassade des Mietstalls. Er hatte schon verstanden.
»Sie meinen, wenn es da drüben ist, wo der alte Flanagan arbeitet, dann hätten wir die Brüder.«
»Noch nicht, aber es wäre ein wichtiger Fingerzeig.«
Leider hatten sie keinen Erfolg. Sie kannten das Pferd Cornellys durch die Beschreibungen, die ihnen unterwegs von dem Reiter gegeben worden waren, genau. Es befand sich nicht in Hormanns Livery Stable.
»Jetzt sind wir wieder so klug wie vorher.«
Drüben stand der Barbier in der Tür und winkte ihnen.
»Doc, kommen Sie doch! Es ist gerade noch leer bei mir.«
Holliday wandte sich an den Marshal. »Eigentlich könnte es nichts schaden, wenn wir uns die Haare schneiden und uns rasieren ließen. Immerhin haben wir bei ihm schon etwas erfahren. Und so redselige Leute wissen vielleicht noch mehr.«
Aber auch hier hatten sie kein Glück. Der Barbier wußte ihnen nichts weiter zu berichten.
Frisch rasiert und mit neuem Haarschnitt verließen sie den Shop, gingen auf die Firststreet zu, überquerten sie und erreichten oben die breite Freemontstreet unweit vom Eingang des O.K.-Corrals.
Wyatt Earp blickte die Straße rechts hinunter und sah unten vor Millers Bar einige Männer stehen, die auch ihn entdeckt hatten.
Holliday stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne. »He, wenn da nicht Jonny Ringo steht, dann will ich vorhin meinen letzten Brandy getrunken haben.«
Wyatt wandte sich ab. »Ja, Sie haben recht. Er ist tatsächlich bei den Männern.«
Sie gingen die Freemontstreet weiter hinauf, bis sie rechts zum Graveyard hinaus abbog.
Langsam schlenderten sie weiter und sahen den Friedhofshügel mit den Kreuzen und Grabsteinen vor sich liegen.
Links an einem dürren Velibescabaum stand ein Rappe.
Wyatt hatte kaum einen Blick auf das Pferd geworfen, als er seinen Schritt auch schon beschleunigte.
Auch Holliday hatte das Pferd beobachtet. »He, jetzt wird’s interessant.«
Sie kannten beide das Tier genau – vor allem den Reiter, dem es gehörte.«
Als sie die Zaunlatten erreicht hatten, die den Graveyard umgaben, sahen sie den Mann drüben links vor einem der Grabsteine stehen. Groß, breit, mit gesenktem Kopf, den Hut in der Hand.
Ike Clanton!
Unverwandt starrte der Rancher und einstige Bandenführer auf den Grabhügel.
Die beiden Dodger hatten ihn schon eine Weile beobachtet, als sich Doc Holliday umdrehte. »Wyatt«, flüsterte er.
»Was gibt’s?« gab der Marshal ebenso leise zur Antwort.
»Dort hinten kommen sie.«
»Wer?«
»Unser Freund Ringo und die anderen.«
Wyatt wandte sich nicht um, sondern blieb am Zaun stehen und starrte zu dem Mann hinüber, der immer noch unbeweglich vor dem Grab seines Bruders stand. Es waren vier Männer, die die sanft ansteigende Straße zum Graveyard heraufschlenderten.
Einer ging voran. Er war groß, trug einen eleganten dunkelbraunen Anzug, der weißgestreift und mit schwarzen Paspelierungen um Revers und Taschen besetzt war. Er trug ein weißes Rüschenhemd und eine giftgrüne Samtschleife dazu. Seine Weste, die unter dem offenstehenden Jackett zu sehen war, leuchtete zitronengelb und war mit schwarzen Phantasiestickereien verziert. Sein Hut hatte die gleiche Farbe, die auch sein Anzug hatte, und wie der Anzug, so schien auch er eben erst aus dem Store geholt worden zu sein.
Der Mann hatte ein schmales, glattes Gesicht, das vielleicht gut ausgesehen hätte, wenn es nicht so verlebte Züge aufgewiesen hätte. Was aber seine Erscheinung direkt unangenehm wirken ließ, war die Tatsache, daß er seinen Waffengurt über dem eleganten Rock trug. Es war ein heller, neuer Ledergurt, der mit Patronen gespickt war und an jeder Seite einen 38er Revolver hielt.
Hochaufgerichtet ging er vor den anderen her, dem Graveyard entgegen, die bernsteinfarbenen Augen auf die beiden Dodger gerichtet. Es war der Sohn österreichischer Emigranten, Johannes Ringold, der im ganzen Westen bekannt oder – besser gesagt – berüchtigt war. Ringold, der sich etwa seit einem Jahrzehnt John oder Jonny Ringo nannte, war ein gefürchteter Falschspieler und Revolverschwinger. Seine betonte Eleganz war die Maske des Hasardeurs.
Die drei Männer hinter ihm waren vierschrötige, staubige Gestalten mit harten, verschlagenen Gesichtern und finsteren Augen. Sie trugen Cowboykleidung und schienen nicht aus der Stadt zu sein.
Was bahnte sich da vorm Tombstoner Friedhof an?
Im letzten Haus, das seitab vom Weg auf einer kleinen Anhöhe lag, stand die sechzigjährige Alma Haveland am Fenster, um die ausgelegten Betten ins Zimmer zu nehmen, als sie plötzlich die Gruppe drüben vorm Boot Hill entdeckte.
Bis auf zwanzig Yard war Ringo mit den drei anderen an Wyatt Earp und Doc Holliday herangekommen.
Da wandte sich oben auf dem Graveyard Ike Clanton um. Mit großen, verwunderten Augen sah er auf die Männer, die drüben vorm Zaun standen. Sein Blick blieb an Wyatt Earp hängen.
Da stülpte sich der Mann, der sich einmal König von Arizona hatte nennen lassen, den Hut auf den Kopf, warf noch einen letzten Blick auf das Grab und verließ dann den Friedhof.
In diesem Augenblick gellte die schrille Stimme des Revolvermannes Ringo über den Hang: »He, Holliday.«
Der Georgier, der etwas seitlich gestanden hatte, so daß er die Gruppe im Auge behalten konnte, wandte den Kopf.
Da trat der Hasardeur noch einige Schritte vor, spreizte die Beine und ließ die Hände über den Revolverkolben schweben.
Es war das typische Bild des Schießers John Ringo.
Ein verächtliches Lächeln zuckte um die Lippen des Georgiers. Aber in seinen Augen stand Eiseskälte.
»Holliday!« rief der Schießer, »ich habe einen ziemlich weiten Weg gemacht, um Sie zu finden.«
Der Georgier warf den Kopf hoch und entgegnete gelassen: »Den Weg hätten Sie sich sparen können, wenn Sie ein bißchen nachgedacht hätten. Wo kann ich schon sein? In Dodge oder in Tombstone. Ich kannte mal einen Mann, der dachte nicht einmal nach, wo ich gerade sein könnte, als er mich besuchen wollte. Er schickte nur zwei Briefe ab. Einen nach Dodge und einen nach Tombstone.«
Verblüfft von dieser Antwort senkte Ringo den Kopf und fixierte den Spieler unterm Hutrand hervor.
»Und? Was stand in diesen Briefen?«
»Er bat darin gewissermaßen um einen Sarg«, entgegnete Holliday und wandte sich ab.
Eine fahle Blässe zog über das Gesicht des Revolvermannes. Dann machte er hastig drei Schritt vorwärts und schrie plötzlich: »Holliday! Ich bin Ihnen gefolgt, um Ihnen einen Sarg zu besorgen.«
»Keine Zeitverschwendung«, entgegnete der Spieler mit entwaffnender Kälte. Die Art, in der er sprach, war reines Gift für Ringo, Öl ins Feuer seines Hasses auf den Mann, dem das Herz der Frau entgegenschlug, die er, Ringo bis zur Verzweiflung liebte.
Unbeherrscht schrie er zurück: »Diesmal haben Sie sich getäuscht, Holliday. Diesmal ist es aus! Und damit wir uns richtig verstehen: meine Freunde sind der gleichen Meinung.«
Da wandte sich Holliday wieder um und warf einen kurzen Blick auf die ausdruckslosen Gesichter der drei Männer, die hinter Ringo standen.
Galgenvogelgesichter!
Der Spieler nahm sein Etui aus der Tasche, zog eine seiner langen russischen Zigaretten heraus und schob sie zwischen seine weißen, ebenmäßig gewachsenen Zähne. Dann nahm er mit der Linken ein Zündholz aus der Westentasche und riß es am Daumennagel der gleichen Hand an. Als er die Flamme vor die Zigarette brachte, wandte sich Ringo an die Männer, die hinter ihm standen.
»Seht ihn euch an, Boys, das ist er. Und der andere, der da neben ihm steht und uns den Rücken zukehrt, als wären wir gar nicht da, das ist Wyatt Earp. Er steht auch auf meiner Rechnung!«
Holliday schnipste das Zündholz weg und stieß eine lange Rauchfontäne durch die Nase. Auf einmal lachte er. Aber es war keine Wärme in diesem Lachen. Hart und klirrend perlte es über die Hand an die Ohren des Outlaws und jagte ihnen einen eisigen Schauer über den Rücken. Wußten sie doch, wer da vor ihnen stand, mit wem sie da zu tun hatten! Vielleicht bereute es dieser oder jener von ihnen bereits, sich dem hemmungslosen Ringo angeschlossen zu haben. Ein Kampf gegen Doc Holliday und den Marshal Earp kam einem Selbstmord gleich. Vielleicht wurde es ihnen erst in diesem Augenblick bewußt.
Da aber riß Ringos Stimme sie aus der Beklemmung.
»He, Boys, ihr habt doch wohl vor diesen beiden Pappfiguren keine Angst? Das wäre auch wirklich ein Witz. Schließlich sind wir ja nicht allein.«
Die vier Männer rückten bedrohlich näher und blieben im Abstand von etwa neun Yard vor den beiden Dodgern stehen.
Was war mit Ike Clanton? Unmöglich konnte er mit Ringo dieses Treffen hier vereinbart haben, denn niemand hatte wissen können, daß Wyatt Earp und Doc Holliday sich ausgerechnet jetzt hierher begeben würden. Aber da sie nun zwischen ihm und Ringo standen, mußte er sich entscheiden.
Das tat er auch. Und zwar sofort.
Er ging an Wyatt Earp und Doc Holliday vorbei auf den Baum zu, nahm die Zügelleinen und stieg in den Sattel.
Da flog Ringos Kopf herum. »Ike!« Der Schrei wehte über die Friedhofshalde.
Der Rancher wandte den Kopf und blickte finster zu Ringo hinüber.
»Was willst du?«
Es klang herrisch, unfreundlich, abweisend.
Der Coltman stemmte die Fäuste in die Hüften.
»Weshalb reiten Sie weg, Ike?«
»Weshalb sollte ich nicht?« entgegnete der Rancher. »Ich war bei meinem Bruder. Weiter habe ich hier nichts zu schaffen.«
»Aber Sie sehen doch, daß wir einen Fight mit Wyatt Earp und Doc Holliday haben. Und Sie sind dabei.«
»Zufällig, Ringo«, entgegnete der Rancher, »rein zufällig.« Er nahm die Zügelleinen hoch und trabte südwestwärts davon, in die Prärie hinaus.
Ringo warf den Kopf herum, biß die Zähne aufeinander und stieß die Luft prustend durch die Nase.
»Schade«, kam es da ironisch von Hollidays Lippen, »ihr wäret zu zweit gewesen.«
»Zu zweit?« fauchte der Schießer. »Wir sind zu viert, immer noch!«
»Zu viert?« Wieder brach die kalte, höhnische Lache des Gamblers an die Ohren des Tramps. »Nein, Ringo, Sie sind allein!«
Der Schießer wich einen halben Schritt zurück, spreizte die Hände und sah sich nach seinen Leuten um.
»Es ist verrückt!« rief er unsicher. »Er muß verrückt sein.«
»Ganz sicher nicht«, entgegnete Holliday sehr ruhig.
Da erst wandte sich Wyatt Earp um, der bisher dem Rancher nachgesehen hatte. Er warf einen kurzen prüfenden Blick über die vier Gestalten und ging dann vorwärts, geradewegs auf Ringo zu.
Der blieb stehen. Aber als Wyatt sich bis auf vier Schritte genähert hatte, wich er zurück.
»Leute, so ist er! Das ist typisch für ihn! Aber laßt euch nicht einschüchtern. Greift sie, die Hunde!« schrie er mit sich überschlagender Stimme.
Er selbst aber wich noch einen Schritt zur Seite. Als er zum Revolver greifen wollte, sah er in den beiden Händen des Gamblers schon die Sixguns blinken.
»Hölle!« stieß er hervor.
Die drei Tramps hinter ihm hatten es nicht bemerkt. Einer von ihnen stürmte geradewegs auf den Missourier zu, der mit einer Körpertäuschung zur Seite wich und einen rechten Haken hochriß, der den Mann voll traf und niederwarf.
Aber da war der zweite Helfer Ringos schon heran, und Wyatt wuchtete ihm eine Doublette an den Schädel, die ihn sofort einknicken ließ. Der dritte Mann blieb stehen und griff nach dem Revolver.
Da flog der überlange Buntline Special in die Linke des Missouriers.
»Laß die Bleispitze stecken, Junge. Sonst liegst du eher da oben neben dem kleinen Billy Clanton als dir lieb ist.«
Der Mann, den er mit der Doublette zu Boden geschickt hatte, richtete sich keuchend auf. Es war der texanische Wegelagerer Hickok.
»John!« brüllte er Ringo zu. »Was ist, weshalb unternimmst du nichts?«
Ringo konnte nichts unternehmen. Mit gespreizten Händen und vorgeschobenem rechten Bein stand er da und starrte auf Doc Holliday.
»Was soll ich denn unternehmen, du Idiot! Sieh ihn dir doch an!«
Hickok wandte den Kopf. »Ich denke, du bist so schnell, John.«
»Ja«, rief Holliday dazwischen, »mit dem Maul ist er immer schnell gewesen!«
Ringo schnappte nach Atem. Die dunkle Röte, die sein Gesicht überzogen hatte, wich einem fahlen Gelbton.
»Verschwindet!« herrschte der Marshal die vier Tramps an.
Ringo stieß einen lästerlichen Fluch aus und versetzte: »All right, Boys, diesmal haben wir Pech gehabt. Aber es wird ein nächstes Mal geben.«
»Das will ich Ihnen nicht raten, Ringo!« rief ihm der Missourier zu, ließ seinen Revolver mit einem Handsalto ins Halfter gleiten und setzte seinen Weg fort.
Auch Doc Holliday hatte seine beiden Colts in die Halfter gleiten lassen und wandte sich von den Männern ab.
Da machte der kalifornische Posträuber Cherry Anderson den größten Fehler seines Lebens. Als er sich vor drei Jahren bei South Blended von Sheriff Bakerson beim Postraub hatte überraschen und mit einem schweren Kinntreffer niederstrecken lassen, hatte er bereits einen großen Fehler gemacht. Aber jetzt machte er den zweiten, und der war bedeutend gefährlicher.
Der Tramp glaubte, daß die beiden Dodger, die sich abgewandt hatten, ihn und die anderen völlig aus dem Blickfeld gelassen hatten. Das aber war ein Irrtum. Denn sowohl Wyatt Earp als auch Doc Holliday hatten die vier Banditen nach wie vor scharf im Augenwinkel.
Anderson warf sich im Hechtsprung zur Seite, wobei er seinen Revolver zog, einen heiseren Schrei ausstieß, der kaum noch als ›zieh‹ zu verstehen war und schon den Stecher durchzog.
Es waren drei Geschosse, die da über die Friedhofshalde fauchten.
Die Kugel von Anderson schlug mehrere Yards vor Holliday in den sandigen Boden, während der Bandit selbst, von zwei Geschossen getroffen, rückwärts taumelte und mit dem Gesicht in den glühenden Sand von Tombstone fiel.
Cherry Anderson rührte sich nicht mehr.
Wyatt Earp und Doc Holliday hatten beide ihre Revolver in den Fäusten. Und beide hatten sie geschossen.
»Mord!« schrie Ringo geifernd.
Da wirbelte Wyatt in einer halben Pirouette herum und blickte den Schießer aus diamantharten Augen an. Er stieß den Colt ins Halfter zurück und ging auf Ringo zu. Anderthalb Yard vor ihm blieb er stehen.
»Was haben Sie gesagt, Ringo?«
Der Coltman blickte ihn unsicher an, wich dann einen Schritt zurück und kläffte: »Er hat gar keine Waffe in den Händen gehabt! Das wissen Sie so gut wie ich. Und die Boys können es bezeugen. Außerdem ist heute morgen schon ein Mann von Ihnen ermordet worden, Earp…«
Der Faustschlag, der ihn an der Stirnkante traf, riß ihm die Beine weg und ließ ihn vor dem Missourier in die Knie gehen.
Keuchend hockte er am Boden. »Das bereuen Sie, Earp!« ächzte er. Er erhob sich wieder und torkelte davon. Die beiden anderen folgten ihm.
Wyatt hielt sie auf. »He, ihr nehmt den Verletzten mit!« gebot er ihnen.
»Wohin?« krächzte Hickok.
»Das ist mir gleich. In der Stadt wohnen zwei Ärzte. Bringt ihn zu Dr. Thomsen, der wohnt unten in der Freemontstreet, nicht weit von Millers Bar. Und die kennt ihr ja.«
Die beiden hatten kaum eine andere Wahl. Sie bückten sich, nahmen ihren verletzten Partner auf und schleppten ihn fort.
Ringo torkelte vor ihnen her, der Stadt entgegen.
Da nahm der Marshal sein Taschentuch heraus und wischte sich die Hand ab. »Der Kerl ekelt mich an.«
Holliday nickte. »Ich werde das Gefühl nicht los, daß er uns noch eine ganze Menge Ärger machen wird.«
*
An der großen, mit Messing beschlagenen Theke des Crystal Palace lehnte ein Mann.
Der Mörder Kilby!
Er hatte einen Fire point vor sich stehen und trank ihn mit langsamen Schlucken. Dann sah er sich im Schankraum um.
»Ist es um diese Zeit immer so still hier?«
»Nein«, entgegnete der Keeper, »nicht immer. Aber in der Stadt gärt es mal wieder.«
»Ja, ich habe es schon gehört. Wyatt Earp und Doc Holliday sind hier.«
»Ja«, versetzte der Keeper vorsichtig, »sie sind auch hier.«
Kilby schürzte die Lippen und kratzte sich geräuschvoll am Kinn. Er war ein Mann von vielleicht neununddreißig Jahren und sprach im Tonfall der Kalifornier.
»Wer war der Mann, den sie da heute morgen erschossen haben?« erkundigte er sich wie beiläufig.
Der Keeper zuckte die Achseln. »Ich kannte ihn nicht. Er soll der Sheriff von Nogales gewesen sein.«
»Und Wyatt Earp hat ihn tatsächlich ermordet?«
»Ermordet?« fragte der Keeper. »Wie kommen Sie darauf?«
»Man hört es doch in der Stadt.«
»Von ermordet habe ich nichts gehört, Mister. Man erzählte mir, daß der Marshal ihn niedergestreckt haben soll. Aber da müßte man den Marshal wohl erst selbst hören.«
»Ach«, meinte Kilby mit seiner höhnischen Stimme, »wenn ein anderer einen Mann niederknallt, dann ist es Mord. Und wenn Wyatt Earp es tut, dann hat er ihn wohl nur niedergestreckt. Wo liegt da der Unterschied?«
Da beugte sich der Keeper über die Bar und meinte, seine bisherige Vorsicht vergessend: »Wyatt Earp ist ein Marshal. Und jeder weiß, daß er wie kein anderer für Recht und Gesetz kämpft, Mister!«
Kilby warf zwei Nickelstücke auf die Theke, sah sich noch einmal im großen Schankraum und im anschließenden Spielsaal um und verließ dann den Crystal Palace. Als er auf die Straße trat, sah er drüben aus dem Portal des Grand Hotels eine Frau auf den Vorbau kommen. Sie mochte vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt sein, hatte ein schön geschnittenes Gesicht, das aber doch schon des Lebens Spuren verriet. Das flammendrote Haar ging in Locken bis über die schmalen, wohlgeformten Schultern, und als sie jetzt aufblickte, sah Kilby in ein verlockend schönes, smaragdgrünes Augenpaar. Die Frau, sehr elegant gekleidet, ging jetzt an ihm vorbei auf den Eingang des Crystal Palaces zu.
Sie war schon längst zwischen den Pendeltüren verschwunden, als Kilby noch den Duft ihres Parfüms in der Nase spürte.
Da wandte sich der Kalifornier auf dem Absatz um und folgte ihr in die Schenke.
Die Frau aber war an der Theke und auch vorn im Schankraum nicht zu sehen.
Kilby entdeckte sie hinten im Spielsaloon. Der Keeper stand an ihrem Tisch und erkundigte sich nach ihren Wünschen.
Kilby ging an der Theke vorbei in den Spielsaloon hinüber und blieb vor dem Tisch der Schönen stehen. Mit einer herrischen Bewegung forderte er den Keeper auf, zu verschwinden.
Die Frau blickte auf. Bis in die Brust hinein verspürte Kilby den Blick ihrer Augen. Er nahm mit einer ungelenken Bewegung den Hut ab, deutete eine Verbeugung an und fragte in lässigem Ton: »Ist es gestattet, Madam?«
Die Frau zog die Schultern hoch. »Das müssen Sie selbst wissen, Mister…«
»Mein Name ist Kilby.«
»Meinetwegen«, entgegnete sie kühl.
»Dürfte ich vielleicht auch Ihren Namen erfahren?« erkundigte sich der Kalifornier.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, das dürfen Sie nicht.«
Sie breitete ein Kartenspiel vor sich aus und legte sich eine Patience.
Kilby zog sich den Stuhl zurück, nahm Platz und sah ihr gebannt zu. Das Spiel ihrer schlanken, wohlgeformten weißen Hände faszinierte ihn.
»Geben Sie mir schon eine Karte«, meinte er schließlich.
Die Frau hatte den Kopf gesenkt und blickte ihn jetzt forschend an. Einen Glutstrom jagte dieser Blick in die Seele des Mannes.
Da flogen plötzlich zwei Kartenblätter vor Kilby auf den grünen Filz, und die Frau hatte vor sich eine Karte aufgedeckt.
Es war das im ganzen Westen beliebte, aber auch so gefürchtete Double-Poker-Spiel, das jetzt begann.
Kilby nahm seine beiden Karten auf und nickte.
Die Frau reichte ihm noch eine. Da verlangte er eine vierte Karte und nickte zum Zeichen, daß er keine weitere Karte benötigte.
Die Frau deckte ihre Blätter auf. Sie hatte einundzwanzig.
Kilby wurde einen Schein bleicher und warf seine Karten auf den Tisch. Er hatte sich überkauft.
»Um was spielen wir eigentlich?« fragte die Frau.
Eine steile Falte grub sich zwischen die struppigen Brauen des Kaliforniers. »Wenn Sie nichts dagegen haben, um einen Goldfuchs (zwanzig Dollar).«
Die Frau nickte.
Kilby zog ein Zwanzigdollarstück aus der Tasche und warf es auf den Tisch.
Kaltherzig zog die Frau es an sich; sie hatte es also schon für das erste verlorene Spiel berechnet.
Diese Geste entlockte dem Mörder nur ein Lächeln. Er griff erneut in die Tasche und warf ein weiteres Goldstück auf die Tischmitte.
Die Frau schob die gewonnene Münze dazu, und schnipp, schnipp, fielen zwei neue Karten vor Kilby auf den grünen Filzbelag des Spieltisches.
Der Mann nahm sie an sich und warf einen Blick darauf. Für einen Moment war ein Zögern in seinen Augen zu lesen. Dieser Moment genügte der Frau. Sie wußte, daß er sich mit der nächsten Karte überkaufen würde.
Kilby aber nahm diese Karte nicht.
Jetzt stahl sich ein Lächeln um die Lippen der Frau. Sie deckte ihre Karte auf, die nächste und auch die übernächste. Dann hob sie den Blick und senkte ihn in die Augen des Partners.
Der lächelte auch und warf seine Karten auf den Tisch.
Er hatte wieder verloren.
Die Frau strich die beiden Münzen ein.
»Schon zu Ende?« fragte Kilby.
Wieder flog das feine, etwas spöttische Lächeln um die Lippen der Spielerin, als sie entgegnete: »Wenn Sie schon zu dieser frühen Stunde sechzig Dollar verlieren wollen, Mr. Kilby?– meinetwegen.«
»Der Kalifornier entgegnete: »Wer spricht von sechzig Dollar, Madam? Ich spiele um alles, was Sie gewonnen haben, und setze das gleiche dagegen.«
»Sie haben vierzig Dollar verloren und setzen vierzig Dollar? All right, also um sechzig.«
Auch dieses Spiel verlor Kilby.
Da stand er abrupt auf und stützte die Hände auf die Stuhllehne. »Sie haben mir zuviel Glück, Madam.«
Jetzt war das Lächeln um die Lippen der Frau ironisch, fast schon schadenfroh zu nennen.
»Das einzige Unglück ist nicht immer das Glück des anderen, Mr. Kilby. Das sollten Sie eigentlich wissen.«
Die Augen des Mörders wurden schmal. »Kann sein, Madam«, entgegnete er, wandte sich um und ging zur Theke hinüber.
»Einen Fire point«, bestellte er.
Der Keeper schob ihm das gewünschte Getränk hin.
Kilby beugte sich etwas vor und fragte leise: »Wer ist die Frau?«
Aber er erhielt keine Antwort mehr, denn in diesem Augenblick wurden vorn die Pendeltüren auseinandergestoßen, und Doc Holliday erschien im Schankraum. Er warf einen kurzen, forschenden Blick auf den Mann an der Theke, der auch die Frau streifte, tat aber, als hätte er die Frau nicht gesehen. Langsam trat er an die Theke, und der Keeper schoß eilfertig auf ihn zu.
»Was darf ich Ihnen geben, Doc?«
»Einen Brandy bitte, Jack.«
Kilby blickte in die rubinrote Flüssigkeit, die vor ihm stand. Er hatte noch keinen Schluck davon genommen.
Auch der unauffälligste Mann kann sich auffällig benehmen, ohne daß er sich dessen bewußt wird. Kilby tat es jetzt, indem er ins Glas starrte. Jeder Mann würde wenigstens den Kopf wenden, um einen einzelnen Gast, der zu dieser Mittagsstunde an die Theke getreten war, zu betrachten, besonders, da die Schenke sonst noch völlig leer war.
Kilby aber hatte nicht einmal zur Seite geblickt. Damit hatte er den Argwohn des Georgiers geweckt.
Der Keeper stand vor Doc Holliday und blickte ihn abwartend an.
Welche Veränderung aber war mit dem Gesicht der Frau seit dem Eintreten Doc Holliday vor sich gegangen! Die großen grünen Augen waren weit geöffnet und hatten die Gestalt des Mannes sofort erfaßt.
Eine purpurne Röte überzog das Gesicht der Frau. Gebannt starrte sie auf den Spieler.
Aber da der Georgier sie nicht eines einzigen Blickes würdigte, raffte sie ihre Karten zusammen und erhob sich. Langsam schlenderte sie an die Theke und blieb zwischen Kilby und dem Spieler stehen, legte den Kopf zurück und sagte im Ton leichten Spottes: »Sieh an, wen man nicht so alles trifft in dem schönen alten Tombstone.«
Der Georgier wandte den Kopf ein wenig zur Seite, zog die linke Braue hoch und entgegnete: »Ja, das kann man wohl sagen. Hallo, Miss Higgins.« Es klang freudlos und höchst gleichgültig.
»Hallo, Doc Holliday.«
Als Kilby den Namen des Georgiers vernommen hatte, flog sein Kopf hoch und sah in den Thekenspiegel, in dem er Doc Holliday erblicken konnte. Rasch hob er den Fire point und trank ihn ganz gegen seine Gewohnheit auf einen Zug aus. Als er bezahlt hatte, wandte er sich um und verließ die Schenke.
Laura Higgins warf dem Keeper einen raschen Blick zu, während sie ein Geldstück über die Theke schob. Der flotte Jack hatte sofort verstanden, kassierte die Münze und verschwand lautlos durch den Perlschnurvorhang.
Die beiden standen jetzt allein im Schankraum. Der Blick der Frau veränderte sich sofort. Die Ironie wich daraus, und auch die hochmütige Haltung fiel von ihr ab.
»Wie geht es Ihnen, Doc?« fragte sie mit völlig veränderter Stimme.
Der Spieler zündete sich eine Zigarette an, stützte beide Ellbogen auf die Thekenkante und sah vor sich hin.
»Eine sonderbare Frage in diesem Land, Miss Higgins. Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, versetzte Laura rasch, »jedenfalls seit einigen Monaten.«
Doc Holliday wandte den Kopf und blickte ihr foschend ins Gesicht. Er kannte die schöne Laure Higgins schon seit Jahren. Damals war sie noch ein Mädchen gewesen, kaum sechzehn, als er sie zum erstenmal gesehen hatte. Es war oben in Abilene gewesen, wo sie mit ihrem Vater, einem skrupellosen Falschspieler, in einer Bar gesessen hatte. Das Schicksal hatte es gewollt, daß der Kartenhai Higgins an den Tisch des Georgiers kam, um mit ihm zu spielen.
Doc Holliday hatte dieses Spiel nicht gewollt. Aber er sah keine Möglichkeit, ihm auszuweichen. Higgins verlor. Er war so wütend über den Verlust, daß er den Georgier des Falschspielens bezichtigte. Das war sein Tod. Er zog den Revolver zuerst und hatte das Pech, gegen den schnelleren Mann zu unterliegen.
Seit diesem Tag verfolgte die grünäugige Laure Higgins den Georgier mit einem Haß, der sich vor drei Jahren plötzlich – oben in Santa Fé – in Liebe verwandelt zu haben schien. Aber da erfuhr Laura den zweiten Schlag, einen Schlag, den eine Frau ihrer Art nicht so leicht zu verwinden vermochte: der Mann, den sie liebte, lehnte sie ab! Das heißt, er wich ihr aus. Laura Higgins aber betrachtete es als Verschmähung.
Hatte sie schon früher Banditen gedungen, die den Spieler niederstrecken sollten, so verfolgte sie nun den Mann, der ihren Vater in Notwehr erschoß und der ihre Liebe verschmähte, mit einer Haßliebe ohnegleichen.
Jetzt, als er so vor ihr stand, versetzte sein Anblick ihr Blut in heiße Wallung. Aber sofort spürte sie auch wieder die Ablehnung in den Augen des Georgiers.
»Sie werden es nicht glauben, Doc, aber ich bin Ihretwegen nach Tombstone gekommen!« erklärte sie freimütig.
»Weshalb sollte ich es nicht glauben, Miss Higgins?«
Flammende Röte übergoß ihr Gesicht.
Mit welcher Gleichgültigkeit er das sagte! Es erschütterte ihn in keiner Weise. Ja, es berührte ihn offensichtlich nicht einmal. Und das war das schlimmste für Laura Higgins.
Sie liebte diesen gutaussehenden, klugen, und so eleganten Doktor John Holliday. Wahrscheinlich liebte sie ihn von dem Augenblick an, an dem sie ihn zum erstenmal gesehen hatte. Sie hatte nie darüber nachgedacht. Und das war ihr Fehler gewesen. Vielleicht hätte es für sie einen Weg zum Herzen dieses Manns gegeben, denn sie war eine berückend schöne Frau, eine Erscheinung, wie man sie in diesem Lande sicher auch sehr, sehr selten finden konnte.
Aber Laura Higgins hatte es nie verstanden, den guten Weg zu gehen. Sie wollte alles im Sturm erobern und besitzen. Es mußte ihr alles gehören, was sie haben wollte. Und deshalb vermochte sie es nicht verwinden, daß der Georgier ihr nicht wenigstens eine gewisse Aufmerksamkeit zollte.
Jetzt legte sie ihre Linke auf den rechten Unterarm des Spielers und sagte mit belegter Stimme: »Ich liebe Sie, John.«
Holliday blickte sie an und schüttelte langsam den Kopf.
Da wich sie, wie von einer Viper gebissen, vor ihm zurück.
»Diese Erniedrigung!« zischte sie.
»Ich habe sie Ihnen nicht bereitet, Miss.«
»So, Sie nicht? Wer denn?«
»Sie sich selbst.«
Holliday warf ein Geldstück aufs Thekenblech, wandte sich um und ging zur Tür.
Mit zornverdunkelten Augen rief die Frau ihm nach: »Doc!«
Holliday blieb stehen. Langsam wandte er sich um. »Miss Higgins?« fragte er kühl.
»Ich wollte Ihnen etwas sagen!«
»Haben Sie es mir nicht bereits gesagt?«
»Nein – John Ringo ist in der Stadt.«
»Welche Überraschung!« tat der Spieler verblüfft.
»Ach, das stört Sie wohl gar nicht?«
Holliday schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Nein, Miss Laura, es stört mich absolut nicht.«
Und da hatte er einen Fehler gemacht, als er ›Miss Laura‹ gesagt hatte. Sie kam sofort auf ihn zu und ergriff seine rechte Hand.
»John, ich könnte Ihnen gegen Ringo helfen!«
»Vielen Dank, aber ich brauche niemanden.«
»Doch! Er ist nämlich nicht allein gekommen. Er hat neun Mann mitgebracht.«
Das war allerdings eine Überraschung. Aber Doc Holliday ließ sie sich nicht anmerken.
»Es macht mir nichts aus.«
»Könnten wir heute abend nicht zusammen essen?« fragte sie, der Verzweiflung nahe.«
Er zog die Schultern hoch und befreite seine Hand aus der ihren. »Meinetwegen«, gab er schließlich nach, ohne auf das triumphierende Leuchten ihrer Augen zu achten.
»Wo? Hier?« fragte sie rasch.
Doc Holliday nickte. »Wie Sie wollen.«
Es war ihm einerlei, wo er mit ihr speiste! Aber Laura Higgins schluckte den Ärger diesmal, in wilder Freude über den Triumph, den sie über den Mann errungen zu haben glaubte, hinunter. Er würde mit ihr zur Abend essen. Und zwar hier im Crystal Palace! Vor aller Augen. Und der Dandy Ringo, der ihr schon seit langem so wild nachstellte, würde sehen, daß sie das geschafft hatte, was er für ausgeschlossen hielt.
»Also, bis heute abend, Doc. Ich werde um acht Uhr hier sein.«
Holliday nickte, wandte sich um und verließ die Schenke.
Als er auf den Vorbau hinaustrat, sah er drüben vorm Eingang des Grand Hotels den Marshal stehen.
Holliday ging auf ihn zu.
Wyatt Earp hatte sich eine Zigarre angezündet und meinte: »Ihre Freundin Laura Higgins ist angekommen.«
Holliday nickte. »Ich weiß. Sie hat sich schon mit mir zum Abendessen verabredet.«
»Aha, war wohl nicht zu umgehen?«
»Leider nicht.«
»Dann ist mir auch klar, weshalb Ringo hier ist.«
»Er ist übrigens nicht allein hier«, setzte Holliday hinzu.
»Wir haben die drei Figuren ja kennengelernt, die er mitgebracht hat.«
»Drei? Laura Higgins sagte mir, daß es neun wären.«
»Ausgeschlossen ist es nicht«, gab der Marshal zu.
Währenddessen waren sie weitergegangen. Wyatt hielt auf Frank Livingstones Ranchers Tool zu.
Ein untersetzter, vierschrötiger Mann trat ihnen im Laderaum entgegen. Er wischte sich die Hände an seiner grünen Schürze ab, fuhr sich über den kahlen, nur von einem dünnen Haarkranz umstandenen Schädel und lächelte unsicher. »Sieh an, welch hoher Besuch! Der Marshal Earp und der Dr. Holliday! Was darf es denn sein?«
»Ich suche ein Pferd«, sagte Wyatt.
»Ein Pferd? Ich verkaufe keine Pferde.«
»Sie wissen genau, daß ich kein Pferd von Ihnen kaufen will, Livingstone. Ich suche Jeff Cornellys Pferd.«
Livingstone zog die Brauen zusammen. »Was habe ich mit Cornellys Pferd zu tun?«
»Das möchte ich auch wissen«, entgegnete Wyatt. Und da er die Unsicherheit im Gebaren des Händlers bemerkt hatte, beschloß er, aufs Ganze zu gehen. »Vorwärts, reden Sie schon, Mann! Das Pferd ist bei Ihnen, Livingstone!«
Der Händler warf den Kopf hoch. »Ich bin ein ehrbarer Mann, Marshal…«
»Lügen Sie nicht. Ich werde jetzt Ihre Stallungen durchsuchen.«
»Dazu haben Sie kein Recht, Earp!« zeterte der Trader. »Ich habe nichts getan, was gegen das Gesetz verstößt.«
»Das wird sich herausstellen.«
Wyatt durchquerte den Laden und stieß die Tür zum Hof auf. Da rief ihm der Händler nach: »Warten Sie noch, Earp!«
Holliday war am Tresen stehengeblieben, während Livingstone an ihm vorbeihastete und versuchte, den Marshal einzuholen.
Ehe der Trader den Raum verließ, tastete er nach seiner rechten Jackentasche, eine Geste, die dem Missourier nicht entgangen war.
Wyatt hatte schon die Mitte des Hofes erreicht, als Livingstone die Treppe herunterstürmte.
»Earp, so warten Sie doch!«
Der Marshal blieb stehen. »Das Pferd ist also hier?«
»Hier, nein, ich… aber wir könnten vielleicht… ich meine…«
»Machen Sie keine Umstände, Mann. Ich habe keine Zeit.«
Der Händler hatte den Missourier jetzt keuchend erreicht. »Sagen Sie, Marshal, wie kommen Sie eigentlich darauf, daß der Gaul bei mir sein soll?«
»Das ist meine Sache. Also?«
Livingstone schüttelte den Kopf. »Das Tier ist nicht bei mir.«
»So? Und weshalb rennen Sie mir so nervös nach?«
»Weil Sie mich nervös machen. Ja, Sie machen mich nervös.«
»Ich werde jetzt drüben im Stall nachsehen, Livingstone. Sie können ja mitkommen.«
Wyatt ging mit weiten Schritten auf das Stallhaus zu. Als er die Tür aufzog, blieb Livingstone stehen und sah sich um. Als er den Spieler nicht hinter sich im Hof entdecken konnte, tastete seine Rechte nach der Westentasche.
Der sechsundvierzigjährige Händler Frank Livingstone scheute sich nicht, hinter dem Rücken des Gesetzesmannes eine zweischüssige Derringerpistole hervorzuziehen!
Da peitschte ein Schuß über den Hof und stieß dem Händler die Waffe aus der Hand.
Livingstone fuhr entgeistert herum.
Drüben in der Hoftür stand Doc Holliday; er hatte den rauchenden Revolver noch in der Hand.
»Wissen Sie, Mister«, rief er dem Trader mit schneidender Stimme zu, »ich habe es nicht gern, wenn jemand im Rücken des Marshals einen Revolver zieht.«
Schreckenbleich lehnte Livingstone an der Stalltür.
Wyatt hatte sich nur kurz umgesehen, den Derringer aufgehoben, ihn eingesteckt und war dann im Stall verschwunden.
Das Pferd, das er suchte, stand nicht in den Boxen. Auch hinten in der Notbox der Futterkammer war das Pferd nicht.
Am Ende des Stallganges entdeckte der Marshal eine Tür, die mit einem Schloß gesichert war. Er wandte sich um und rief: »Livingstone!«
Der Händler wagte es nicht, sich vom Fleck zu rühren.
Doc Holliday hatte ihn jetzt erreicht, stieß ihn herum und schob ihn in den Stallgang.
»Hören Sie nicht, daß Sie gerufen werden, Mann?«
Livingstone trottete vorwärts. Als er vor dem Marshal stand, stotterte er: »Ich habe das Pferd nicht hier.«
»Nein, das sehe ich. Aber jetzt möchte ich wissen, warum Sie so dagegen waren, daß ich mir den Stall ansehe, Mister.«
Der Händler stierte auf die Tür.
Wyatt hatte diesen Blick sofort wahrgenommen. »Was ist in dem Raum?«
»Da? Nichts!« stotterte der Trader, wobei ihm plötzlich dicker Angstschweiß auf die Stirn trat.
»Nichts? Für nichts verschließt man keinen Raum.«
»Nun ja, das ist meine Futterkammer. Ich habe dort Kornsäcke stehen. Und weil ich nicht will, daß das Zeug gestohlen wird – und es ist mir schon öfter gestohlen worden –, schließe ich die Kammer ab.«
»Trotzdem möchte ich einen Blick hineinwerfen.«
»Nein, dazu haben Sie kein Recht.«
Da ergriff Doc Holliday den Trader am Arm. »Mr. Livingstone. Sie haben anscheinend vergessen, daß Sie im Rücken eines Gesetzesmannes den Revolver gezogen haben. Und wahrscheinlich wissen Sie nicht einmal, was darauf steht!«
»Doch, das weiß ich. Ich tat es aus purer Verzweiflung, weil ich nicht wollte…«
»Was wollten Sie nicht?« unterbrach ihn der Gambler schnell.
»Was hat der Marshal hier herumzuschnüffeln? Er hat kein Recht dazu! Dies ist mein Privatgrundstück, und ich habe es nicht nötig, hier jemanden herumschnüffeln zu lassen.«
»Ich suche das Pferd eines Mannes, der heute morgen in Tombstone ermordet worden ist«, entgegnete der Missourier schroff. »Und ich habe den dringenden Verdacht, daß bei Ihnen etwas nicht stimmt.«
»Wie kommen Sie darauf?« stammelte der Händler.
»Das will ich Ihnen sagen. Sie sind mit Hal Flanagan befreundet.«
»Ich mit Hal? Das war einmal; es ist mindestens schon drei Jahre her.«
»Das können Sie mir leicht erzählen! Trotzdem – schließen Sie die Tür auf!«
»Ich habe den Schlüssel nicht mehr.«
»Dann muß ich die Tür mit Gewalt öffnen.«
»Das dürfen Sie nicht.«
Der Marshal nahm einen Hammer, der links auf einer Fensterbank lag, und wuchtete zwei schwere Schläge auf das Schloß. Es gab nach, und die Tür sprang knarrend auf.
Livingstone wich einen Schritt zurück. Als er noch weiter zurückweichen wollte, stieß er mit dem Rücken gegen den Revolverlauf des Spielers.
»Stehenbleiben, Freund!«
Der Raum vor dem Missourier lag in fast völligem Dunkel. Dennoch sah Wyatt vor sich die Enden großer Balken liegen. Er wandte sich um. »Nanu? Unter die Zimmerleute gegangen, Livingstone?« Verwundert blickte der Missourer in das Gesicht des Traders.
Aber der fing sich sofort: »Unsinn, wie kommen Sie darauf?«
Da ging Doc Holliday an dem Trader vorbei, blickte in den Raum und riß ein Zündholz an. Als er sich umwandte, hatte sich das Gesicht des Händlers mit bleinerner Blässe überzogen.
Wyatt ging langsam durch den Stallgang zurück. »Ich hätte darauf gewettet, daß das Pferd hier bei Ihnen steht. Albern genug haben Sie sich ja benommen.«
»Kann man wohl sagen«, entgegnete Holliday.
Die beiden verließen den Hof. Als sie wieder auf der Allenstreet waren, meinte der Marshal: »Was sagen Sie jetzt?«
Holliday entgegnete: »Eine schöne Ansammlung von gleichmäßig langen Balken, halblangen Balkenstücken und Strebestützen. Wenn man die Dinger zusammensetzt, hat man ungefähr dreißig oder vierzig Galgen gezimmert.«
Die Entdeckung, die sie da durch einen Zufall gemacht hatten, war ungeheuer: Der Trader Frank Livingstone, der in seinem Geschäft Feldgeräte verkaufte, hortete hinter seinem Stall in einer abgeschlossenen Kammer Galgenhölzer!
»Ob er was gemerkt hat?« fragte der Marshal.
Holliday schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Aber er hat Angst ausgestanden, als ob er selbst zum Galgen geführt worden wäre.«
»Jetzt will ich mir noch Gundrams Sägemühle ansehen. Ed Flanagan ist mit der Schwester des Sägemüllers befreundet. Nicht ausgeschlossen, daß Cornellys Pferd da untergebracht worden ist. Immer vorausgesetzt, daß die Halunken wirklich etwas mit dem Mord zu tun haben.«
»Haben sie bestimmt.« Holliday schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, als er plötzlich von hinten angerufen wurde. Er wirbelte herum, den Revolver in der Rechten.
Drüben an der Ecke der Thirdstreet stand Jonny Behan und rief: »Doc Holliday, bei Livingstone im Hof ist geschossen worden! Ich vermute, daß Sie das waren. Ich will nicht, daß in der Stadt geschossen wird. Also lassen Sie es gefälligst bleiben!«
Der Spieler ließ den Revolver mit einem Handsalto ins Halfter fliegen und ging mit großen elastischen Schritten auf Jonny Behan zu. Einen halben Yard vor ihm blieb er stehen. Er überragte ihn um Haupteslänge.
»Haben Sie etwas gesagt, Behan?«
Der Papier-Sheriff wich zurück und schüttelte den Kopf. Hündische Angst stand in seinen Augen.
»Übrigens, was ich Sie noch fragen wollte, Behan: Die Gefangenen, die Sie nach Phoenix bringen sollten…«
Da wandte sich der Laumann und lief in seinem lächerlich wirkenden senilen Trippelschritt davon.
Doc Holliday blickte ihm kopfschüttelnd nach.
*
Grundrams Sägemühle lag am Ostende der Stadt, da, wo sich die letzten Häuser schon verloren hatten und nur noch ein paar windschiefe Hütten, verfallene Scheunen und leere Corrals standen. Es war ein großes Anwesen mit mehreren Lagerhallen, einem Wohnhaus und einer Werkstatt.
Jesse Grundram war ein Mann von dreißig Jahren. Er hatte blondes Haar, helle Augen und einen Quadratschädel, der halslos auf einem massigen Rumpf saß. Hemdsärmelig, in einer grünen Schürze stand er an der Säge und zeigte einem jungen Arbeiter, wie man einen Balken zurechtschnitt.
Da gewahrte er die beiden Männer im Hof, ließ den Burschen selbst an die Säge und kam in den Hof.
»Suchen Sie mich, Marshal?« rief er dem Missourier entgegen.
Wyatt schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Grundram. Ich suche ein Pferd.«
»Ein Pferd?«
»Ja, und zwar das Pferd von Jeff Cornelly.«
»Aber doch nicht bei mir?«
»Ist Ed Flanagan bei Ihnen?«
Der Sägemüller schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«
Wyatt wollte sich abwenden, als Doc Holliday ihn mit einem Blick zurückhielt.
Wyatt folgte diesem Blick unauffällig und gewahrte drüben in dem um einen Spalt geöffneten Tor der Lagerhalle einen Revolverlauf.
Langsam setzte der Marshal sich in Bewegung, so daß er jetzt in der Deckung eines Holzstapels stand.
Doc Holliday stand hinter dem Sägemüller, war also durch dessen Körper gedeckt.
Als der Marshal sich umwandte, hatte er seinen großen Buntline-Revolver in der Hand.
Gundram starrte entgeistert auf die Waffe. »Was soll denn das bedeuten?« stotterte er.
»Das habe ich mich auch gefragt, als ich den Mann mit dem Colt drüben im Torspalt Ihres Lagerhauses stehen sah.«
Grundram schluckte vor Schreck. Dann trat er auf den Marshal zu und hob beschwörend die Hände. »Wyatt, ich flehe Sie an, ich habe nichts damit zu tun. Ich will den Kerl nicht in meinem Haus haben, aber immer wieder kommt er, obgleich auch meine Schwester nichts mehr mit ihm zu tun haben will.«
»Ed Flanagan also?« meinte der Georgier. »Warten Sie, Marshal, den kaufe ich mir.«
Er ging hinüber in die Werkstatt, verließ sie durch ein Fenster und lief um das Anwesen herum, bis er die Rückseite des großen Lagerschuppens erreicht hatte. Hier fand er in Kopfhöhe eine Fensterluke, die offenstand. Er warf einen vorsichtigen Blick hinein und entdeckte den Mann drüben am Torspalt.
Es war wirklich Edward Flanagan!
Holliday brachte den Revolver durch die Luke und spannte den Hahn.
Das harte, metallische Geräusch ließ den Outlaw zusammenfahren.
»Laß das Eisen fallen, Ed. So, richtig. Und jetzt nimmst du die Hände hoch! Höher, noch höher! Und dann ganz langsam umdrehen! So ist’s richtig.«
Als der Bandit sich umgewandt hatte, wurde das Tor von draußen geöffnet und der Marshal erschien hinter Flanagan. Er packte ihn am Arm und zog ihn in den Hof hinaus.
Der Outlaw war ein Bursche von vielleicht dreiundzwanzig Jahren, mittelgroß, von kräftiger Statur, mit hellen Augen und aschblondem Haar. Er trug sich wie ein Cowboy, hatte einen schweren patronengespickten Waffengurt um die Hüften, in dem jetzt allerdings nur noch ein Bowiemesser steckte.
Wyatt nahm ihm diese Waffe weg und fixierte ihn scharf.
Die anfängliche Angst, die den Banditen erfaßt hatte, als er von Doc Holliday überrascht wurde, war von ihm gewichen. Es war Trotz, der jetzt in seinen Augen stand.
Der Marshal stand mit über der Brust verschränkten Armen vor ihm und fragte mit rauher Stimme: »Wo ist das Pferd?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!«
»Ich will wissen, wo das Pferd ist.«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nicht weiß, wovon die Rede ist!«
»Cornellys Pferd, ihr habt es weggeschafft.«
»Ich hatte nichts mit Cornelly zu tun! Was geht mich sein Pferd an!«
»So wirst du nichts bei mir, Flanagan. Ich bin schon bei deinem Vater gewesen, habe mit deiner Schwester gesprochen und auch mit Rozy Ginger.«
Der Bluff verfing bei dem Banditen aber nicht.
In Flanagans Augen stand nicht einmal Argwohn, geschweige denn Angst. Nur Trotz brannte in ihnen.
»Sie können machen, was Sie wollen, Marshal, ich habe nichts mit Cornelly und schon gar nichts mit seinem Pferd zu tun.«
»Warum haben Sie dann mit dem Revolver im Tor gestanden?«
»Weil ich dachte, daß jemand den Sägemüller überfallen wollte. Er wird schließlich mein Schwager.«
Wyatt sah sich nach Grundram um. Der senkte den Kopf.
»Haben Sie es gehört, Mr. Grundram. Ihr zukünftiger Schwager wollte Sie mit dem Revolver verteidigen. Aus neun Yard Entfernung hat er Doc Holliday und mich nicht erkannt. Sie bekommen also einen Schwager, der halbblind ist. Eine traurige Geschichte.«
Während dieser Worte war der Marshal auf das kleine Stallhaus zugegangen und griff nach der Tür.
»Halt!« Es war Ed Flanagans Stimme. Aber der Ruf war nur ein Reflex gewesen. Die Hand, die gleichzeitig zum Revolver greifen wollte, tastete ins Leere, und außerdem spürte der Outlaw im gleichen Augenblick den Revolverlauf des Spielers in den Rippen.
Wyatt Earp ging in den Stall, und als er nach einer Minute heruskam, führte er das Pferd des toten Jeff Cornelly am Halfter in den Hof.
»Es tut mir leid, Grundram, daß ich Ihnen Ihren Schwager entführen muß. Aber trösten Sie sich. Ihre Schwester wird wohl noch einen besseren Mann bekommen.«
»Was soll das heißen?« krächzte Gundram.
»Das heißt, daß Ed Flanagan an den Galgen kommt!«
»Weswegen?«
»Wegen Mordes – an Jeffrey Cornelly.«
Ed Flanagan war in Virgil Earps altes Jail gebracht worden.
Wyatt stand vor dem Gitter und blickte in die tückischen Augen des Banditen.
»Wer hat Cornelly ermordet?«
Flanagan lachte ihm ins Gesicht. »Ich dachte, Sie hätten ihn erschossen, Marshal.«
»Wenn du dir Frechheiten herausnehmen willst, Junge, geht es dir schlecht. Also, wer hat ihn umgebracht?«
Ed sah sich in der Zelle um und ließ sich dann hinten auf der Pritsche nieder. »Ich weiß es nicht. Suchen Sie den Mann. Ich habe Cornelly nicht umgebracht.«
»Aber Sie haben sein Pferd in Gundrams Sägerei gebracht.«
»Ich habe es nicht dort hingebracht. Weiß der Teufel, wie es dahinkam.«
Wyatt hatte sich schon abgewandt und sagte jetzt über die Schulter zurück: »Du verkennst deine Lage, Boy. Drüben im Totenhaus liegt der Mann, der ermordet worden ist. Und du hast sein Pferd zu Gundram geschleppt. Du wolltest es verstecken. Du mußt ziemlich dumm sein, Ed, wenn du nicht weißt, was das bedeutet.«
Da schnellte der Outlaw von seinem Lager hoch und sprang an die Gittertür. Mit beiden Händen umspannte er die eisernen Trallen und brüllte: »Was soll es bedeuten, Earp, was?«
»Der Richter wird es dir sagen, Flanagan.«
»Sagen Sie es mir!«
Da wandte Wyatt sich um, trat noch einmal an die Gittertür heran und blickte dem Verbrecher in die Augen. »Well, dann sage ich es dir. Der Richter wird dich zum Tode verurteilen, Ed.«
»Zum Tode?« stotterte der Outlaw. »Mich? Weshalb? Ich habe Cornelly nicht umgebracht. Als er in den Hof geschleppt…« Er brach jäh ab.
Wyatt griff nach seiner Hand und spannte seine Rechte eisenhart darum. »Er ist in euren Hof geschleppt worden! Von wem, Ed?«
»Ich weiß es nicht.«
»Rede!«
Der Outlaw ließ den Kopf sinken. »Nein, ich habe nichts zu reden. Und ich kann beschwören, daß ich Cornelly nicht ermordet habe.«
»Aber du weißt, wer ihn getötet hat.«
»Nein, das weiß ich auch nicht.« Und plötzlich sagte er leise: »Er war schon tot, als ich ihn sah.«
»Wem willst du das erzählen?«
Da warf der Bursche den Kopf hoch und schrie: »Es ist die Wahrheit. Mein Bruder Hal kann das bezeugen!«
Wyatt hatte das Office verlassen. Er wußte, daß er aus dem Burschen nichts mehr herausbringen würde. Dieser Ed Flanagan war ein Outlaw von der härtesten Sorte. Seine Familie war im County bekannt, schon früher hatten die Flanagans mit der Clanton Gang zu tun, waren ständig in Schießereien und Überfälle verwickelt. Ed und Hal Flanagan hatten sich bis jetzt aus all diesen gefährlichen Dingen heraushalten können, aber nun saß einer von ihnen fest. Und zwar unter Mordverdacht!
Die Suche nach dem Mörder Cornellys hatte also einen Erfolg gebracht. Der Mann, der das Pferd des Toten versteckt hatte, saß im Jail. Aber war er auch der Mörder? Eigentlich war es Sache des Richters, das herauszubringen. Doch damit begnügte sich der Marshal nicht. Er selbst würde den Mörder finden.
Doc Holliday stand auf dem Vorbau, als Wyatt das Office verließ. »Sehen Sie mal da hinunter.« Der Spieler deutete mit dem Kopf nach Westen.
Wyatt blickte in die angegebene Richtung und sah einen Reitertrupp die Allenstreet heraufkommen.
»Ah, unser Freund Jonny Ringo ist auch dabei.«
»Teufel auch, wenn das nicht Billy Fletcher ist, dann müssen meine Augen verdammt schlecht geworden sein!« rief Holliday.
»Doch, es ist Fletcher«, erklärte Wyatt, »und neben ihm reitet ein noch schlimmerer Bursche: Larry Lemon!«
Holliday kniff das linke Auge ein. »Lemon? Der Schwarze Lemon aus Santa Fé?«
»Genau der.«
Jetzt waren die Reiter näher gekommen und hatten die beiden Männer auf dem Vorbau entdeckt.
Ringo blickte den fahlgesichtigen Fletcher an und rief ihm etwas zu. Fletcher wollte auch Lemon auf die beiden Dodger aufmerksam machen, aber der nickte schon. Er hatte den Marshal und auch den Georgier längst erkannt.
Jetzt hatten sie das Office erreicht. Aber sie hielten nicht an.
Larry Lemon, der jetzt voranritt, hielt auf Harpers Bar zu; das war eine schlauchartige Schenke, unweit vom Marshals Office.
Die Outlaws rutschten von den Pferden und warfen die Zügelleinen um die Halfterstange. Langsam stiegen sie die Vorbaustufen hinauf und verschwanden im Eingang der Schenke.
Doc Holliday schnipste seine angerauchte Zigarette in hohem Bogen auf die Straße und meinte: »Ganz schöner Verein hat sich da zusammengefunden. Das alte Tombstone lebt wieder auf.«
Der Marshal setzte hinzu: »Ich habe sogar das Gefühl, daß es erst jetzt richtig zum Leben erwacht…«
*
Dem Texaner war das Warten auf die beiden Gefährten zu lang geworden. Da er nicht wußte, wo sie hingegangen waren, ließ er bei der Rezeption einen Zettel zurück, auf dem die Worte standen: Bin im Oriental Saloon.
Er verließ Nellie Cashmans Russian House und ging zur Allenstreet hinauf. Luke erreichte die Straße genau in dem Augenblick, in dem Wyatt Earp und Doc Holliday die nächste Querstraße hinunter zum Hotel gingen, um nach dem Gefährten zu sehen.
Der Hüne überquerte die Straße und steuerte zunächst auf den Crystal Palace zu. Er blickte über die Pendeltür und sah einen jungen Mann an der Theke stehen, der reichlich betrunken zu sein schien.
Der Texaner wollte sich schon abwenden, da hörte er den Burschen rufen: »Komm her, Langer, ich werfe einen Drink für dich. Du mußt doch durstig sein bis in die Nieren. Komm her! Wenn Jimmy… wenn Jimmy… wenn Jimmy King einen Drink wirft… dann wirft er einen Drink…«
Luke Short war stehengeblieben.
Jimmy King? War das nicht der Name des Burschen, der in Nogales den Mayor so höllisch in die Tinte geritten hatte? Der gemeinsames Spiel mit Phin Clanton, Sheriff Cornelly und den anderen Tramps gemacht hatte? Der Texaner schob die Schwingarme der Pendeltür auseinander und trat in den Schankraum, der bis auf den einzelnen Mann an der Theke völlig leer war.
Der Texaner winkte dem Keeper zu. »Whisky.«
Jimmy King lachte ihn blöde an und torkelte an der Thekenkante entlang auf ihn zu. »He, du bist ziemlich lang geraten, Boy! Ist es… ist es… kalt da oben?«
»Nein, aber wenn ich runterkomme, dann wird’s dir ziemlich heiß, Bursche.«
»He, he, he!« Der Angetrunkene winkte mit dem Finger hin und her. »Nur nicht nervös werden, Langer. Ich war auch mal so groß. Ich weiß, wie das ist. Da ist man verdammt traurig… aber ich bin Jimmy King, ein großartiger Bursche…« Er lallte die Worte mit schwerer Zunge vor sich hin und griff mit der Linken wieder an dem Glas, verschüttete die Hälfte und ließ den Rest aus den Mundwinkeln heraustropfen. Der Whisky hinterließ auf Hemd und Weste dunkle Flecken.
Ohne den Blick von King zu wenden, griff der Texaner nach dem Glas, in dem die Strohhalmzigarren standen.
»Ich nehme eine, Keeper.«
Er riß ein Zündholz unter der Thekenkante an. Während er die Flamme an die Zigarre brachte, blickte er in die glasigen Augen des Banditen. »Du bist also Jimmy King?«
»Ja… Jimmy King…«
»Aus Nogales, nicht wahr?«
»Ja, du kennst mich, Langer?«
»Flüchtig. Dich und deinen Freund Cornelly, Phin und die anderen.«
»Ach, dann bi… bist du einer von… uns?«
Plötzlich schnellte die Linke des Texaners vor, packte den Burschen an den Westenaufschlägen und riß ihn zu sich heran.
»Wer hat Cornelly ausgelöscht?«
Der Bandit schnappte nach Luft. »Ich… weiß es doch nicht…«
Luke hob ihn vom Boden an, als wäre er gewichtslos, schüttelte ihn durch und stellte ihn wieder ab. »Rede, Junge, sonst mache ich Kleinholz aus dir!«
King war schon halb ernüchtert, torkelte zurück, krampfte sich hinten mit beiden Händen an die Kante der Theke und bewegte die Lippen hin und her, ohne einen Ton hervorzubringen.
Der Texaner ballte beide Fäuste. »Rede, Boy. Rede, wenn dir deine heilen Knochen lieb sind!«
»Was soll ich denn reden?« stotterte der Bandit.
»Ich will wissen, wer Cornelly erschossen hat.«
»Das weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht erschossen. Ich bin nicht mit ihm zusammen angekommen. Ich bin später losgeritten… Noch hinter dem Marshal… Ich weiß nicht, wer Jeff umgebracht hat.«
»Aber du gehörtest doch zu ihm!«
»Nicht zu ihm. Ich bin mit Phin befreundet. Mit Cornelly hatten wir… hatten wir nichts zu tun.«
»Das wird sich herausstellen, Komm!« Luke packte ihn am Kragen, zerrte ihn zu sich heran, sah den Keeper an und fragte: »Hat er sein Spülwasser bezahlt?«
Der Keeper nickte.
»Also, dann komm mit!« Luke warf für seinen Whisky einen Nickel auf die Theke und verließ mit dem Outlaw die Schenke. Er schleppte ihn über die Gasse und brachte ihn ins Marshals Office. Er sah sofort, daß jemand hiergewesen sein mußte, denn das Schlüsselbund für den Gefängnistrakt war nicht an seinem Platz.
Der Texaner schleppte den Banditen in den Hof und sperrte ihn in den festen Geräteschuppen, den Virgil Earp damals noch mit seinen Deputies selbst gebaut hatte.
Wenige Minuten später tauchte Luke Short im Eingang des Oriental Saloons auf.
Er trat ein, hatte noch nicht ganz drei Schritte getan, als er hinter sich das Klicken mehrerer Revolverhähne vernahm. Er wandte sich langsam um.
Vor ihm standen fünf Männer mit Revolvern.
Lerry Lemon aus Santa Fé.
Billy Fletcher aus Colorado Springs.
James Curly Bill, der Schläger aus Tombstone.
Der kleine Willie Cramers aus den Miner Camps, ein Bandit, der früher schon in den Reihen der Clantons gestanden hatte.
Und Jonny Ringo!
»Wage es nicht, dich zu bewegen, Short!« zischte Ringo den Riesen an, »sonst bist du in einer Sekunde von Kugeln durchsiebt.«
Der Texaner nickte. »Ja, ja, bei so sicheren Schützen kann ich mir das auf die Distanz von drei Yard fast vorstellen.«
»Erspare dir den Spott, Short! Los, nimm die Hände hoch!«
Langsam hob der Texaner seine gewaltigen Arme.
Da trat Billy Fletcher, der ein Gesicht wie eine Bulldogge hatte, auf ihn zu, nahm ihm die beiden schweren Revolver aus den Halftern und schob sie in seinen Gurt.
»Vorwärts!« befahl Ringo.
»Wo soll’s denn hingehen?« erkundigte sich der Goliath.
»Das wirst du schon sehen!«
Die fünf führten ihn hinaus und brachten ihn in Jonnys Behans Office hinüber.
»Der Stall ist natürlich leer«, meinte der Texaner, als er den Papier-Sheriff nicht vorfand. »Genauso habe ich mir das vorgestellt.«
Sie nahmen ihm den Waffengurt ab. Und Fletcher hatte sogar den Mut, den riesigen Mann nach versteckten Waffen abzutasten. Er fand nichts, und der Tex wurde in die mittlere der drei Zellen gesperrt.
Als John Ringo das Gitter zuwarf, stieß er ein wahrhaft satanisches Lachen aus. »Ha, ha, das habt ihr gut gemacht, Boys! Wir rollen die Sache jetzt von hinten auf. Den ersten Wolf haben wir in der Schlinge!«
Die Desperados hatten das Jail verlassen. Luke Short hörte sie noch eine Weile auf dem Vorbau reden. Dann wurde es draußen still.
Unter dem Brotschrank des Sheriffs raschelte es; eine dünne Maus huschte quer durch den Raum und verschwand in einem Loch der Lamperie.
Der lange Bursche aus Texas lachte dröhnend, wandte sich um und ließ sich auf die Pritsche nieder.
*
Wyatt Earp und Doc Holliday waren auf dem Weg zum Russian Hotel gewesen, aber als sie die Chestnut Street erreicht hatten, blieb der Marshal stehen.
»Ich muß noch einmal zu den Flanagans.«
Als sie an der Ecke von Wongs China Bar ankamen, verhielt Wyatt plötzlich den Schritt.
Eben verließ ein Reiter den Hof der Flanagans.
Und zwar ein Mann, den Wyatt Earp hier am wenigsten erwartet hatte. Oswald Shibell! Der Rancher, der ihn oben auf seiner Ranch an den Blauen Bergen gefangengehalten hatte!«
Doc Holliday, der über die Schulter des Marshals geblickt hatte, flüsterte: »Shibell?«
Sie warteten, bis der Reiter die Einmündung der Gasse in die Chestnut Street erreicht hatte, dann trat Kirk McLowery an die Vorbaukante: »Hallo, Boß!«
Shibells Kopf flog herum. Dann griff er zum Revolver. Aber er hielt inne, als er in der linken Faust des Marshals schon den Colt blinken sah.
Wyatt verließ den Vorbau und ging auf ihn zu. »Na, Shibell, das ist ein unerwartetes Wiedersehen.«
Das Gesicht des etwa Fünfundfünfzigjährigen hatte die Farbe einer gekalkten Wand angenommen. Er überlegte fieberhaft, was er tun könnte.
Da gebot ihm der Marshal: »Absteigen!«
Langsam rutschte der Rancher vom Pferd.
»Kommen Sie mit!«
Wyatt führte ihn ins Jail des Marshals Office, in die Zelle neben Ed Flanagan. Dann verschloß er das Jail wieder und ging hinaus.
Als er an Behans Office vorbeikam, ahnte er nicht, daß Luke Short – nur etwa zehn Schritt von ihm entfernt – hinter schweren Eisengittern saß.
Doc Holliday hatte vor Wongs China Bar auf ihn gewartet.
»Hat sich etwas getan?« erkundigte sich der Marshal.
Der Spieler schüttelte den Kopf.
»Nein, sogar in Rozy Gingers Bar scheint heute nichts los zu sein.«
»Warten Sie bitte hier auf dieser Seite.«
Wyatt überquerte die Gasse und betrat den Hof der Flanagans durch das offenstehende Tor.
Hinten an der Stalltür stand Lourie Flanagan. Als sie den Mann gewahrte, schrak sie zusammen.
»Marshal!« rief sie laut.
Zu laut. Der Missourier war gewarnt, blieb neben der Hauswand stehen und fragte:
»Ist Mr. Flanagan zu Hause?«
»Nein, mein Vater ist nicht da.«
»Ist Ihr Bruder Hal daheim?«
»Auch nicht.«
Wyatt wandte sich um.
Lourie lief ihm nach. »Und Ed? Wollen Sie nicht vielleicht mit Ed sprechen?«
»Ist er denn da?«
»Nein, er kann ja nicht da sein. Sie haben ihn eingesperrt. Warum haben Sie ihn eingesperrt, Marshal? Er hat nichts getan. Er hat mit dem Mord nichts zu tun.«
»Das wird sich herausstellen, Miss Flanagan. – Übrigens erstaunlich, wie rasch sich hier alles herumspricht. Ich habe Ihren Bruder vor kaum einer halben Stunde eingesperrt. Und, falls Sie es interessiert: Er ist nicht allein – Oswald Shibell leistet ihm Gesellschaft.«
»Was? Sie haben Mr. Shibell auch eingesperrt?«
»Wenn Sie gestatten, ja.«
»Und? Was wollen Sie von Vater und Mutter von Hal? Wollen Sie die beiden etwa auch ins Jail bringen?«
»Kommt darauf an, Miss Flanagan.«
Das Mädchen bebte am ganzen Leib. »Mr. Earp, ich weiß nicht, was Sie gegen uns haben…«
»Ich habe nichts gegen Sie persönlich, Miss Flanagan. Aber Ihre Familie hat sich schon so vielerlei zuschulden kommen lassen, daß man sie im Auge behalten muß. Ich habe Ihren Bruder Ed festgenommen, weil er das Pferd Cornellys in Gundrams Sägemühle versteckt hat. Was würden Sie von einem Mann denken, der das Pferd eines Ermordeten versteckt, Miss Flanagan?«
Das Mädchen erschrak, senkte den Kopf und wandte sich ab.
»Warten Sie einen Augenblick, ich habe Sie noch etwas zu fragen!«
»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen!« zischte sie.
»Miss Lourie, wenn Sie wissen, wer Cornelly erschossen hat, dann müssen Sie es mir sagen.«
»Ja, ich muß es Ihnen sagen. Aber ich weiß es nicht!«
»All right, wie Sie wollen. Ich komme noch einmal wieder, Miss, wenn Ihr Vater zu Hause ist.«
Er verließ den Hof und betrat rasch den Vorbau. Mit wenigen Schritten war er an der Haustür, die nur angelehnt war. Er schob sie auf.
Mitten im Gang stand ein junger Mann. Er glich Ed Flanagans älterem Bruder!
Der Outlaw war herumgefahren, seine Hand lag auf dem Revolverkolben. Als er den Marshal erkannte, ließ er die Hand sinken. »Earp, Sie? Was wollen Sie von mir?«
»Wer hat Cornelly erschossen?« Wyatt beobachtete das Gesicht des älteren Flanagan bei dieser Frage scharf.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Earp. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Ed war es nicht. Sie haben kein Recht ihn einzusperren.«
»Ob ich ein Recht habe, ihn einzusperren, das mußt du mir schon überlassen. Er hat mir in Grundrams Hof mit dem Revolver aufgelauert. Außerdem hat er in der Sägemühle Cornellys Pferd versteckt.«
Hal starrte den Missourier entgeistert an. Dann fauchte er: »Man sollte Sie niederknallen, Earp, wie einen Hund sollte man Sie niederknallen. Wie…«
»…wie Cornelly!« schoß ihm der Marshal entgegen.
Der Bursche war bis an die Treppe zurückgewichen. »Sie werden es nicht wagen, auch mich zu greifen, Earp! Ich habe Freunde, mächtige Freunde!«
»Kirk McLowery zum Beispiel, nicht wahr?«
»Ja, Kirk McLowery!« echote der Tramp.
»Und vielleicht auch Phin Clanton!«
»Ja, auch Phin…« Der Bandit unterbrach sich jedoch. »Nein, mit Phin habe ich weniger zu tun.«
»Es reicht mir, daß du mit Kirk McLowery zu tun hast!«
Der Missourier ging jetzt rasch auf den Outlaw zu.
Der wich zurück, die Stufen der Treppe hinauf. Er rutschte aus und saß auf einer der Stufen, die Hand wieder am Revolverknauf.
»Wagen Sie es nicht, Earp! Ich habe eine Waffe. Sie sehen es. Ich hebe die Hand nicht am Revolver. So schnell können Sie gar nicht ziehen, wie ich schießen werde.!«
Der Marshal war stehengeblieben und blickte ihn gelassen an. »Gib den Revolver her, Hal!«
»Nein, nein! Auf keinen Fall. Ich denke nicht daran. Verlassen Sie sich darauf, daß ich schieße. Ich knalle Sie nieder! Sie haben kein Recht, mich anzugreifen.«
»Ich greife dich nicht an, Hal. Ich nehme dich fest.«
»Weshalb nehmen Sie mich fest? Ich habe nichts getan, gar nichts! Und meine Freunde werden mir helfen. Darauf können Sie sich verlassen. Ich schwöre Ihnen, daß Kirk McLowery in die Stadt kommt, um Sie zur Rechenschaft zu ziehen.«
»Auf den warte ich ohnehin. Wenn er nur käme!«
Mit zwei Schritten war Wyatt bei dem Burschen und riß ihm den Revolver aus dem Halfter, zog ihn von der Treppe und führte ihn an die Tür.
Aber da blieb er stehen, denn drüben in der Hofeinfahrt von Gingers Saloon sah er Doc Holliday stehen, der ihm mahnend zuwinkte.
Wyatt blickte links die Gasse hinauf und sah vier Männer kommen: Larry Lemon, Billy Fletcher, Curly Bill und einen von Ringos Leuten, der vorhin bei der Auseinandersetzung am Graveyard dabeigewesen war, nämlich William Hickok.
Wyatt zog Hal mit sich in den Flur zurück und warf die Tür ins Schloß. »Können wir da in das Zimmer?« fragte er.
Der Bandit blickte trotzig vor sich hin und schwieg.
Da klopfte Wyatt an die Tür. Als er keine Antwort erhielt, stieß er sie auf und führt den Outlaw in den Wohnraum, dessen Fenster zur Straße hinaus führten. Hier konnte er die drei Desperados die Gasse herunterkommen sehen.
Unweit von dem Haus der Flanagans blieben sie stehen, sahen zu dem offenstehenden Tor hinüber, besprachen sich eine Weile miteinander. Dann trennte sich Billy Fletcher von ihnen und ging auf das Tor zu.
Wyatt packte Hal, band ihm rasch mit dem eigenen Gurt die Hände zusammen, stopfte ihm ein Taschentuch in den Mund und befestigte es mit dem Halstuch. Dann nahm er einen Lederriemen aus der Tasche und sicherte den Gefangenen an einem Fuß des schweren eisernen Ofens.
»Es geht leider nicht anders, Hal. Ich komme gleich zurück.«
Er verließ das Haus durch die Hoftür und sah Lourie hinten mit einem Wäschekorb unter der Leine stehen und Klammern einsammeln.
Fletcher konnte sie noch nicht bemerkt haben, da er sie von der Einfahrt aus nicht sehen konnte.
Wyatt schlich sich an die Hausecke, duckte sich hinter ein Wagenrad, das da lehnte, und sah ihn dann, kaum fünf Yard entfernt, in der Einfahrt stehen.
Eigentlich hätte Fletcher jetzt den Spieler drüben in der Toreinfahrt von Rozy Gingers Bar sehen müssen.
Aber Fletcher ging weiter. Als er an der Ecke war, zuckte Wyatt hoch, packte zu und riß ihn an dem Wagenrand vorbei zu sich heran.
Ehe der Desperado einen Hilfeschrei ausstoßen konnte, lag er am Boden.
Wyatt schleppte ihn ins Haus und fesselte ihn auf die gleiche Art wie Flanagan. Nur, daß er ihn in einen anderen Raum brachte.
Dann blieb er im Wohnzimmer hinter den Gardinen stehen.
Hal warf sich wütend hin und her.
Wyatt winkte ihm zu. »Gleich, es dauert noch einen Augenblick.«
Die drei Banditen draußen blickten stumm auf die Hofeinfahrt, in der ihr Kumpan verschwunden war.
Dann setzte sich Curly Bill plötzlich in Bewegung, um Fletcher zu folgen.
Wyatt ließ ihn passieren. Er wußte, daß der Georgier den Rowdy nicht aus dem Hof lassen würde. Der konnte ihn also nicht gefährden.
Und da geschah es auch schon.
Holliday stand in der Hofeinfahrt, ohne von den beiden, die noch auf der Straße standen, gesehen zu werden, hatte die Revolver gezogen und spannte knackend die Hähne.
Bill war auf das Geräusch hin herumgefahren und wollte den Colt ziehen. Als er aber den Spieler drüben mit gezogenen Waffen stehen sah, hob er langsam die Hände und rührte sich nicht vom Fleck.
Der Marshal ging in den Flur und zog die Haustür zu. Als er auf dem Vorbau erschien, zuckte Larry Lemon zusammen und beide Hände fuhren zu den Revolvern.
Wyatt Earp blickte ihn verächtlich an. »Das müssen Sie noch viel öfter üben, Lemon. So klappt das noch nicht.«
Der Schießer biß die Zähne aufeinander.
»Was wollen Sie von mir, Earp? Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen.«
»Das will ich in Ihrem Interesse hoffen, Lemon!«
Der Mann aus Santa Fé wandte sich um und ging mit Hickok die Gasse hinauf, ohne sich noch einmal umzudrehen. Um seine beiden Kameraden kümmerte er sich offensichtlich nicht im mindesten.
Da verließ Doc Holliday drüben die Toreinfahrt und ging auf James Curly Bill zu. »Siehst du, Brocius, so machen wir das. Immer alles schön der Reihe nach.«
Curly Bill stand mit gespreizten Beinen und wilden Augen in Flanagans Toreinfahrt, noch hatte er die Revolver in den Halftern.
Der Georgier hatte seine Waffen nicht mehr in den Händen.
Curly Bill wußte nicht, daß wenige Yards hinter ihm im Hof der Missourer stand.
»Was wollen Sie von mir, Doc?« krächzte er lauernd.
»Was wolltest du mit Lemon und den anderen hier?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Da bin ich ganz anderer Ansicht, Junge.«
»Fühlen Sie sich nur nicht zu stark, Doc. Fletcher ist hier, und die Flanagans sind auch auf meiner Seite.«
»Fletcher ist hier, ganz sicher. Aber ob die Flanagans auf deiner Seite sein werden, das weiß ich nicht. Vorerst sind sie beide festgesetzt. Und wenn ich mich nicht irre, befindet sich dein Freund Billy Fletcher in einer ganz ähnlichen Lage.«
»Bluff!« brüllte der Rowdy. »Nichts als Bluff! Ich kenne Sie, Holliday.«
»Nicht so laut«, kam da die Stimme des Missouriers von hinten an sein Ohr.
Brocius fuhr herum. Dann warf er die Faust hoch und stieß einen lästerlichen Fluch aus.
»Der Teufel soll euch holen, verdammt noch mal.«
Wyatt ging auf ihn zu. »Hören Sie, Brocius, Sie befinden sich wieder in verdammt schlechter Gesellschaft.«
Der Bandit stierte ihn aus blutunterlaufenen Augen an.
»So, kann ich mir meine Freunde vielleicht nicht aussuchen, he?«
»Es ist mir einerlei, mit wem Sie befreundet sind, Brocius. Ich möchte nur wissen, was Sie hier wollten.«
»Was sollte ich hier wollen! Meine Freunde besuchen!«
»Die Männer, die Cornelly auf dem Gewissen haben, sind also Ihre Freunde?«
»Cornelly? Die Flanagans können Cornelly nicht erschossen haben.«
»Weshalb nicht?«
»Weil sie gar nicht…«
»Sprich nur weiter.«
»Weil sie heute morgen gar nicht im Hause waren.«
»Wo waren sie denn?«
»Sie waren heute nacht alle bei Rubynstein.«
»So, bei Rubynstein? Wieder einmal auf der gemütlichen Farm draußen. Wahrscheinlich eine Pokernacht, nicht wahr?«
»Ganz richtig. Und die beiden waren dabei. Das kann ich beschwören.«
»Wer sind die anderen?«
»Nun, eben die, die zu uns gehören. Wollen Sie mich etwa auch festnehmen?«
»Nein, Brocius, das habe ich nicht vor. Aber wenn ich Sie jetzt noch einmal treffe, und Sie kommen mir in die Quere, dann sind Sie dran. Das verspreche ich Ihnen. Verschwinden Sie!«
Der Rowdy warf ihm noch einen scheelen Blick zu, machte dann einen Bogen um Doc Holliday und trollte sich.
Eine Viertelstunde später saßen noch zwei Männer im Jail des Marshals Office: Hal Flanagan und der Schießer Billy Fletcher.
Um diese Stunde war Rozy Gingers Bar meist leer.
Die Saloonerin war damit beschäftigt, Gläser zu putzen, als sie plötzlich den sporenklirrenden Schritt auf dem Vorbau vernahm.
Das Glas entglitt ihrer Hand und zerschellte am Boden.
Sie starrte auf die Tür. Wußte sie doch genau, wer da kam.
Da verdunkelte die Gestalt des Mannes den Eingang. Wyatt Earp trat ein und kam auf die Theke zu.
»Miss Ginger, ich hab Sie heute schon einmal gefragt, ob Sie mir nichts zu sagen haben.«
Die junge Frau schwieg betroffen.
»Heute morgen ist hier ein Mann ermordet worden«, erklärte der Gesetzesmann eindringlich, »und Sie wissen etwas davon.«
Rozy schwieg. Sie vermochte den Marshal nicht anzusehen.
»Wissen Sie, daß Mitwisserschaft an einem Mord eine schwere Strafe nach sich zieht?«
Die Frau blickte auf. »Was wollen Sie, Marshal? Ich kann Ihnen doch nichts sagen.«
»Sie müssen es mir sagen, Rozy Ginger.«
Die Frau schüttelte den Kopf. Schließlich antwortete sie leise: »Ich kann es nicht.«
»Well, Miss Ginger, ich habe Sie auf die Folgen aufmerksam gemacht.«
Da entgegnete sie mit plötzlicher Heftigkeit: »Jeff Cornelly war doch ein Bandit!«
Wyatt legte den Kopf auf die Seite und beobachtete sie: »Woher wissen Sie das?«
Rozy erschrak und schlug sich auf den Mund.
»Ich… ich nahm es doch an.«
»So, Sie nahmen es an? Ich möchte wissen, wie Sie darauf kommen. Aber Sie haben recht: Cornelly war wirklich ein Bandit, wenn er auch der Sheriff von Nogales war. Ich vermute sogar, daß er zu den Galgenmännern gehörte. Wer hat ihn erschossen? Und warum ist er erschossen worden?«
»Ich weiß es doch alles nicht, Mr. Earp!« beteuerte die junge Saloonerin.
»Nein, alles wissen Sie natürlich nicht. Aber Sie wissen etwas von dem Mord. Und das müssen Sie mir sagen.«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen!« rief sie beschwörend.
»Es tut mir leid, Miss Ginger, aber der Richter wird Sie zur Verhandlung vorladen lassen.«
»Zur Verhandlung? Gegen wen? Sie müssen doch erst den Mann mit dem Gewehr haben, wenn Sie eine Verhandlung anset…« Jäh unterbrach sie sich. Bleierne Blässe überzog ihr Gesicht.
Eine halbe Minute eisigen Schweigens verstrich.
Dann gaben die Nerven der Frau nach. Sie begann hemmungslos zu weinen.
Wyatt wartete ab, bis sie sich beruhigt hatte. Dann wiederholte er seine Forderung: »Sie müssen mir sagen, was Sie wissen, Rozy.«
In diesem Augenblick trat Doc Holliday durch die Hoftür von hinten in den Schankraum. »Ringo kommt!«
Der Marshal nickte ihm zu und verließ die Schenke durch die Vordertür.
Der Dandy-Coltman war schon auf dem Vorbau des Nachbarhauses, dort blieb er stehen, als er den Marshal sah.
»Na, hat’s Ihnen den Durst verhagelt, Ringo?«
Der Schießer schluckte den Schreck hinunter und ging weiter. Als er vor dem Marshal stand, griente er: »No, Earp. Ich habe einen gesunden Durst, und den behalte ich auch und lasse ihn mir von niemandem stehlen. Übrigens, es kommen alle von euch dran. Einer nach dem anderen.«
Und schon schlugen die Pendeltüren der Bar hinter ihm zusammen.
Wyatt ging weiter. Am Hoftor kam Doc Holliday auf ihn zu.
»Aus Rozy Ginger ist nichts herauszubringen.«
»Ich habe nichts anderes erwartet«, versetzte der Spieler. Sie weiß zwar etwas, aber sie hat Angst.«
»Die ganze Stadt scheint Angst zu haben.«
Wieder waren sie auf dem Weg zum Russian House, als der Spieler plötzlich stehenblieb.
»Es gibt noch eine Möglichkeit!«
Wyatt Earp blickte den Gefährten forschend an.
Holliday sah zu den Nissenhütten der Miner-Camps hinüber.
»Es gibt da einen netten Mann namens Duffy…«
Wyatt schnipste mit den Fingern. »Das ist ein Gedanke. Kommen Sie!«
Wenige Minuten später gingen sie durch die sogenannte Sand-Avenue, bogen an der ersten Quergasse ein und blieben vor einer der baufälligen Hütten stehen.
Der Marshal klopfte an.
Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm öffnete ihm. Sie hatte ein verhärmtes Gesicht, trug ein verwaschenes Kopftuch, ein zerschlissenes Kleid und eine dunkelblaue, bis zu den Füßen reichende Schürze.
»Der Marshal!« entfuhr es ihr verstört. »Mr. Earp! Wollen Sie zu uns?«
»Ja, ich möchte Mr. Duffy sprechen.«
Im Hintergrund des muffigen Korridors tauchte die Gestalt eines Mannes auf. Er war von gnomenhaftem Wuchs, kaum 1,58 groß, schmalschultrig, mit spitzem, hagerem Schädel, langer dünner Nase und engstehenden Augen. Der Mund saß wie ein schmaler Strich direkt unter der Nase. Unrasiert und in schmieriger Kleidung tauchte der Mann neben der Frau an der Tür auf. Sein Gesicht verzog sich zu einem faunischen Grinsen, als er den Missourier sah.
»Oh, Mr. Earp, kommen Sie herein in die gute Stube!«
Die ›gute Stube‹ stank entsetzlich nach Zwiebeln, fauligen Speiseresten und anderen üblen Dingen.
Die Frau wischte einen Stuhl ab und bat den Marshal Platz zu nehmen.
»Nein, nein, danke, Mrs. Duffy. Ich möchte nur einen Augenblick mit Ihrem Mann sprechen.«
»Ja, natürlich«, sagte die Frau und verließ das Haus durch die Hoftür. Als sie sich der Nebenhütte nähern wollte, um der Nachbarin die Neuigkeit mitzuteilen, entdeckte sie in letzter Sekunde vorn auf der Straße den Georgier, der sich gegen einen Karren gelehnt hatte.
Sie blieb stehen, ging in den engen Hof zurück und wartete dort.
Wyatt Earp fixierte den zwergenhaften Mann. »Ich suche den Mörder von Jeff Cornelly.«
Duffy schob die Zunge zwischen seine Lippen und blinzelte an dem Missourier vorbei. »Hm, das ist gar nicht so einfach. Sie glauben doch nicht, daß ich es war?»
»Reden wir nicht um den Brei herum, Duffy. Wer war es?«
»Ich weiß es nicht!«
»Wenn Sie etwas wissen, Duffy, müssen Sie es mir sagen.«
»Ich weiß aber nichts, Marshal. Wer war denn dieser Cornelly schon! Irgendein korrupter Sheriff!«
»Ja, er war ein Bandit. Aber nicht nur irgendein kleiner Gauner. Er gehörte zu den Galgenmännern.«
Der zwergenhafte Mann zog die Stirn kraus, daß die Falten bis hoch in seine Glatze hinein reichten. Er bot einen seltsam skurrilen Anblick.
Wyatt zündete sich eine Zigarre an und bot auch Duffy eine an. Duffy nahm sie und zerbrach sie zum Schrecken des Marshals, um die eine Hälfte in seine halbzernagte Maiskolbenpfeife zu stopfen.
»Ja, also…« Er zündete die Pfeife an und lief in der engen, muffigen Stube auf und ab wie ein gefangener Coyote.
Wyatt dachte: Wenn er doch nur auf den Gedanken käme, die Tür zum Hof etwas zu öffnen, damit frische Luft hereinkommt. Aber auf diesen Gedanken kam der kleine Joseph Cornelius Duffy nicht. Er hatte früher in den Silberminen oben in den Bergen gearbeitet und war bei einer Sprengung verletzt worden. Wovon er seitdem lebte, wußte niemand so recht. Aber eines wußte man genau in Tombstone: dem kleinen Duffy war so manches Geheimnis bekannt. Er wußte über alles und jedes Bescheid, das sich in Tombstone tat.
Woher? Das konnte allerdings niemand sagen.
Wyatt hatte den Gnom damals für einen Mittelsmann Ike Clantons gehalten, war aber dann von dieser Ansicht abgekommen, als er kurz vor dem Fight im O.K.-Corral von einem Jungen zu dem kleinen Mann hier gerufen worden war. Damals hatte ihm Duffy gesagt: »Ike plant ein Ding gegen Sie und Ihre Brüder, Marshal.«
Wyatt Earp hatte dem kleinen Mann eine Belohnung für diesen Tip gegeben, obwohl er den Tip gar nicht nötig gehabt hatte, denn er wußte ja selbst, daß Ike Clanton zum Schlag gegen ihn ausgeholt hatte. Doch war ihm durch diese Mitteilung klargeworden, daß der kleine Duffy nicht zu den Banditen zählte.
Als er ihn aber jetzt so vor sich stehen sah, kamen ihm wieder Zweifel.
»Ich habe ganz dringend ein Paar Stiefel nötig. Aber wenn ich Ihre Stiefel so sehe, muß ich sagen, daß die auch nicht gerade neu sind, doch noch recht gut. Mit den abgelaufenen Hacken aber eigentlich für einen Mann wie den großen Wyatt Earp nicht sehr passend.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Duffy. Sie sagen mir, wer Cornelly erschossen hat, und ich schenke Ihnen meine Stiefel.«
»Schenken? Hehehehe.« Der kleine Mann lachte meckernd. »Es wäre gar kein Geschenk, Marshal, es wäre dann eine Bezahlung.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen, Duffy.«
»Ich würde dieses Geschäft gern machen, Mr. Earp, aber leider kann ich es nicht, denn ich weiß wirklich nicht, wer Cornelly umgebracht hat.«
Da steckte Doc Holliday den Kopf durch einen Türspalt.
Duffy erschrak.
»Herrgott, der Mann schleicht wie ein Indianer. Ich habe ihn gar nicht kommen hören.«
»Das soll manchmal ganz nützlich sein«, meinte der Spieler. Dann nahm er eine Zehndollarnote aus der Tasche und warf sie mit Zeige- und Mittelfinger neben Wyatt auf den Tisch. »Den Schein setze ich anstelle der Stiefel des Marshals, Duffy, dann ist es ein Geschenk.«
Gierig blickte der einstige Minenarbeiter auf die Dollarnote. Als er sah, daß sich der Georgier wieder entfernt hatte, meinte er in plump vertraulichem Ton: »Äh, ich könnte Ihnen vielleicht einen Tip geben, Mr. Earp.«
»Schießen Sie los, wir werden sehen, ob er das Geschenk wert ist.«
»Das kann ich natürlich nicht versprechen, aber ich möchte Ihnen so viel sagen, daß ich ihn heute morgen hier durch die Gasse habe reiten sehen.«
»Wen?«
»Cornelly.«
»Kannten Sie ihn denn?«
»Ja.«
»Woher?«
»Ich habe ihn einmal gesehen; mein Bruder wohnt in Nogales.«
»Und der Tip?«
»Das war er schon.«
»Hm, der ist mir nicht einmal einen krummen Absatz wert, Duffy.«
»Nun, ich meine, so wie ich ihn gesehen habe, hat ihn vielleicht auch der andere gesehen.«
»Welcher andere?« forschte der Marshal aufhorchend.
»Der, der… der vielleicht auf ihn gewartet hat.«
Wyatt legte den Kopf auf die Seite und kniff das linke Auge ein. »Sie meinen, es hätte ihm jemand aufgelauert? Das ist nicht gut möglich. Wer sollte denn gewußt haben, daß er im Morgengrauen hier durch die Camps ritt?«
Duffy lächelte überlegen. »Hm, das weiß ich nicht. Aber vielleicht wußte er es doch. Jedenfalls kam er in großer Hast hinter ihm her.«
»Wer?« kam es schnell von den Lippen des Marshals.
»Ich kenne ihn nicht.«
»Ein Fremder?«
»Ja.«
»Das übersteigt schon das Geschenk, Mr. Earp.«
»Wie sah er aus?«
»Tut mir leid.« Wyatt nahm die Zehndollarnote an sich.
Der einstige Minenarbeiter schluckte, wobei sein spitzer Adamsapfel in grotesker Weise auf und nieder rutschte.
»Warten Sie, ich kann noch etwas dazugeben.«
»Bitte, ich warte.«
»Er hatte ein Gewehr in der Hand, eine Winchester. Mehr weiß ich nicht.«
»Er trug also keinen Waffengurt?«
»Nein.«
»Wie alt war er?«
»Das weiß ich nicht.«
»Zwanzig?«
»Nein.«
»Sechzig?«
»Nein.«
»Vierzig?«
»So ungefähr. Das heißt, er sah älter aus mit seinem Bart.«
»Er trug also einen Bart.«
»Ja.«
»Einen Vollbart?«
»Nein.«
»Einen Schnurrbart, wie Doc Holliday ihn trägt?«
»Nein«, lächelte der Minenarbeiter, »so sauber sah er nicht aus. Weiß Gott nicht.«
»Lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen, Mann! Reden Sie doch, wenn Sie den Mann gesehen haben!«
»Ich weiß ja nicht, ob er der Mörder war. Ich habe lediglich einen Mann ziemlich eilig aus der Gasse kommen sehen, als Cornelly gerade vorbei war.«
»Aus welcher Gasse?«
»Er kam drüben aus dem schmalen Weg, der zwischen diesen alten eingefallenen Hütten hindurch zu den Depots führt.«
»Jedenfalls ist Ihnen der Mann aufgefallen?«
»Nein, er ist mir nicht direkt aufgefallen. Denn, wenn ich gewußt hätte, daß er die Absicht hatte, Cornelly zu töten, hätte ich ihn mir ganz bestimmt genauer angesehen.«
Wyatt mußte zugeben, daß der kleine Jim Duffy doch eine ganze Menge beobachtet hatte – wenn es überhaupt der Wahrheit entsprach.
»Und der Mann folgte Cornelly also?«
»Ja, das tat er.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich in den Hof ging. Von dort aus kann man die Straße bis hinauf zur Stadt genau beobachten.«
Wyatt Earp wandte den Kopf ein wenig zur Seite.
»Haben Sie alles mitgekriegt, Doc?« sagte er etwas lauter.
Die Tür wurde wieder geöffnet, und der Spieler streckte seinen Kopf herein. »Ja, Marshal, alles.«
»All right. Dann können wir ja gehen.«
Da stürzte sich der Spitzmausmensch auf die Geldnote und riß sie an sich. Hastig verbarg er sie mit taschenspielerhafter Geschwindigkeit in seiner rechten Manschette.
Der Marshal schüttelte den Kopf, verabschiedete sich und ging mit Doc Holliday hinaus.
»Ich muß noch einmal mit Rozy Ginger sprechen.«
Holliday nickte. »Glauben Sie, daß etwas dran ist?«
Wyatt zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.
»Das kann man nicht wissen. Unmöglich ist es nicht. Aber es ist natürlich auch nicht ausgeschlossen, daß der Kerl sich die Sache aus den Fingern gesogen hat, um das Geld zu bekommen.«
»Ich glaube nicht, daß er das Ihnen gegenüber riskiert«, fand der Georgier.
Als der Marshal Rozy Gingers Bar wieder betrat, lehnte Jonny Ringo noch an der Theke.
Der Coltman blickte über die Schulter zurück. Als er den Marshal erkannte, fuhr er so hart herum, daß er zwei Gläser herunterstieß.
Wyatt blieb drei Schritte vor ihm stehen und nickte ihn an.
Der aufgeputzte Kartenhai wurde nervös, ging zwei Schritte von der Theke weg, und machte dann einen großen Bogen um den Marshal.
»Es ist zum Wimmern! Nirgends kann man sich ungestört aufhalten. Immer taucht er irgendwo auf, der Wolf!«
Er näherte sich rasch der Tür und rief: »Aber ich habe es Ihnen ja prophezeit, Earp, einer nach dem anderen kommt dran!« Dann pendelte die Tür hinter ihm zusammen.
Wyatt blickte die Saloonerin an. »Tut mir leid, daß ich einen Ihrer wertvollen Gäste vertrieben habe, Miss Ginger, wahrscheinlich hat er nicht bezahlt.«
»Ach, das passiert ihm öfter.«
»Ich bin noch einmal zurückgekommen, Miss Ginger, weil ich Sie warnen muß.«
»Warnen, mich?« fragte sie erschrocken.
»Ja. «
»Vor wem?«
»Vor einem Mann. Er ist mittelgroß, an die Vierzig, trägt einen zottigen Schnauzbart – und ein Gewehr.«
Mit der Wirtin war eine seltsame Veränderung vor sich gegangen. Unablässig zuckte es in ihrem Gesicht, und ihre Hände zitterten. Sie kam langsam um die Theke herum und blieb vor dem Marshal stehen.
»Das … ist er…«
Der Marshal griff nach ihrer Hand.
»Rozy, jetzt sagen Sie endlich, was Sie wissen!«
Der Unterkiefer der Frau zitterte. Klappernd schlugen ihre Zähne aufeinander, und dann wandte sie sich plötzlich um und rannte hinaus.
Wyatt blickte ihr nach und verließ dann ebenfalls die Schenke.
Rozy stand im Korridor, den Kopf zurück an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, Herzklopfen vor Erregung.
Da zuckte sie plötzlich zusammen.
Hinter ihr war ein Geräusch gewesen. Sie blickte erschrocken durch den Flur und sah, wie sich vor dem kleinen Fenster in der Hoftür die Konturen eines Mannes abhoben. Das heißt, sie sah nur einen Teil seines Kopfes und seiner Schulter. Aber das genügte ihr. Sie erkannte den Mann sofort.
Es war Kilby!
»Na, Rozy, mich hätten Sie wohl nicht erwartet? Kann ich mir denken, bin ja auch nicht so attraktiv wie der Marshal.«
Dann ging er langsam auf sie zu. Bei jedem Schritt, den er näher kam, zuckte die Frau zusammen. Er trat so nahe, daß sein Atem ihr wie eine Flamme entgegenschlug.
»Ja, meine Liebe, da bin ich wieder.«
»Was wollen Sie?« keuchte die Frau, während sie die Hände gegen die kühle Flurwand legte.
»Was ich will? Das liegt doch wohl auf der Hand. Ich will mit Ihnen sprechen.«
»Worüber?«
»Hm, es gibt ganz sicher eine ganze Menge, worüber wir beide reden könnten. Zum Beispiel über Cornelly… Sie kennen ihn doch?«
Da wich die Frau nach links zurück.
Der Mann folgte ihr sofort.
»Laufen Sie nicht weg, Sweety, das wird Ihnen nichts nützen. Wir beide gehören zusammen.«
»Zusammen?« entgegnete sie empört. »Ich wüßte nicht, was mich mit Ihnen verbindet.«
Ein zynisches Lächeln stand in den kalten Augen des Mörders.
»Ein Geheimnis, Rozy Ginger.«
»Ich teile kein Geheimnis mit Ihnen.«
»Doch!« fauchte der Mann, und in seinen Augen glomm es böse auf. »Wir haben beide einen Mord beobachtet.«
Fassungslos vor so viel Gefühlskälte erschauerte die Frau. Sie glaubte, das Blut müsse in ihren Adern gefrieren.«
»Sie geben es also zu?« fragte sie mit brüchiger Stimme.
»Was gibt’s da zuzugeben? Sie haben es ja beobachtet. Sie sind meine Mitwisserin. Und damit wir uns jetzt richtig verstehen, Rozy Ginger, auf Mitwisserschaft an einem Mord steht Zwangsarbeit. Das wissen Sie so gut wie ich. Sie sind also ebenso schuldig wie ich. Der Marshal hat Sie meinetwegen befragt. Sie haben mich nicht verraten!«
»Verraten?« stieß sie entrüstet hervor. »Das ist eine Unverschämtheit. Es hatte nichts mit Verrat zu tun. Ich hatte nur Angst.«
»Eben, eben, Sweety, das ist es ja, was uns verbindet. Die Angst und unser schönes Geheimnis. So, und nun kommen Sie in die Küche und machen Sie mir etwas Gutes zu essen. Ich habe einen Bärenhunger.«
Sie wich bis an die Tür, die zum Saloon führte, zurück.
»Verschwinden Sie, sonst rufe ich ihn zurück!«
»Das sollten Sie wagen!« stieß der Mann hervor. »Eher bringe ich Sie um!«
»Lassen Sie mich in Ruhe! Verlassen Sie mein Haus.«
»Erst möchte ich etwas zu essen haben.«
Er blieb stehen und blickte sie aus kalten, glanzlosen Augen an.
Willenlos ging sie hinüber in den Küchenraum und machte sich am Herd zu schaffen.
Er folgte ihr, ließ sich an einem kleinen Tisch nieder und wartete.
Als er gegessen hatte, verlangte er einen Fire point.
Rozy ging in den Schankraum, nahm die Flasche mit dem Fire point und ein Glas, kam zurück in die Küche und stellte beides vor ihn hin.
Dann ging sie hinaus.
Der Saloon war immer noch leer.
Der diesmal so sehnlichst von ihr herbeigewünschte Marshal kam nicht zurück.
Und es ließ sich auch sonst kein Gast sehen, den sie hätte um Hilfe anflehen können.
Da wurde die Tür hinter der Theke geöffnet, und Kilbys Kopf erschien.
»Sweety, komm mit ein paar Dollars über!«
Rozy fuhr herum, als wäre sie von einem giftigen Insekt gestochen worden.
»Sie Unverschämter!«
»Nicht so laut und nicht so übereilt, Kleine! Sie wissen schließlich, was auch für Sie auf dem Spiel steht. Also los, zwanzig Dollar!«
Verzweifelt griff sie in die Zigarrenkiste, in der sie ihr Geld aufbewahrte, und warf ihm ein Zwanzigdollarstück zu.
»Kommen Sie bloß nicht wieder!«
»Aber selbstverständlich komme ich wieder. Und zwar heute abend!«
Rozy preßte die Lippen aufeinander und gab der Tür einen Tritt.
Aber sie wurde sofort wieder geöffnet, und Kilbys Augen blitzten ihr entgegen.
»Wissen Sie, Rozy, Sie fangen an mir zu gefallen.«
Sie drehte sich abrupt um, ging um die Theke herum in den Schankraum, wo sie die Stühle vor den Tischen ordentlich hinstellte.
Als sie vor einem der Straßenfenster stand, zuckte sie zusammen.
Ein Reiter kaum von den Miner-Camps her in die Gasse und hielt vor dem Hof der Flanagans.
Es war Kirk McLowery.
»Hat dieser Mensch Nerven!« flüsterte sie tonlos vor sich hin.
Und dann dachte sie an den Mann im Flur. Ob Kirk ihr nicht gegen ihn helfen konnte?
Aber nein. Bei einem Desperado würde sie keine Hilfe gegen einen anderen Outlaw suchen.
Da hörte sie von der Thekentür her die zischende Stimme des Mörders.
»Keine unnützen Überlegungen, Sweety. Je mehr Mitwisser Sie sich verschaffen, desto größer wird das Loch in Ihrer Kasse.«
Rozy griff nach einem metallenden Aschenbecher und umspannte ihn mit ihrer kleinen Hand.
»Ich könnte Sie…«
»Na, was könnten Sie denn?«
Da waren Schritte auf dem Vorbau zu hören.
Die Saloonerin sah, daß Kirk McLowerys Pferd allein drüben vor dem Tor stand.
Der Desperado war also auf dem Vorbau.
Und dann kam er auch schon am Fenster vorbei, hatte die Tür erreicht, blieb argwähnisch stehen und warf einen forschenden Blick in den Schankraum.
Lautlos hatte Kilby die Tür hinter der Theke geschlossen.
Kirk McLowery kam nicht herein. Als er das Gesicht der Saloonerin erblickte, wandte er sich um und ging über die Straße zurück zu den Flanagans.
Rozy rannte durch den Schankraum und riß die Tür zum Flur auf. Leer! Der Erpresser hatte sich davongemacht. Aber sie wußte, daß er wiederkommen würde – heute abend schon.
Angst saß ihr wie eine stählerne Klammer im Genick.
*
Luke Short hatte sich auf die Pritsche gelegt und war tatsächlich eingeschlafen.
Es dämmerte schon, als er durch ein Geräusch geweckt wurde.
Er blinzelte durch die Eisentrallen und sah, daß ein Mann das Office betreten hatte.
Gegen das Straßenfenster erkannte er ihn: es war Jonny Behan.
Er ging an seinen Schreibtisch, nahm einige Papiere aus der Lade, schob sich sein Tintenfaß zurecht, setzte sich hin und ergriff den Federkiel.
Den Mann hinten in der Zelle schien er gar nicht bemerkt zu haben.
Da lachte der Texaner dröhnend auf.
Behan zuckte zusammen.
Entweder hatte er wirklich nicht gewußt, daß der Gefangene drüben in der Zelle saß, oder er hatte ihn vergessen. Sein Erschrecken schien jedenfalls echt zu sein.
»Sagen Sie, Behan, wie lange soll dieses Affentheater hier noch dauern? Glauben Sie vielleicht, ich hätte Lust, hier zu siedeln?«
Da stand der Papier-Sheriff – wie ihn Doc Holliday einmal sehr treffend genannt hatte – auf, kam langsam auf die Zellen zu, blieb aber in gehörigem Abstand stehen, so daß der Gefangene ihn mit seinen langen Armen nicht erreichen konnte.
Ein konvulsivisches Zucken durchlief sein Gesicht.
Sollte es ein Lachen sein?
Und jetzt kicherte er tatsächlich. Hektisch, abgerissen, krankhaft.
Dieser Mann kann nicht normal sein! zuckte es durch das Hirn des Texaners.
Luke stand auf und kam an die Trallen.
Das irre Lachen brach ab. Der Hilfssheriff wich zurück.
»Sind Sie übergeschnappt, Behan?« fragte der Texaner leise.
»Ich? Nein, nein«, haspelte er. »Aber es ist aus, Short! Aus! Sie sind der erste, dann kommen die anderen dran. Einer nach dem anderen. Genau nach Plan.«
»Ach, du armseliger Strolch hast das ausgeheckt?«
»Ich? Nein, nein. So dumm ist Jonny Behan nicht. Auf keinen Fall.
Man weiß ja nie, was Wyatt Earp und der Doktor noch für ein Feuerwerk loslassen. Aber Sie sitzen erstmal drin, Tex. Hihihihi.«
Er muß wirklich geistesgestört sein! dachte der Riese, nahm eine seiner Strohhalmzigarren aus der Tasche, schob sie zwischen die Zähne und riß ein Zündholz an.
Behan war noch einen halben Schritt zurückgewichen. Seine Furcht vor dem Hünen war ungeheuer.
»Das ist meine Rache!« keuchte er. »Immer bin ich von dem Marshal hin und her geschoben worden. Wie einen Schuljungen hat er mich behandelt, der große Earp. Aber jetzt kommt die Abrechnung. Die Endabrechnung. Und ich brauche sie nicht einmal selbst vorzulegen. Dafür habe ich meine Leute.«
Luke Short hatte den Kopf etwas gesenkt.
»Deine Leute? Willst du blutarmer Wicht mir vielleicht erzählen, daß du hier auch etwas zu sagen hast?«
»Nein, nein, die Absicht habe ich nicht. Das wißt ihr zu gut, ihr Wölfe! Aber ich schiebe die anderen wie Schachfiguren vor mir her. Alle. Den aufgeblasenen Ringo voran, dann den einfältigen Claiborne, James Brocius, den Muskelprotz, und wie sie alle heißen. Sie werden für mich arbeiten. Auch Larry Lemon und die anderen, die mit ihm gekommen sind. Alle erledigen sie meine Arbeit.«
»Aha. So rollt das also?«
»Ja, so rollt es. Das ist meine Rache! Sie machen euch fertig – für mich.«
»Das heißt, sie holen für dich die Kastanien aus dem Feuer?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen, Short. Jedenfalls stille ich jetzt meinen Rachedurst. Ihr werdet aufgeknüpft. Einer nach dem anderen. Sie zuerst. Und dann der Doc. Zum Schluß kommt er, der große Earp, an die Reihe! Es wird der schönste Tag meines Lebens sein.« Er hatte am Schluß immer schneller gesprochen. Nicht laut, aber hechelnd und in abgerissenen Sätzen, wobei sein Kopf hin und her pendelte und die Laute wie Giftpfeile auf die Zelle zuschossen.
Jetzt bestand für den Texaner kaum noch ein Zweifel daran, daß er es mit einem Geistesgestörten zu tun hatte. Sonderbar, daß man das bisher nicht bemerkt hatte, dachte Luke Short. Aber es lag wohl daran, daß man den Mann kaum beachtet hatte. Er war keine Persönlichkeit, hatte nichts dargestellt und war also auch nicht ernst genommen worden.
Behan hatte den linken Arm quer vor die Brust gelegt und den rechten Ellbogen auf die Faust gestützt, die linke Hand hatte er am Kinn. Fast versonnen blickte er auf den herkulisch gebauten Mann in der Zelle.
»Es wird mir eine Freude sein, unterm Galgen zu stehen und Sie hängen zu sehen, Luke Short. Sie und den feinen Dr. Holliday und den berühmten Wyatt Earp. Am liebsten alle drei an einem Tag. Ich werde jubeln, jubeln! – Aber natürlich nur innerlich«, setzte er hechelnd hinzu. »Es ist mir ja auch bisher gelungen, mich von den rauhen, gerährlichen Dingen fernzuhalten. Aber neulich, da hat es mich erwischt, im Gerichtssaal, als Wyatt Earp mir die Gefangenen aufdrängte. Er veranlaßte den Richter, mich mit den Gefangenen auf den weiten Ritt nach Phoenix zu schicken. Das werde ich ihm nie verzeihen!«
»Well«, meinte der Texaner gelassen, »du hast ja auch nicht viel Arbeit mit den Boys gehabt, Behan. Sie sind ja – einer nach dem anderen – zurückgekommen. Und ich wette, die, die nicht zurückgekommen sind, haben sich in anderer Richtung davongemacht. Wenn du in Phoenix warst, dann will ich ab sofort Behan heißen, wenn mir das auch verteufelt unangenehm wäre.«
»Das könnte Ihnen so passen. Behan zu heißen, sich mit einem so ehrbaren Namen zu belegen. Nein, Sie sind der armselige Luke Short, der lange Bursche aus Texas mit den Bärenkräften, die ihm gar nichts nützen werden, wenn er erst am Strick hängt!«
Eine dröhnende Lache brach von den Lippen des Riesen.
»Du bist verrückt, Behan. Ich habe schon lange gewußt, daß du nicht alle Henkel an den Tassen hast, aber daß du lauter Scherben im Kopf hast, das weiß ich erst seit heute!«
Jonny Behan machte zwei Schritte vorwärts, geduckt stand er da, den Kopf vorgestreckt und zischte: »Reden Sie nur! Brüllen Sie! Schreien Sie! Das wird Ihnen nichts nützen! Gar nichts! Sie sitzen in der Mausefalle! Einen Fuchs, ach, was sage ich, einen Wolf habe ich in der Falle! Hihihihi!«
Er wandte sich abrupt um und ging hastig zur Tür.
»Ich muß machen, daß ich wegkomme, denn ich lege nicht den geringsten Wert darauf, hier von jemandem gesehen zu werden, der nachher gegen mich aussagen könnte, ich hätte gewußt, daß Sie hier in der Zelle sitzen. Hihihihi.«
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
*
Wyatt Earp und Doc Holliday befanden sich wieder auf dem Weg in die Miner Camps. Als sie in die Nähe von Duffys Hütte kamen, bogen sie links in den überwachsenen Pfad ein, der von eingefallenen Hütten gesäumt wurde und hinten an dem alten Depot endete. Es hatte den Anschein, daß auch die Hütten, die noch ein Dach hatten, unbewohnt waren.
»Trostlose Gegend«, meinte Doc Holliday und deutete dann auf eine Hütte, die etwas zurücklag. »Wenn er sich da aufgehalten hatte, könnte er tatsächlich einen Blick auf die Straße geworfen haben.«
»Ist doch aber ziemlich unwahrscheinlich«, fand der Marshal, stieß die Tür der Hütte auf und warf einen Blick in das Innere der verlassenen Behausung. Nein, hier hatte sich in den letzten Monaten wohl kaum ein Mensch aufgehalten. Der Staub auf den Brettern und Wandresten die auf dem Boden lagen, war so dick, daß darauf jede Spur leicht zu erkennen gewesen wäre.
Die beiden Dodger setzten ihren Weg fort.
Hinter den letzten Hütten erhob sich der längliche Bau des Depots. Auch diese Lagerhütte stand seit langem leer und diente ganz sicher nur Ratten und anderem Getier als Unterschlupf.
Wyatt Earp ging um den Schuppen herum, während Doc Holliday vorn an der vernagelten Tür stehenblieb.
Der Marshal hatte die hintere Ecke des Schuppens erreicht, als er den Schritt verhielt. Rechts an der Wand war ein Fenster, dessen zertrümmertes Glas in vielen kleinen Scherben außen am Boden lag. Und mitten in diesen Glasscherben und Splittern war der scharfe Abdruck eines Stiefels zu sehen. Und zwar solcherart, daß man leicht daraus schließen konnte, daß der Besitzer dieses Stiefels hier aus dem Fenster gesprungen war.
Der Marshal trat an den Rahmen heran, schob den Kopf vor und sah rechts unter dem Fenster zusammengerollte Decken auf einem Strohlager liegen.
Er ging rasch zurück und unterrichtete den Spieler von dem, was er entdeckt hatte.
Holliday blickte an dem Lagerschuppen entlang, und meinte leise: »Das wäre natürlich eine Möglichkeit. Wenn es diesen Mann mit dem Gewehr tatsächlich geben sollte, dann kann er hier im Schuppen sein Quartier gehabt haben und dort, wo er sein Lager hat, kann er weit in die Savanne hinausblicken. Wenn er nun ein Bekannter von Cornelly war, so ist es nicht ausgeschlossen, daß er ihn hier vom Fenster aus hat kommen sehen.«
»Richtig«, entgegnete der Marshal. »Aber der Zeitpunkt ist doch recht unwahrscheinlich. Warum sollte der Mann ausgerechnet morgens um fünf Uhr am Fenster stehen, in die Savanne hinausblicken und einen Mann erwarten, den er doch eigentlich gar nicht erwarten konnte? Ohne unser Eingreifen in Nogales wäre Cornelly doch gar nicht auf den Gedanken gekommen, die Stadt zu verlassen.«
Sie gingen um die andere Seite der Hütte herum und blickten durch eine kleine Luke, die aber noch verglast war, in den länglichen Raum. Jetzt konnten sie das Lager unter dem Fenster ganz deutlich erkennen.
»Wir wollen uns nicht länger hier aufhalten, damit uns die Leute drüben in den Hütten nicht sehen. Sonst warnen sie den Mann vielleicht«, meinte der Missourier.
»Sie rechnen also damit, daß er wiederkommt?«
Wyatt zog die Schultern hoch. »Ausgeschlossen ist es schließlich nicht.«
Holliday schob sich plötzlich seinen schwarzen Stetson aus der Stirn und pfiff leise durch die Zähne. »Wie wäre es denn, wenn unser Mann auch in Nogales gewesen und die Stadt noch vor uns und auch vor Cornelly verlassen hätte? Es wäre doch möglich, daß er einer von Cornellys Kumpanen ist, der ihm hier aus irgendeinem Grund aufgelauert hat.«
Der Marshal nickte. »Das ist nicht ausgeschlossen.«
So waren die beiden Dodger dem Mörder Kilby schon hart auf die Spur gekommen.
Als sie sich umwandten, um auf die Hüttenstraße zurückzugehen, blieb Wyatt Earp plötzlich stehen.
»Da! Drüben links, an der windschiefen Hütte hat sich eben etwas bewegt«, flüsterte er dem Gefährten aus dem Mundwinkel zu.
Sie gingen weiter, als ob sie nichts bemerkt hätten, und als sie auf gleicher Höhe mit der Hütte waren, trennten sie sich plötzlich und rannten mit raschen Schritten auf die verfallene Bude zu.
Wyatt Earp lief links und Doc Holliday rechts herum.
»Kommen Sie her, Marshal!« rief der Spieler da.
Als Wyatt Earp herankam, sah er einen Mann vor dem Georgier stehen. Er war mittelgroß, sah blaß und krank aus, hatte eins stoppelbärtiges Gesicht und seltsam glanzlose Augen. Irgend etwas an diesem Gesicht erinnerte den Marshal an den Ausdruck, den man häufig in den Gesichtern Geistesgestörter finden konnte.
Es war schwer zu sagen, wie alt der Mann war, vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig oder sogar noch älter. Er trug keinen Hut, ein kragenloses, schmieriges, verwaschenblaues Hemd, eine viel zu große Hose, zerlöcherte Stiefel, und in der linken Hand hielt er einen Topf, der wie ein Hundenapf aussah.
»Du wohnst hier?« fragte ihn der Marshal.
Der Mann nickte und lächelte stumpf.
»Jajajaja!«
»Wohnst du allein hier?«
»Jajajaja!«
Plötzlich wurde hinter dem Georgier eine Tür aufgestoßen.
Holliday wirbelte herum und hatte beide Revolver in den Fäusten. Es war einfach verblüffend mit anzusehen, wie reaktionsschnell der Mann aus dem fernen Georgia doch war. Wyatt wußte nicht, wohin er blicken sollte: auf den phantomhaft herumwirbelnden Gambler oder auf die uralte Frau, die jetzt in der halboffenen Tür erschien. Sie war groß und hager, hatte ein eingefallenes Gesicht, und ihr zahnloser Mund stand offen.
»Sie sprechen mit meinem Sohn?« fragte die Alte mit hoher Greisenstimme.
»Ja, wir trafen ihn hier, Mrs.…«
»Ich bin Margaret Clanton.«
Es hätte nicht viel gefehlt, und den beiden Dodgern wäre ein Ausruf der Überraschung entfahren.
»Clanton?« fragte der Marshal verblüfft.
»Ja, Clanton. Ich glaube, Sie sind Wyatt Earp, nicht wahr? Und das ist dann wohl Doc Holliday?« Die Alte wies mit einem spindeldürren Zeigefinger auf den Spieler.
Die beiden Dodger wechselten einen raschen Blick miteinander, dann nickten sie, und der Marshal fragte: »Sind Sie mit den Clantons auf der Ranch verwandt?«
»Ja, entfernt. Der alte Nick war ein Vetter meines Mannes. Wir wohnen schon lange hier. Als mein Mann noch lebte und unser Georg, da ging es uns nicht schlecht. Sie arbeiteten in den Minen. Aber seit die Arbeiten oben an den Silberadern eingestellt worden sind wegen der vielen Unglücke und seit Georg in den Bergen ist, seitdem geht es uns nicht gut. Und Flepp, sehen Sie mein armer Flepp: ja, der liebe Gott hat es nicht sehr gut mit ihm gemeint.«
Flepp stand da, lachte dumm und klopfte mit der flachen Hand an den Boden der Hundeschüssel.
Schon wollte der Missourier sich abwenden, als er hörte, wie der Spieler die Frau fragte: »Wir suchen den Mann, der da hinten im Depot schläft.«
»Den Mann? Den kenne ich nicht!«
»Aber Sie haben ihn doch schon gesehen?«
»Nein! Nein!«
»Kilby! Kilby! Kilby! Kilby!« rief da der Schwachsinnige.
»Well, Mrs. Clanton, dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten. Alles Gute für Sie und auch für Flepp!«
Der Gentleman-Gambler nahm eine Fünfdollarnote aus der Tasche und reichte sie der Frau.
Die spinnenartige Hand der Frau schnappte nach dem Geldschein und ließ ihn augenblicklich in der Schürzentasche verschwinden. »Los, Flepp, geh den Gentlemen aus dem Weg! Siehst du nicht, daß du sie störst? Wie kannst du so feinen Leuten im Weg stehen…«
»Hehehehehe«, lachte der Kranke und schlug mit der Hand trommelnd auf den Topfboden. Sie hörten sein Lachen und das dumpfe Dröhnen der seltsamen Trommel noch, als sie schon auf dem Weg durch die Miner-Camps waren.
Der kleine Duffy lehnte neben seiner Haustür und nagte an seiner Maiskolbenpfeife.
Wyatt sah, daß er die andere Hälfte der guten schwarzen Zigarre in seinem ›Schmortopf‹ verqualmen ließ.
»Ein Jammer um das prächtige Kraut«, meinte der Spieler.
Als sie auf der gleichen Höhe mit dem Zwerg waren, blickte der in die andere Richtung der Gasse. Der gerissene Bursche hütete sich, vor den Nachbarn ein Einverständnis mit dem Marshal zu zeigen.
Wyatt sann noch immer über das makabre Erlebnis nach, das sie soeben hinter sich gebracht hatten.
»Was er wohl mit dem Wort Kilby gemeint hat?«
Holliday zuckte die Schultern. »Ich glaube, ebensogut hätte er auch Wyatt, Wyatt, Wyatt oder sonst einen Namen rufen können. Es ist etwas, das sich in seinem Schädel festgesetzt hat und das solche Menschen dann eine ganze Weile beschäftigt…«
Die Suche nach dem Mörder Jeff Cornellys hatte sie auf eine Fährte gebracht, von der sie noch nicht wußten, wohin sie führen würde.
Es war Abend geworden, als die beiden ins Hotel zurückkehrten.
Nellie Cashman kam ihnen in der Halle entgegen.
»Wo ist Mr. Short?« erkundigte sich der Marshal sofort.
»Mr. Short? Der ist doch schon lange weg. Warten Sie, er hat hier an der Rezeption eine Nachricht für Sie hinterlassen.«
Sie trat an das Pult, nahm den Zettel und reichte ihn dem Marshal.
Der faltete ihn auseinander. »Er schreibt, daß er im Oriental Saloon ist«, meinte der Missourier zu Holliday gewandt und machte auf dem Abstatz kehrt.
»Sie wollen schon wieder gehen?« erkundigte sich die Hotelinhaberin.
»Wir kommen gleich zurück«, entgegnete der Marshal im Hinausgehen.
Im Orient Saloon waren nur drei Gäste an der Theke. Den Keeper kannte Wyatt nicht. Die Tische waren noch alle unbesetzt.
»Wo ist der Salooner?«
»Er liegt oben im Bett, Marshal. Er ist krank, schon seit gestern.«
»Wo mag Luke hingegangen sein?« überlegte der Spieler, als sie wieder auf der Straße waren.
Sie suchten ihn im Occidental Saloon und in Harpers Bar, dann waren sie im Morrison Saloon und schließlich in der Alhambra-Bar.
»Vielleicht ist er im Crystal Palace«, meinte der Marshal zögernd.
»Das glaube ich nicht«, versetzte Doc Holliday, »Aber ich werde nachsehen.«
Als er zurückkam, schüttelte er den Kopf. Plötzlich blieb der Georgier stehen: »Allmächtiger! Das habe ich ja ganz vergessen!«
»Was?« Wyatt blickte ihn fragend an. »Ich war doch mit Laura Higgins zum Abendessen im Crystal Palace verabredet.«
»Ein Gentleman sind Sie! Unerhört!« Earp schüttelte den Kopf. »Wie kann man eine Dame nur warten lassen«, setzte er dann spöttisch hinzu.
Holliday rieb sich das Kinn und blickte an der pompösen Fassade des Grand Hotels hinauf. »Ich werde mich bei ihr entschuldigen. Bin gleich zurück.«
Er betrat die Halle des Hotels, und der Mann an der Rezeption deutete eine Verbeugung an, als er seiner ansichtig wurde.
»Wo wohnt Miss Higgins?«
»Auf Zimmer sieben, Doc.«
Holliday stieg mit schnellen Schritten über die läuferbelegte Treppe zum Obergeschoß hinauf und klopfte an die Tür, auf der eine große 7 aus Messing angebracht war.
»Wer ist da?«
»Holliday.«
Sofort wurde die Tür geöffnet. Laura Higgins ließ ihn eintreten, lehnte sich an die Wand und blickte an ihm vorbei.
Holliday zog seinen Hut. »Es tut mir leid, Laura, aber ich bin aufgehalten worden. Vielleicht könnten wir ein andermal…«
»Verzichte!« fauchte die Frau und schleuderte eine Puderdose auf die Erde, daß der duftende Staub sekundenlang wie eine rosarote Wolke mitten im Zimmer stand.
»Ich weiß, Sie sind abgehalten worden! Von Wyatt Earp wahrscheinlich, weil Sie wie ein Zigeuner mit ihm durch die Stadt und die Umgebung streifen müssen! Weil Sie irgendeinen Banditen suchen, wahrscheinlich…«
»Woher wissen Sie das?« fragte der Spieler.
»Ha«, die Frau lachte spöttisch auf, »woher ich das weiß? Weil es immer das gleiche ist! Weil Sie mit ihm immer irgendeinen Banditen suchen! Wer ist es denn heute? Miller, Gilbert, Howard, Donegan oder einer der Clantons? Aber warten Sie nur, eines Tages werden die Tramps dem großen Marshal den kleinen Hilfsmarshal aus dem Rücken wegschießen.«
Holliday setzte seinen Hut auf und wollte hinaus.
»Leben Sie wohl, Doc!« rief die Frau. »Und einen schönen Gruß auch an den Marshal! Und meinetwegen auch an das lange Untier aus Texas!«
Der Georgier blieb auf der Schwelle stehen, wandte sich dann langsam um und schloß die Tür hinter sich.
»Wo ist Luke Short?«
Laura Higgins sah verwundert auf. »Was weiß denn ich? Fragen Sie doch die anderen.«
»Die anderen? Wen?«
»Ihre Freunde. Ich weiß es nicht. Was kümmert es mich.«
Da ging der Georgier auf sie zu und senkte seinen Blick in ihre Augen. »Laura«, fragte er noch einmal, »wo ist Luke Short?« Er hatte so leise gesprochen, daß es kaum zu verstehen war. Dennoch war jedes seiner Worte in ihr Herz gedrungen. Sie brauchte alle Willenskraft, um sich von dem Bann zu lösen, in den sie die Augen des Mannes schlugen.
Sie wich einen Schritt zurück. »Ich weiß es nicht, Doc.«
»Ich werde Sie nicht dreimal fragen, Laura Higgins.«
»Was wollen Sie denn? Schlagen Sie mich doch, töten Sie mich!« Plötzlich sank sie auf einen Stuhl und begann hemmungslos zu schluchzen.
Was den Marshal vielleicht jetzt doch erweicht hätte, verjagte den Spieler. Er ging zur Tür.
Da warf die Frau den Kopf herum und blitzte ihn aus ihren smaragdgrünen Augen haßerfüllt an. »Ja, gehen Sie nur, John! Ich hasse Sie, ich verachte Sie. Und ich weiß, es wird die Stunde kommen, wo ich Sie tot im Staub der Straße neben Ihrem großen Freund Wyatt Earp liegen sehe!« Sie rang nach Atem, erhob sich, trat ans Fenster und schob die Gardine ein Stück zur Seite und starrte aus tränennassen Augen auf die Straße. »Ich möchte nur wissen, was Sie von ihm haben, von diesem Menschen, dessen Leben das Gesetz ist – und der Revolver und der Sattel!«
Doc Holliday hatte wenig Lust, sich auf eine Unterhaltung mit der Frau einzulassen. Dennoch vermochte er jetzt nicht zu schweigen. »Finden Sie, daß man immer etwas von einem Menschen haben muß, Laura Higgins?«
Die Frau blickte sich nicht um.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins, daß Sie einem Phantom nachjagen, John. Es ist ja gar nicht der Marshal, es ist auch nicht sein Ruhm, der Sie angelockt hat. Es ist etwas anderes, das Sie rastlos herumtreibt. Ich habe oft und lange darüber nachgegrübelt. Sie suchen den Tod. Und nirgends glauben Sie ihn sicherer zu finden als an seiner Seite.«
»Ich werde jetzt gehen, Miss Higgins«, entgegnete der Mann mit klirrender Stimme.
»Ja, gehen Sie nur, Doc. Da drüben steht Wyatt Earp. Ich sehe ihn. Er ist groß, breit und stark und strahlend. Wenn ich ihn sehe, wie er dasteht, möchte ich meine Schublade öffnen und meinen Derringer herausnehmen, und zum erstenmal in meinem Leben möchte ich eine Kugel abgeben – oder am besten gleich zwei. Schade, daß es kein Trommelrevolver mit sechs Schuß ist. Ich würde ihn durchsieben. Ein Stein würde mir von der Seele fallen, wenn ich das Blei von fünf Kugeln in seiner breiten Brust wüßte und seinen verfluchten Stern neben seinem reglosen Körper im Straßenstaub liegen sehen könnte!«
Es blieb einen Augenblick still. Dann fragte der Spieler halblaut: »Was haben Sie eigentlich gegen Wyatt Earp?«
»Was ich gegen ihn habe…« Sie brach ab, weil ihr plötzlich zum Bewußtsein kam, daß sie wirklich nicht wußte, was sie gegen den Marshal hatte und warum sie ihn haßte.
Haßte sie ihn überhaupt? Was ging er sie an? Was hatte er ihr je getan? Hatte er sie nicht – im Gegenteil – schon mehrmals aus brenzligen Situationen herausgerissen?
»Wissen Sie, Miss«, meinte der Georgier schließlich, »Sie machen sich da eine Menge unnötiger Gedanken.«
Laura Higgins wandte sich auch jetzt nicht nach ihm um, als sie sagte: »Unnötig sind diese Gedanken nicht, Dr. Holliday. Ich bin eine Frau und möchte mein Leben leben.«
»Leben Sie es denn nicht?«
»Nein. Ich existiere nur und bin krank vor Liebe zu einem Mann, der den Tod sucht.«
Doc Holliday griff rasch wieder nach dem Türknopf, fragte dann aber doch noch einmal: »Sie wissen also wirklich nicht, wo Luke Short geblieben ist?«
»Nein, ich weiß es nicht. Und ich will es auch gar nicht wissen. Er kümmert mich ebensowenig wie mich Wyatt Earp kümmert.«
Da ging Doc Holliday auf sie zu und blieb neben ihr am Fenster stehen. »Ich möchte mich noch einmal entschuldigen, daß ich das Abendessen versäumt habe, Laura. Es ist wirklich nicht mit Absicht geschehen.«
»Ja, ja«, sagte sie und vermochte den Blick nicht zu ihm aufzuheben.
Mit starren Augen blickte sie auf die Straße und auf den Marshal, der drüben auf der Vorbaukante stand und die Straße beobachtete. Plötzlich gewahrte sie den schnauzbärtigen Mann, der sich Kilby genannt hatte.
»Sehen Sie sich den an«, sagte sie leise. »Kreaturen laufen in dieser Stadt herum. Und jetzt schiebt er sich auch noch hinter den Rücken des Marshals. Ich wette, der Kerl ist irgendwo aus einem Straflager ausgebrochen. Kilby! Daß ich nicht lache…«
Doc Holliday ergriff sie am Arm und zog sie zu sich herum.
Laura Higgins erschauerte und starrte in seine Augen.
»Was haben Sie eben gesagt?« fragte er erregt.
»Was soll ich denn gesagt haben?« stotterte sie.
»Wie haben Sie den Mann genannt?«
»Kilby.«
Er zog den Vorhang zurück und deutete auf den untersetzten Mann, der eben im Eingang des Oriental Saloons verschwand. »Das ist Kilby.«
»Wie er wirklich heißt, weiß ich nicht. Aber er nannte sich Kilby…«
Mit einer flüchtigen Entschuldigung wandte sich der Spieler um und verließ eilig das Zimmer.
Als er unten aus dem Hoteleingang trat, fing er einen Blick des Marshals auf und deutete mit dem Kopf hinüber zum Oriental Saloon.
Wyatt wandte sich sofort um und ging auf die Schenke zu.
Holliday verschwand im Hof des Oriental Saloons und suchte den Weg durch die Hintertür in den Schankraum. Aber als er durch den Flur trat und die Tür zum Schankraum öffnete, konnte er den Mann, den Laura Higgins als Kilby bezeichnet hatte, nirgends entdecken.
Er sah Wyatt Earp am Eingang stehen, ging auf ihn zu und erzählte ihm mit kurzen Worten, was er von Laura Higgins erfahren hatte.
»Kilby?« Der Marshal griff sich an die Stirn. »Sollte dieser Flepp vielleicht doch nicht so verrückt sein?«
Er erkundigte sich bei dem Keeper, ob er den Mann gesehen hätte.
Der schüttelte den Kopf. »Nein, keine Ahnung.«
Die Männer an der Bar, die der Marshal nach Kilby fragte, schüttelten ebenfalls die Köpfe.
»Im Hof ist er auch nicht!« Doc Holliday lief trotzdem zurück und durchsuchte den Hof noch einmal, während Wyatt Earp in den Korridor trat und die Treppe hinaufging, um oben nachzusehen.
Als sie sich nach zehn Minuten auf dem Vorbau trafen, lag eine erfolglose Suche hinter ihnen.
»Mir ist ja schon eine ganze Menge passiert«, preßte der Missourier durch die Zähne, »aber so etwas noch nicht. Dieser Bursche wird ja allmählich unheimlich.«
Doc Holliday gab zu bedenken: »Vielleicht jagen wir da einem Phantom nach? Merkwürdig aber ist die Tatsache, daß der Bursche hier hereingegangen und dann spurlos verschwunden ist.«
»Ja, das ist auf jeden Fall merkwürdig. Aber er weiß doch nicht, daß wir ihn kennen, denn sonst wäre er nicht hier an mir vorbeigegangen. Aber wir können uns nicht mit ihm aufhalten. Der Bursche geht uns schon nicht durch die Lappen. Wir müssen jetzt zuerst Luke Short finden. Kommen Sie.«
»Wo wollen Sie hin?«
Doch der Marshal war schon wortlos mit langen Schritten vorausgeeilt.
Schräg gegenüber der Bäckerei des dicken Dommerch lag Jenny Waters Boardinghouse.
Es war ein schmalbrüstiges zweigeschossiges Haus, in dem etwa zehn Dauergäste ihre Zimmer hatten.
Unten im muffig riechenden Flur kam ihnen eine Frau mit einem Putzeimer entgegen.
»Ist Mr. Behan im Hause?« erkundigte sich der Marshal.
Die Frau stellte den Eimer ab und strich sich mit der Linken eine graue Haarsträhne aus der Stirn.
»Mr. Behan? Ja, ich glaube er ist oben.«
»In welchem Zimmer wohnt er?«
»Gleich die dritte Tür auf der rechten Seite.«
»Wyatt ging die Treppe hinauf, während der Georgier unten im Flur wartete.
Als der Marshal an die Tür klopfte, kam ihm der Sheriff schon entgegen. Er trug Pantoffeln, eine Hausjacke und auf der Nase eine Nickelbrille mit dicken Gläsern.
Als Wyatt ihn sah, winkte er ab, wandte sich um und ging wieder hinunter.
Doc Holliday blickte ihm verblüfft entgegen. »Was ist geschehen?«
»Nichts. Wenn ich den Burschen da oben schon sehe, habe ich genug. Kommen Sie.«
Sie gingen zurück in Nellie Cashmans Hotel, und Wyatt nahm in seinem Zimmer einen Revolver aus seinem Gepäck, den er sich oben in den Gurt schob.
Im Hof hatte Neger Sam schon die Pferde gesattelt. Kaum hatte der Schwarze den letzten Gurt festgezogen, als die beiden auch schon im Hof erschienen.
Wyatt zog sich in den Sattel, der Spieler folgte ihm, dann traten sie aus dem Hof und verließen die Stadt.
Fast achtzehn Meilen lagen vor ihnen.
Doc Holliday hatte nicht gefragt, wohin der Ritt gehen sollte. Er konnte es sich denken. Und schon bald merkte er an der Richtung, daß er sich nicht geirrt hatte.
Sie ritten zur Clanton Ranch!
Es war eine mondhelle Nacht, und sie kamen mit ihren schnellen Pferden rasch voran.
Als sie schließlich das mehrere Meilen lange berüchtigte Kaktusfeld hinter sich hatten, tauchten am Horizont die Lichter der Ranch auf. Das heißt, nur in einem Raum brannte Licht, und zwar fiel es durch dessen beide Fenster und war in der Nacht weithin zu sehen.
In voller Karriere schossen die beiden Hengste auf den weiten uneingezäunten Ranchhof.
Ein großer schwarzer Kater setzte mit einem weiten eleganten Sprung, als sei er schwerelos, über die Vorbaustufen, blieb dann stehen und blickte sich nach den beiden Männern um.
Es war unheimlich ruhig auf der Clanton Ranch.
Auch drinnen im Haus rührte sich nichts.
Ein großer Nachtvogel überflog mit schwerem Flügelschlag den Hof.
Wyatt hatte die Zügelleinen um einen Balken geschlungen und ging die Treppe des Ranchhauses hinauf.
Die Tür mit dem Fliegengitter stand offen. Die Holztür dahinter war zugezogen.
Er klopfte.
Es dauerte eine Weile, bis eine alte Frau öffnete.
Sie war grauhaarig, hatte ein schmales, hartes, verhärmtes Gesicht, in dem der Marshal nur wenig Ähnlichkeit mit den Gesichtern ihrer drei Söhne Isaac, Phineas und Billy finden konnte.
»Guten Abend, Mrs. Clanton. Kann ich Ike einen Augenblick sprechen?«
Die Frau wich einen Schritt zurück, so daß das Licht aus der Stube die Gestalt des Mannes beleuchtete.
»Wyatt Earp?«
Sie sah sich um. »Ike? Ich weiß nicht, ob er auf der Ranch ist.«
Da dröhnte die bährenhafte Stimme eines Mannes aus dem Hintergrund des großen Raumes. »Erzähl’ ihm doch keine Lügen, Mutter. Er weiß bestimmt, daß ich hier bin.«
Der knarrende, schwere Schritt des Ranchers war jetzt zu hören.
Die Frau trat zur Seite, und Ike Clanton erschien an der Tür. »Kommen Sie rein, Wyatt!«
»Nein, nicht nötig, Ike. Ich habe nur eine Frage an Sie. Das heißt, zwei Fragen.«
»Es sind sicher noch mehr. Kommen Sie rein!«
Wyatt überging die nicht eben freundliche Einladung. »Ist Phin zu Hause?«
»Nein.«
»Aber heute morgen ist er hier gewesen?«
»Nein, auch heute morgen nicht.«
Der Marshal blickte ihn forschend an.
Log dieser Mann ihm etwas vor?
»Wir waren in Nogales, Ike. Da hat sich Phin eine ziemliche üble Sache erlaubt.«
»Das geht mich nichts an.
»Kann sein. Aber ich hätte gern mit ihm gesprochen.«
»Ich habe Ihnen gesagt, daß er nicht hier ist.«
Wyatt fuhr sich mit dem Handrücken der Linken über das Kinn.
»Wissen Sie, wo Luke Short ist?«
Ike zog die Brauen zusammen. Seine Augen waren schmal geworden. Und seine Kinnmuskeln traten hart aus der Haut hervor.
Plötzlich erinnerte er den Marshal, wieder an den gefürchteten Bandenführer, der er einmal gewesen ist, an jenem heißen Tag drüben bei Haderyk, wo er in rasender Wut den herrlichen Schwarzfalben des Marshals niederschoß, um Wyatt Earp an seiner Verfolgung zu hindern. Er erinnerte ihn wieder an die vielen turbulenten Szenen auf der Tombstoner Allenstreet, als er mit diesem Mann gekämpft hatte. Und dann sah er plötzlich wieder die mörderische Minute im O.K.-Corral vor sich, in der Ike Clanton – mitten im Kampf, im Brüllen der Revolver – allen den Rücken gekehrt und davongegangen war.
Die Lippen des Ranchers sprangen jetzt auseinander, doch ohne die Zähne voneinander zu nehmen, antwortete er: »Nein, ich habe keine Ahnung, wo er ist. Hier ist er jedenfalls nicht.«
Wyatt stand gelassen vor ihm und stellte seine zweite Frage: »Kennen Sie einen Mann namens Kilby?«
Ike Clanton warf den Kopf herum und fixierte den Marshal scharf; dann zog er die Schultern hoch und breitete die Hände mit einer hölzernen Bewegung aus: »Eine Menge Leute heißen so. Wer soll denn das sein?«
»Ein mittelgroßer, untersetzter Bursche mit einem Schnauzbart – und ohne Revolver.«
»Ohne Revolver?«
»Ja, er hat nur ein Gewehr, eine Winchester.«
»Und was ist mit ihm?«
»Ich vermute, daß er heute morgen oben in Tombstone Jeff Cornelly erschossen hat.«
»Cornelly? Den Sheriff von Nogales?« Er schien offenbar nichts von dem zu wissen, was sich in der Stadt ereignet hatte, obgleich er heute morgen auf dem Graveyard gewesen war.
Der Marshal ließ ihn aus den Augen.
Tat Ike nur so oder wußte er tatsächlich nichts von dem Mord an Cornelly?
»Ich habe Hal und Ed Flanagan ins Jail gesteckt. Ed hatte Cornellys Pferd bei Grundram in der Sägemühle versteckt.«
Ike antwortete nicht darauf.
»Daß Jonny Ringo in der Stadt ist, haben Sie ja inzwischen selbst feststellen können.«
»Ich habe nichts mit ihm zu tun.«
»Ja, das sagten Sie heute morgen schon. Was ich Sie übrigens schon lange fragen wollte, Ike: Seit einiger Zeit terrosiert eine Horde von Banditen die Gegend hier.«
»Und was habe ich damit zu tun?«
»Das wüßte ich ja eben gern.«
Da schob der Rancher seine mächtigen beharrten Fäuste tief in die Taschen und knurrte: »Wenn wir noch lange hier an der Tür stehen, werden wir Wurzeln schlagen, Wyatt. Kommen Sie endlich ’rein. Ich muß noch irgendwo einen Tropfen Fusel haben – das heißt, wenn Phin ihn mir nicht ausgetrunken hat.«
»Das hat er bestimmt!« rief Doc Holliday unten von den Pferden her.
Ike schien ihn erst jetzt bemerkt zu haben.
»Ach, der Doc ist auch dabei. Nein, dann habe ich ganz bestimmt keinen Whisky mehr! Denn den Dreck, den Phin sich durch die Gurgel kippt, kann ich ihm nicht anbieten.«
»Als ich neulich von Shibells Ranch kam, wurde ich in den Kakteen von drei Leuten überfallen, die zu Ihren Cowboys gehörten«, unterbrach ihn der Marshal.
»Ich habe davon erfahren. Stones haben Sie ja schwer erwischt. Er wird zeitlebens etwas davon haben.«
»Er ist also nicht tot?« kam es heiser über die Lippen des Marshals; er atmete auf, denn es hatte ihn damals doch sehr bedrückt, den Mann, der ihn in den Kakteen heimtückisch angefallen hatte, vielleicht mit dem Abwehrschuß ausgelöscht zu haben.
»Die Burschen hatten graue Tücher vor den Gesichtern.»
»Ich weiß es nicht«, entgegnete der Rancher. »Ich glaube, daß eine Menge Halunken sich jetzt graue Tücher vor die Gesichter binden und Galgen in anderer Leute Höfe aufstellen werden…«
Damit hatte der einstige König von Arizona etwas ausgesprochen, das der Marshal schon längst befürchtete.
Dennoch wurde der Missourier ein Gefühl des Argwohns nicht los. Dieser Isaac Joseph Clanton hatte, so einfach und bäuerlich er sich jetzt auch gab, etwas Unheimliches, Rätselhaftes an sich. Worin es bestand, wußte der Missourer nicht zu sagen.
Er wandte sich ab, tippte an den Hutrand und wollte den Hof hinuntergehen.
Dann aber blieb er stehen, griff in seinen Waffengurt und nahm einen Revolver heraus.
Ike stand wie versteinert bei dieser Bewegung.
Wyatt schüttelte den Kopf und meinte: »Nein, Ike. Ich hoffe, daß die Zeit endgültig vorbei ist, in der wir uns mit der Waffe gegenüberstanden.«
»Und was wollen Sie mit dem Ding da?«
Der Marshal hielt ihm den Revolver mit dem Knauf voran entgegen.
Plötzlich wurden die Augen des Ranchers weit. Er hatte das in den Knauf eingravierte Andreaskreuz erkannt und griff mit einer schnellen Bewegung nach der Waffe.
»Billys Revolver!« entfuhr es ihm.
»Ja.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe ihn drüben in Costa Rica gefunden.«
»In Costa Rica?« fragte Ike verblüfft.
»Ja, und zwar in Stilwells Zimmer.«
»Dieser verdammte Strolch! Er muß ihn mir gestohlen haben.«
»Wo hatten Sie die Waffe denn?« erkundigte sich der Marshal.
»Sie hing hier bei uns im Wohnzimmer.«
»Dann hat er sie bestimmt nicht gestohlen«, kam Doc Hollidays Stimme unten von den Pferden her. »Wie ich Stilwell kenne, hat er nicht den Mut, sich bei euch etwas unter den Nagel zu reißen.«
»Wie soll er dann an das Schießeisen kommen?« forschte Ike erregt.
Schon lange wußte Wyatt, daß ihm Bruder Billy, der bei dem Gefecht im O.K.-Corral sein Leben gelassen hatte, mehr bedeutete, als Ike je hatte zugeben wollen. Er hatte dem damals siebzehnjährigen Burschen nie erlaubt, an den Ritten der Gang teilzunehmen. Wie oft hatte er ihn, wenn Auseinandersetzungen in Tombstone bevorstanden, wieder nach Hause geschickt. Vielleicht hatte ihn erst der Tod des Burschen so getroffen und aufgewühlt, daß er eingesehen hatte, was er durch seine ›Rebellion‹ angerichtet hatte. Er selbst hatte sich niemals für einen Banditen gehalten und sich immer dagegen gewehrt, als Verbrecher abgestempelt zu werden.
»Ich bin ein Rebell«, hatte er verkündet. »Ich bin ein Mann, der sich nicht von dem Unsinn, den sie Gesetz nennen, unterkriegen läßt. Ich bin ein Mann der Freiheit! Und ich werde für die Freiheit dieses Landes kämpfen!«
»Ich möchte bloß wissen, wie dieser Schurke an den Revolver kommt!« krächzte er jetzt mit rostiger Stimme.
»Vielleicht hat Phin ihn im Pokerspiel an ihn verloren!« meinte Doc Holliday.
Ike schob die Unterlippe vor und nickte.
»Ja«, sagte er dann leise und mehr zu sich selbst, »das ist leider nicht einmal ausgeschlossen.«
Wyatt wandte sich ab, ging hinunter in den Hof, nahm die Zügelleinen vom Querholm und zog sich in den Sattel.
Auch Doc Holliday schwang sich auf seinen Rappen.
Der Mann stand immer noch drüben in der Tür, reglos, wie aus Stein gehauen, und starrte auf den Revolver seines toten Bruders.
Als Wyatt die Zügelleinen anhob, drang die Stimme des Ranchers an sein Ohr. »Vielen Dank auch, Wyatt – für den Revolver!«
Die beiden Dodger setzten ihre Pferde in Bewegung und trabten aus dem Hof.
Als sie in Tombstone einritten, waren die beiden Reiter und ihre Pferde mit Staub gepudert.
Der schwarze Sam nahm im Hof von Nellie Cashmans Etablissement die beiden Pferde entgegen.
»Ist der Texaner inzwischen gekommen?« erkundigte sich der Missourier gleich.
Der Schwarze schüttelte den Kopf und rollte mit den Augen.
Die beiden verließen den Hof sofort wieder, um die Suche in der Stadt fortzusetzen.
Wyatt ging von einer Schenke in die andere, suchte auch die düsteren Kneipen auf, in denen das Gelichter verkehrte, das die Allenstreet und die Fremontstreet scheute. Als er in Rozy Gingers Bar trat, senkte die Saloonerin den Kopf.
Ich muß es ihm sagen! ging es durch den Kopf der geplagten Frau. – Ich muß es ihm jetzt sagen!
Aber sie fand nicht die Kraft, mit ihm zu sprechen. Die Angst vor dem anderen, der sie bedrohte, der sie in der Hand hatte, war größer. Dabei war Wyatt Earp doch der einzige, der ihr wirklich hätte helfen können. Er allein hätte doch die Kraft besessen, sie von dem quälenden Alpdruck zu befreien.
Hatte der Mörder ihr doch gedroht, daß er heute nacht zurückkommen würde!
Wyatt Earp trat an die Theke und fragte, ob der Texaner hier gewesen wäre.
Rozy schüttelte den Kopf.
Da verließ Wyatt die Schenke sofort wieder. In der nächsten Gasse traf er auf Doc Holliday – der hier in einer Spelunke nachgefragt hatte – und ging mit ihm zurück in die Allenstreet.
»Weiß der Teufel, wo er steckt«, brummte der Spieler. »Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Diese Turmkaktee von einem Mann kann doch nicht spurlos verschwinden.«
Da erinnerte sich der Missourier plötzlich seiner Begegnung mit Ringo. Sollten die Worte, die ihm der Dandy-Schießer vor Rozys Bar zugerufen hatte, vielleicht doch keine leere Drohung gewesen sein?
Es hatte keinen Sinn, den Texaner länger in den Kneipen zu suchen. Luke ging, wenn er einen Whisky trinken wollte, in den Oriental Saloon oder zu Harper. Und da er dort nicht war, mußte ihm etwas passiert sein.
»Wir müssen Ringo suchen«, preßte der Marshal durch die Zähne.
Der Georgier blickte ihn verwundert an. »Ringo? Den brauchen wir nicht zu suchen. Der Lackaffe hat bestimmt sein Quartier nicht weit von Laura Higgins aufgeschlagen. Was wollen Sie von ihm?«
Wyatt wiederholte das, was Ringo ihm am Mittag unten in der Gasse zugerufen hatte.
Der Spieler pfiff leise vor sich hin.
»He, das ist vielleicht ein Gedanke.«
Es war tatsächlich nicht nötig, sich zu erkundigen, wo der geckenhafte Mann abgestiegen war.
Leute wie er suchten immer nur die pompösesten und teuersten Hotels auf. In diesem Falle also kam wohl nur das Grand Hotel in Frage.
Der kahlköpfige Mann, der Nachtdienst an der Rezeption in der Hotelhalle hatte, schrak etwas zusammen und ließ die Zeitung sinken, in der er gerade gelesen hatte, als er die beiden Dodger eintreten sah. Er schob sich seine goldgeränderte Brille auf die Nase und machte instinktiv eine Verbeugung.
»Sie suchen Miss Higgins…«
»Nein«, entgegnete der Marshal schroff.
»Dann suchen Sie Jonny Ringo?« platzte der Mann heraus.
»Richtig«, sagte Holliday schnell. »Welche Nummer?«
»Elf…«
Schon waren die beiden auf der Treppe.
Während der Georgier oben hinter der rotsamtenen Flurportiere stehen blieb, ging der Marshal weiter und klopfte an die Tür, die die Nummer 11 trug.
Ringo öffnete sofort.
»Earp?« krächzte er, »was wollen Sie?«
Er hatte getrunken. Seine Augen glänzten, und Schweiß stand ihm in zahllosen winzigen Perlen auf der Stirn. Er war einer jener Menschen, die es liebten, für sich allein eine oder auch mehrere Flaschen zu kippen. Er brauchte das. Wenn er abends zum Spiel in einen der Saloons ging, mußte er vorher unbedingt mehrere Glas Whisky konsumiert haben, um in ›Form‹ zu sein, wie er es nannte.
»Was wollen Sie, Earp! Ich habe keine Zeit. Sie sehen, daß ich mich fertig mache. Ich muß an die Arbeit.«
Wyatt schob den Mann in den Raum zurück und sah sich um.
»Was suchen Sie hier?« fauchte der Revolverschwinger verstört.
»Wo ist Luke Short?«
»Luke Short?«
Ringo war ein Meister der Verstellung. Nicht das mindeste war ihm anzumerken. Er zog die Schultern hoch und ließ sie in theatralischer Pose wieder sinken.
»Weiß ich’s? Was geht mich Luke Short an! Ich habe mit solchen Leuten nichts zu tun.«
»Spucken Sie nicht so große Töne, Mensch! Wenn ich herausbekomme, daß Sie etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben, geht’s Ihnen schlecht.«
Krachend fiel die Tür hinter dem Marshal ins Schloß.
*
Als Behan das Office verlassen hatte, war der Texaner zu seiner Pritsche zurückgegangen und hatte sich niedergelegt.
Er war tatsächlich wieder eingeschlafen. Schließlich hatte er ein paar anstrengende Tage und Nächte hinter sich, so daß ihm der unfreiwillige Aufenthalt hier eine Ruhepause ermöglichte, die ihm noch zustatten kommen sollte.
Er schlief, bis er durch das Grölen einiger Betrunkener draußen auf der Straße geweckt wurde.
Luke setzte sich, fuhr sich mit der Rechten durch den Schopf, griff nach seinem Hut, stülpte ihn auf und erhob sich.
»Damned! Jetzt reicht mir das aber hier!« knurrte er, trat an die Gitter, spannte seine riesigen Fäuste darum und zerrte an den Trallen, daß sie oben im Steingefüge knirschten.
»Na wartet, ihr Strolche! Wetten, daß Onkel Luke in spätestens fünf Minuten draußen ist?«
Er stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne, bückte sich und griff mit der Linken in den Stiefelschaft, wo er aus einer winzigen Tasche zwei fünfundvierziger Patronen herausnahm. Er bohrte sie auf und preßte sie in das Schloß. Dann riß er ein Zündholz an und warf sich rasch zu Boden.
Das Pulver detonierte und sprengte das Schloß mit einem schweren, dumpfen Knall, der bis auf die Straße hinaus schallte.
Der Riese sprang auf, stürmte ins Office, nahm seinen Waffengurt, der am Gewehrständer hing, und schnallte ihn um.
Als er die Tür zur Straße öffnen wollte, mußte er feststellen, daß der heimtückische Behan sie verschlossen hatte.
Der Texaner schüttelte den Kopf und lächelte. Dann ging er ein paar Schritte zurück, nahm einen Anlauf und warf sich mit voller Wucht seitlich gegen die Füllung. Krachend und berstend zersprang die Tür und fiel mit dem Mann auf den Vorbau hinaus.
Mehrere Vorübergehende fuhren tödlich erschrocken zurück.
Der Riese erhob sich, lachte dröhnend und meinte: »Das war eine kleine Zwischeneinlage. Spaß muß sein, Leute!« Er schob drei jüngere Burschen, die an der Vorbautreppe standen, zur Seite und passierte die Straße.
»Na warte, Ringo, jetzt rechnen wir beide ab!«
Im Crystal Palace herrschte Hochbetrieb. Vorn im Schankraum waren alle Tische besetzt. Die zwölf Yard lange Theke war dicht von Gästen belagert.
Und hinter der grünen gerafften Portierte im Spielsaloon sah man eine breite Tabakwolke über den Tisch schweben.
An dem größten der Spieltische saß die grünäugige Laura Higgins. Sie hatte nach einem brillanten Spiel hundertfünfundsiebzig Dollar gewonnen. Einer ihrer Partner, ein weißhaariger Mann mit blassem Gesicht, erhob sich und entfernte sich mit einer Entschuldigung.
Er war kaum gegangen, als sich eine braune Hand auf die freigewordene Stuhllehne legte.
Laura hob den Blick und sah in die Augen des Revolvermannes Larry Lemon.
»So, jetzt wollen wir dem Girl die Bucks mal wieder abnehmen. Kommen Sie, Süße, stecken Sie die Kohlen gar nicht erst ein. Es geht gleich weiter.«
Ohne die Erlaubnis der anderen Spieler abzuwarten, ließ er sich nieder und blickte Laura Higgins herausfordernd an. »Nun, geben Sie schon, ich warte!«
Da stand die Frau auf. Zorn blitzte in ihren Augen. »Ich spiele nicht mit Ihnen«, sagte sie entschieden.
Wie von einer Stahlfeder geschnellt, fuhr der Mann hoch. »So, du spielst nicht mit mir?« preßte er heiser durch die Zähne. Kennst du mich überhaupt?«
»Ich habe kein Interesse daran, Sie kennenzulernen, Mr. Lemon.«
»Ach, ich sehe, du kennst mich! Das sollte dir doch zu denken geben, Sweety.«
»Lassen Sie mich zufrieden!«
»Du setzt dich jetzt hin und spielst mit mir«, zischte ihr der Schießer mit heiserer Stimme zu.
Die anderen Männer blickten betreten drein.
Niemand wagte es, der Frau gegen diesen Menschen beizustehen.
Da nahm Laura Higgins ihr Geld, steckte es in ihre Handtasche und wollte den Tisch verlassen.
Da sprang Lemon auf sie zu, packte sie am Handgelenk und riß sie herum. »Du bleibst da sitzen, Täubchen. Wollen doch mal sehen, ob auch die Bucks bei dir bleiben.«
Er schleuderte sie so rücksichtslos auf den Sitz zurück, daß einige der Umstehenden zu murren begannen.
Lemon wandte sich um. »Will irgend jemand etwas von mir?«
Da flogen vorn im Schankraum die bastgeflochtenen Schwingarme der Pendeltür so hart auseinander, daß sie krachend gegen die Türpfosten schlugen.
Luke Short stampfte in den Schankraum.
Augenblicklich verstummte jedes Gespräch im Crystal Palace.
Der Riese überflog mit einem kurzen Blick den Raum und hatte seinen Mann schon entdeckt.
Er schob ein paar Männer, die am Eingang standen, zur Seite und durchmaß den Schankraum mit langen Schritten.
Zwischen der grünen Portiere blieb er stehen.
»Lemon!«
Der Revolvermann aus Santa Fé, von der plötzlichen Stille im Crystal Palace überrascht, hatte einen Blick über die Schulter geworfen und den weißen Hut des Riesen erkannt.
Aber er blieb mit steinernem Gesicht stehen, wo er stand.
Jetzt, da der Texaner ihn angerufen hatte, wandte er sich langsam um. »Sieh an, da ist ja auch das Riesenbaby wieder!« suchte er sein Heil im Spott.
Ein wildes Lächeln stand auf dem Gesicht des Goliaths. Mit drei raschen Sprüngen war er bei dem Revolverschwinger, packte ihn am Kragen und hob ihn mehrere Inches vom Boden hoch.
»Wie war das, Lemon? Hattest du etwa nicht mit einem Wiedersehen gerechnet?«
»Lassen Sie mich los, Mann!« schrie der Revolvermann und versuchte eines seiner Schießeisen zu erreichen.
Da aber hatte ihn der Hüne losgelassen.
Eine gewaltige Ohrfeige schüttelte Lemon so sehr durch, daß er sich um seine eigene Achse drehte. Als er wieder in Front zu seinem Gegner stand, traf ihn die nächste Ohrfeige, die ihn zur anderen Seite herumfliegen ließ.
Lemon stieß seine Hand zu den Revolverhalftern – und griff ins Leere.
Gedankenschnell hatte ihm der Texaner die beiden Waffen weggenommen, packte ihn jetzt am Kragen und zog ihn mit sich durch den Schankraum.
Vor der Theke versuchte der Mann aus Santa Fé noch einmal unter Aufbietung aller Kräfte einen Gegenangriff. Mit einem Ruck warf er sich nach vorn, um den Polypenarmen des Riesen zu entgehen.
Aber er hatte kein Glück. Zu stark und zu gewandt war sein Gegner.
Luke versetzte ihm noch eine Ohrfeige, die den Tramp zu Boden warf. Dann packte er ihn mit der Linken hinten am Hemdkragen und schleifte ihn wie einen Sack zur Tür.
»So, Larry-Boy, du kommst jetzt da hin, wo ich bis jetzt war. Und dann hole ich dir die anderen zur Gesellschaft.«
In diesem Augenblick tauchten vorn im Eingang mehrere Männer auf. Hickok, Cramers und James Curly Bill. Hinter ihnen war ein riesiger rothaariger Bursche zu sehen, der ebenfalls zu Ringos Leuten gehörte.
Sie versperrten dem Riesen wie eine Mauer den Weg.
Der rothaarige Bursche maß siebeneinhalb Fuß und hatte Schultern wie ein Geldschrank. An seinen affenartig langen Armen hingen wahre Schaufeln von Händen. Dieser Mann verfügte über Bärenkräfte. Es war Terry Plicat.
James Curly Bill wandte sich sofort nach ihm und meinte: »He,Terry, da kommen wir gerade richtig. Pack den langen Burschen da. Mach dir nichts aus seiner Figur, alles Pappe, nichts dahinter. Mach Kleinholz aus ihm!«
Der Texaner war stehengeblieben, die Linke noch im Hemdkragen Lemons. In seinen grünen Augen blitzte es auf.
»Aus dem Weg!« donnerte er die Outlaws an.
Aber die vier blieben stehen.
Und da hechtete der rote Plicat auch schon vorwärts.
An jeder seiner Bewegungen sah man, daß er nicht nur über Bärenkräfte verfügte, sondern sie auch einzusetzen wußte.
Luke Short durfte keine Sekunde verlieren. Er schleuderte Lemon dem Schläger augenblicklich entgegen.
Aber das konnte einen Mann wie Terry Plicat nicht lange aufhalten. Er machte einen Sidestop (schneller Seitenschritt) und riß dann im Ansprung einen pfeifenden Wurfhaken nach vorn, der dem Kopf des Texaners galt.
Aber er hatte sich in der Armlänge des Riesen verrechnet.
Luke Short fing ihn mit einem krachenden Rechtshänder zum Kinn ab.
Terry Plicat taumelte zur Seite, schien den Schlag aber sofort abgeschüttelt zu haben und warf sich erneut nach vorn. Und diesmal hielt der Schläger James Curly Bill es für besser, die Aktionen des Rotschopfs zu unterstützen. Er rannte dem Texaner mit einem röhrenden Schrei entgegen.
Mit gespreizten Beinen stand der Riese da.
»All right!« brüllte er, »dann gibt’s eben Kleinholz!«
Ein fürchterlicher linker Haken krachte durch die hochgerissene Deckung Curly Bills, traf ihn schwer am Schädel und hob ihn von den Beinen.
Aber da war Plicat auch schon wieder.
Aus der halben Drehung heraus schmetterte ihm der Riese einen Backhander entgegen, der ihn erneut zurückprallen ließ, und als Plicat wieder vorwärtssprang, diesmal von Hickok gefolgt, rannte er genau in einen glasharten fürchterliche Uppercut des Supermannes hinein, der ihn vom Boden abzuheben schien und rückwärts gegen Cramers warf.
Hickok hielt zu spät inne, denn Luke hatte ihn schon mit einem linken Jab erreicht und stieß ihn hart zurück. Der Bandit prallte gegen den Türpfosten und schoß aber wieder vorwärts, als er sah, daß jetzt auch Cramers eingriff.
Aber diese beiden Männer waren keine Gegner mehr für Luke Short.
Cramers wurde von einem steif angewinkelten Haken so hart in die kurzen Rippen getroffen, daß er krachend durch die Schwingarme der Pendeltür hinaus auf den Vorbau geschleudert wurde. Hickok folgte ihm im nächsten Augenblick.
Curly Bill, wieder auf die Beine gekommen, war irrsinnig genug, sich – noch halb benommen – dem Riesen in den Weg zu werfen.
Und Lemon, der abwartend am Boden gekauert hatte, suchte dem Texaner in den Rücken zu kommen.
»Damned!« brüllte der Riese, »jetzt reicht’s! Jetzt werde ich böse!«
Niemand hätte gedacht, daß dieser Mann seine gewaltigen Arme so blitzschnell bewegen könnte. Hickok wurde von einem Linkshänder mehrmals um die eigene Achse gewirbelt, brach ebenfalls durch die Schwingarme der Pendeltür und stürzte auf dem Vorbau neben Cramers nieder. Und Lemon, der im nächsten Augenblick den Hünen von hinten angesprungen hatte, wurde mit beiden Händen hochgerissen und mit einem Überwerfer so hart durch die Tür geschleudert, daß er mit dumpfem Aufprall draußen auf den Stepwalkbohlen landete.
Alles hatte sich mit rasender Schnelligkeit abgespielt. Im Schankraum herrschte tiefste Stille.
Da wandte sich Luke Short zur Seite, ging auf das Orchestrion zu und warf einen Nickel in den Münzschlitz.
Ein Wackeln war die erste Bewegung des Musikautomaten, und dann jaulte – wenig melodiös, stoßend und hämmernd – der Arizona-Song durch den Crystal Palace.
Als der Tex in der Tür erschien, drangen mehrere Männer auf ihn ein.
Plicat, Curly Bill und die anderen waren nicht mehr unter ihnen. Es waren zerlumpte Kerle, die offenbar zu Ringos ›Garde‹ gehörten.
»Jetzt gibt’s Kleinholz, Boys!« brüllte ihnen der Riese entgegen, packte den vordersten, riß ihn hoch und schleuderte ihn auf den nächsten Mann. Dann fegte er den dritten mit einem Faustschlag vom Vorbau herunter.
Zu seiner Verblüffung mußte Luke feststellen, daß sich eine Menschenmenge vor dem Saloon eingefunden hatte, deren Haltung ihm noch nicht klar war.
Links vom Eingang standen zwei finster dreinblickende Männer, die Miene machten, sich ihm in die Flanke zu werfen. Und rechts schoß aus dem Halbdunkel ein Mann mit einem Kreolengesicht heran, um ihn mit einem Hieb seines Revolvers niederzustrecken.
Wyatt Earp und Doc Holliday traten in dem Augenblick aus dem Eingang des Grand Hotels, als drüben ein Mann krachend aus der Tür des Crystal Palaces geschleudert wurde und auf dem Vorbau landete. Als gleich darauf ein zweiter folgte, meinte Doc Holliday: »Wir brauchen nicht weiter zu suchen, Wyatt. Das ist die Handschrift von Luke Short.«
Die beiden Dodger stürmten über die Straße, und als der hinterhältige Kreole Rodrigo Partilez seinen Revolver hochriß, um Luke Short anzuspringen, traf ihn ein krachender Faustschlag des Missouriers, und schmetterte ihn an die Hauswand.
Luke Short, der sich gerade den beiden Gestalten auf der linken Seite des Eingangs zugewandt hatte, spürte, daß er im Rücken Luft bekam, packte die beiden Burschen, zerrte sie nach vorn und stieß sie auf die Straße.
»Hallo, Marshal!« rief er. »Hatten Sie etwas vor? Ich bin gleich dabei. Nur einen Augenblick noch. Ich kehre gerade hier den Vorbau!«
Während draußen vor dem Eingang noch wildes Handgemenge tobte, stand Laura Higgins direkt hinter der roten Portiere des Einganges und blickte durch das Bastgeflecht eines der Schwingarme auf den Vorbau.
Plötzlich weiteten sich ihre Augen.
Vorn links, direkt vor der Gehsteigkante, lehnte ein Mann, der ein Gewehr vor sich auf den Stepwalks liegen hatte. Es war Kilby!
Laura stieß die Schwingarme der Tür auseinander, rannte auf den Vorbau und rief dem Georgier, der gerade einen Mann vorm Vorbau gestoßen hatte, zu: »Doc!« Und während sie den linken Arm in Richtung des Californiers ausstreckte, geschah es.
Kilby hatte sie entdeckt! Er hob blitzschnell das Gewehr – und dann brüllte der Schuß über den Vorbau des Crystal Palaces.
Laura Higgins taumelte zurück und wurde von Wyatt Earp aufgefangen.
Doc Holliday wandte sich sofort um und half dem Marshal, die Frau gegen die Hauswand zu lehnen.
Dann kniete er neben ihr nieder und beugte sich über sie.
Wyatt Earp schnellte hoch und sah schon den Texaner links über den Vorbau in der Gasse verschwinden.
Luke Short blieb an der Ecke vor Myers Clothing Story stehen.
»Haben Sie den Kerl gesehen?« rief ihm Wyatt zu.
»Nein, aber der Schuß blitzte links neben dem Eingang an der Vorbauecke auf. Da liegt auch das Gewehr!
»Das Gewehr!« wiederholte der Marshal leise. »Well, gehen Sie zurück, Luke. Bleiben Sie bei dem Doc und der Frau.«
»All right!« Der Riese wandte sich um. Als er zum Eingang kam, waren die Banditen verschwunden, bis auf Terry Plicat, der sich eben erhob und sich ebenfalls davonmachen wollte.
Da packte der Texaner ihn am Arm und zerrte ihn herum.
»Komm her, Red-Boy, ich habe noch eine Arbeit für dich. Los, pack an!«
Er selbst faßte auf einen Wink Doc Hollidays, Laura Higgins unter den Armen, und Plicat mußte ihre Füße nehmen. Sie trugen sie in den Crystal Palace zurück.
Wyatt Earp konnte durch den Lärm, der unten in der Allenstreet vor dem Eingang der Eckschenke herrschte, die Schritte des Flüchtlings nicht hören.
Mit all seiner Erfahrung und all der ihm zu Gebote stehenden Geschicklichkeit suchte er systematisch sämtliche Höfe der Umgegend ab. Aber nach anderthalb Stunden mußte er die Suche aufgeben.
Kilby war entkommen!