Читать книгу Wyatt Earp Paket 3 – Western - William Mark D. - Страница 21
ОглавлениеEs war gegen halb neun, als sie die Stadt verließen.
Sie ritten nach Nordwesten dem Lue Lon River entgegen. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Würden sie am Fluß den Mann treffen, den die Banditen dort erwartet hatten? Und wer war der Mann? War es der große Boß der Galgenmänner?
Wyatt Earp wagte nicht, daran zu glauben. Aber die Banditen hatten einen wichtigen Mann von der Grenze her erwartet. Und der mußte abgefangen werden.
Wortlos ritt Doc Holliday neben dem Missourier Earp her.
Da Wyatt die Wegrichtung kannte, kamen sie sehr schnell vorwärts. Kurz vor halb elf erreichten sie den Fluß. Es war nicht nötig, daß sie ihn ganz hinaufritten bis zu jener Stelle, an der Wyatt mit den Banditen am Nachmittag zusammengeraten war.
Wenn der Reiter überhaupt kam, dann nahm er den Weg am linken Flußufer entlang und würde auch hier unten an dem Knick vorbeikommen, wo der Lue Lon River scharf nach Westen abbog und der Weg nach Martini geradeaus nach Süden führte.
Sie brachten die Pferde an das hier etwas tiefer gelegene Ufer und ließen sie abseits hinter Büschen stehen. Sie selbst blieben oben auf der Böschung, wo sie nach Norden sehen konnten.
Es war eine mondhelle Nacht. Zwar nahm der Mond schon ab, aber er warf doch noch ein bleiches, fahles Licht auf die Savanne.
Es war Anfang November, und die Nächte begannen auch in diesen Breiten schon empfindlich kühl zu werden.
Geduldig harrten die beiden Männer auf ihrem Posten aus.
Und ihre Geduld wurde nicht einmal auf eine allzulange Probe gestellt, denn plötzlich hob der Missourier den Kopf und lauschte angespannt.
»Ein Reiter«, sagte er.
Der Spieler nickte. »Ja.« Auch er hatte den Hufschlag jetzt gehört.
Sie gingen ein Stück am Ufer entlang und verbargen sich hinter einem Gebüsch, das ihnen den Blick nach vorn auf den Pfad freigab.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Reiter herangekommen war. Hufschlag hört man in der Nacht ja besonders gut und auch sehr weit.
Wer mochte es sein? Kannten sie ihn? War es einer der Banditen aus Nogales oder ein Mann aus Tombstone?
War es nur irgendein Bote? Oder war es wirklich ein Anführer – oder gar der Anführer der Graugesichter?
In gespannter Erwartung kauerten die beiden Dodger hinter dem Gebüsch und harrten des Reiters.
Dann kam er. Er saß auf einem schwarzen Pferd und schoß im scharfen Trab den Pfad hinunter am Ufer entlang.
Die beiden hatten ihn sofort erkannt. Wyatt wandte den Kopf zur Seite und sah in das kantige Gesicht des Spielers.
Fassungslosigkeit stand darin.
Dann war der Reiter heran. Er saß nach Indianerart im Sattel: ein wenig zurückgelehnt und beide Zügelleinen in der Linken. Die Rechte hing herunter. Jetzt, als er an dem Gebüsch vorüberschoß, zeichnete sich seine Silhouette scharf gegen den hellen Nachthimmel ab.
Die beiden rührten sich nicht.
Der Reiter war vorüber.
Noch Sekunden hockten die beiden hinter dem Gebüsch und starrten ihm nach.
Endlich richtete sich der Marshal auf. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt und seine Augen jetzt sehr schmal geworden. Immer noch folgten ihre Blicke dem Mann, der jetzt schnell kleiner und kleiner wurde.
Auch der Georgier hatte sich erhoben.
Seine Lippen sprangen auseinander, und er spuckte die beiden Worte geradezu hervor: »Ike Clanton!«
Wyatt hatte die Hände in die Taschen geschoben.
»Ja, Ike Clanton.«
Es war still. Das Geräusch des Hufschlags drang nur noch aus weiter Ferne an die Ohren der beiden Männer.
Er war also gekommen. Isaac Joseph Clanton aus dem Cochise County, der Rancher aus dem Tombstoner Land; der größte Bandenführer, den Amerika bis zu diesem Tage gekannt hatte.
Fassungslos standen die beiden Männer da. Sie hatten jeden erwartet, nur ihn nicht.
Er war also der Mann, der von den Galgenmännern erwartet wurde? Wyatt wollte es nicht fassen, daß der Reiter, den sie da erwartet hatten, Ike Clanton gewesen war.
War er also der große Boß?
Der Marshal hatte die Hände zu Fäusten geballt und stieß heiser hervor: »Ich hätte es mir doch denken können! Gab es denn je einen Zweifel, daß er es sein mußte?«
Immer noch standen sie auf dem Pfad und starrten in die Savanne hinaus.
»Und jetzt?« fragte Doc Holliday endlich.
Wyatt antwortete nicht sofort.
»Wir werden ihm folgen.«
»Der reitet todsicher nach Martini.«
»Ja, das glaube ich auch.«
Sie gingen zu ihren Pferden, zogen sich in die Sättel und folgten dem Reiter in so großem Abstand, daß er die beiden Verfolger nicht bemerken konnte.
Es war schon spät, als Ike Clanton die Stadt erreichte. Er stieg vor der Cantina ab, warf die Zügelleinen seines schwarzen Hengstes um die Halfterstange und blickte zu den Fenstern hinüber, aus denen noch immer der Lärm einiger Zecher, wenig melodiös unterstützt von dem Geklimper einer Gitarre und dem krächzenden Gesang einer girrenden Frauenstimme, ins Freie drang.
Der Mann ging auf den ebenerdigen Eingang der Schenke zu, und als er den Perlschnurvorhang auseinanderteilte, erstarb plötzlich jeder Laut.
Die Menschen in der Cantina del Sole starrten entsetzt auf den Mann, der da im Eingang stand. Es gab niemanden hier, der ihn nicht gekannt hätte. Obgleich es Jahre her war, seitdem er zuletzt in der Stadt gewesen war.
Dem Mann hinter der Theke stand der Mund offen. Die Frau, die vorn auf dem Podium stand, hatte die Augen weit aufgerissen und starrte wie alle anderen zur Tür.
Des Gitarrenspielers Hand schien mitten im Griff erstarrt zu sein. Und die Zecher, die sich eben noch lallend und grölend unterhalten hatten, schwiegen und saßen wie angewachsen an ihren Tischen.
Ike machte einen Schritt nach vorn, und klirrend schlugen die Glasperlenschnüre ineinander.
Hochaufgerichtet stand er an der Tür und blickte forschend über den verhältnismäßig großen Schankraum.
Jeder einzelne glaubte den Blick Ike Clantons bis ins Mark zu spüren.
Hatte man doch schon früher nie recht gewußt, wen er meinte, wenn er den Blick über die Runde wandern ließ.
Und immer noch war sie da, die große Furcht vor diesem Mann.
Mit schweren Schritten trat er an die Theke und legte seine beharrten Fäuste auf das blankgeputzte durchlöcherte Blech.
Wyatt Earp und Doc Holliday waren ihm am Ende des Rittes dicht gefolgt und hielten jetzt in der Nähe der Cantina.
Der Marshal meinte: »Ich reite hinüber zum Jail und sehe dort nach den anderen, Doc.«
Der Spieler nickte: »In Ordnung, ich werde Ike im Auge behalten.«
Holliday stand schon an der Halfterstange, als Ike durch den Schnurvorhang auf die Theke zuging.
Wyatt ritt hinüber zum Alkaldenhaus, neben dem das Gefängnis lag. Die Tür zur Straße stand offen.
Der Marshal zog einen Revolver, stieß sie weiter auf und riß dann ein Zündholz an.
Er sah es sofort: Sämtliche Gittertüren standen offen. Die Gefangenen waren entkommen.
Phin Clanton, den er am Abend nach dem Gefecht mit den Galgenmännern festgenommen hatte, war entflohen!
Und jetzt stand sein Bruder drüben in der Schenke und würde erfahren, was geschehen war.
Wyatt machte sofort kehrt. Als er vor der Schenke ankam, sah er nur die weiße Hemdbrust Doc Hollidays aus dem Dunkel des Vordaches herausschimmern. Dann nahm er die beiden Pferde am Zügel und führte sie um das Haus herum.
Als er zurückkam, stand der Spieler immer noch neben dem Eingang.
»Bis jetzt hat sich nicht viel getan«, erklärte er, »er steht noch drüben an der Theke.«
»Und, hat er nichts gesagt?«
»Nein.«
»Kein Wort.«
Der Keeper hatte ein Glas Whisky vor Ike hingestellt.
Der hob es an, trank einen Schluck und setzte es dann wieder ab.
»Wo ist Phin?« Diese Worte kamen wie zischende Geschosse über seine Lippen.
Der Keeper, ein Mann in den Fünfzigern, wich zurück und starrte ihn ängstlich an.
»Ich weiß es nicht, Mr. Clanton.«
»So, du weißt es nicht! Aber du weißt, daß ihm diese Schenke gehört?«
»Ja, das weiß ich.«
»Das habe ich nicht einmal gewußt. Ich habe es heute erst erfahren, oben in Nogales.«
Schweigen.
Dann wandte sich Ike um und lehnte sich mit dem rechten Ellbogen auf das Thekenblech. Während er seinen Blick wieder durch den Schankraum schweifen ließ, fragte er noch einmal…
»Wo ist Phin?«
Da stand einer der Männer auf und machte drei Schritte auf ihn zu. Es war ein kleiner Mann mit langem, hagerem, kränklichem Gesicht und tief in den Höhlen liegenden Augen.
»Wyatt Earp war hier, Mr. Clanton!«
»Das wollte ich nicht wissen, Mann. Ich habe gefragt, wo Phin ist.«
Der gnomenhafte Mann druckste herum: »Der Marshal suchte hier irgendeinen Mann, und dann hatten sie draußen einen schweren Gunfight. Mehrere Leute sind verletzt worden. Und dann ging Phin hinaus.«
»Und?«?schleuderte ihm der Desperado entgegen.
»Er ging auf die Straße und sprach mit dem Marshal. Vielleicht hatte er es sich zu leicht gedacht. Jedenfalls stand plötzlich Doc Holliday hinter ihm.«
»Holliday!« entfuhr es Ike.
Es war totenstill im Schankraum.
Ike stieß sich von der Theke ab und ging mit dröhnenden Schritten auf den kleinen Mann zu. Dicht vor ihm blieb er stehen: »Rede weiter, Mann!«
»Si, Señor. Wyatt Earp nahm sie alle fest und brachte sie ins Jail.«
»Und dann?«
»Dann ritt er weg – mit Doc Holliday.«
»Willst du mir erzählen, daß Phin jetzt noch im Jail steckt?«
»Nein, Señor. Natürlich nicht mehr.«
»Was heißt natürlich? Wer hat ihn herausgelassen?«
»Ich!« kam es da heiser hinter Ikes Rücken von der Theke her.
Ike blickte sich um und sah den Keeper mit verstörtem Gesicht an der Theke lehnen.
»Du hast ihn rausgelassen?«
»Ja.«
»Wie kommst du dazu?«
Der Mann schluckte.
»Er ist ein Freund von uns.«
»Ein Freund?« Ike maß ihn verächtlich. »Ja, ganz sicher.« Dann sah er sich im Kreise um. »Ihr seid seine Freunde, hahahaha!«
Er machte kehrt und ging auf den Ausgang zu.
Wyatt Earp und Doc Holliday standen im tiefen Dunkel des Vordaches.
Ike Clanton kam aus der Schenke heraus, zog sich in den Sattel und ritt aus der Stadt.
Die beiden warteten eine Weile und folgten ihm dann.
Es war jetzt nicht so wichtig, daß Phin aus dem Jail von Martini entflohen war. Wichtig war jetzt nur Ike.
Wo ritt er hin? Sein Auftritt in der Cantina war wieder sehr zwielichtig gewesen.
Schon hatte der Missourier den Verdacht, daß der Rancher ihn und Doc Holliday bemerkt haben könnte. Denn die Art, in der er in der Schenke aufgetreten war, ließ kaum darauf schließen, daß man ihn hier in Martini erwartet hatte.
Aber das wollte nicht viel bedeuten, denn die Männer, die ihn erwartet hatten, nämlich Enrique und die anderen Graugesichter, waren ja zusammen mit Phin aus dem Jail entkommen. Vielleicht wußte Ike, wohin sie geritten waren und folgte ihnen jetzt.
Wyatt hätte Ike festnehmen können. Aber damit war nichts erreicht. Wie überhaupt bisher nichts mit der Festnahme dieses Mannes gewonnen worden wäre. Immer, wenn der Marshal ihn traf, war die Situation so, daß eine Festnahme Ikes nichts erbracht hätte. Auch heute war es nicht anders. Vielleicht hatte er die beiden Männer in seinem Rücken bemerkt und sich darum so verhalten. Jedenfalls hätte es nichts genützt, wenn Wyatt ihm entgegengetreten wäre. So aber konnte der Marshal hoffen, daß Ike ihn – ohne es zu wollen – zum geheimen Camp der Verbrecher bringen würde.
*
Tombstone hatte einen neuen Sheriff. Luke Short!
Wyatt Earp und John Clum hatten dafür gesorgt, aber auch die Mehrheit der Stadtväter war für seine Wahl gewesen.
Nur widerwillig und erst nach gutem Zureden des Marshals hatte der riesige Texaner die Wahl angenommen.
Und einen Tag nachdem Wyatt Earp die Stadt verlassen hatte, war John Clum mit überzeugender Mehrheit in Tombstone wieder zum neuen Bürgermeister gewählt worden. So hatte die Stadt also am gleichen Tag einen neuen Sheriff und einen neuen Bürgermeister bekommen, gewiß kein Freudentag für manche Leute.
Solange der laue McIntosh Mayor in Tombstone gewesen war und drüben, im jetzt verlassenen Sheriffs Office, der papierne Jonny Behan gesessen hatte, war man mehr »unter sich« gewesen und hatte tun und lassen können, was einem beliebte. Das sah jetzt anders aus. Man war nicht mehr so laut auf der Straße, und in den Schenken ging es längst nicht mehr so wild und rüde her wie zuvor. Und was die Wirte am meisten verstimmte: es war sehr früh Feierabend.
Niemand hatte die Absicht, sich in eine Rauferei oder gar in eine Schießerei verwickeln zu lassen, die dem herkulischen Sheriff Grund zum Eingreifen gegeben hätte.
Schon am Mittag des nächsten Tages aber ereigneten sich Dinge, mit denen Luke Short nicht gerechnet hatte. Er hatte vor allem deshalb das Amt des Sheriffs angenommen, um die vier wichtigen Gefangenen bewachen zu können, die der Marshal ins Jail gebracht hatte. Nämlich die Brüder Hal und Edward Flanagan, den Raubrancher Oswald Shibell und den Kreolen Jimmy King. Jetzt, gegen elf Uhr, kurz nach der Verkündung der Wahl des Mayors, trat ein struppiger alter Mann ins Office und schob sich den zerfransten Hut aus der Stirn.
»Mein Name ist Callhaun, Sheriff.« Er reichte dem Texaner die Hand. »Ich habe eine Farm draußen, sechs Meilen vor der Stadt. Heute nacht sind mir zwei Pferde gestohlen worden, Sheriff.«
Luke stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne. Auch das noch! Jetzt kamen sie mit tausend Bitten. Und er mußte doch das Jail bewachen!
»Vielleicht könnten Sie einmal herauskommen im Laufe des Tages, Sheriff.«
Luke nickte. »Ja, entweder komme ich, oder ein Vertreter von mir.«
»Ist gut, Mr. Short.« An der Tür blieb der alte Farmer stehen und wandte sich noch einmal um: »Es wäre mir natürlich sehr lieb, wenn Sie selbst kämen.«
»Ja, ja, Mr. Callhaun.«
Als der Mann gegangen war, stand Luke auf, schloß das Office hinter sich ab, und genau in dem Augenblick preschte ein Reiter die Straße hinunter und hielt in einer Staubwolke vor dem Vorbau des Marshals Bureaus.
»Sheriff! Sheriff!« rief er schon von weitem.
»Was gibt es denn?« Luke blieb ahnungsvoll stehen.
»Sie müssen sofort mitkommen. Unten in der Sägerei…«
»Was gibt es da?«
»Eine fürchterliche Prügelei.«
»Der Teufel soll es holen! Ihr werdet eure Prügeleien doch alleine austragen können.«
»Sheriff, der Boß schickt mich!«
»Herrgott noch mal.« Luke sah sich noch nach dem Office um und nickte dann. »Well, ich komme.«
»Sie können mein Pferd nehmen, Sheriff.«
»Ja, ja, schon gut«, der Texaner schwang sich auf den braunen Wallach des Sägewerkarbeiters und ritt davon.
In der Sägemühle war tatsächlich eine fürchterliche Prügelei im Gange, die der Riese jedoch bald beendet hatte.
»Sie müssen mir den Gaul noch einmal leihen, Mister«, rief er dem Arbeiter zu. »Sie können ihn sich am Office abholen.«
In gestrecktem Galopp preschte Luke durch die Allenstreet, schwang sich vorm Office aus dem Sattel und öffnete die Tür. Obgleich die schwere Bohlentür zum Zellengang noch versperrt war, stieß er hastig den Schlüssel hinein und öffnete sie. Erst als er die vier Galgenvogelgesichter noch in ihren Käfigen sah, war er beruhigt. Er hätte ihnen ohne weiteres zugetraut, daß sie durch das winzige Fenster entkommen sein könnten. Es wäre ja nicht das erstemal gewesen, daß hier Banditen am hellichten Tag aus dem Gefängnis geholt worden wären.
Er verließ das Office, um nicht noch weiteren Besuchern Zugeständnisse machen zu müssen. Vor allem aber suchte er jetzt einen Mann, der als Helfer bei ihm arbeiten würde. Das aber stieß auf große Schwierigkeiten. Jeder in der Stadt war fest davon überzeugt, daß Luke Short hier nicht sehr lange Sheriff bleiben würde, und wer dann als Deputy bei ihm gearbeitet hatte, mußte damit rechnen, später eine Menge Feinde gegen sich zu haben. Daher fand der Hüne niemanden, der als Helfer bei ihm hätte arbeiten wollen.
Mißmutig kehrte er gegen zwölf Uhr ins Office zurück.
Er hatte Pech.
Es standen schon wieder drei Männer vor der Tür, die auf ihn warteten.
Einer von ihnen, ein großer, breitschultriger Bursche mit braunem, zerfurchtem Gesicht, sprach ihn sofort an: »Sheriff, Sie müssen mal heraus auf unsere Ranch kommen. Mir ist eine ganze Menge Vieh gestohlen worden.«
»Wann?« fragte Luke mürrisch.
»In einer der letzten Nächte.«
»So«, entgegnete Luke, »und warum sind Sie nicht vorgestern gekommen oder gestern, da war euer Freund Jonny Behan doch noch da!«
Der Viehzüchter winkte ab.
»Ha, Jonny Behan«, sagte er verächtlich, »zu dem wäre ich nie gekommen. Was hätte das für einen Sinn gehabt!«
»Ja, ja. Ich weiß. Ist gut. Wo ist die Ranch?«
»Es ist die Scott Ranch, Sheriff.«
»Draußen vor den Hills?«
»Ja, Sie sehen die Ranch schon vom Silver Creek aus.«
»Gut, ich komme.«
»Wann?«
»Das kann ich noch nicht genau sagen, irgendwann im Laufe des Tages.«
»All right.«
Die drei Männer gingen zu ihren Pferden, stiegen auf und ritten aus der Stadt.
Ärgerlich betrat Luke das Office und sah sofort wieder nach seinen Gefangenen. Sie waren noch da.
Hal Flanagan stand vorn am Gitter.
»He, Short. Wie lange wollen Sie uns hier noch festhalten?« knurrte er.
»Halt die Klappe, Junge, sonst hole ich dich raus. Dann sage ich dir, wie lange du noch hier bleibst.«
Da sprang sein Bruder Ed wie eine Pantherkatze gegen das Gitter und fauchte:
»Ihr werdet das büßen!«
Aber da fiel oben schon die schwere Bohlentür zum Office zu.
Luke suchte den Mayor auf. Der stand inmitten seiner Zeitungsdruckerei und redigierte einen Artikel.
»Hallo, Sheriff!« rief er dem Riesen freundlich entgegen.
Luke winkte ab. »Hat sich was mit Sheriff! Der Teufel soll den Job holen!«
»Nanu, schon Ärger gehabt?«
»Ich brauche einen Deputy, Mr. Clum.«
»Aber natürlich, es wird sich doch ein Hilfssheriff für einen Mann wie Sie finden lassen.«
»Das bezweifle ich sehr. Die Leute hüten sich alle, später meinen Stern übernehmen zu müssen.«
»Haben Sie denn nicht die Absicht, zu bleiben?«
»Haben Sie im Ernst angenommen, daß ich hierbleiben würde?«
»Nun, nicht unbedingt, Mr. Short«, mußte John Clum zugeben. »Aber so bald werden Sie ja auch nicht weiterreiten.«
»Ich reite, wenn der Marshal Tombstone verläßt, wenn er mit diesem Pack hier aufgeräumt hat.«
»Ja, ja, ich verstehe«, entgegnete Clum, »warum sollten Sie auch in einer solchen Stadt bleiben. Ich kann mich ja selbst nicht verstehen, daß ich immer noch hier bin. Ich sagte es dem Marshal schon.«
Der Hüne schob sich eine lange braune Strohhalmzigarre zwischen seine weißen, ebenmäßig gewachsenen Zähne, riß ein Zündholz an der Decke an und stieß eine blaue Tabakwolke über den Kopf des Mayors.
»Es geht darum, daß ich auf zwei umliegende Höfe gerufen worden bin. Auf Callhauns Farm sollen zwei Pferde gestohlen worden sein. Und dann war Scott in der Stadt.«
»Irvin Scott?« fragte der Mayor stirnrunzelnd.
»Ja, er sagt, bei ihm sei Vieh gestohlen worden.«
»Bei dieser Bande ist doch immer was los«, entgegnete der Mayor.
»Aber könnten Sie den Leuten nicht den Gefallen tun und mal nachsehen?«
»Das würde mir nichts ausmachen. Schließlich werde ich ja für den Job bezahlt, Mayor. Aber ich habe den Stern Wyatt Earp zuliebe angenommen, weil ich nämlich auf seine Gefangenen im Jail aufpassen möchte.«
»Ach, Sie meinen, daß Sie nicht wegreiten können, weil Sie befürchten, daß die Flanagans und die beiden anderen befreit würden?«
»Das muß ich leider befürchten.«
»Well, dann müssen wir einen Deputy finden. Warten Sie.« Der Mayor wandte sich um und blickte einen der Drucker an. »He, Herward! Wie sieht es mit Ihrem Bruder Jim aus?«
Herward winkte ab: »Ich glaube, den Weg kann sich der Sheriff ersparen. Jim denkt wie die anderen.«
»Da haben wir es«, knurrte der Tex.
Der recht temperamentvolle Clum stampfte mit dem Fuß auf.
»Warten Sie, Luke, wir werden einen finden. Kommen Sie mit!«
Sie verließen das Haus, gingen hinunter zur Allenstreet und betraten den Oriental Saloon.
Der Salooner lag immer noch krank im Bett, der Mann, der hinterm Schanktisch stand, blickte ihnen forschend entgegen.
Der Mayor durchquerte den Raum, stieß die Hoftür auf und rief: »Jonny!«
Hinten aus dem Stall kam ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit indianischem Gesichtsausdruck.
»Jonny, was hältst du von einem Posten als Hilfssheriff?«
»Oh, gut!« Plötzlich aber verdunkelte sich das Gesicht des Peons. »Hilfssheriff? Wo?«
»Bei Luke Short.«
Der Mestize wich einen Schritt zurück.
»Oh, Mr. Short groß, Mr. Sheriff guter Sheriff! Bestimmt guter Sheriff! Aber Jonny nicht guter Hilfssheriff für…«
Der Texaner winkte ab, wandte sich um und stampfte hinaus.
John Clum folgte ihm.
Als sie auf dem Vorbau standen, meinte der Riese: »Wir werden am Schluß noch Nellie Cashmans Neger Sam nehmen müssen.«
»Ja, soweit kommt es noch«, meinte der Mayor. »Aber warten Sie, ich könnte mir vorstellen, daß Rozy Ginger Rat weiß.«
»Rozy Ginger?« fragte der Texaner verblüfft. »Ausgerechnet sie?«
»Ja, Rozy kennt eine ganze Menge Leute, und möglicherweise ist einer darunter, den man für den Job brauchen kann.«
Der Tex zuckte mit den Schultern: »Sie müssen es wissen, Mayor.«
Sie gingen zu der gekrümmten Gasse hinunter, in der Rozy Gingers Bar lag.
Die junge Frau blickte dem riesigen Sheriff unsicher entgegen.
Aber der Mayor sprach sie freundlich lächelnd an: »Miß Ginger, unser Sheriff braucht einen Hilfsmann.«
Die Frau atmete sichtlich auf.
Clum fuhr fort: »Sie kennen eine Menge Leute, Rozy. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie einen Mann für uns wissen.«
»Da gibt es etliche Leute – bloß, die werden Angst haben, den Job anzunehmen.«
»Eben«, knurrte der Riese. »Geben Sie es auf, Mayor.«
»Nein, warten Sie.« Rozy lief hinaus in den Hof. Da war ein älterer Mann mit Sägearbeiten beschäftigt. Er mochte etwa Mitte der Fünfzig sein, hatte silbergraues Haar und eine kräftige, untersetzte Gestalt. Seine Augen waren hell und hatten einen guten Blick.
»Hallo, Humpy, kommen Sie einen Augenblick in den Saloon!«
»All right, Madam.«
Der Mann trug eine lederne Joppe und eine graue Hose. Sein Hemd war aus verwaschenem Kattun. Er kam sofort auf die Hoftür zu und folgte der Saloonerin in den Schankraum.
Rozy Ginger wies auf ihn: »Das ist Humpy Donegan.«
Der Mayor blickte den Mann forschend an: »Sie sind noch nicht lange in Tombstone?«
»Nein, Mayor.«
»Sie kennen mich?« fragte Clum.
Donegan nickte. »Ja, ich habe gestern mit dafür gesorgt, daß Sie hier Mayor werden.«
John Clum reichte ihm lachend die Hand. Dann wies er auf Luke Short: »Kennen Sie auch diesen Mann?«
Donegan nickte. »Ja, das ist Sheriff Short.«
»Gut. Hören Sie, Donegan. Der Sheriff braucht einen Deputy.«
Donegan nickte. »Ja, jeder Sheriff braucht einen Deputy, auch ein guter.«
»Das war ein schöner Satz.« Ein winziges Lächeln war in die Augenwinkel des Texaners getreten. Dieser Mann gefiel ihm. Aber ganz sicher würde auch er kein Interesse daran haben, einen Job als Hilfssheriff bei ihm anzunehmen.
»Wie sieht es aus?« fragte er. »Haben Sie Interesse an dem Job?«
Donegan nickte. »Ja, ich hätte schon Interesse, Mr. Short, aber ich bin ja hier bei Miß Ginger angestellt.«
Die Frau winkte ab. »Sie können jederzeit zu mir zurückkommen, Mr. Donegan. Aber es ist jetzt wichtiger, daß der Sheriff einen Helfer hat.«
»Ja, das finde ich auch«, sagte der Mann.
Dann ging er zur Wand, wo an einem Haken ein abgewetzter Waffengurt mit einem uralten Revolver hing. Er schnallte sich das Ungetüm um, zog sein schwarzes Halstuch aus der Tasche hervor und stülpte sich einen alten grauen Hut auf.
»Von mir aus kann’s losgehen, Boß!«
Luke nahm seine Hand und schüttelte sie kräftig.
»Na also«, meinte der Mayor, »dann wäre das ja soweit erledigt.«
Sie bedankten sich bei Rozy Ginger und verließen die Schenke.
»Da hat die doch endlich mal was Gutes getan«, meinte der Texaner.
»Das würde sie sicher ganz gern öfter tun«, antwortete der Mayor, »aber sie hat so selten Gelegenheit dazu. Und außerdem fürchtet sie ihre Kundschaft…«
So hatte denn der neue Sheriff von Tombstone einen Gehilfen gefunden. Donegan war ein schweigsamer Mann. Und das gefiel dem Texaner, denn er selbst liebte vieles Reden ja auch nicht.
Als sie im Office waren, vereidigten Luke und der Mayor den neuen Deputy, und Luke nahm aus der Schublade einen blanken, sechszackigen Stern im Ringkranz. Er drehte ihn in der Hand und sah auf seiner Rückseite zwei Worte eingraviert, die ihn einen Moment stutzen ließen.
Morgan Earp stand dort.
Diesen Stern also hatte Wyatts jüngster Bruder in den Tagen des Kampfes im O.K.-Corral getragen. Morgan war im März des darauffolgenden Jahres von den Clantons ermordet worden. Das heißt, es war keiner der Clantons unter den Mördern, aber es waren fünf Männer von der Gang gewesen, die den jungen Deputy in der Billard-Bar von hinten niedergeknallt hatten.
Der Riese sog die Luft ein und steckte dem Alten das Sheriffszeichen an die Brust.
»So, Hump, jetzt haben Sie einen schweren Orden zu schleppen. Der Mann, der ihn vor Ihnen trug, hatte einen großen Namen als Sheriff. Er war jahrelang der Boß von Santa Fé und hat dann hier unter seinen Brüdern Wyatt und Virgil für das Gesetz gekämpft.«
Donegan schob den Stern etwas von seiner Jacke ab und sah den Namen darauf. »Morgan Earp«, las er leise. »Well, Boß, Sie sollen sich so auf mich verlassen können, wie Virgil und Wyatt sich auf ihren Bruder Morgan verlassen konnten.«
»Das ist ein Wort, Hump.«
Eine Stunde später ritt Luke Short aus der Stadt.
Callhauns Farm lag nicht sehr weit im Norden vor den Grey Hills, jenen Erhebungen, wo noch vor einem knappen Jahrzehnt ein wilder Indianerstamm hauste, der sich von Cochise abgesondert und einen verzweifelten Kampf gegen die Weißen geführt hatte, bis er völlig aufgerieben worden war.
Azurblau spannte sich der seidige Himmel über das weite, öde Land.
Und auch jetzt am Nachmittag war es trotz des späten Novembertages wieder heiß.
Der Texaner sah die Bauten der Farm aus einer Bodenmulde vor sich auftauchen.
Ein Junge, dem ein Hund folgte, kam ihm entgegengelaufen: »Hallo, Sie sind Luke Short, nicht wahr?«
»Ja, Boy.«
Luke trabte langsam auf den Farmhof zu.
Der alte Callhaun war damit beschäftigt, einem Pferd einen Huf aufzubrennen.
Der Junge half ihm dabei.
Luke stieg neben dem Brunnen vom Pferd und schritt auf den Farmer zu.
»Bin sofort fertig, Mr. Short!« rief der ihm entgegen.
Luke sah zu, wie sie dem Tier den Huf auflegten.
Er hätte gern geholfen, aber er sah, daß der Farmer es mit nicht allzuviel Geschick anstellte. Luke hatte jahrelang als Blacksmith drüben in Dallas gearbeitet und dieses Handwerk von Grund auf erlernt.
Als der Hengst, dem sie den Huf aufschlagen wollten, jetzt plötzlich hinten ausschlug und der Junge den Vorderhuf, den der Vater bearbeitete, losließ, griff der Texaner blitzschnell zu, packte den Huf mit der Linken und zog ihn hoch.
»So, Callhaun, nun tun Sie mir den Gefallen und halten Sie mir das Füßchen hier.«
Verwundert blickte ihn der Farmer an. Aber er tat, was ihm der Sheriff sagte und hielt den Huf.
Luke griff sofort nach der Zange, die das glühende Eisen in der Esse festhielt, zog den Hufrohling hoch und preßte ihn auf das Horn. Beizend stieg zischend weißgelber Qualm in die Höhe.
Luke legte das Eisen auf den Amboß, nahm einen der mittleren Hämmer und bearbeitete das glühende Metall. Klingende Hammerschläge tönten über den Hof.
Dann paßte er den Huf wieder auf, klopfte noch zweimal drauf herum und setzte ihn dann auf das Horn. Wieder zischte der stinkige Qualm hoch.
Aber der Huf saß.
Luke griff nach den Nägeln, und in Augenblicksschnelle saß das Eisen fest. Die Spitzen wurden abgekniffen und mit der Feile der Huf geglättet.
»So, der Stiefel ist besohlt!« meinte Luke.
Callhaun hatte den Huf des Hengstes losgelassen und schüttelte dem Hünen die Hand.
»Daß Luke Short für Tombstone ein großartiger Sheriff sein würde, das habe ich gewußt. Aber daß er auch ein so hervorragender Blacksmith ist, das wußte ich nicht.«
»So, jetzt zeigen Sie mir, wo die beiden Gäule gestohlen worden sind, Callhaun.«
Luke hatte schließlich nicht viel Zeit zu verlieren und ging mit dem Farmer über den Hof auf die Koppel zu, die von dreilattigen Gattern umzäunt war.
Er sah sofort, daß eines der Bretter angerissen war; und zwar konnte der Einriß noch nicht sehr alt sein, denn er war fast noch staubfrei.
»Hier standen sie. Unter dem kleinen Dachvorsprung schoben sie sich nachts immer an die Scheunenwand«, erklärte der Farmer.
»Und hier sind sie herausgekommen«, Luke deutete auf den Riß in einem der oberen Gatterbretter.
»Ja, tatsächlich, das Brett ist angerissen. Hier sind sie hinübergetrieben worden!«
Callhaun stand verwundert vor dem Gatter und tastete den Riß ab.
»Sie haben recht, er ist ganz neu. Ich habe die Gatter erst im Frühjahr erneuert.«
»Durchs Tor konnten sie nicht. Das haben Sie ja mit einer schweren Kette gesichert. Und diese zu öffnen, hätte offenbar zu viel Lärm verursacht.«
»Eben, sie haben die Tiere hier übers Gatter getrieben.«
Luke wandte sich um, lehnte sich gegen die Fenz und warf einen Blick in die Savanne hinaus.
Eine Spur würde jetzt nach mehreren Stunden kaum noch zu finden sein, da gegen Morgen ein starker Wind von den Bergen her den Flugsand durch die Savanne getrieben hatte.
Die beiden Männer gingen zusammen auf den Hof zurück, wo der Junge eben den Hengst striegelte.
»Wie sahen die Tiere aus?« erkundigte sich der Sheriff.
Callhaun beschrieb ihm die beiden Pferde.
»Und – haben Sie einen Verdacht?« Er streifte den Farmer mit einem kurzen Blick.
Der zog die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht. Und ich sollte es auch ganz sicher nicht sagen. Aber ich mache mir Sorgen darüber, daß mich Scotts Burschen seit einiger Zeit hier belästigen.«
»Die Leute von Irvin Scott?« erkundigte sich der Sheriff verblüfft.
»Ja, Sie dürfen sich nicht darüber wundern, Sheriff. Diese Burschen werden immer laut, wenn die Clantons leise werden. Das ist hier noch nie anders gewesen. Damals, als die Clanton Gang die Gegend beherrschte, waren die Scott Cowboys still, da sie nicht zu der Gang gerechnet werden wollten und auch befürchteten, mit ihr zusammenzugeraten. Aber nach dem Fight im O.K.-Corral wurden sie wieder laut und sind es seitdem auch geblieben. Es ist eine wilde, rüde Crew, die Irvin Scott da um sich gesammelt hat. Aber er hat natürlich sehr viele Rinder und eine große Ranch und braucht auch Leute; er kann sie sich schließlich nicht aussuchen. Wie niemand hier. Jeder ist froh, daß er Cowboys hat, einerlei, wo sie herkommen und wie sie beschaffen sind.«
»Und die Kerle machen Ihnen zu schaffen?« erkundigte sich Luke.
»Ja, es hat ja keinen Zweck, es zu verhehlen. Ich hatte schon längst einmal in die Stadt kommen wollen, aber es ist völlig sinnlos, mit Jonny Behan darüber zu sprechen. Ob man mit ihm spricht oder nicht: es ändert sich doch nichts.«
»Was stellen die Boys denn an?«
»Einmal stoßen sie mir das Wehr im Creek um, dann reißen sie mir die Markierungspfähle heraus. Oder sie kommen gar hierher und belästigen meine Tochter, wenn ich mit meinem Sohn nicht auf dem Hof bin.«
»Und das lassen Sie sich gefallen?«
»Ach, Mr. Short. Es ist so schwer, etwas dagegen zu unternehmen. Emy, meine Kleine, hat das Gewehr immer neben sich stehen, wenn ich nicht auf dem Hof bin. Neulich hat sie Irvins Sohn Clay mit der Waffe vom Hof schicken müssen.«
Luke stieß einen kleinen Pfiff durch die Zähne.
»Clay Scott!« Den Namen hatte er doch schon gehört. Er konnte sich nur nicht daran erinnern, wo das gewesen war. »Haben Sie ihn im Verdacht, daß er etwas mit dem Pferdediebstahl zu tun haben könnte?«
Der Farmer schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, Sheriff. Das glaube ich nicht. Der Bursche ist zwar verdammt ungebärdig und rücksichtslos, aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß er sich zu einem solchen Verbrechen hinreißen lassen würde.«
Pferdediebstahl galt im Westen als das schwerste Verbrechen neben dem Sheriffsmord, auf beides stand der Tod am Galgen.
»Well, ich werde mich nach den Gäulen umsehen, Callhaun.«
»In Ordnung, Sheriff.« Die beiden Männer verabschiedeten sich voneinander, und auch der Sohn Callhauns winkte Luke zu, als der sich in den Sattel zog.
Der Tex ritt aus dem Ranchtor und sah links auf einem kleinen Wiesenstück ein Mädchen stehen, das Wäsche von der Leine nahm. Es mochte etwa siebzehn Jahre alt sein, war gutgewachsen und hatte aschblondes, welliges Haar. Als es jetzt den Kopf wandte, blickte der Texaner in ein hübsches, kindliches Gesicht, das von einem seltsam hellen Augenpaar beherrscht wurde.
Er hob grüßend die Hand, und das Mädchen nickte.
Das also war Emy, die Tochter des Farmers.
Die Scott Ranch lag etwa sechs bis sieben Meilen von Callhauns Farm entfernt.
In gestrecktem Galopp preschte der Texaner auf seinem Rappen ostwärts. Schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit sah er einen turmartigen Bau auf einer Anhöhe am Horizont auftauchen.
Er hielt darauf zu und erkannte dann auch weitere Bauten, die neben dem Turm errichtet worden waren.
Die Scott Ranch glich einem Fort!
Lukes Vermutung, daß sie vielleicht wirklich ein altes Fort sei, war jedoch nicht richtig. Der Rancher hatte seinen Hof so angelegt, weil er eine derartige Bauweise in dieser Gegend offensichtlich für nützlich hielt.
Aber die Zeit der Indianerangriffe war so gut wie vorüber, und vor weißen Banditen schützte man sich doch nicht in dieser Weise. Anscheinend war dieser Irvin Scott ein ziemlich seltsamer Vogel, denn sonst hätte er sich wohl kaum eine drei Yard hohe Fenz um seine Ranch errichtet.
Luke ritt auf den Eingang zu und glitt dann aus dem Sattel.
»Reiten Sie nur weiter, Sheriff!« wurde er da von oben angerufen.
Er wandte sich um und sah auf der Brüstung des Turmes einen Mann stehen. Er mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein, hatte ein pockennarbiges bleiches Gesicht und stechende graue Augen. Sein Haar wuchs ihm bis in den Kragen hinein. Er trug einen braunen Stetsonhut und einen braunen Anzug, wie man ihn sonst selten auf einer Ranch sah.
Ohne Eile stieg er jetzt auf einer Treppenleiter vom Turm herunter und stand dann unten im Hof vor dem Texaner.
Er war nur mittelgroß, schlank, trug ein weißes Hemd und eine schwarze Halsschleife. Breit und doppelt mit gefüllten Patronenschlaufen gespickt war der Waffengurt.
Als der Texaner ihm jetzt ins Gesicht sah, wußte er plötzlich, wer da vor ihm stand.
Niemand anders als der junge Clay Scott.
Der Bursche fixierte ihn mit einem unangenehm, lauernden Blick und meinte: »Gehen Sie nur weiter, Sheriff!«
Luke blickte dem jungen Mann in die Augen.
»Sie sind wohl Clay?«
Der zog die Brauen zusammen. Zwei steile Falten standen auf seiner Stirn.
»Ja«, sagte er halblaut, »woher kennen Sie mich?«
Der Riese bleckte die Zähne und lachte. Dann fiel plötzlich dieses Lachen aus seinem Gesicht. Er wandte sich ab und ging in den Hof hinein, auf das große etwas klobige Ranchhaus zu.
Da flog oben die Haustür auf, und ein großer, flachshaariger Mensch – etwa vierzig Jahre alt – stampfte auf die Veranda.
Als er des Texaners ansichtig wurde, hielt er an.
»Ich fresse einen Besen, wenn das nicht der neue Sheriff von Tombstone ist.«
»Doch, Mister, es stimmt schon. Und wer sind Sie?« entgegnete der Tex.
»Ich bin Flat O’Connor, der Vormann der Scott Ranch.«
»Freut mich!« grinste der Hüne. »Wo ist der Rancher?«
»Sie müssen sich schon gedulden, bis er kommt.«
»Gedulden? Rufen Sie ihn!«
Der Vormann kniff das linke Auge ein und zog dabei auf eine merkwürdige Art Oberlippe und linken Mundwinkel nach oben.
»He, Short, Sie sind noch kein Marshal. Aber Sie haben schon ganz die Manieren Ihres Freundes Earp angenommen.«
Luke ging auf ihn zu: »Hören Sie, O’Connor. Entweder rufst du jetzt deinen Boß, oder ich steige auf meinen Gaul und reite davon, klar?«
O’Connor blickte zum Tor hinüber. »Mit dem Davonreiten wird das nichts, Short. Erst wenn der Boß mit Ihnen gesprochen hat!«
Luke blickte sich um und sah, daß das Tor vorn geschlossen worden war.
Er zog sich in den Sattel, nahm das Pferd herum und ritt auf das Tor zu.
»Clay!« Aber der Sohn des Ranchers war nirgends im Hof zu sehen.
Oben vom Turm brach die bellende Lache des Burschen los.
»Ha, da sitzt der große Luke in der Falle, nicht wahr?«
»Komm runter, Junge, und mach das Tor auf, sonst muß ich es mir selbst öffnen!«
»Ich möchte sehen, wie Sie das anstellen, Short.«
Luke drehte sich im Sattel um. Der Vormann stand noch abwartend auf der Veranda.
»O’Connor, ich fordere dich zum letztenmal auf, das Tor öffnen zu lassen!«
Der Vormann stemmte die Arme in die Hüften und rief zurück: »Und ich fordere Sie zum letztenmal auf, diesen Ton abzulegen, Short!«
Da rutschte Luke aus dem Sattel, ging auf das Tor zu und nahm den Querbalken heraus. Dabei mußte er feststellen, daß das Tor zusätzlich mit einer starken Kette gesichert war. Luke packte sie mit beiden Fäusten und riß daran. Rechts knirschte eine eiserne Krampe in dem starken Bohlenholz.
Der Texaner stemmte einen Fuß gegen das Tor und riß noch einmal mit seinen Bärenkräften daran.
Dem gewaltigen Druck vermochte die Krampe nicht länger standzuhalten. Sie gab nach und flog heraus. Die Kette schleuderte auf die linke Seite hinüber.
Luke packte einen der Torflügel und zog ihn auf.
Dann wandte er sich um.
»Bestell deinem Boß einen Gruß, O’Connor. Wenn ihm wieder einmal Rinder gestohlen werden, dann soll er sie an eiserne Ketten legen, die aber besser sein müssen als diese Uhrkette hier.«
Und mit einem Blick zu dem Burschen oben auf dem Turm gewandt, rief er:
»Und wenn ich noch einmal höre, Clay, daß du drüben auf der Callhaun-Farm jemandem auf die Nerven fällst, dann breche ich dir alle Knochen!«
Es hatten sich jetzt mehrere Männer im Hof eingefunden. Es waren Cowboys, die aus dem Corral und den Ställen gekommen waren. Aber niemand sagte ein Wort.
Luke zog sich in den Sattel und ritt davon.
Es war schon fast sechs Uhr, als er die Stadt erreichte. Er war sehr schnell geritten, weil er keine Minute länger als unbedingt notwendig von der Stadt entfernt bleiben wollte. Zwar saß ja Hump Donegan im Office, aber ihm war doch wohler, wenn er selbst in der Stadt war und die Gefangenen unter Aufsicht halten konnte.
Er brachte das Pferd in den Hof und betrat den Bureauraum.
Hump Donegan war nicht da. Lukes nächster Blick galt der schweren Tür zum Gefängnistrakt. Sie stand zwar nicht offen, aber dennoch ging er auf sie zu, öffnete sie, griff mechanisch nach dem Schlüsselbund und blieb dann wie angenagelt im Zellengang stehen.
Vier Gittertüren standen offen!
Die Gefangenen waren befreit worden!
»Donegan!« preßte der Riese durch die Zähne. Dann warf er sich herum und stürmte durch das Office. Als er die Tür zur Straße aufreißen wollte, blieb er stehen. Auf der Schwelle schimmerte ein feuchter Fleck. Er bückte sich, tastete mit dem Finger darauf: »Blut!«
Er wandte sich um und sah eine winzige Spur, die quer durch den Bureauraum auf die beiden Schlafkammern zulief.
Der Riese durchmaß den Raum mit weiten Schritten und stieß die Tür auf.
Der erste Raum war leer. Aber als er einen Blick durch die Tür in die Nachbarkammer warf, stockte sein Fuß.
Am Boden lag der Körper eines Mannes.
Es war Hump Donegan.
Er lag mit dem Gesicht auf dem Boden, dicht vor einem der Füße des eisernen Bettgestelles. Luke war sofort bei ihm, stieß die Tür weiter auf und kniete neben ihm am Boden.
»Hump!« Er drehte ihn um und blickte in ein kreidebleiches, eingefallenes Gesicht. »Hump!«
Ein dünner Blutfaden zog sich aus dem linken Mundwinkel des Deputys.
Luke riß dem Hilfssheriff die Jacke auf und fand auf der linken Seite des grauen Kattunhemdes drei Finger breit unter dem Herzen eine große blutige Stelle.
Da sah er, daß der grauhaarige Deputy mühsam die Augen öffnete.
»Boß«, röchelte er.
»Wer war es?« Luke beugte sich tief über ihn und brachte sein Ohr an den Mund des Schwerverletzten. »Wer war es?«
»Es war… es war…« Der Kopf des Deputys rollte zur Seite.
Luke preßte die Zähne zusammen und riß eine Decke von den Pritschen herunter, die er dem Verletzten unter den Kopf schob.
»Warte einen Augenblick, Hump, ich hole einen Arzt!«
Er sprang auf und rannte hinaus. Draußen vor der Tür prallte er mit einer Frau zusammen, die eine Milchkanne in der Hand trug, die jetzt auf den Boden fiel und auslief. Zwei Teller, auf denen Fleischstücke lagen, fielen ebenfalls zu Boden und zersprangen.
Der Texaner entschuldigte sich mit einem kurzen Wort und bat sie, ins Office zu gehen. »Ich komme gleich zurück. Ich muß zum Doc!«
Er tigerte in weiten Sätzen über die Straße, drückte sich drüben durch eine dichte Reihe wartender Pferde vor der Alhambra Bar und klopfte an die Tür des Arztes.
Dessen verknöcherte ältliche Schwester kam an die Tür.
»Oh, Sie sind es, Sheriff!«
»Madam, wo ist der Doc?«
»Oh, er ist nicht da.«
»Wo ist er?« erkundigte sich der Riese hastig.
»Ich glaube, er ist nach Tornquist gefahren.«
»Nach Tornquist? Goddam bloody! Das sind doch mindestens fünfzehn Meilen von hier.«
»Ja, so weit dürfte es etwa sein, Sheriff.«
»Heavens!« Er wandte sich um, lief weiter die Allenstreet hinunter und bog ab in die Secondstreet.
Doc Keenan, der andere Arzt des Ortes, hatte dort seit drei Jahren ein Haus gemietet. Aber auch er war nicht daheim. Seine junge Frau erklärte dem Sheriff, daß ihr Mann hinunter nach Tucson gefahren sei, wo er sich neue Instrumente besorgen wolle.
»Dazu fährt man doch nicht nach Tucson! Die kann man sich doch mit der Post schicken lassen. Herrgott, in der Zwischenzeit kann die ganze Stadt verbluten. Wo finde ich nur jetzt einen Doktor?«
»Ist denn Doc Holliday nicht da?«
»Doc Holliday«, entgegnete der Riese. »Glauben Sie denn, wenn er in der Stadt wäre, würde ich Ihren Mann holen?«
Grußlos wandte er sich um und lief zur Allenstreet zurück.
Da sah er auf der anderen Straßenseite eine rundliche Frau mit einem Blech, auf dem sie einen noch ungebackenen Kuchen trug.
»Miß Bourland!«
Die rundliche Frau drehte sich um und begrüßte den Riesen freundlich. Es war dieselbe Frau, die damals den Kampf im O.K.-Corral von ihrem Fenster aus beobachtet hatte und die im folgenden Prozeß daher für die Earps aussagen konnte.
»Miß Bourland, ich suche einen Arzt.«
»Ist Doc Sommer nicht da?«
»Nein, und Keenan auch nicht.«
»Ist es denn schlimm?«
»Ja, Donegan, mein Deputy, liegt im Office mit einer schweren Verwundung!«
»Dann sollten Sie vielleicht zu Gulbranson gehen.«
»Gulbranson? Wer ist denn das?«
»Er war auch einmal so etwas wie ein Arzt, habe ich gehört. Er wohnt unten in einer Hütte in den Miner Camps.«
»Vielen Dank!« rief er und war schon unterwegs.
Ein Junge wies ihm die Hütte des einstigen Feldschers.
Gulbranson war in den Befreiungskriegen Feldarzt gewesen, und nach dem Kriege hatte er den Weg nicht mehr zurück in seinen Beruf finden können. Der wahre Grund dafür war der Whisky. Gulbranson war ein fürchterlicher Säufer.
Die Hütte, die der Junge dem Texaner bezeichnet hatte, stand abseits von den anderen Behausungen. Sie war klein, windschief und halb zerfallen.
Luke klopfte an die Tür.
Als sich niemand meldete, öffnete er die Tür und fuhr erschrocken zurück.
Ein gewaltiger schwarzer Kater schnellte ihm von einem Schrank, auf dem er anscheinend bis jetzt gehockt hatte, entgegen.
Im letzten Augenblick konnte Luke den Kopf noch wegziehen, so daß das Tier wie ein Geschoß an ihm vorbeizischte.
Luke zog die Tür sofort hinter sich zu, und der angriffslustige Kater, der offenbar das Haus zu verteidigen hatte, stand draußen.
Die Hütte bestand aus zwei Kammern. Hier vorn in dem winzigen Raum standen ein Bett, ein Stuhl und der eben erwähnte Schrank. Rechts war die Tür zum Nebenraum. Luke klopfte an.
Auch jetzt erhielt er keine Antwort.
»Mr. Gulbranson!« rief er.
Niemand meldete sich.
»Mr. Gulbranson! Ich möchte mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Short, ich bin der Sheriff!«
Da wurde die Tür aufgerissen.
Im schwachen Licht, das durch ein winziges Fenster in den muffigen Raum fiel, konnte der Riese die gebeugte Gestalt eines Mannes erkennen, dessen Gesicht völlig eingefallen und zerfurcht war. In tiefen Höhlen lagen die Augen, und die Spitze der Nase bog sich schon dem Kinn entgegen. Der Mund schien völlig zahnlos zu sein. Der Mann hatte langes, wirres, schütteres Haar, das von weißgelblicher Farbe war. Die Jacke, die er trug, war von zahllosen Flicken übersät. Das Hemd war kragenlos und schmierig, und die viel zu weite Hose schlotterte ihm um die Beine. Seine nackten Füße steckten in ledernen Pantoffeln.
Die Rechte, die jetzt den Türgriff hielt, zitterte.
Dann öffnete der Alte seinen zahnlosen Mund. Sein Unterkiefer schob sich dabei gefährlich weit der Nase entgegen. Heiser kamen die Worte aus seiner Kehle: »Der Sheriff? Wir haben doch hier keinen Sheriff. Von diesem Lappmann, diesem Behan, kann doch niemand im Ernst behaupten, daß er ein Sheriff wäre.«
»Mein Name ist Short, Mr. Gulbranson. Luke Short.«
Da ließ der Alte die Klinke los und trat einen Schritt zurück.
»Luke Short? Damned, ich suche die ganze Zeit Ihren Kopf. Der hängt ja oben an der Decke. Wie groß sind Sie denn um Himmels willen? Ich habe ja schon vieles gesehen, aber einen solchen Goliath noch nicht.«
»Mr. Gulbranson, bei mir im Office liegt ein Mann mit einer lebensgefährlichen Verletzung in der Brust. Ich vermute, es ist ein Messerstich…«
»Und?« stotterte der Alte. »Was habe ich damit zu tun?«
»Aber, Mr. Gulbranson, der Mann stirbt.«
»Und? Hahahaha!« Der Alte lachte meckernd. »Glauben Sie vielleicht, daß ich ihm helfen könnte? Holen Sie doch Doc Holliday, der versteht sich auf diese Dinge viel besser als jeder andere. Ich kann dem Verletzten nicht helfen. Hier, sehen Sie sich das an!«
Er hielt dem Texaner ein Händepaar entgegen, dessen knotige Finger auseinanderstanden und fürchterlich zitterten.
»Damit kann ich keinem mehr helfen! Kaum noch mir selbst. He, hehehe!«
Da packte Luke ihn an den Schultern und schüttelte ihn.
»Gulbranson, der Mann stirbt! Sie müssen ihm helfen!«
»Warum holen Sie dann nicht Doc Holliday?« geiferte der Alte.
»Doc Holliday ist nicht in der Stadt!«
»Und? Da sind doch noch Sommers und Keenan.«
»Die sind beide nicht da. Kommen Sie mit, Gulbranson.«
Luke packte ihn am Kragen und wollte ihn hinausschleifen.
»Augenblick, Augenblick!« krächzte der Alte. »So geht das nicht. Erst muß Vater Gulbranson noch einen Schluck nehmen.«
Er schlurfte in die Ecke, nahm aus einer alten hochgestellten Kiste eine schmierige Flasche und setzte sie an den Mund. Der Schluck, den er nahm, leerte die Flasche zu einem Drittel. Zitternd stellte er sie dann zurück, wandte sich um und ging an einen Tisch, dessen Lade er herauszog.
»Was suchen Sie denn noch, um Himmels willen, Gulbranson? Nun kommen Sie doch schon!«
»Was wollen Sie denn, ich muß doch wenigstens etwas Kram mitnehmen.«
»Etwas Kram, was denn?«
»Na ja, ein paar Messer und Scheren und Lappen, die ich hier liegen habe.«
»Lassen Sie bloß Ihre dreckigen Lappen und rostigen Messer hier. Ich besorge das Zeug bei Sommers. Kommen Sie!«
Er schleifte den Alten hinaus.
»Aber ich kann doch nicht in Pantoffeln gehen. Sie bilden sich doch nicht ein, daß ich damit den weiten Weg zurücklegen werde.«
»Haben Sie denn keine Schuhe?«
»Ja, ja, wenn ich bloß wüßte, wo sie wären. Vielleicht hat sie der Kater verschleppt, oder Mr. Billinger.«
»Herrgott, so suchen Sie schon Ihre Stiefel!«
Der Alte bückte sich, kroch unter den Tisch, schob ein paar Wäschebündel zur Seite, zwei Säcke, die mit Holzstücken gefüllt waren, und andere Dinge. Aber das, was er suchte, fand er nicht.
»Wo haben Sie bloß Ihre Schuhe?«
»Ich weiß es doch nicht. Vielleicht sollten wir den Kater fragen, ähähähäh, oder Mr. Billinger.«
»Verdammt, wo steckt dieser Billinger?«
»Der wohnt drei oder vier Häuser weiter, so genau weiß ich das nicht. Warten Sie, ich muß noch einen Schluck aus der Flasche nehmen.«
Als er sich erhoben hatte, packte Luke ihn und stieß ihn zurück, daß er krachend gegen den Tisch prallte.
»Sie kommen jetzt mit, Gulbranson! Oben im Office liegt ein Mensch im Sterben!«
Der Alte schien durch den Aufprall ernüchtert worden zu sein.
Aus glanzlosen, geweiteten Augen blickte er den Texaner an.
»Im Sterben? Well, der liegt – und ich stehe. Und beide machen wir trotzdem das gleiche durch: ich sterbe auch, sehen Sie mich doch an. Ich sterbe im Stehen!«
»Kommen Sie mit!« Der Texaner packte ihn am Arm und zerrte ihn aus der Hütte.
Als er mit ihm in der Chestnutstreet ankam, blieben einige Schuljungen stehen und fingen an laut zu lachen.
Als sie aber den Blick des Sheriffs sahen, huschten sie wie die Ratten davon.
Keuchend schleppte sich der Alte neben dem Texaner her. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, und seine Knie schlotterten fürchterlich. Er rang röchelnd nach Atem. Oben an der Allenstreet knickte er plötzlich neben einer Pferdetränke zusammen und kauerte sich, auf allen vieren gestützt, am Boden.
»Kommen Sie, Gulbranson, wir müssen weiter«, mahnte der Sheriff ihn.
Der Alte ließ den Kopf hängen und schüttelte ihn nur matt.
»Ich kann nicht weiter, Sheriff, ich kann nicht, sehen Sie es denn nicht?« schrie er gurgelnd. »Meine Beine tragen mich nicht mehr. Einen so weiten Weg habe ich Jahre nicht mehr gemacht!«
Er war ein menschliches Wrack, obgleich er erst dreiundfünfzig Jahre zählte, und der Vergleich, den er vorhin gezogen hatte, war gar nicht so falsch, denn auch er lag gewissermaßen im Sterben.
Sein Körper war schon im Übergang begriffen. Da packte ihn der Riese kurzentschlossen, hob ihn hoch und trug ihn auf seinen starken Armen die Straße hinunter.
Es scherte ihm dabei nicht, daß die Menschen auf den Gehsteigen erschrocken stehenblieben und ihm nachstarrten.
Als er das Office erreichte, stellte er ihn wieder auf die Füße. »Kommen Sie, Gulbranson, er liegt drüben in der Schlafkammer.«
Der Alte torkelte vorwärts, mußte sich an der Wand festhalten, dann am Schreibtisch, am Gewehrständer und schließlich im Türrahmen. Keuchend und mit gesenktem Kopf stand er da und japste verzweifelt nach Luft wie ein Fisch, der aufs Trockene gespült worden war.
Luke beugte sich über Donegan.
»Hump! Hump! Hören Sie mich?«
Der Mann am Boden hatte die Augen aufgeschlagen.
»Ja…, Boß!« kam es röchelnd aus seiner Kehle. »Haben Sie… einen Doc gefunden?«
Luke wandte sich um. Seine Augen brannten in dem jetzt angehobenen Gesicht des Arztes.
»Ja, ich habe einen gefunden, er ist mitgekommen. Da steht er. Kommen Sie schnell, Doc, kommen Sie. Helfen Sie ihm.«
Gulbranson wagte es nicht, den Türrahmen loszulassen, weil er genau wußte, daß er dann hingefallen wäre.
Luke bemerkte es. Er stand auf, ergriff ihn am Arm und führte ihn zu dem Schwerverletzten.
Gulbranson deutete auf das Bett.
»Können Sie ihn nicht darauf legen, Sheriff?«
»Natürlich.«
Luke hob den Verletzten auf und legte ihn auf Virgil Earps alte Pritsche.
Gulbranson hockte auf der Bettkante, weil er nicht stehen konnte. Auf beide Hände mußte er sich stützen.
Luke öffnete dem Verletzten die Jacke. »Da, sehen Sie selbst!«
Gulbranson nickte keuchend. »Ja, ja, ich…« Mit dem Kopf winkte er den Riesen zu sich heran. »Ich brauche… einen Whisky, Sheriff, einen Whisky«, röchelte er.
»Damned!« entfuhr es dem Riesen. »Sie sollen dem Mann helfen!«
»Ja, aber ich brauche erst einen Whisky!«
Luke stürmte hinaus, lief in Harpers Bar nebenan und nahm eine Flasche Whisky von dem Tresen: »Ich bezahle sie nachher, Fred!«
Der Keeper nickte: »All right, Sheriff.«
Auf dem Weg zum Office riß der Texaner den Korken aus der Flasche, und als er in die Schlafkammer kam, sah er, daß der Arzt dem Verletzten schon das Hemd geöffnet hatte.
»Geben Sie her!« Gulbranson hob die Flasche mit zitternder Hand und nahm einen gewaltigen Schluck. Seine Augen begannen allmählich zu glänzen. »So, jetzt können wir der Sache nähertreten. Jetzt braucht er erstmal einen Schluck.«
Luke mußte Donegans Kopf anheben, und der Alte versuchte, ihm einen Schluck Whisky einzuflößen, was auch gelang.
Dann machte er sich daran, mit Hilfe des Whiskys und sauberen Lappen, die Luke aus Virgils alten Beständen hervorgeholt hatte, die Wunde zu reinigen.
Als er schließlich mit seinen zitternden Händen einen dicken Verband angelegt hatte, meinte Luke: »Was war es denn nun?«
Der, Alte schüttelte den Kopf: »Ich weiß es nicht. Eine Verwundung ist es.«
»Aber Mann«, stieß Luke hervor. »Kann es etwa auch ein Schuß gewesen sein?«
»Natürlich, es kann alles gewesen sein…«
Da packte Luke den Alten an der Schulter und zerrte ihn herum.
»Gulbranson, wenn es ein Schuß war, dann kann die Kugel vielleicht noch in seiner Brust stecken?«
Der Alte zuckte zusammen. »Ach so? Das… glaube ich nicht. Das, nein, ich weiß es nicht. Ich, ich… Es sah aus wie ein Stich, wie Sie schon richtig sagten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine Kugel gewesen sein soll…« Und dann schien ihm ein Gedanke zu kommen: »Man müßte ihn vielleicht fragen!«
»Fragen! Er hat die Augen geschlossen. Er ist ohnmächtig. Wie sollen wir ihn fragen?«
Mit gesenktem Kopf erhob sich der Alte und torkelte zur Tür.
Dort hielt er sich fest und griff nach dem Gewehrständer draußen, um sich zu stützen. Dann aber besann er sich, kam plötzlich wieder zurück und griff, mit einem lauernden Blick auf den Sheriff, nach der Flasche.
»Kann ich die mitnehmen?«
»Ja, nehmen Sie sie mit, und kommen Sie mir nie wieder unter die Augen!«
Der Trinker schaukelte davon.
Verzweifelt starrte der Texaner auf den Verwundeten. Er stand am Fußende des Bettes und beobachtete ihn.
Es waren mehrere Minuten vergangen, da wurde vorn die Tür des Offices geöffnet. Luke konnte von seinem Platz aus – am Fußende des Bettes – den Eintretenden sehen.
Es war ein vielleicht achtundzwanzigjähriger Bursche in Cowboytracht, der sich im Office umsah. Als er den Sheriff nicht entdecken konnte, stieß er einen Fluch aus und wollte wieder verschwinden.
Da tauchte Luke in der Tür der Schlafkammer auf.
»Was gibt es?«
Der Cowboy, der sich schon abgewandt hatte, fuhr herum.
»Sheriff, Sie müssen sofort kommen! Auf der Wilkins Ranch brennt es!«
»Hören Sie, Mann. Meinetwegen kann die Ranch abbrennen. Ich kann jetzt nicht weg. Ich bin einmal weggegangen heute, da sind mir vier Gefangene entkommen. Und der Deputy liegt drinnen in der Kammer und ist schwer verwundet.«
Der Cowboy trat von einem Bein auf das andere.
»Was soll ich dem Boß berichten, Sheriff? Was soll ich ihm sagen?«
Da stieß der Texaner einen ellenlangen Fluch aus, griff aber nach seinem Hut und stülpte ihn sich auf den Kopf.
»All right, ich komme mit.« Er trat noch einmal an das Bett des Verwundeten. Der hatte die Augen geschlossen. »Hump«, kam es leise über die Lippen des Riesen. Aber Donegan rührte sich nicht.
Der Texaner ging mit dem Cowboy hinaus.
»Warten Sie, ich muß noch einmal hinüber zu Doc Sommers. Dann komme ich.«
Der Arzt war natürlich noch nicht daheim. Aber die Frau kam an die Tür.
Der Riese verdunkelte mit seiner Gestalt den ganzen Eingang.
»Hören Sie, Miß«, er deutete mit dem linken Daumen über die Schulter: »Drüben im Office liegt ein Sterbender. Vielleicht können Sie einmal nach ihm sehen. Ich muß weg. Irgendwo auf einer Ranch brennt es. Ich komme so schnell wieder, wie es geht.«
»Ja, ich werde nach ihm sehen, aber ich kann ja auch nicht helfen.«
»Egal, nehmen Sie einen Medizinkasten mit und gehen Sie hinüber, vielleicht können Sie ihm doch helfen. Und dann lassen Sie wieder nach Doc Keenan schicken, vielleicht ist er inzwischen zurückgekommen.«
Er holte seinen Rapphengst aus dem Stall und ritt zusammen mit dem Cowboy nach Osten davon aus der Stadt.
Erst als er mehrere Meilen hinter sich hatte, kam ihm der Gedanke, daß er Nellie Cashman hätte verständigen lassen sollen, sie hätte bestimmt helfen können. Jedenfalls hätte sie um Wyatt Earps willen, den sie insgeheim liebte, alles versucht.
In voller Karriere sprengte der Cowboy der Talsenke entgegen, die sich hinter dem großen Knie des Silver creek nach Osten hinüberzog. Am Ende diese Senke, etwa elf Meilen von Tombstone entfernt, lag die kleine Wilkins Ranch. Schon aus der Ferne sah man einen schwarzgrauen Rauchpilz in den violettblauen Abendhimmel steigen.
Der Texaner hatte die Lippen zusammengepreßt, und nachdem er jetzt die Richtung kannte, nahm er die Zügel hoch und sprengte dem Cowboy davon. So schnell wie der Rapphengst vermochte der braune Wallach, den der Weidereiter ritt, nicht vorwärtszukommen.
Als Luke den kleinen Hof erreichte, war eine etwas abseits stehende Scheune bereits niedergebrannt und durch den Funkenflug hatte das Feuer auch schon auf das Dach des benachbarten Bunkhauses übergegriffen.
Drei Männer waren verzweifelt damit beschäftigt, den Brand in den Dachsparren des Mannschaftshauses zu löschen.
Luke sprang vom Pferd.
Er hatte die Lage sofort übersehen.
Das Mannschaftshaus war kaum noch zu retten. Aber dicht daneben war das große Stallhaus, und wenn das niederbrannte, dann erst war der Schaden riesengroß. Die Scheune war vernichtet, und der Kampf um das Bunkhaus war schon fast sinnlos geworden.
»Männer!« rief der Tex den drei Löscharbeitern zu. »Das hat keinen Zweck mehr! Wir müssen das Stallhaus retten!«
Einer der Männer, die die Eimer zum Dach reichten, drehte sich um. »Luke Short!« rief er. Er schien den Sheriff also zu kennen.
»Wir müssen das Mannschaftshaus retten.«
»Es ist nicht mehr zu retten! Da unten brennt es an der Seite und oben auch! Das ist nicht mehr aufzuhalten. Das Stallhaus muß gerettet werden!«
»Wie soll das geschehen?« wollte Rancher Wilkins wissen.
»Los, Wasser an die linke Front des Stallhauses! Das Holz muß so naß werden, daß das Feuer nicht weiter überspringen kann. Die Männer sollen von dem Dach herunterkommen, ehe sie sich verbrennen oder im Rauch ersticken. Das ist doch Wahnsinn. Und das Vieh aus dem Stall! Vorwärts!«
Das Bunkhaus war tatsächlich nicht mehr zu retten, denn der Brand hatte seine Rückseite schon stark angefressen, nagte bereits an der Seitenfront, und die Flammen züngelten auch schon vorn aus den großen Löchern, die die Flammen bereits in den flachen Dachstuhl gerissen hatten, in den verrauchten Hof hinaus. Die schweren Rauchwolken, die in gewaltigen Schwaden von der niedergebrannten Scheune herüberzogen, machten die Arbeit nahezu umöglich.
Unter verzweifelten Anstrengungen wurde jetzt die linke Seitenfront des Stallhauses mit solchen Wassermassen übergossen, daß das Feuer nicht so leicht überspringen konnte.
Dennoch waren mehr als drei Stunden vergangen, bevor man mit Sicherheit wußte, daß das Stallhaus nicht niederbrennen würde.
Das Bunkhaus, glücklicherweise nur ein kleiner, sehr alter Bau, lag neben der niedergebrannten Scheune in Schutt und Asche da. Immer noch prasselten Balkenstücke nieder, und Flammenlohen zuckten funkenstiebend auf.
Aber die Gefahr war gebannt und der Brand so gut wie erstickt.
Rußgeschwärzt zog sich der Texaner auf sein Pferd und verabschiedete sich mit einem kurzen Gruß von dem Rancher.
Der schüttelte ihm stumm die Hand.
Luke preschte wieder der Stadt entgegen.
Es war dunkel geworden mittlerweile. Als er in der Ferne die Lichter Tombstones auftauchen sah, gab er seinem Hengst die Sporen und schoß über die Savanne dahin nach Westen, der Stadt entgegen.
Sein erster Weg galt Donegan.
Der lag immer noch reglos auf seinem Lager.
Der Texaner beugte sich über ihn und lauschte nach seinem Atem.
Erschrocken fuhr er zurück.
»Er atmet nicht mehr«, kam es tonlos über seine Lippen.
Da erinnerte sich Luke daran, daß er einmal bei Doc Holliday die Papierprobe gesehen hatte. Er lief hinüber ins Office, nahm ein dünnes Papier aus einem der Fächer und legte es Donegan über das Gesicht.
Mit angehaltenem Atem stand er da und starrte auf den Deputy!
Da! Das Blatt bewegte sich und rutschte langsam zur Seite.
Er lebte also noch!
Luke verließ das Office und lief hinunter zum Russian House. In der Halle kam ihm der Schwarze entgegen.
»Sam, wo ist Miß Cashman?«
Der Neger rollte die Augen. »Oh, sie ist in der Kirche.«
»In der Kirche?« fragte der Riese verzweifelt.
»Ja, der neue Reverend hält eine Predigt.«
»Jetzt, am Abend?«
»Ja, am Morgen war er ja noch nicht hier, Mr. Short.«
»Allmächtiger!«
Luke verließ das Hotel und suchte die kleine presbyterianische Kirche unten am Ende der Chestnutstreet auf. Sie war bis auf den letzten Platz gefüllt mit andächtig lauschenden Menschen. Vorn links auf dem Podium stand der neue Reverend.
Es war ein etwa vierzigjähriger, hochgewachsener Mann, der erst vor wenigen Monaten aus England herüber nach Amerika gekommen war.
Als Reverend Hastings jetzt den Hünen im Kirchentor stehen sah, unterbrach er seine Predigt, trat in die Mitte des Podiums und sagte: »Ich muß meine Predigt unterbrechen, da ich den Sheriff in die Kirche treten sehe. Ich nehme an, es ist etwas Wichtiges geschehen?«
Luke nickte. Er hatte mit einer etwas unbeholfenen Geste seinen großen weißen Hut vom Kopf genommen und drehte die Ränder jetzt in seinen gewaltigen Fäusten.
»Ja, Mr. Hastings, mein Deputy ist schwer verwundet worden. Ich finde keinen Arzt. Da habe ich unten aus den Miner Camps den alten Gulbranson geholt. Aber ich mache mir Sorgen um Donegan. Mr. Gulbranson hat ihm einen Verband angelegt, aber ich weiß nicht, vielleicht hat der Mann doch eine Schußverletzung…«
»Und wie kann ich Ihnen helfen?« erkundigte sich der Geistliche verblüfft.
Luke sah sich um. Plötzlich hatte er das Gesicht entdeckt, das er suchte.
Es war ein schmales, schöngeschnittenes, etwas blasses Frauengesicht, von dunklem Haar umrahmt.
»Ich wollte Miß Cashman um Hilfe bitten, Reverend.«
»Aber natürlich, wenn Miß Cashman Ihnen helfen kann.«
Die junge Frau stand sofort auf und ging mit demütigem Gesicht hinaus.
Der Riese stampfte wie ein Bär neben ihr her.
»Es tut mir leid, Miß Nellie, daß ich Sie aus der Kirche geholt habe, aber ich weiß mir wirklich keinen Rat. Der Bursche stirbt. Und ich glaube, Gulbranson konnte ihm nicht viel helfen.«
»Nein, Mr. Gulbranson kann wohl kaum noch jemandem helfen. Der braucht selbst Hilfe.«
Zusammen gingen sie zum Office hinunter.
Nellie Cashman nahm dem verwundeten Hilfssheriff den Verband ab und sah, daß die Wunde verhältnismäßig gut gereinigt war.
»Das ist keine Schußverletzung, Mr. Short.«
»Nein, ich nahm es auch nicht an, außerdem war der alte Bursche schließlich auch einmal Feldscher und wird eine Stichverletzung doch von einer Schußverletzung unterscheiden können.«
»Das nehme ich auch an.« Nellie Cashman legte dem Verletzten den Verband wieder an.
»Vielleicht haben Sie ihn auch nur mit Ihrer Frage verwirrt.«
»Das kann schon sein, denn der Bursche war ziemlich fertig.«
Aber es war nicht nutzlos, daß er die Frau geholt hatte. Nellie Cashman vermochte dem Verletzten doch zu helfen. Als sie das Office nach einer halben Stunde verließ, konnte Luke davon überzeugt sein, daß alles getan worden war, was getan werden mußte.
Er bedankte sich bei der Frau und geleitete sie hinaus.
Natürlich wäre ihm wohler gewesen, wenn Doc Holliday hiergewesen wäre. Aber jetzt war Donegan einigermaßen versorgt.
Luke warf noch einen prüfenden Blick auf den Verwundeten, schob dann seine beiden Revolver nach vorn, zog sich den Hut in die Stirn und verließ das Office.
»So, und jetzt werde ich die Gefangenen suchen«, knurrte er grimmig vor sich hin und ging die Straße hinunter zum Crystal Palace. Als er die Pendeltüren auseinanderstieß, fuhren die drei Männer, die an der Theke gestanden hatten, herum.
Es waren drei Galgenvogelgesichter, die, dem Sheriff nur allzugut bekannt, ihm jetzt entgegenstarrten.
Das erste gehörte dem Dandy-Schießer Jonny Ringo, das zweite dem brutalen Rowdy James Curly Bill und das dritte dem fahlgesichtigen Ted Marlowe.
Daß der Messerwerfer Marlowe wieder in der Stadt war, hatte Luke noch gar nicht gewußt.
Er blieb im Eingang stehen, legte den Kopf etwas schief und fixierte die drei Gestalten. Dann ging er mit harten Schritten auf die Theke zu.
Die drei wichen unwillkürlich zurück.
Luke blieb am Tresen stehen, den rechten Arm auf das Thekenblech gelegt und, ohne die drei Gestalten aus den Augen zu lassen, fragte er den Keeper: »Mir sind drüben vier Vögel aus dem Käfig entflogen, Jack. Hast du vielleicht einen davon gesehen?«
Die drei Tramps rührten sich nicht. Unverwandt starrten sie in die grünen Augen des Texaners.
»Nein«, entgegnete der Keeper. »Nein, Sheriff, ich habe keinen von ihnen gesehen.«
Jonny Ringo trat einen Schritt vor. Das zynische Lächeln, das so typisch für ihn war, stand in seinen Augen. Er verzog den Mund auf eine unangenehme Weise, stützte die Hände auf die Hirschhornkolben seiner beiden Revolver und spreizte die Beine, wobei er die Hacken nach außen drehte.
»Ich könnte mir denken, Sheriff«, meinte er höhnisch, wobei er das Wort Sheriff besonders spöttisch betonte, »daß ich nicht mit Ihnen darüber sprechen würde, wenn ich einen der bedauernswerten Menschen, die aus Ihrem Jail weggelaufen sind, auf der Straße träfe.«
Luke kniff das linke Auge ein: »Ich habe auch nichts anderes von Ihnen erwartet, Ringo. Aber eines will ich Ihnen sagen: wenn Sie oder diese beiden Burschen hier irgend etwas mit der Befreiung der vier Halunken zu tun haben, dann gnade Ihnen Gott.«
Er wandte sich um und ging auf die Tür zu.
Nicht der kaltschnäuzige Dandy-Schießer und Falschspieler John Ringo war es, und auch nicht der sonst so gewissenlose und unüberlegte Schläger und Revolverschwinger James Curly Bill Brocius – sondern Ted Marlowe war es, der plötzlich den Revolver aus seinem linken Halfter zog, nach vorne stieß und den Hahn spannte!
Sein gelbes Gesicht war dabei maskenhaft verzerrt und seine Augenspalten eng geschlossen.
Während er den Hahn durchriß, brüllte er: »Short!«
Wie ein Phantom wirbelte der Goliath herum. Niemand hätte ihm je zugetraut, daß er sich so schnell um seine eigene Achse drehen könnte. In beiden Fäusten hatte er die Revolver, und die Geschosse spritzten dem Banditen entgegen.
Yardhoch zuckten die Mündungsflammen.
Weißgraue Pulverwolken zogen in die Mitte des Raumes.
Ringo und Brocius standen wie erstarrt da.
Marlowes Revolver lag drei Yard hinter ihm auf den Dielen.
Über seinen linken Handrücken zog sich eine dunkelrote Blutspur. Das Gesicht des Coltmans spiegelte jedoch nur namenlose Verwunderung wider.
Der Texaner ließ die beiden Revolver in die Halfter zurückfliegen und schob die dunkelroten Kolben nach vorn.
»Marlowe, du scheinst mir noch ziemlich grün hinter den Ohren zu sein. Wer einen Revolver in die Hand nimmt, der sollte zumindest damit umgehen können.«
Mit raschen sporenklirrenden Schritten ging der Riese auf ihn zu.
Der gerissene Ringo wich rasch zur Seite.
Aber James Curly Bill hielt seine Minute für gekommen. Er schnellte dem Riesen in die Flanke, hatte aber das Pech, daß der mit seinem Angriff gerechnet hatte und einen linken Backhander herumriß, der krachend den Schädel des Tramps traf.
James Curly Bill wurde weit in die Tischreihen geschleudert und sackte dort zusammen.
Marlowe war stehengeblieben. Eisige Kälte stand in seinen Augenschlitzen.
Luke war weitergegangen, hatte ihn jetzt erreicht und hieb ihm plötzlich eine Ohrfeige herunter, die ihn zweimal um die eigene Achse drehte und gegen die Theke warf.
»Ich nehme an, Kleiner, daß du diese Antwort als ein Geschenk betrachten wirst, wenn du bedenkst, daß das Ziehen eines Revolvers im Rücken eines Sheriffs mit zehn Jahre Zwangsarbeit bestraft wird. So long, Boy.«
Ohne die anderen noch eines Blickes zu würdigen, ging er dem Ausgang zu.
Jonny Ringo, der ungeschoren davongekommen war, war nicht der Mann, ihn aufzuhalten.
Luke ging die Thirdstreet hinauf und blickte oben bei der breiten Fremontstreet angekommen, die Häuserzeile entlang.
Schräg gegenüber der Gassenmündung lag Jonny Millers Bar, jene verrufene Schenke, deren Besitzer längst irgendwo in den Steinbrüchen eines Straflagers arbeitete.
Der Tex stand mitten auf der Straße. Aus den Fenstern fielen Lichtkegel, die sich wie Finger einander entgegenstreckten.
Luke ging auf die Bar zu und blickte durch eines der mit Buntpapier verklebten Fenster, in dem er eine aufgekratzte Stelle gefunden hatte.
Die Bar war leer – bis auf den einzelnen Gast, der drüben an der Theke lehnte.
Der Texaner glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen: Der einsame Zecher war niemand anders als Jimmy King! Einer der ausgebrochenen Gefangenen!
Luke, der gleich nach Verlassen des Crystal Palace die verschossenen Patronen nachgeladen hatte, schob die beiden Revolverhalfter weiter nach vorn und trat dann auf den Eingang zu.
Sprungbereit öffnete er die Tür, auf einen Hinterhalt gefaßt. – Aber nichts geschah.
Jimmy King hatte beide Ellbogen auf die Thekenkante gestützt und den Kopf in die Hände gelegt. Vor ihm stand eine Flasche, in der nur noch etwa ein knappes Fünftel Whisky war.
Luke ging auf ihn zu und tippte ihm auf die Schulter.
Langsam wandte der Outlaw den Kopf.
Der Texaner blickte in ein glasiges Augenpaar.
»Hallo, Jim!«
»Hallo… Sheriff… Haha, daß wir uns hier treffen…!«
»Zu komisch, nicht wahr?« entgegnete Luke, ohne die Zähne auseinander zu nehmen. Dann packte er den Burschen plötzlich am Arm und zerrte ihn mit sich.
»Wo wollen Sie mit mir hin?«
»Dreimal darfst du raten, Kreole!«
*
Wyatt Earp und Doc Holliday waren Ike Clanton von Martini aus – die Nacht hindurch – der Grenze der Staaten zu gefolgt.
Ike hielt genau auf die Grenze zu, und zwar in nordöstlicher Richtung auf das Cochise County.
»Er reitet nach Hause«, meinte der Marshal, als sie ihn in der Ferne das ansteigende Grenzplateau anstreben sahen.
Es war nicht allzuschwer, den Mann in diesem Gebiet zu verfolgen, da für ein scharfes Augenpaar im fahlen Mondschein gegen den hellen Sand ein Reiter meilenweit sichtbar war. Andererseits mußten sie einen gewissen Abstand halten, um nicht zu nahe an den Verfolgten heranzukommen, denn dann bestand die Möglichkeit, daß er sie bemerkte. Hatte der Marshal doch bis jetzt gehofft, daß Ike ihn zu dem geheimen Lager der Galgenmänner führen würde, diese Hoffnung hatte sich indessen für Wyatt bereits zerschlagen, denn das Geheimcamp der Graugesichter hätte sich auf mexikanischem Boden befinden müssen, jetzt aber waren sie schon nahe an der Grenze der Unionsstaaten.
Ike Clanton ritt die ganze Nacht hindurch in scharfem Trab auf die Sunnyside Plains zu, um von dort den Ramsey Canyon zu passieren, der ihn etwa auf die Hälfte der Strecke zwischen Bisbee und Tombstone auf die Overlandstreet führte.
Im Osten war der Tag mit silbrigem Grau über den Horizont gestiegen und warf ein gespenstisches, unnatürliches Licht auf die Savanne.
Die beiden Verfolger mußten den Abstand vergrößern, um nicht Gefahr zu laufen, von Ike Clanton entdeckt zu werden.
Das Gelände wurde jetzt unübersichtlicher, war stärker von teilweise hohen Kakteenhainen durchsetzt, und mehr und mehr kamen jetzt auch die für Arizona so typischen roten, windverschliffenen Sandsteinpyramiden auf, die den Blick stark behinderten.
Kurz nach Mittag machten die beiden Dodger Rast.
»Es hat wenig Wert, ihm noch zu folgen. Er wird uns über kurz oder lang entdecken«, meinte der Missourier.
Doc Holliday nickte. Er goß den Rest aus seinem Kaffeebecher weg und zündete sich eine seiner langen russischen Zigaretten an.
»Wenn man nur wüßte, wohin er reitet.«
»Da sehe ich eigentlich nur zwei Möglichkeiten«, entgegnete der Marshal. »Entweder reitet er nämlich nach Tombstone oder auf seine Ranch.«
Der Georgier nickte. Während er seinen Sattelgurt fester zog und die Klappen über den Taschen schloß, glitt seine Hand über den blanken Hals seines Rapphengstes.
»Ich habe das dumpfe Gefühl, Marshal, daß wieder etwas in der Luft liegt.«
Wyatt nickte. »Ja«, entgegnete er leise, »das Gefühl habe ich auch.«
Sie empfanden also beide das gleiche. Es lag irgend etwas Drohendes in der Luft.
Als Holliday sich in den Sattel gezogen hatte, deutete er auf eine Sandsteinpyramide, deren Gipfelsäule Hunderte von Feets in den azurfarbenen Himmel ragte: »Manchmal denke ich, man müßte da oben irgendwo in so einer Zinne sitzen und über das weite Land sehen. Ohne Revolver, ohne Pferd…«
Der Marshal verstand den Gefährten. Er wußte genau, was Doc Holliday meinte: Ruhe müßte man haben, endlich einmal Ruhe. Aber in diesem Lande würde es keine Ruhe geben, solange das Gesetz nicht überall anerkannt war. Solange es Leute wie die Graugesichter gab, solange würden Männer, die Sterne trugen, gegen sie kämpfen müssen.
Wyatt trat an das Pferd des Freundes heran und legte seine Rechte auf die schwarze Mähne des Hengstes, wobei sein Blick die Augen des Georgiers suchte.
»Ja, Doc, Sie haben recht. Da oben müßte man hausen und sich um dieses Pack nicht mehr kümmern müssen. Aber vielleicht muß man dafür erst steinalt und weise werden. Ich weiß es nicht. Jedenfalls führt mich noch kein Weg hinauf auf solche Zinnen. Sicher, Cochise haust auch in den Bergen und ist meist allein, aber er hat doch seine Sorgen um sein Volk, um dessen Recht es noch viel schlechter bestellt ist als um das unsrige. Das Gesetz ist über die roten Männer hinweggegangen.«
Doc Holliday nahm die halbgerauchte Zigarette aus den Lippen und schnippste sie in hohem Bogen in den Sand.
»Well, ich habe es Ihnen früher ja schon häufiger gesagt, Wyatt: Sie haben einen prächtigen Job. Dieses Land ist so groß und so weit und so schön, und ich frage mich, ob ein Mann wie dieser Wyatt Earp nicht einen anderen Job hätte finden können.«
In den Augenwinkeln des Missouriers stand ein heimliches Funkeln.
»Doch, Doc, sicher hätte ich einen anderen Job finden können. Aber ich habe nun einmal diesen.«
»Eben. – Aber wohin soll ich reiten?«
»Sie können es sich aussuchen, entweder nach Tombstone oder zur Clanton Ranch.«
Da flog ein winziges Lächeln um die Mundwinkel des Spielers.
»Wohin ritten Sie am liebsten?«
Wyatt erwiderte das Lächeln. »Es ist mir völlig einerlei.«
»Nein«, entgegnete Holliday. »Ich möchte diesmal gern den Weg reiten, den Sie wenigstens gern nehmen möchten.«
»Nein, nein, ich reite schon selbst zur Clanton Ranch«, entgegnete Wyatt.
Da nahm der Gambler die Zügelleinen hoch, tippte mit der Rechten an den Hutrand und trabte aus dem Canyon davon.
Er schlug den Weg zur Clanton Ranch ein.
Wyatt stand noch eine Weile in der Zwillingsspur der Wagenreifen, die diesen Weg gebahnt hatten, und blickte dem Freund nach.
Dann ging er zu seinem Falbhengst, zog sich in den Sattel und ritt nach Norden, dem fernen, düsteren Tombstone entgegen.
*
Am Nachmittag erreichte der Marshal die Pferdewechselstation Hucksley. Sie war nach dem Stationshalter benannt, der seit vielen Jahren hier im Dienste der Wells Fargo stand.
Der alte Hucksley war ein bärtiger grauhaariger Mann von fast sechzig Jahren, kräftig, untersetzt, ungebeugt und mit einem hellen Falkenblick.
Wyatt hatte ihn schon früher auf seinen Ritten hin und wieder aufgesucht und ein paar Worte mit dem kernigen Alten gewechselt.
Da er durstig war und seine Campflasche nur noch wenige Schluck Wasser enthielt, beschloß er, ein paar Minuten Rast auf der Station zu machen. Er lenkte seinen Hengst auf den langen Querbalken zu, glitt aus dem Sattel und warf die Zügelleinen um das Holz.
Dann nahm er den Hut ab und klopfte ihn auf dem Oberschenkel aus. Eine ganze Wolke von Staub quoll daraus hervor. Während er ihn wieder aufsetzte, schlenderte er zum Corral hinüber, der gleich an den langgestreckten Bau anschloß, und warf einen Blick auf die beiden Pferde, die die Ohren aufstellten und zu ihm herüberwitterten.
Dann wandte er sich um und ging auf die Haustür zu. Sie stand etwas offen. Wyatt klopfte an und zog sie auf.
Gerade hatte er einen Schritt vorwärts gemacht, als er einen Schatten von rechts her auf sich niederzucken sah.
Ein fürchterlicher Schlag traf seinen Kopf und ließ ihn zurücktaumeln und über die steinerne Stufe hinaus ins Freie stürzen.
Aber kaum hatte er mit dem Rücken den Boden berührt, als das schwindende Bewußtsein auch schon wiederkehrte. Er sah wie durch Nebelschleier vorn in der Tür einen Mann erscheinen, der hervortrat und mit verzerrtem Gesicht auf ihn niederstarrte.
Oswald Shibell!
Er hatte einen Revolver in der Hand, mit dem er offensichtlich den Schlag ausgeführt hatte.
Jetzt stieß er die Waffe nach vorn und spannte den Hahn.
Die Reaktion des Missouriers war katzenartig. Obgleich noch schwer benommen, schleuderte er sich zur Seite und riß in der halben Drehung den Revolver aus dem Halfter.
Der Schuß brüllte heiser auf. Die Waffe war ihm entfallen. Er preßte die Linke auf den rechten Arm und torkelte zurück.
Wyatt kniete jetzt am Boden, hatte den Revolver noch in der Hand und schnellte dann dem Haus entgegen, da er nicht wußte, ob nicht noch weitere Banditen in der Station steckten.
Er merkte, daß die Ohnmacht ihn niederreißen wollte. Aber er mußte jetzt klarbleiben!
Auch ein angeschossener Oswald Shibell war noch gefährlich.
Wyatt, den Colt noch in der Hand, zog sich mit der Linken am Türbalken vorwärts.
Shibell wich einen Schritt zurück in den großen Raum.
Wyatt trat auf ihn zu, riß ihm den zweiten Revolver aus dem Halfter und schob ihn in den eigenen Waffengurt.
»Da hinüber!« befahl er.
Shibell gehorchte nur zögernd.
Da half der Marshal nach, indem er ihn mit der Linken vorwärtsstieß.
»Wo ist der Posthalter?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hör zu, Shibell, ich frage dich nicht noch einmal!«
Der Blick des Outlaws schweifte, ohne daß es ihm bewußt wurde, einem hochgeschobenen Fenster zu.
»Los, geh voran!« gebot Wyatt.
Jetzt wollte Shibell sich nicht von der Stelle rühren.
Da packte Wyatt ihn mit der Linken und schob ihn vorwärts.
Als sie das Fenster erreicht hatten, blickte Wyatt hinaus.
Draußen lag ein menschlicher Körper, dicht an der Hauswand am Boden, die Arme lang ausgestreckt, das Gesicht an der Erde.
Wyatt wandte den Kopf.
Shibells Gesicht war verzerrt vor Zorn – und wilder Angst.
Selbst noch unsicher auf den Füßen, stand der Missourier vor ihm und herrschte ihn an: »Was hast du mit ihm gemacht, Shibell?«
Der Raubrancher aus den Blauen Bergen schob die Unterlippe vor: »Lassen Sie mich zufrieden, Earp. Ich habe mit der Sache nichts zu tun.«
Wyatt packte ihn am Arm und schleppte ihn hinaus in den Hof.
Dann stieß er ihn gegen die Wand und bückte sich über den Mann, der dort am Boden lag. Als er ihn auf den Rücken gewälzt hatte, sah er in das entstellte Gesicht des Postmasters.
Gregor Hucksley war tot. Er mußte ein fürchterliches Ende gefunden haben, denn sein Gesicht war noch vom Todeskampf verzerrt.
Langsam erhob sich der Marshal, schob den Revolver ins Halfter und stemmte die Arme in die Hüften: »Oswald Shibell! Wenn ich bis jetzt keinen Grund gehabt hätte, Sie an den Galgen zu bringen – jetzt habe ich einen!«
Da lief ein Zittern durch den massigen Körper des Desperados. Immer noch hatte er die Linke um den rechten Arm gepreßt, und unten aus seinem Ärmel rann ein Blutstreifen.
Plötzlich stieß er heiser hervor: »Ich war es nicht.« Sein Unterkiefer zitterte unablässig und die Zähne schlugen aufeinander. »Ich war es nicht!«
»Das können Sie dem Richter erzählen.«
»Earp!« Er wich einen Schritt zur Seite, dann brüllte er: »Earp, ich schwöre Ihnen. Ich…, ich war es nicht!«
Der Schrei brach sich drüben an der kahlen Scheunenwand.
Das Gesicht des Marshals war wie aus Stein gehauen.
»Wir werden ihn begraben.«
Shibell preßte durch die Zähne: »Ich rühre keinen Spaten an, ich rühre überhaupt nichts mehr an. Sie haben mir den Arm zerschossen, Earp!«
Der Marshal biß die Zähne zusammen. Noch dröhnte der Schlag in seinem Schädel. Hätte er nicht diesen steifkronigen Hut getragen, der den Schlag gewaltig gebremst hatte, so würde ihm der Hieb noch sehr viel mehr Schmerzen verursachen.
Er packte Shibell und schob ihn vor sich her. Dann nahm er eine Schaufel und hob – den Desperado dabei stets im Auge behaltend – eine Grube aus.
Eine halbe Stunde später lag der Stationshalter Gregory Hucksley unter der Erde, auf der er so viele Jahre gelebt und gearbeitet hatte.
»Los, holen Sie Ihr Pferd, Shibell!«
Der Desperado rührte sich nicht.
»Ich habe gesagt, Sie sollen Ihr Pferd holen, Mann!«
Shibell schüttelte nun den Kopf und preßte mit vorgeschobener Unterlippe durch die Zähne: »Ich habe eine Kugel im Arm, Earp, ich kann nicht reiten. Ich werde hierbleiben. Sie hätten mich gleich zu ihm in das Loch da packen können.«
»Sie kommen noch früh genug in das Loch, Shibell, nur keine Sorge. Richter Gordon wird das Urteil über Sie sehr schnell gesprochen haben.«
Da flog der Kopf des Desperados herum.
»Er kann mich nicht zum Tode verurteilen. Ich habe kein todeswürdiges Verbrechen begangen.«
»Doch, Shibell. Sie sind ein Mörder! Ihr Opfer liegt da unter der Erde.«
»Ich habe ihn nicht umgebracht!« röhrte der Raubrancher.
»Wer denn?«
Shibells Kopf sank auf die Brust herunter.
Da trat Wyatt dicht an ihn heran und hob mit der Rechten das Kinn des Banditen an. Seine Augen bohrten sich mit stählernem Blick in die Lichter des Verbrechers.
»Wer hat ihn ermordet, Shibell?«
»Ich kann nicht darüber reden. Ich kann nur sagen, daß ich es nicht war.«
»Mit dieser Behauptung kommen Sie nicht weit. Vorwärts, auf den Gaul da.«
»Ich kann nicht reiten. Ich habe eine Kugel in der Schlagader.«
»Schlagader, Sie sind verrückt, Mensch.« Wyatt zerrte ihm die Jacke herunter und besah kritisch die Verwundung.
Es war ein harter Streifschuß, der dem Getroffenen zwar beißende Schmerzen verursachen, ihn aber nicht ernstlich gefährden konnte.
Wyatt riß ihm ein Stück vom Hemd und legte ihm damit einen Notverband an.
»Los, steigen Sie auf!«
»Wohin wollen Sie mich schleppen?«
»Wir reiten nach Tombstone.«
*
Als Doc Holliday die Ranch erreichte, sank im Westen der blutrote Feuerball der Sonne und warf einen purpurnen Schimmer über den Horizont. Das Licht vergoldete die sonst so öde und trist wirkenden Bauten. Jetzt, wie sie da im Abend vor dem herantrabenden Reiter lag, sah sogar die Ranch der Clantons schön aus. Sogar friedvoll wirkte sie, und doch war sie das gefährlichste Banditennest, das es je im Westen gegeben hatte!
Die Besitzer des Anwesens hatten keinen Zaun um die Ranch gezogen, und der weite Hof sowie das Tor wurden durch die Bauten selbst gebildet.
Als der Georgier die Enge zwischen dem Mannschaftshaus und dem gegenüberliegenden Stallgebäude passiert hatte, kam vom Stall her ein riesiger Cowboy auf ihn zu.
Holliday blickte ihm entgegen.
Der Mann maß sicher siebeneinhalb Fuß, hatte weit ausladende Schultern und die Arme, unter dem hochgekrempelten Hemd gut zu sehen, hatten starke Muskelstränge. Der Mann hatte einen verhältnismäßig kleinen Schädel, der fast halslos in den massigen Rumpf überging und ein Gesicht, das zu dreiviertel aus Kinn zu bestehen schien. Die Stirn war niedrig und fliehend. Der Mund breit und aufgeworfen. Die Nase kurz und eingeschlagen. Einen Hut trug der Mann nicht. Sein grünes Hemd war verwaschen und löchrig, die Lederweste abgewetzt und viel zu kurz für ihn.
Die Hose hingegen schien zu groß zu sein und hing unten über die gewaltigen Stiefel.
Tief über dem rechten Oberschenkel baumelte ein uralter Parker Colt im Halfter des patronengespickten Waffengurtes.
Der Mann blieb neben dem Rapphengst des Georgiers stehen, stemmte seine klobigen Fäuste in die Hüften und musterte den Reiter scharf: »Na, Dandy, was suchen Sie denn hier bei uns, he?«
Offensichtlich kannte er den Gambler nicht.
Auch Doc Holliday hatte dieses Gesicht noch nie gesehen.
»Ist der Boß daheim?«
Der schlaksige Cowboy grinste: »Was wollen Sie von ihm?«
»Ich habe mit ihm zu sprechen.«
»Sie können es auch mir sagen.«
Da nahm der Spieler die Zügel hoch und wollte weiter auf das Ranchhaus zureiten.
Rasch zuckte die Rechte des Cowboys vor und griff dem Reiter in die Zügel.
Holliday senkte den Kopf etwas über die rechte Schulter. In seinen Augen stand ein gefährliches Blitzen.
Aber der Cowboy nahm es nicht wahr.
»Ich habe es nicht gern, Cowboy, wenn man mir in die Zügel fällt.«
Da stieß der Mann eine bellende Lache aus: »Hahaha! Kann ich mir denken, Dandy. Wer hätte das schon gern.«
Und dann in völlig verändertem scharfem, schnarrendem Ton: »Steig ab!«
Hollidays Stimme war völlig ruhig und gelassen, als er jetzt antwortete:
»Lassen Sie den Zügel los!«
Da stieß der Cowboy die Linke vor, um das Bein des Spielers zu packen. Doc Holliday war jedoch auf den Trick gefaßt, der ihn aus dem Sattel werfen sollte. Sein Fuß fuhr zurück, zuckte mit der Spitze hoch und traf das linke Handgelenk des Cowboys.
Der stieß einen Schrei aus und ließ die Zügelleinen los.
Doc Holliday nahm den Rappen herum und ließ ihn hinten ausschlagen.
Der Cowboy wich mit einem Fluch zurück: »He, Dreckskerl! Das büßt du mir! Brest, Jim, Ferry, Kid!« brüllte er.
Drüben aus dem Scheunenhaus kamen drei Männer, deren Anblick selbst eine so nervenlose Natur, wie Doc Holliday sie besaß, mit Abscheu erfüllen mußte. Es waren wilde, ungebärdige Kerle, staubig, ungepflegt, mit harten, unrasierten, wüsten Gesichtern mit dem typisch schleppenden Gang der Tramps.
Doc Holliday hatte inzwischen das langgestreckte Wohnhaus der Clantons erreicht, glitt aus dem Sattel und warf die Zügelleinen um den Querholm.
Er ging um das Pferd herum und hielt auf die Treppe zu. Zwei der fünf hölzernen Stufen hatte er schon hinter sich, als plötzlich ein Schuß aufbrüllte und seinen rechten Stiefelabsatz aufriß.
Ganz langsam wandte sich der Georgier um.
Einer der drei zweifelhaften Kuhtreiber hatte geschossen. Noch hatte er den rauchenden Colt in der Hand. Es war ein großer, drahtiger Mann mit flachsblondem Haar und blassem Gesicht, aus dem ein dunkles Augenpaar hervorstach, das viel zu nahe der Nasenwurzel saß.
Auch dieses Gesicht hatte der Gambler noch nie gesehen.
Die beiden Männer, die hinter ihm standen, waren Doc Holliday ebenfalls unbekannt.
Der Georgier stand mit leicht gespreizten Beinen auf der Treppenstufe, hatte den Kopf etwas gesenkt und blickte unterm Hutrand hervor in die Augen des flachsblonden Cowboys: »Findest du es nicht ziemlich gefährlich, Junge, so mit Blei in der Gegend herumzuwerfen?«
Die vorher spaltengen Augen des Cowboys wurden plötzlich groß und verdutzt: »Das war der Absatz, Stadtfrack! Immerhin, auf elf Yard nicht schlecht, findest du nicht auch?«
»Nein, Cowboy, das kann ich nicht finden. Ich finde nur, daß es sich in bleihaltiger Luft für jeden schlecht leben läßt!«
»Bleihaltiger Luft?« Der Cowboy sah sich nach den anderen um. »Habt ihr das gehört, Boys?«
»Ja, Kid«, rief ein untersetzter, vierschrötiger Mensch mit rotem Haar, der links hinter ihm stand. Und der andere, der ein paar Schritte rechts neben Kid stand, sagte mit rostiger Stimme:
»So was darf niemand zu Kid Hawkins sagen!«
Kid Hawkins, der Flachsblonde, richtete sich zu voller Größe auf und stieß den Revolver plötzlich vor. Eins, zwei, drei Schüsse spritzten vor Doc Holliday in die Treppenstufe und rissen daumengroße Stücke aus der Holzfaserung.
Der Georgier hatte keine Miene verzogen.
»Na, Stadtfrack? Wie findest du das?« fragte Kid.
»Ich stelle fest, Kid, daß du dich offenbar in bleihaltiger Luft wohl fühlst.«
Der Cowboy war nicht unbeeindruckt von der Ruhe, die der Stadtfrack gezeigt hatte. Nicht mit einer Wimper hatte er bei den Schüssen gezuckt. Und auch jetzt stand er wie die Ruhe persönlich auf der Treppe.
Die vier Cowboys starrten ihn aus kalten, harten Augen an.
»Schieß ihm den Deckel vom Kopf«, kläffte der Rothaarige.
»Vorsicht«, mahnte der Spieler ruhig. »Der Hut ist ziemlich teuer gewesen.«
Die Kuhtreiber brachen in brüllendes Gelächter aus.
Und als Kid den Revolver heben wollte, geschah etwas, das die vier Cowboys noch nicht erlebt hatten. Die beiden elfenbeinbeschlagenen fünfundvierziger Revolver flogen aus den Halftern des Fremden und brüllten auf, ehe Kid auch nur zum Schuß kommen konnte. In hartem Stakkato peitschten die Schüsse in den Hof – und jeder der drei Cowboys hatte ein Loch im Hut.
Aber sie wußten es noch nicht.
Nur den Luftdruck hatten sie gespürt.
Wie versteinert standen sie da.
Da griff Kid mit der Linken nach seiner Kopfbedeckung, nahm sie ab und sah das Loch, drehte den Hut und sah hinten den Ausschuß. Verblüfft sah er sich nach dem Rothaarigen um.
»Was sagst du dazu, Brest?«
Die Verwunderung wich aus dem dummen Gesicht des Rothaarigen, und er lachte blöde: »Haha, ganz guter Schuß. Einer hat jedenfalls getroffen. Zwei sind danebengegangen. Immerhin, nicht ungefährlich, der Bursche.«
»Zwei sind danebengegangen?« fauchte Hawkins. »Nimm deinen Deckel ab, Mensch.«
»Was?« Da riß auch Brest seinen Hut vom Kopf, hielt ihn weit von sich ab und starrte verblüfft auf das schwarze Loch vorn in der Krone.
Instinktiv nahm auch der Bursche mit der rostigen Stimme seine Kopfbedeckung vom Schädel und stierte entgeistert auf das Loch.
»Ist denn das die Möglichkeit«, krächzte er. »Drei Schüsse und drei Löcher.«
Kid schob den Unterkiefer vor und warf den Kopf hoch:
»He, das war ein prächtiger Sonntagsschuß, Stranger.«
Doc Holliday hatte inzwischen unbemerkt die drei Kugeln nachgeladen.
»Ja, Kid, du hast recht.«
Der Flachsblonde legte den Kopf auf die Seite. »Gelingt dir das öfter?«
»Zuweilen.«
»Angeber!« brüllte da der riesige Bursche vorn vom Eingang her.
Kid Hawkins wich langsam Schritt um Schritt zurück, bis er wenigstens zwölf Yard von dem Fremden entfernt war. Der rothaarige Brest und der junge Jimmy Parker blieben neben ihrem Kumpan stehen.
»Ich finde, Kid, du solltest ihn von dieser Krankheit heilen.«
Hawkins war immerhin etwas unsicher durch Hollidays Demonstration geworden.
»Ja«, versetzte er, »das sollte man. Was haltet ihr davon, Boys, wenn wir ihm für die drei Löcher in den Hüten mit drei Revolvern antworten?«
»Eine ganze Menge«, entgegnete Parker.
Sie hatten jetzt alle ihre Colts in den Halftern stecken. Natürlich auch Doc Holliday.
»Wir haben es gar nicht gern, Stranger, wenn Leute aus der Stadt hier auf dem Clanton-Hof herumkriechen«, schnarrte Hawkins.
»Ich habe mit dem Rancher zu sprechen.«
»Ach, mit dem Boß?« tat Hawkins verwundert, »warum sagen Sie das nicht gleich.«
»Ich habe es dem Mann da gesagt, aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, unbedingt den alten Stiefeltrick über den schon meine Großmutter nicht mehr gelacht hat, an mir auszuprobieren.«
Parkers Kopf flog herum.
»Ziemlich kaltschnäuziger Bursche! Findest du nicht auch, Kid?«
Sie standen da, wie festgenagelt, mit gespreizten Beinen, angewinkelten Armen und den Händen neben den Revolverkolben.
Drei gefährliche Männer. Der Spieler unterschätzte sie keineswegs. Jeder einzelne von ihnen war gefährlich wie ein wildes Tier. Und entschlossen, zu töten. Diese Männer waren wie geschaffen für den Bund der Graugesichter.
Nur etwa fünf Jahre früher hätte Doc Holliday jetzt rasend schnell seine Revolver gezogen und den Kampf für sich zu entscheiden versucht. Aber dieses halbe Jahrzehnt, das er an der Seite des Missouriers Wyatt Earp durch dieses Land geritten war, hatte ihn innerlich gewandelt, wenngleich er sich die Wandlung nicht eingestehen wollte.
Am linken Ende des Daches hing ein yardbreites Blechschild, auf das mit weißen ungelenken Buchstaben der Name Clanton gepinselt worden war.
Bill, der jüngste der Brüder, der bei dem Kampf im O.K.-Corral ums Leben gekommen war, hatte es vor vielen Jahren als Junge einmal gemalt, und Ike, der heutige Besitzer der Ranch, hatte es aus einer Art sentimentalen Liebe zu dem Bruder am Haus gelassen.
Mehr als fünfzehn Yard war dieses nur etwa handbreite Schild von dem Georgier entfernt.
Holliday blickte es an und meinte:
»Irgendwie hat mich das schon immer gestört.«
Die Cowboys blickten ihn an, als stimme plötzlich etwas nicht bei ihm.
»Was?« wollte Kid mit schiefgelegtem Kopf wissen.
»Das Schild.«
»Das Schild…?«
»Ja. Es müßte Löcher haben.«
»Löcher…?«
»Ein paar Luftlöcher. Jeder Buchstabe müßte einen haben.«
Die Banditen wechselten einen kurzen Blick miteinander, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.
Dieser Mann mußte verrückt sein!
»Die Burschen müssen doch atmen können. Ich dachte mir das so.«
Die Revolver ziehen, vorstoßen und losfeuern war eins!
Die Schüsse fielen so schnell aufeinander, daß sie sich wie ein einziger Knall mit mehrfachem Echo anhörten.
Das Schild oben an der Hauskante zitterte, und die grauen Pulverwolken, die ihm jetzt entgegenzogen, verschleierten es für Sekunden.
Dann, als der Gunsmoke abgezogen war, hing es wieder ruhig da.
Die Cowboys starrten zu ihm hinauf. Es war nicht zu glauben: In jedem Buchstaben gähnte ein daumengroßes Loch, durch das der violettrote Abendhimmel schimmerte.
Es schien unfaßbar zu sein und doch war es ganz einwandfrei so: da oben hing das Schild, und in jedem der weißen Buchstaben klaffte ein daumengroßes Kugelloch.
Das war ungeheuerlich!
Sowohl Hawkins als auch Brest, Parker und der lange Migola hatten schon so manches Stück erlebt, aber so etwas noch nicht!
Dieser Stadtfrack war ja tatsächlich ein Meisterschütze ohnegleichen.
Was heißt: Meisterschütze, er war ein Phantom!
Wo hatte man denn je einen Mann gesehen, der auf eine solche Distanz ein so kleines Ziel haargenau treffen konnte.
Und daß es Zufall gewesen sein sollte, daß jeder Buchstabe getroffen worden war, das vermochten auch diese Männer nicht zu glauben. Das tollste jedoch war die Geschwindigkeit, mit der der Mann seine Colts gezogen und abgefeuert hatte. Schon allein das war ein Kunststück ohnegleichen. Und dann auch noch so genau zu treffen!
Dieser Mann war tatsächlich ein Show-Schießer allerersten Ranges.
Das war den vier Cowboys klar, so einfältig sie auch sonst sein mochten.
Sie brauchten eine ganze Weile, bis sie das verdaut hatten.
Indessen hatte der Spieler mit der ihm eigenen Geschicklichkeit die verschossenen Patronen nachgeladen.
Niemand achtete darauf.
Zwischen Brest und dem langen Migola stand neben dem Brunnen eine alte Indianerlanze von vier Yard Länge.
Doc Holliday hatte seine Revolver wieder in den Halftern, als er mit der Linken auf den Pfahl deutete und sagte: »Und dieses Apachenholz stört mich auch schon eine ganze Weile. Es ist viel zu lang. Findet ihr nicht auch, Boys?«
Und ehe sie sich versahen, hatte er seine Revolver wieder in den Händen. Hart und peitschend fiel das Holliday-Stakkato über den Hof der Clanton Ranch.
Wie von Geisterhand zerbrochen, splitterte das Holz Stück für Stück auseinander. Es geschah so unerhört schnell, daß es den Cowboys den Atem verschlug. In gleichgroßen Abständen hatten die Kugeln des Spielers die Latte zersägt, bis sie nur noch etwa die Hälfte ihrer vorherigen Höhe besaß.
Es war alles so rasend schnell gegangen, daß die Cowboys gerade noch ihre Köpfe hatten herumwerfen können, als Holliday die Revolver hochfliegen ließ.
Jetzt starrten sie entgeistert auf die Latte.
Der Spieler lud indessen seine Revolver nach.
Es war keineswegs Leichtsinn, daß er mit zwei Revolvern schoß. Wenn es auch eine Tatsache war, daß man mit zwei Waffen niemals so sicher schießen konnte wie mit einer einzigen. Wyatt Earp hatte etliche Jahre nach der Jahrhundertwende einmal einem Journalisten darüber Auskunft gegeben. Er sagte damals: »Wer mit zwei Revolvern schießt, der braucht die Show und er muß ein exzellenter Schütze sein. Sicherer aber schießt man immer mit einem Revolver. Weil man sich niemals auf beide Hände gleichstark konzentrieren kann.«
Doc Holliday hatte die beiden Waffen jedoch aus zwei Gründen benutzt. Hätte er nämlich nur einen Revolver für das Schießkunststück verwendet, so wären fünf Schüsse schon gefährlich gewesen, denn dann hätte er ja nur noch eine Kugel in der Trommel gehabt und sich gegen einen eventuellen Angriff der Cowboys nicht mehr schnell genug wehren können, ohne den zweiten Colt zu ziehen. Der zweite Grund des Spielers war tatsächlich der Eindruck, den er hervorzurufen hatte. Ein sogenannter Zweihandmann wirkte unbedingt eindrucksvoller.
Und diesen Eindruck konnte er jetzt von den Gesichtern der Männer ablesen, die sich ihm wieder zukehrten.
Der rote Brest wandte sich um, ging auf den Brunnen zu, hob die fünf abgeschossenen Lattenstücke auf und hielt sie nebeneinander.
Sie waren fast auf den Zentimeter gleich groß.
»Goddam!« stieß er durch die Zähne und schleuderte die Lattenstücke von sich. »Das ist doch Zauberei!«
Es war eine volle Minute still auf dem weiten Hof der Clanton Ranch.
Doc Holliday stand ruhig auf der Treppe und hatte die Arme über der Brust verschränkt. Der letzte Strahl der sinkenden Sonne warf einen rotgoldenen Schimmer über seine Gestalt.
Die vier Cowboys verharrten wie angewachsen auf der Stelle und starrten den Fremden an, der sie so in Bann geschlagen hatte.
Aber allein der flachsblonde Hawkins machte sich tiefere Gedanken über den Stranger.
Wer war dieser Mann, der eine so unerhörte Fertigkeit im Umgang mit Revolvern besaß. Der so rasend schnell ziehen, die Schüsse so hageldicht hintereinander fallen lassen und vor allem: sein Ziel mit so höllischer Genauigkeit treffen konnte!
Das konnte doch nicht irgendwer sein! Irgendein Unbekannter! Niemals! Dafür hätte Kid seinen alten Hut verwettet.
So viel stand jedenfalls für den Clanton Cowboy fest.
Da waren zwischen dem Wohnhaus und dem langen Geräteschuppen hastige Schritte zu hören.
Zwei Männer kamen auf den Hof gelaufen. Sie waren mittelgroß, hatten schwarzes Haar und dunkle Gesichter, die einander wie ein Ei dem anderen glichen.
Holliday kannte auch diese beiden Männer nicht. Sie trugen Cowboytracht wie die anderen, blickten ihre Kameraden verwundert an und warfen dann einen Blick auf den Fremden, der auf der Verandatreppe stand.
»He, was ist denn hier los?«
Holliday hob seinen rechten Stiefel und deutete auf den Absatz.
»Nichts Besonderes, Boys. Einer von den Jungs wollte mir zeigen, daß eine Kugel härter als Absatzleder ist.«
Die beiden kamen rasch heran und bauten sich direkt vor der Treppe auf.
»Wer ist das?« fragte der eine über die Schulter.
Aber weder Hawkins noch einer der anderen vermochte eine Antwort auf diese Frage zu geben.
Da traten die beiden noch näher an die Treppe heran und blickten Holliday herausfordernd an: »Was wollen Sie hier?«
»Ich suche den Boß.«
»Ja«, rief jetzt Migola, »das sagte er mir schon.«
Die Zwillinge musterten den Georgier aus kalten Schlangenaugen.
»Wenn Sie dem Boß etwas zu sagen haben, dann können Sie es auch uns sagen. Wir sind mit ihm verwandt. Mein Name ist Mike Flanagan, und das ist mein Bruder Cole.«
Hollidays Gesicht verriet nichts von der Verblüffung, die der Name Flanagan in ihm hervorgerufen hatte. Sollte er es hier etwa mit den Brüdern aus der vielköpfigen Tombstoner Banditenfamilie zu tun haben?
Das wäre kein angenehmes Zusammentreffen!
Zu oft waren Wyatt Earp und er mit den Flanagans zusammengeraten. Diese beiden Burschen, die nur wenige Jahre jünger als Hal und Ed zu sein schienen, kannte er jedoch nicht. Vielleicht waren es auch nur Vettern der Tombstoner Flanagans oder auch gar nicht mit ihnen verwandt.
Diese letzte Hoffnung allerdings sollte dem Spieler sogleich genommen werden. Denn Mike, der offenbar für die beiden das Wort führte, warf den Kopf ins Genick und stellte sich in Positur. Dennoch hatte diese Geste etwas lächerlich Spatzenhaftes an sich.
»Sie werden von uns gehört haben. Unser Bruder Jack ist ein bekannter Mann in Arizona. Er hat Larry Custom aus den Stiefeln geschossen. Bestimmt haben Sie davon gehört.«
Also waren es doch Brüder von Hal und Ed. Denn Jack, der älteste der Flanagans, gehörte ja zu dieser Familie. Allerdings hielt er sich zur Zeit nicht hier in der Gegend auf, sonst wäre er ganz sicher längst in Tombstone aufgetaucht.
Aber daß dieser Bursche die Stirn hatte, davon zu sprechen, daß sein Bruder Jack den bekannten Sheriff Custom erschossen hatte, war eine Frechheit ohnegleichen. Und es zeigte dem Georgier eindeutig, mit was für einem Charakter er es hier zu tun hatte. Dieser Mike Flanagan war ein gefährlicher Bursche, und Cole, der neben ihm stand, ließ jetzt beide Hände auf seine Revolverkolben fallen und warf den Kopf in der gleichen Manier ins Genick wie vorhin sein Zwillingsbruder Mike und krächzte: »Haben Sie etwa noch nichts von ihm gehört?«
Holliday nickte der Wahrheit gemäß und entgegnete: »Doch, Cole, ich habe schon von ihm gehört.«
»Also, dann wissen Sie ja, mit wem Sie es zu tun haben.«
»Ja«, antwortete der Spieler zweideutig, »das weiß ich nun.«
»Und?« krächzte Cole.
»Was und?«
»Sagen Sie schon, was Sie von Ike wollen.«
Der Georgier schüttelte den Kopf.
»Nein, Cole. Ich bin ja nicht hierhergekommen, um mit einem Flanagan zu sprechen, sondern mit Ike Clanton.«
Die Gesichter der Zwillinge wurden augenblicklich, wie auf ein stummes Kommando hin, um einen Schein blasser.
Jetzt war es wieder Mike, der sprach.
Und seine Stimme klang schon bedeutend schärfer als er feststellte: »Offenbar wissen Sie doch nicht, mit wem Sie es zu tun haben, Mister?«
Da mahnte Mogila aus dem Hintergrund: »Vorsicht, Mike, der Mann hat einen verdammt flotten Schuß am Leib.«
Ohne sich nach dem Kameraden umzudrehen, entgegnete Mike Flanagan, dem jetzt die Gefährlichkeit aus den Augen blitzte: »Das überlaß nur mir, Migola. Ich weiß mit solchen Leuten umzugehen.«
Der flachsblonde Hawkins hatte das Gespräch bis jetzt schweigend verfolgt, schien aber doch nicht daran interessiert zu sein, die beiden Flanagans den scharfen Schüssen dieses Strangers auszusetzen, denn er trat jetzt vor und zog die beiden an den Armen zurück.
»Hört auf. Seht euch lieber das Schild da oben an.«
Die beiden blickten auf das Schild. Aber es fiel ihnen nichts auf.
»Seht ihr die Löcher in den Buchstaben?«
»Ja, und?«
»Die hat er reingeschossen.«
»Na und? Sollen wir vielleicht deshalb den Hut vor ihm ziehen?«
Hawkins zog sie beide herum und deutete auf die Indianerlanze neben dem Brunnen.
»Wißt ihr, wie groß die noch vor ein paar Minuten war?«
»He, wer hat denn die abgesägt?« fragte Cole verblüfft.
Der Flachsblonde deutete mit dem Daumen über die linke Schulter.
»Der da.«
Da wirbelten die beiden Flanagans herum und zeigten schon mit dieser Bewegung, daß sie gefährlicher als die vier anderen zusammen waren. Geduckt, wie Raubkatzen vorm Beutesprung, standen sie jetzt da und stierten den Fremden an.
»Wer ist das?« zischte Mike.
Doc Holliday hatte kein Interesse an einer Schießerei mit den Banditen. Und wenn er jetzt seinen Namen genannt hätte, so mußte er damit rechnen, daß die Flanagans Rache für ihre in Tombstone festgesetzten Brüder Ed und Hal nehmen wollten. Was die beiden besonders gefährlich machte, war ihre Bedenkenlosigkeit. Was an den vier Cowboys, die hinter ihnen standen, noch plump war, war bei ihnen zu blitzschnellem, rücksichtslosem Handeln konzentriert.
»Ihr habt absolut nichts davon, wenn ihr meinen Namen wißt, Gents. Ich will mit Ike Clanton sprechen.«
Da trat Mike zwei Schritte vor und tippte sich mit dem Mittelfinger seiner Linken an die Brust.
»Du wirst mit mir sprechen!«
Da kam Bewegung in die Gestalt des Spielers. Er verließ die Treppe, und Mike wich behende drei Schritte zurück.
Aber der Georgier ging nur zu seinem Pferd, machte ohne Hast die Zügelleinen los und wollte sich in den Sattel ziehen.
In dem Augenblick, als er mit der Linken nach dem Sattelholm griff, stießen die beiden Flanagans zu gleicher Zeit ihre Hände nach den Revolvern in den rechten Halftern. Sie hatten beide das gleiche vor: einen Schuß durch den Halfterboden.
Mit der Schnelligkeit eines schwarzen Pumas flog der Georgier herum. In seinen Fäusten blinkten die großen, vernickelten Frontier-Revolver. Und als er jetzt sprach, hatte seine Stimme auf einmal einen fremden, scharfen, klirrenden Ton angenommen, der den Banditen bis in die Nerven drang: »Ihr müßt beide noch eine Menge lernen, bis ihr es mit einem Mann wie Larry Custom aufnehmen könnt.«
Immer noch hatten die Twins ihre Hände an den Revolverkolben.
»Nehmt die Hände von den Waffen.«
So eindringlich, so dämonisch war der Ton dieser Stimme, daß die beiden Desperados die Hände tatsächlich von den Knäufen ihrer Colts gleiten ließen.
Mit blitzschnellen Handsaltos ließ der Gambler seine Sixguns in die Halfter zurückfliegen.
Ohne Hast und ohne sich umzudrehen, zog er sich in den Sattel und nahm die Zügelleinen auf.
Da wurde oben die Fliegentür am Haus aufgestoßen, und Ikes Mutter trat auf den Vorbau.
»Was ist denn hier los?« rief sie aufgeregt. »Warum seid ihr nicht an der Arbeit, ihr Tagediebe! Wofür bezahlt Ike euch? Bestimmt nicht dafür, daß ihr hier auf dem Hof herumknallt…« Jäh brach ihre Stimme ab.
Ihr Blick war auf den Georgier gefallen.
»Doc Holliday!« entfuhr es ihr.
Der Schock, der die Männer auf dem Hof traf, hätte nicht größer sein können. Fassungslos starrten sie auf den Mann, der sie minutenlang mit seinen Revolvern und dann auch mit seiner Stimme in Bann geschlagen hatte.
Es war Mike Flanagan, der einen Schritt zur Seite sprang und bellte: »Doc Holliday? Hell and devils! Das kann doch nicht wahr sein!«
Der Gambler tippte an den Hutrand und fragte die Frau, ohne sie voll anzusehen, da er die Männer im Hof nicht aus den Augen lassen konnte: »Ike ist wohl nicht zu Hause, Madam?«
»Nein.«
»Thanks.« Er nahm die Zügelleinen auf.
Da kam die Frau bis ans Vorbaugelände.
»Mr. Holliday, was ist geschehen?«
»Nichts von Bedeutung, Madam«, antwortete der Georgier, setzte seinen Rappen in Bewegung und ritt langsam aus dem Hof.
Die beiden Flanagans starrten auf seinen Rücken. Ihre Augen waren schmal wie Schießscharten geworden.
Doc Holliday fühlte diese Blicke. Aber er ritt ungerührt auf die Kakteenfelder zu, in denen bereits die blaugrauen Schatten der Arizona-Nacht nisteten.
*
Von Süden her trabten zwei Reiter auf staubbedeckten Pferden an den Miner Camps vorbei auf die Stadt zu.
Wyatt Earp und sein Gefangener Oswald Shibell.
Sie erreichten die Mainstreet nur wenige Augenblicke, nachdem Luke Short das Office verlassen hatte, um nach den entsprungenen Gefangenen zu suchen.
Der Marshal stieg vorm Office aus dem Sattel, wartete, bis Shibell abgestiegen war, packte den Outlaw am Arm und führte ihn auf den Vorbau.
Die Tür des Bureaus war verschlossen.
Wyatt brachte den Gefangenen durch den Hof und fand die Hintertür unverschlossen.
Er sah Licht in einer der beiden Schlafkammern und fand den Verwundeten auf Virgils Pritsche. Er kannte den Mann nicht, sah aber den Stern auf seiner Jacke.
Hump Donegan war immer noch ohne Bewußtsein.
Wyatt beugte sich über den Körper des Verwundeten und drehte den Stern so zur Seite, daß das Licht der Kerosinlampe darauffiel.
Morgan Earp – deutlich sah er die Eingravierung.
Dieser Mann war also Luke Shorts Gehilfe.
Was war hier geschehen?
Wyatt hob die Augen und heftete seinen Blick auf das Gesicht des Raubranchers.
»Was ist passiert, Shibell?«
Der hatte den Kopf gesenkt und starrte auf seine staubigen Stiefelspitzen.
»Ich habe Sie gefragt, was hier passiert ist!«
Da sprangen die Lippen des weit über fünfzig Jahre alten Verbrechers auseinander: »Ich habe nichts dazu zu sagen.«
»Dieser Mann war der Gehilfe des Sheriffs?«
Shibell nickte.
Wyatt packte die Lampe mit der Linken und schob Shibell vor sich her hinaus ins Office, griff nach dem Schlüsselbund und öffnete die Tür zum Zellengang.
Die Gittertüren standen alle offen.
Nach seinem Zusammenstoß mit Shibell war es ihm sofort klar gewesen, daß auch die anderen Gefangenen nicht mehr im Tombstoner Jail sitzen würden.
Was war mit Luke Short? Shibell war vor der vordersten Gittertür stehengeblieben. Er schien etwas von den Gedanken des Marshals erraten zu haben.
»Der Sheriff war nicht hier, als es geschah«, krächzte er.
Und plötzlich war es Wyatt klar, daß es gar nicht anders gewesen sein konnte. Die Banditen hatten eine Gelegenheit abgepaßt, in der der Texaner abwesend war. Denn der Gedanke, daß es ihnen irgendwie gelungen sein könnte, den Hünen zu überwinden, war einfach unvorstellbar für den Missourier.
»Wann seid ihr ausgebrochen?«
Shibell holte tief Luft und preßte die Linke wieder um den schmerzenden rechten Arm.
»Irgendwann am Nachmittag, ich weiß es nicht genau.«
»Wer hat euch herausgeholt?«
»Darüber kann ich nichts sagen.«
»All right, der Richter wird es schon erfahren.«
Wyatt schob ihn in die Zelle und warf die Gittertür hinter ihm ins Schloß.
Langsam ging er auf die Bohlentür zu, die zum Bureau führte. Auf einmal blieb er stehen, wandte sich um und kam zurück an die Zelle.
»Shibell, ich hatte neulich mit Ihrem Bruder zu tun. Er ist mit mir von Ihrer Ranch nach Nogales geritten. Schade, daß Sie nicht mehr von seiner Art haben. Es wird ein schwerer Schlag für ihn sein, wenn sein Bruder hier aufgehängt wird.
»Aufgehängt?« kam es heiser aus der Zelle. Dann stürmte der Bandit an die Trallen und krallte die linke Hand darum.
»Ich werde nicht hängen! Ich bin kein Mörder!«
»Sie werden es schwer haben, das dem Richter klarzumachen.«
»Ich bin kein Mörder!«
»Ich will Ihnen etwas sagen, Shibell. Ich habe Sie zwar für einen Schurken gehalten. Aber nicht für einen Meuchelmörder.«
Bebend stieß der Raubrancher hervor:
»Ich bin kein Meuchelmörder, Earp! Ich bin kein Mörder, ich habe niemanden ermordet!«
»Wer hat den Stationsmaster umgebracht?« Wyatt spannte seine Rechte um die Hand des Banditen.
Er spürte das Zittern im Körper des Banditen.
»Ich war es nicht«, krächzte Shibell nach einer Weile. »Ich schwöre es!«
Wyatt wandte sich ab und ging ins Office. Er brachte die Lampe wieder in die Kammer, in der der Deputy lag, stellte sie auf den Nachtschrank und verließ das Office durch den Hof, wie er gekommen war.
Er betrat den Crystal Palace.
Da standen noch Jonny Ringo, James Curly, Bill Brocius und Ted Marlowe.
Die drei Banditen standen wie Gipsfiguren da und blickten dem Missourier entgegen.
Wyatt ging auf den vordersten von ihnen, auf den Dandy Coltman Ringo zu. Vielleicht hätte er sich gar nicht in der Schenke aufgehalten, wenn ihn nicht das schmutzige Lächeln, das hämische Grinsen im Gesicht des Desperado geärgert hätte.
»Was gibt es zu lachen, Ringo?« fragte er halblaut.
Der Falschspieler, der für den Bruchteil einer Sekunde beim Anblick des Marshals Schreck empfunden hatte, fand sofort seine Frechheit wieder, wiegte sich auf den Zehenspitzen, ließ den Kopf wie auf einem Kugellager hin und her rollen – und grinste den Marshal herausfordernd an.
»Das möchten Sie wohl gerne wissen?«
»Drüben im Jail sind vier Männer ausgebrochen, Ringo. Falls Sie darüber lachen sollten, werden Sie bald etwas zu weinen haben.«
Das Lachen fiel plötzlich aus dem Gesicht des Banditen und blieb nur noch in seinen Mundwinkeln hängen.
»Wie soll ich das verstehen?« fragte er, ohne den Marshal ansehen zu können.
»Ich bin nicht ohne Absicht hierhergekommen, Ringo. Draußen hat mir jemand erzählt, daß Sie es waren, der die Männer aus dem Jail geholt hat.«
»Ich?« Der Kopf des Verbrechers flog hoch. »Das ist eine gemeine Lüge!«
»Regen Sie sich nicht auf, Ringo. Es könnte Ihren Nerven schaden und dann schadet es heute abend auch Ihrer Spielkunst.«
Der Falschspieler merkte sehr wohl, worauf der Marshal anspielte, denn schließlich war er einmal von ihm in Dodge City und ein andermal oben in Abilene wegen erwiesenen Falschspielens festgenommen worden. Er hatte das dem Marshal nie vergessen und hätte ihn damals zusammen mit dem Viehagenten Peshauer um ein Haar von hinten niedergeschossen, wenn nicht Doc Holliday, der zufällig in einem Nebenraum dieses Saloons gepokert hatte, im letzten Augenblick dazugekommen wäre.
»Ich habe mit der Geschichte nichts zu tun, Marshal. Das lange Untier war schon hier und hat mich gefragt!«
»Sollten Sie mit dieser Bezeichnung den Sheriff meinen, Ringo, dann möchte ich Ihnen raten, sie nicht zu wiederholen.«
Der Desperado wich einen halben Schritt zurück, wiegte sich herausfordernd mit vorgeschobenem Unterleib auf den Zehenspitzen und entgegnete spöttisch: »Aber selbstverständlich wiederhole ich die Bezeichnung für den Kerl. Sie werden doch nicht glauben, daß ich vor einem Untier Angst habe…«
Die Ohrfeige, die ihn traf, war nicht schwächer, als die, die der Sheriff vor Minuten hier im Crystal Palace ausgeteilt hatte.
Jonny Ringo lehnte mit beiden Ellbogen auf der Theke. Heiß brannte der Schlag auf seiner linken Wange.
In seinen gelblichen Augen glomm es gefährlich auf.
Und dieser Jonny Ringo war gefährlich!
Der Marshal wußte es genau. Mehr als ein halbes Dutzend Mal war er mit diesem Verbrecher zusammengeraten. Ringo trug nicht wenig Schuld an dem blutigen Gefecht damals im O.K.-Corral. Er war einer der Drahtzieher im Hintergrund, nicht aber einer jener Männer, die dann zum Kampf in den düsteren Wagenabstellplatz zogen.
So war er eigentlich immer ein Mann, der seine Fäden im Verborgenen spann. Ein Bursche, der es ähnlich wie der berüchtigte Pete Spence meisterhaft verstand, andere für sich das Eisen aus dem Feuer reißen zu lassen.
Auch Wyatts Bruder Morgan hatte ihn damals, als Morgan Marshal von Santa Fé war, einmal wegen schweren Spielbetruges vor Gericht gebracht, wo er dann zu fünf Monaten Haft verurteilt worden war.
Ringo hatte sich dieser Strafe durch die Flucht entzogen und war nie wieder nach New Mexico zurückgekehrt, wo der Strafbefehl drei Jahre auf ihn wartete und erst jetzt in diesen Monaten verjährt sein mußte.
Wyatt wußte, daß dieser Gentleman-Verbrecher, der sich so hochelegant kleidete, so fein gab und von den anderen abstechen wollte, mehr auf dem Gewissen hatte, als irgend jemand ahnte. Auch jetzt war er ganz sicher nicht zufällig und absichtslos mit seinen neuen Helfern – einer zusammengewürfelten Bande von Wegelagerern, Posträubern und Mördern – hierher nach Tombstone gekommen. Ringo wußte, daß es in der Stadt gärte, und davon gedachte dieser Bandit zu profitieren. Wenn andere kämpfen, dann stand er nicht etwa eindeutig auf einer bestimmten Seite, sondern suchte nur seinen Gewinn, gleich wo er ihn fand.
Der Marshal hatte den Crystal Palace verlassen und blickte die dunkle Thirdstreet hinauf.
Höchstwahrscheinlich suchte Luke Short die Flanagans.
Sie waren die schlimmsten der Banditen, die im Jail gesteckt hatten. Wyatt kannte die Flanagans seit Jahren. Das gefährlichste Mitglied der Familie war der älteste Sohn Jack, der Sheriff Custom niedergeschossen hatte, der zweitälteste Hal, schien ruhiger zu sein, aber Wyatt vermutete, daß er dem älteren Bruder in nichts nachstand. Ed, der nächste, war ebenfalls ein undurchsichtiger Bursche, aber vielleicht nicht ganz so gefährlich wie die beiden älteren.
Mike und Cole, die Twins, kannte Wyatt nur flüchtig, sie waren damals, als er den Kampf mit den Clantons hier in Tombstones Straßen ausgetragen hatte, nicht in der Stadt gewesen.
Jesse und Joseph, die beiden nachfolgenden Brüder, waren bei Schießereien ums Leben gekommen. Dann war da noch Lourie, das einzige Mädchen in der Familie.
Eine gefährliche Familie, die Flanagans. Damals spielten sie nur eine zweite Rolle, da sie gegen die Clantons unbedeutend wirkten. Aber jetzt schoben sie sich mehr und mehr in den Vordergrund.
Es stand für den Marshal fest, daß die Befreiung der Gefangenen vor allem Hal und Ed gegolten hatte. Denn die Flanagans hatten sehr viele Verwandte und Freunde in der Stadt und auch in deren Umgebung.
Hielten sich die Ausgebrochenen noch in der Stadt auf? Früher trieben sie sich gern in Wongs China Bar herum.
Wyatt ging durch die schmale Secondstreet zur Chestnutstreet hinunter. Diese Straße war die engste und düsterste Passage der Stadt, da sie Vorbauten hatte wie eine der Hauptstraßen und dadurch stockdunkel und schmal wurde. Bei Nacht war es nicht ratsam, sie zu passieren. An ihrem unteren Ende war die berüchtigte China Bar. Durch die mit rotem und schwarzem Glaspapier beklebten Fensterscheiben fiel ein magisch-unwirkliches Licht auf die Straße.
Der Marshal betrat den Vorbau und öffnete die Tür.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Kneipen herrschte in der China Bar stets Hochbetrieb. Sämtliche Tische waren dicht besetzt und die Theke war geradezu umlagert. Eine weißblaue Tabakwolke schwebte zwischen den Lampen über den Köpfen der Männer und machte das Atmen in dieser Luft schwer.
Ein alter Musikkasten hämmerte mehr laut als melodisch den Arizonasong in die Schenke hinein.
Als der Marshal an der Tür erschien, sah sich niemand um. Er ging auf die Theke zu und warf einen raschen Blick in den großen Spiegel vor dem Flaschenbord, in dem er die Gesichter der Männer, die vor der Theke standen, sehen konnte. Dabei machte er eine unerwartete Entdeckung: einer dieser Männer war der mexikanische Bandit Enrique, mit dem er vor Martini am Lue Lon River zusammengetroffen war, und der sich dann plötzlich in der Stadt gegen ihn gestellt hatte. Enrique war zusammen mit Phin Clanton und den anderen von Wyatt Earp ins Gefängnis des Alkalden von Martini gebracht worden.
In diesem Augenblick hatte auch Enrique den Missourier gesehen. Aber er drehte sich nicht um.
Da trat der Marshal hinter ihn und sagte mit halblauter, schneidender Stimme: »Sie können sich ruhig umdrehen, Enrique. Ich sehe einen Banditen lieber von vorn als von hinten.«
Ganz langsam wandte sich der Outlaw um. Aus verschlagenen Augen blickte er den Marshal an.
»Was wollen Sie von mir? Ich kenne Sie nicht. Ich heiße auch nicht Enrique.«
»Schade. Wäre ein schöner Name für einen Banditen gewesen. Mal ganz was anderes.«
Enrique zog die Brauen zusammen und hatte eine steile, harte Falte auf der Stirn.
»Belästigen Sie mich nicht, Mister, ich kenne Sie nicht.«
»Wir wollen die Sache abkürzen, Enrique. Los, kommen Sie mit!«
Rechts und links von Enrique hatten die Männer jetzt Platz gemacht. Der Bandit wich einen Schritt zur Seite. Seine Augen hatten etwas Raubtierartiges angenommen.
»Ich habe gesagt, ich kenne Sie nicht. Belästigen Sie mich nicht, Mister.«
Wyatt richtete sich zu voller Höhe auf.
»Es ist nicht ausgeschlossen, Bandit, daß du dein Gedächtnis verloren hast. Ich werde es auffrischen. Ich habe dich mit einigen deiner Kameraden am Lue Lon überrascht, als ihr auf einen Boten der Galgenmänner wartetet. Einer von deinen Halunken wollte meinen Hengst stehlen. In Martini habt ihr mich auf offener Straße überfallen. Von deinen Kugeln ist Jackson Kilby getötet worden…«
»Er wäre sowieso an den Galgen gekommen!« entfuhr es dem Banditen.
Wyatt zog die linke Braue hoch.
»Das genügt, Enrique. Vorwärts!«
Aber der Bandit blieb stehen.
Wyatt spürte plötzlich, daß irgend etwas in seinem Rücken vorging.
Unter halbgesenkten Lidern warf er einen forschenden Blick in den großen Thekenspiegel und sah zu seiner nicht geringen Verblüffung, daß der Mann, der hinter ihm stand, niemand anders als Phineas Clanton war.
Jetzt galt es blitzschnell zu handeln.
»Damit die Sache auch gleich richtig angepackt wurde«, er machte zwei blitzschnelle Schritte zur Seite und riß seine Revolver hoch. »Kommen Sie auch gleich mit, Phin!« fuhr er fort.
Der Desperado war von der blitzschnellen Aktion des Marshals überrascht worden. Aus erschrockenen Augen stierte er den Missourier an. Aber dann hatte er sich sofort wieder in der Gewalt.
»Hallo, Wyatt! Wo man sich nicht überall trifft!«
»Merkwürdig, nicht wahr?« Der Marshal war davon überzeugt, daß Phin sich nicht allein mit Enrique in der Schenke aufhielt.
Wyatt durfte jetzt keinen Inch Boden preisgeben. Er mußte unbeirrt und blitzschnell handeln.
Es war eine fürchterliche Minute. Nie hatte er sich gewünscht, hier in Tombstone einen der Clantons festnehmen zu müssen. Aber nun war der Augenblick gekommen. Phineas Clanton hatte sich in Martini auf die Seite der Banditen gestellt und war mit ihnen zusammen aus dem Jail ausgebrochen. Wyatt spannte beide Hähne, in seinen Augen funkelte Eis, als er befahl: »Vorwärts!«
Phin hatte beide Daumen hinter den Waffengurt gehakt und wippte auf den Zehenspitzen, daß die großen Kolben seiner Hampton-Revolver schaukelten.
Langsam wandte er sich um und ging mit Enrique vor dem Missourier her auf den Eingang zu.
Wyatt spürte sehr wohl den galligen Blick, mit dem ihn der schlitzäugige gelbgesichtige Mann hinter der Theke bedachte.
*
Jonny Ringo, James Curly Bill und Ted Marlowe hatten nach der Abfuhr, die sie nun auch von dem Marshal hatten einstecken müssen, die Köpfe an der großen Theke des Crystal Palace zusammengesteckt.
»Das schlucke ich nicht«, krächzte Ringo heiser. »Wir machen ihn fertig!«
James Curly Bill ballte seine gewaltigen roten Fäuste und hieb sie krachend auf das Thekenblech.
Ted Marlowes Gesicht wirkte wie eine ausgetrocknete Ziegenhaut. Seine wimpernlosen Augen waren fast geschlossen. Er dachte nach.
Ringo stieß ihn an: »Was überlegst du?«
Da sprangen die Lippen des Schießers auseinander: »Kommt mit!«
Die drei schlenderten, ohne ihre Getränke bezahlt zu haben, aus dem Crystal Palace hinaus.
Als sie vorn auf dem Vorbau standen, konnten sie drüben noch die hohe Gestalt des Marshals auf die Gassenmündung zugehen sehen.
Ringo blickte Marlowe an.
Der nickte.
»Ihm nach!«
Sie warteten, bis der Missourier ein gutes Stück die Gasse hinuntergegangen war, und folgten ihm dann, wobei sie sich auf der anderen Straßenseite im Vorbaudunkel hielten.
»Er geht in Wongs China Bar«, flüsterte Ringo den anderen zu.
Als der Marshal in der Schenke verschwunden war, lief Ringo über die Straße und versuchte einen Blick durch das Fenster zu werfen. Aber die Scheiben waren so dicht mit Papier beklebt, daß er nicht in die Schenke sehen konnte.
Ringo ging zu den anderen zurück.
»Nichts zu sehen!«
»Dann gehe ich hinüber«, meinte Curly Bill.
»Nein, du bestimmt nicht«, wehrte Ringo ab.
»Warum nicht?«
»Weil du unbesonnen bist.«
»Was soll das heißen? Ich habe jedenfalls keine Angst.«
Ringo warf den Kopf ins Genick. »Bildest du dir etwa ein, ich hätte Angst? Willst du vielleicht behaupten, daß ich ein Feigling wäre?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber ich habe jedenfalls keine Angst.«
»All right, dann gehen wir alle drei hinüber.«
Ted Marlowe blieb stehen.
Ringo sah sich nach ihm um. »Was ist mit dir?«
»Ich bin nicht verrückt!«
»Was heißt verrückt?«
»Wer weiß, wer drüben in der Schenke ist. Vielleicht Luke Short und Doc Holliday. Ich bin doch nicht wahnsinnig. An einer Ohrfeige habe ich genug.«
»Was hast du denn vor?«
Marlowe stand mit hochgezogenen Schultern und eingesunkener Brust da, seine Hände lagen auf den Revolverkolben. »Ich bleibe hier stehen«, knurrte er.
Ringo, der schon auf der Straße war, schüttelte den Kopf.
»Das ist ein schlechter Platz, Marlowe.«
»Deine Ansicht«, gab der Schießer kühl zurück.
Ringo schüttelte wieder den Kopf.
»Nein, du kennst ihn nicht, Marlowe. Da stehst du schlecht. Glaube es mir. Er sieht dich, und wenn du schießt, kannst du nur bis an die Hauswand zurück. Da nagelt er dich fest!«
»Und? Was schlägst du vor?« zischte der Coltman.
Ringo hatte jetzt die Hände in den Rücken gestützt und blickte zu der Bar hinüber: »Das kommt darauf an. Wir müssen ihn überraschen, wenn er rauskommt.«
Da tönte von der dunklen Vorbaukante hinter Marlowe die hohle Stimme eines Mannes: »Ringo hat recht. Das ist wirklich ein schlechter Platz hier.«
Die Köpfe der drei Brüder fuhren herum.
Aus dem Vorbaudunkel tauchte die Gestalt eines mittelgroßen Mannes auf.
»Quebec!« entfuhr es Ringo. »Jonny Quebec!«
Der andere schlenderte an der Vorbaukante entlang und blieb neben Marlowe stehen. Ohne Ringo anzusehen, sagte er: »Freut mich, daß du mich noch kennst. Eigentlich sollte mich Ted auch kennen.«
Marlowe bleckte sein lückenhaftes Gebiß.
»Und ob ich dich noch kenne. Schließlich haben wir zusammen sieben Monate Urlaub in Fort Worth gemacht. Hehehehe.«
»Stimmt genau!«
Ringo sah sich hastig nach der Bar um und kam dann auf den Vorbau zu den beiden anderen.
»Ihr kennt euch?«
»Ja, du hast es doch gehört«, entgegnete Marlowe. »Wir sind Partner.«
Da wurden drüben die Schwingarme der Schanktür aufgestoßen.
James Curly Bill schnellte auf den Vorbau und verbarg sich mit den anderen im Dunkel einer Türnische.
Phin Clanton und der Galgenmann Enrique traten ins Freie.
Der Marshal folgte ihnen.
Das Licht aus der Schenke fiel auf die Gestalten der drei Männer.
Ringo raunte: »Phin! Er hat Phin erwischt!«
»Wenn er hier vorbeikommt, knalle ich ihn ab wie einen räudigen Hund«, stieß James Curly Bill durch die Zähne.
»Das wirst du bleiben lassen«, zischte ihm Marlowe zu.
»Du hast mir nichts zu befehlen«, knurrte Curly Bill ihn an.
»Das wirst du erleben!«
Da packte Curly Bill ihn am Arm und krächzte ihm zu: »Hier bist du in Tombstone, Junge. Hier wirst du dich benehmen, sonst schlage ich dir persönlich sämtliche Zähne ein.«
»Psst!« mahnte Ringo.
Quebec hatte sich bisher völlig still verhalten.
Wenn die vier Männer erwartet hatten, daß Wyatt Earp an ihnen vorbei durch die dunkle Gasse hinaufgehen würde, dann hatten sie sich getäuscht.
Wyatt wandte sich nach links in die Chestnutstreet, von da ging er die untere Thirdstreet hinauf zur Hauptstraße.
Die vier Männer lösten sich aus der Türnische.
»Vorsicht«, mahnte Ringo, »er hat Ohren wie ein Luchs.«
»Worauf haben wir denn noch Rücksicht zu nehmen«, stieß Curly Bill rostig durch die Zähne.
»Darauf, daß er uns nicht hört.«
»Wozu denn? Wir knallen ihn doch nieder!«
»Dazu gehört vor allem Vorsicht«, erklärte Quebec, »ich kenne ihn. Er war es schließlich, der mich drüben in Santa Fé geschnappt hat. Und es will schon etwas heißen, Jonny Quebec zu schnappen.«
Langsam verließen sie den Vorbau und traten auf die Straße hinaus.
Jonny Ringo, Quebec und Marlowe suchten sofort das Dunkel des gegenüberliegenden Vorbaus.
Aber Curly Bill blieb auf der Straßenmitte.
Als sie die Ecke zur Thirdstreet erreicht hatten, blieb Jonny Ringo stehen.
Curly Bill, der jetzt direkt hinter ihm war, zischte ihm mit heißem Atem ins Genick:
»Was ist los? Warum geht es nicht weiter?«
Der Falschspieler wandte den Kopf und zischelte: »Wir müssen jetzt mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen, damit es ja nicht fehlschlägt.«
»Was soll denn fehlschlagen?« krächzte Curly Bill. »Laßt mich doch los. Ich mache ihn fertig. Zwei sichere Schüsse von hinten strecken auch den grimmigsten Löwen nieder.«
»Die Schüsse sind eben bei dir nicht sicher.«
Jonny Ringo hatte sich platt an die Wand gedrückt und blickte aus glimmenden Augen auf den Rowdy.
Der wich einen Schritt zur Seite.
»Was hast du gesagt?« krächzte er.
»Ich habe gesagt, daß deine Schüsse nicht sicher sind.«
Curly Bill stieß den Kopf vor: »Was soll das heißen?«
»Das, was ich gesagt habe.«
Da griff der Rowdy zum Messer und riß es hoch. Die Klinge blinkte in seiner Faust.
»Das nimmst du zurück, Ringo!«
Der Falschspieler bleckte seine Zähne.
»Nein, James, das brauche ich nicht zurückzunehmen. Keiner von uns hat einen sicheren Schuß – gegen ihn.«
Da hämmerte James Curly Bill Brocius mit dem Messerknauf auf die Brust: »Ich habe einen sicheren Schuß gegen ihn.«
»Ja«, krächzte Quebec. »Aus einem sicheren Hinterhalt hast du vielleicht einen sicheren Schuß auf ihn. Aber nicht so.«
»Wieso, ich springe raus auf die Straße und feure auf ihn. Was will er da noch machen?«
Quebecs Kopf flog herum: »Das will ich dir sagen: er schießt auch, und zwar schneller als du. Und wenn es auch nur eine Zehntelsekunde schneller ist. Aber er erwischt dich, ehe du den Revolver voll in Schußlinie hast.«
»Das werden wir ja erleben!«
»Vielleicht auch nicht, denn wenn du erst erwischt bist, sind wir dran, und daran habe ich kein Interesse. Die Sache wird entweder auf sichere Weise gemacht oder gar nicht.«
Und nun berieten die vier Banditen miteinander, wie sie den einzelnen Mann, der da vor ihnen herging und auch noch zwei Gefangene zu bewachen hatte, gefahrlos niederstrecken konnten.
Der Respekt vor dem großen Marshal aus Dodge City war ungeheuer.
Wyatt hatte inzwischen die Hälfte der unteren Thirdstreet durchmessen.
Ringo flüsterte: »Zwei müssen auf dieser Straßenseite bleiben und zwei auf der anderen.«
Die Männer, die nichts anderes vorhatten als einen blanken Mord, schlichen die Gasse hinauf.
Als Wyatt Earp die Ecke der Allenstreet erreicht hatte, drang ein Geräusch aus der Gasse an sein Ohr.
Schon die ganze Zeit über hatte er das Gefühl gehabt, daß irgend etwas hinter ihm war.
Die Banditen waren jetzt bis auf fünfzehn Schritte an ihn herangekommen.
Links ging Ted Marlowe, hinter ihm Quebec. Wenige Meter von der rechten Seite der Gassenmündung entfernt stand James Curly Bill. Hinter ihm John Ringo.
Wyatt Earp schritt auf die Mitte der Allenstreet zu.
Der Rowdy vermochte seine Ungeduld und ein Zittern der Nerven nicht mehr zu bändigen. Er sprang vor und schoß sofort.
Die Kugel traf Wyatt rechts oben am Arm und stieß ihn herum.
Dann schoß Ringo.
Aber in dessen Schuß hinein fiel schon der erste Schuß des Marshals. Jetzt tauchte links hinter Wyatt Quebec auf.
Seine erste Kugel riß dem am Boden knienden Missourier den Hut vom Kopf.
Dann fegte ihn ein Geschoß des Marshals zurück.
Aber Ted Marlowe kauerte noch im Dunkel.
Er schob sich etwas vor und richtete den Revolver auf Wyatt.
Er war dem Marshal jetzt am nächsten. Und ihn hatte der Missourier noch nicht bemerkt.
Würde er der Mann sein, der Wyatt Earp erschoß?
*
Nachdem Doc Holliday die Clanton Ranch verlassen hatte, ritt er in gestrecktem Galopp auf Tombstone zu.
Er durchmaß die achtzehn Meilen in so kurzer Zeit, daß er die Stadt schon erreicht hatte, als der Marshal in Wongs China Bar mit Phin Clanton zusammengeriet.
Er brachte seinen Rapphengst in Nellie Cashmans Stall und schlenderte dann hinauf zum Crystal Palace.
Nach dem staubigen Ritt wollte er sich zunächst einen Brandy genehmigen. Als er den Schankraum betrat, sah er vorn links an einem der kleinen grünbezogenen Fenstertische die schöne Laura Higgins sitzen.
Der Doc, der nicht eben erfreut über den Anblick der Frau war, ging doch auf ihren Tisch zu und zog seinen Hut.
»Hallo, Doc!« rief sie ihm zu.
»Hallo, Laura, wie geht es Ihnen?«
»Ganz gut.«
»Und die Verletzung?«
»Sie ist geheilt. Seitdem ich weiß, daß Kilby zur Strecke gebracht worden ist, fühle ich mich wie neugeboren.«
Holliday wäre gern an die Theke gegangen, aber die Frau forderte ihn auf, Platz zu nehmen.
»Setzen Sie sich doch, Doc. Es sieht so scheußlich aus, wenn Sie wie ein Keeper hier vor meinem Tisch stehen.«
Der Georgier legte seinen Hut neben sich auf die Fensterbank und nahm Platz.
Jack, der Keeper, hatte den Georgier gesehen, nahm eine Brandyflasche unter der Theke hervor – es war die beste Sorte, die der Crystal Palace führte – und schenkte einen Doppelstöckigen ein.
»Darf ich Ihnen den an den Tisch bringen, Doc?« rief er durch den Schrankraum.
Holliday nickte.
Als er einen Schluck getrunken hatte und das Glas abstellte, meinte die Frau: »Ich möchte Ihnen etwas sagen, Doktor Holliday.«
»Bitte«, entgegnete der Mann interesselos, wobei er sein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche zog und es ihr hinhielt.
Laura schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte nicht rauchen.«
»Darf ich?«
Die Frau nickte. Sie beobachtete ihn, wie er das Zündholz anriß und die Tabakfäden in Brand setzte.
Alles an diesem Manne erfüllte sie mit einer rätselhaften Erregung. Seine hellen, faszinierenden Falkenaugen, seine Stimme, ja, sogar seine Bewegungen.
Holliday blickte sie an. »Sie wollten mir etwas sagen, Laura Higgins?«
Sie stützte sich auf die Ellbogen und neigte den Kopf weiter über den Tisch.
Ihr Gesicht war immer noch sehr schön – aber schon waren die ersten winzigen Spuren des nächtelangen Herumsitzens in verräucherten Spielsaloons darin zu entdecken. Aber ihre smaragdgrünen Augen waren von so brillanter Schönheit, daß sie diese kleinen Schatten überstrahlten.
Mit ihrer etwas rauchdunklen Stimme sagte sie leise: »Ich will heiraten.«
Nun sah der Spieler sie doch verblüfft an.
»Well, das ist ein guter Gedanke.«
Die Augen wurden eine Spur schmaler.
»Ja, ein guter Gedanke.«
»Und, wer ist der Glückliche?«
Langsam wanderte die feingeschwungene linke Braue in die glatte Stirn der Spielerin hinauf.
Holliday nahm die Zigarette aus den Lippen: »Oh – weiß er es am Ende noch gar nicht?«
Es blieb einen Augenblick still, dann entgegnete die Frau: »Kann sein.«
Wo hatte der Mann, der sonst das Gras wachsen hörte, seinen so geschliffenen Verstand? Holliday blies eine blaue Tabakwolke zu den rotsamtenen Plüschvorhängen hinüber und sagte: »Ich möchte mich nicht als Trauzeuge empfehlen, Laura, aber wenn Sie darauf bestehen, würde ich eine Ausnahme machen.«
Sah er nicht die plötzliche Blässe, die das Gesicht der Frau überzog?
Er streifte die erste Asche über dem silbernen Becher ab und stützte die aristokratische schlanke Hand auf die Tischkante auf. »Wissen Sie, Laura«, meinte er, während er durch die hindurchzusehen schien, »ich mache mich bestimmt besser auf Beerdigungen als auf Hochzeiten.«
In dieser Sekunde hatte er die Frau mitten ins Herz getroffen. Es war eine volle Minute still zwischen den beiden Menschen.
Dann sagte die Frau: »Jetzt können Sie mir eine Zigarette geben, Doc.«
Verwundert nahm er das Etui wieder aus der Tasche, öffnete sie aber nicht. »He, habe ich Sie verstimmt?«
»Nein, wie können Sie das? Wo Sie doch ein feinfühliger Mensch sind, so ein untadeliger Gentleman.« Ihre Stimme hatte plötzlich einen spröden, abweisenden Klang bekommen.
Und in dieser Sekunde begriff der Georgier.
Er hätte ausweichen können, er hätte sich verabschieden können, und er hätte gehen können. Aber das wollte er auf keinen Fall, weil er wußte, daß er dieser Frau immer wieder begegnen würde. Er stieß die erst angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und legte die Hände zusammen.
»Laura, ich möchte mir nicht zuviel Ehre antun, aber ich werde plötzlich das dunkle Gefühl nicht los, daß ich da ins Tintenfaß getreten bin.«
Die Spielerin schob die volle rote Unterlippe vor. Dann sagte sie mit belegter Stimme: »Ja, John Holliday, das sind Sie.«
Er wich etwas zurück. »Pardon, das tut mir leid. Ich hatte nicht die Absicht.«
»Nein?« gab sie sofort zurück. »Das habe ich bemerkt.«
»Es tut mir trotzdem leid, Laura. Aber ich muß etwas dazu sagen. Falls es nämlich so sein sollte, daß Sie Ihr Auge auf einen gewissen John Holliday gerichtet hatten, so muß ich sogar unbedingt etwas dazu sagen.«
»Bitte?« In ihrer Stimme vibrierte plötzlich die Angst.
Der Georgier blickte ihr unverwandt in die Augen.
»Als ich in Boston in meine Praxis einzog, Laura Higgins, glaubte ich, das ganze Leben läge vor mir und die Welt zu meinen Füßen. Aber das war nur ein kurzer Traum. Schon ein paar Jahre später saß der Tod in meiner Brust…«
Sie hob die Hand. »Sie brauchen nicht weiterzusprechen, John. Ich weiß, was Sie sagen wollen.«
Doch der Gambler fuhr fort: »Ich war jung und bis zu dieser Zeit niemals auch nur eine einzige Stunde wirklich krank gewesen. Aber da hatte es mich gepackt. Es war eine Frau. Sie war erst neunzehn und bildschön. Die Tochter eines Stoffgroßhändlers, der riesige Warenladungen vom Bostoner Hafen aus nach Europa verfrachtete. Ein millionenschwerer Mann. Sie hieß Nora und kam fast jeden Tag in meine Praxis, um ihre Zähne behandeln zu lassen. Als ich sie zum erstenmal sah, glaubte ich, daß ich sie gar nicht behandeln könnte. Ich brauchte alle Konzentration, um nur die Sonde in ihren Mund zu bringen. Sie hatte tadellose Zähne. Es war also absolut unnötig, daß sie zu mir kam. Aber sie war gekommen, ich weiß nicht warum. Der alte Doktor Felridge meinte, sie habe mich auf dem Ball beim Gouverneur, bei dem ich einmal eine Kieferoperation vorgenommen hatte, gesehen, jedenfalls saß sie plötzlich vor mir in meinem ledernen weißlackierten Stuhl und behauptete, sie hätte Zahnschmerzen.
›Sie müssen mir da oben links den ersten Backenzahn aufbohren, Doktor‹, sagte sie. Ich hatte eine Assistentin, die die moderne Tretbohrmaschine sofort heranbrachte. Ich winkte ab.
›Es tut mir leid, Miß, aber Ihre Zähne sind absolut gesund‹, brachte ich mit mühsamer Ruhe hervor. Sie lachte mich an und ging. Zwei Tage später, es war am späten Nachmittag, kurz vor sechs:
Ich wollte gerade nach Hause gehen und hatte meine Assistentin schon weggeschickt, da läutete es – und sie stand wieder vor mir.
›Ich habe Zahnschmerzen, Doktor. Sie müssen mir unbedingt helfen.‹ Sie schob sich an mir vorbei in den Flur, ging in das Behandlungszimmer und setzte sich in den großen Stuhl.
Mir zitterten vor Erregung und auch vor Zorn die Hände. Ich trat an sie heran und sagte:
›Miß Nora, Ihre Zähne sind kerngesund, ich habe es Ihnen gestern schon gesagt. Ich habe keine Zeit, mir Ihre gesunden Zähne jeden Tag anzusehen.‹
Sie hatte den Kopf gegen die weißen Lederpolster zurückgelegt und blickte mich aus umflorten Augen an. Langsam öffnete sie den Mund, da sah ich zu meiner größten Verwunderung, daß einer ihrer Zähne oben herausgebrochen war.
›Was ist das denn?‹ fragte ich.
›Ich habe Ihnen ja gesagt, ich habe Zahnschmerzen.‹
›Und? Was ist da passiert?‹ fragte ich.
›Ich bin bei Doktor Bullbery gewesen.‹
›Und?‹ fragte ich entgeistert. ›Hat er Ihnen etwa den Zahn gezogen?‹
›Ja, aber ich habe so entsetzliche Schmerzen.‹
Ich sah sofort nach und stellte fest, daß der Zahn über der Wurzel abgebrochen war.«
Laura Higgins hatte, von der Erzählung des Georgiers gefesselt, beide Hände um ihr Gesicht gelegt und blickte den Georgier gebannt an.
»Ich fand eins der Wurzelstücke sofort, vermutete aber, daß noch ein oder gar zwei weitere in der Wunde stecken könnten. Aber es war ausgeschlossen, jetzt in der frischen Wunde danach weiterzusuchen. Ich sah, daß ihr Gesicht leichenblaß geworden war.
Da entschloß ich mich zu einer leichten Äthernakose und fand ein Stück Knochensplitter. Bullbery hatte also ihren Kiefer verletzt. Es war eine scheußliche Sache.
Am nächsten Tag kam sie schon nicht mehr selbst, dafür kam ihr Vater in der Sprechstunde und sagte mir, daß Nora daheim läge und fürchterliche Schmerzen hätte.
Ich ließ sofort alles liegen und stehen und ging zu ihr. An diesem Tag, am nächsten und am übernächsten. Vierzehn Tage lang.«
Es war einen Augenblick still zwischen den beiden einsamen Gästen im großen Tombstoner Crystal Palace.
Dann fragte Laura Higgins leise:
»Sie starb?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, sie starb nicht. Sie lebt noch heute.«
»Aber ich verstehe nicht?« stieß die Spielerin hervor.
Doc Holliday zündete sich eine neue Zigarette an.
»Sie wurde gesund. Und ich wurde krank.«
Er lehnte sich im Stuhl zurück.
»Sie wurden krank?«
»Ja.« Holliday wandte den Kopf und blickte durch das Fenster auf die dunkle Straße. »Sie hatte die Schwindsucht.«
In diesem Augenblick sah er drei Männer drüben aus der Gassenmündung kommen: Phin Clanton, den mexikanischen Banditen Enrique und – Wyatt Earp!
Und dann krachte von der anderen Ecke der Gasse der erste Schuß.
Wyatt Earp kniete am Boden.
Und dann ging alles rasend schnell. Von rechts wurde geschossen, dann schoß der Marshal.
Einer der Männer torkelte über die Straße und stürzte der Länge nach hin.
Und dann sah Holliday den Mann, den der Missourier noch nicht bemerkt haben konnte, rechts an der Gassenmündung mit schußbereitem Revolver am Boden kauern.
Die Spielerin hatte den Atem angehalten.
Der Revolver war in die Rechte des Georgiers geflogen, er zertrümmerte mit der Mündung die große Scheibe, und dann erzitterte die Luft des Schankraums von beiden Schüssen aus dem schweren fünfundvierziger Frontier-Revolver.
Draußen krümmte sich der Verbrecher Theodore Marlowe zusammen.
Wyatt Earp war herumgefahren. Er hatte jetzt beide Revolver in den Händen.
Er sah Marlowe zusammensinken.
Zehn Yard links vor ihm stand Curly Bill Brocius.
Wyatts Kugel stieß ihm den Revolver aus der Hand.
Jonny Ringo hatte sich davongemacht. Im Dunkel der Häusergiebel flüchtete er die untere Gasse hinunter.
Da erschien Doc Holliday auf dem Vorbau.
Er sah den fliehenden Falschspieler, überquerte mit weiten Sätzen die Straße und hämmerte zwei Schüsse in die Gasse hinein.
»Ringo!« Die erste Kugel des Gamblers hatte dem Falschspieler den Hut vom Schädel gestoßen, die zweite sengend seinen linken Oberarm gestreift.
Da warf er sich in eine Türnische. Und hatte Glück. Die Tür gab nach. Er hetzte durch den Korridor auf das winzige Fensterviereck der Hoftür zu und entkam im Dunkel des Hofes.
Doc Holliday wandte sich sofort nach dem Marshal um. Noch hatte er beide Revolver in den Fäusten.
Als er sah, daß Wyatt noch aufrecht kniete, stieß er den rechten Revolver auf Curly Bill Brocius vor.
»Natürlich, das Großmaul ist auch wieder dabei. Los, komm näher, Junge.«
Wyatt richtete sich auf. »Phin!« stieß er durch die Zähne. »Der Hund hat sich davongemacht.«
»Ja, aber der da war im Moment wichtiger.« Holliday deutete mit dem Revolver auf Marlowe.
Der mexikanische Galgenmann Enrique stand mit weichen Knien mitten auf der Allenstreet und rührte sich nicht von der Stelle. Er hatte schon vielerlei Schießereien mitgemacht, aber einen so mörderischen Gunfight hatte er noch nicht erlebt.
Alles hatte sich in Sekundenschnelle abgespielt.
Wyatt packte Enrique und James Curly Bill und schob sie vor sich her.
Doc Holliday kniete neben Marlowe und drehte ihn auf den Rücken.
»Tot«, murmelte er.
Vier Schritte von ihm entfernt lag Quebec röchelnd am Boden.
Holliday, der Marlowe vorsichtshalber die Waffen weggenommen hatte, ging zu ihm hinüber und richtete ihn in sitzende Stellung auf.
Der Verbrecher sah über sich im fahlen Mondschein und im schwachen Licht, das aus den Fenstern des Crystal Palace fiel, die harten, kantigen Züge des Georgiers. Er erkannte den Mann genau, der sich da über ihn beugte. »Doc Holliday«, keuchte er.
»Ja, Quebec«, entgegnete der Spieler düster, »jetzt kannst du den großen Geist anrufen, der dich deinem Partner Marlowe nachholt.«
Da krächzte der Outlaw in jämmerlich-bibberndem Ton: »Nein, ich will nicht sterben, ich will nicht!«
»Hör auf zu jammern, Mensch.«
Holliday richtete den schweren Mann auf und schleppte ihn dem Vorbau von Doc Sommers Haus zu.
Die Schwester des Arztes öffnete. Sie erkannte den Georgier sofort.
»Furchtbar!« stöhnte sie, »ich habe alles mitangehört, es war entsetzlich!«
»Machen Sie lieber die Tür auf, daß ich durchgehen kann«, fuhr sie der Georgier an.
»Ja, sofort.«
»Ist Ihr Mann nicht zu Hause?«
»Nein, er ist noch nicht zurückgekommen. Er ist auf einer Farm draußen.«
»Machen Sie Licht im Behandlungszimmer.«
Holliday legte den Banditen auf den Tisch, und die Frau hielt zwei Lampen.
In banger Todesangst ruhte der Blick des Verbrechers auf dem Gesicht des einstigen Bostoner Arztes.
»Und?« keuchte er. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
Doc Holliday hatte ihm das Hemd über der Brust geöffnet und blickte auf die Wunde.
»Und?!« Mit einem Ruck richtete sich Quebec auf. »Sprechen Sie schon, Doc!« schrie er gellend.
Das Gesicht des Spielers war wie aus Marmor gehauen. Dann sprangen seine Lippen auseinander:
»Dein Partner Marlowe wird noch eine Weile auf dich warten müssen, Quebec.«
Die aufblitzenden Hoffnungen des Banditen wurden jedoch sofort wieder von dem Spieler zerstört.
»So lange nämlich, bis du am Galgen deine schwarze Seele ausgehaucht hast.«
Holliday wandte sich um.
»Was ist denn? Wollen Sie mir die Kugel nicht herausholen?«
Holliday wandte sich an die Frau: »Sagen Sie diesem Kerl, daß es ein Durchschuß ist. Da gibt es nichts herauszuholen. Ich weiß, daß Sie sich auf Verbände verstehen. Legen Sie dem Kerl einen an. Bezahlen wird er. Und anschließend holt ihn der Marshal ins Jail.«
Danach verließ der Georgier das Haus.
Luke Short hatte Jimmy King zum Marshals Office gebracht. Er schloß auf, zündete die Kerosinlampe an und nahm den Schlüsselbund für die Zellen von der Wand. Dann öffnete er die Bohlentür zum Gefängnistrakt.
Als er ein paar Schritte in den Zelleneingang gemacht hatte, blieb er plötzlich wie angenagelt stehen.
Vorn die erste Zellentür war geschlossen. Und im Hintergrund auf der Pritsche erkannte er die Gestalt eines Mannes.
Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
»Shibell! Ich wußte ja, daß du eine Ratte bist, aber daß du jetzt auch noch durch Schlüssellöcher laufen kannst, um in ein verschlossenes Jail zurückzukommen, das wußte ich noch nicht.«
Plötzlich begriff der Texaner.
»Schätze, du bist deinem Freund, dem Marshal, in die Arme gelaufen, Bursche. War ein kurzer Ausflug, was? So, du kriegst Gesellschaft.« Der Tex schob Jimmy King in die benachbarte Zelle und warf die schwere Gittertür ins Schloß. »Und jetzt werde ich die beiden anderen Burschen holen.«
Luke Short hatte das Office verlassen, und zwar zu der engen Parallelgasse zur Allenstreet hin, um in der Spelunke von Joel Webster nach den Flanagans zu suchen. Da hörte er die Schüsse. Ist das eine Finte? fragte er sich. Will man mich wieder weglocken?
Plötzlich aber glaubte er den schweren Klang des Buntline Revolvers Wyatt Earps erkannt zu haben.
»He, die Kanone müßte ich doch kennen?« murmelte er.
Er wandte sich um, rannte durch den Hof, hin zum Office und hörte da die harten, peitschenden Schüsse aus dem Revolver des Georgiers.
Als er den Vorbau erreichte, war schon alles vorbei.
Der Mann aus Georgia hatte schon aufgeräumt.
Als Luke Short sich dem Kampfplatz näherte, kam ihm schon der Marshal mit Enrique und James Curly Bill entgegen.
Holliday sah sofort, daß der Marshal verletzt war.
»Damned, Sie sind verwundet, Marshal?«
Wyatt winkte ab. »Es wird nicht so schlimm sein.«
»Habe ich nicht auch die Bleispritze des Docs gehört?«
»Ja, ja, er hat einen der Brüder hinüber zu Doc Sommers gebracht.«
»Auch das noch. Der Teufel soll dieses verdammte Tombstone holen.«
»Ich hatte Phin dabei«, unterrichtete Wyatt den Freund.
»Phin? Dieser Hund steckt auch hier?«
»Ja, ich habe ihn vorhin in Wongs China Bar aufgetrieben.«
»Ich weiß, daß Sie schon hier waren. Ich habe diesen Strolch, diesen Shibell, im Jail gefunden.«
Sie hatten mittlerweile das Office erreicht.
Der Sheriff nahm sich der beiden Gefangenen an und beförderte sie sofort hinter Schloß und Riegel.
Als er ins Office zurückkam, saß der Marshal am Tisch und hatte die Jacke ausgezogen.
Sein weißes Hemd war oben links am Arm blutbefleckt.
»Verdammter Kram«, knurrte der Riese, kam auf ihn zu und half ihm beim Öffnen des Hemdes. »Kaum hatte ich hier den Laden aufgemacht, da kamen sie auch schon angerannt. Aus allen Himmelsrichtungen. Dem einen waren Kühe gestohlen worden und dem anderen Gäule. Ich ritt zunächst zu Callhauns Farm hinauf und dann zu Scott hinüber.«
»Scott?«
Wyatt schloß für einen Moment die Augen.
Er erinnerte sich plötzlich daran, daß der junge Clay Scott, ein wüster Revolverschwinger übrigens, mit den Flanagans befreundet war.
»Ja, und was war mit ihnen?«
»Was soll gewesen sein, sie hatten mich zur Ranch bestellt, weil man ihnen angeblich Vieh gestohlen hatte. Der Ochse war aber wahrscheinlich ich. Sie schlossen das Tor hinter mir ab. Ich habe mich trotzdem beeilt, schnell in die Stadt zurückzukommen, aber es war zu spät. Die Hunde hier waren schon verschwunden. Wo haben Sie Shibell gefunden?«
»Auf Huckleys Pferdewechselstation.«
»So weit war die Bande schon?«
»Ja, und Huckley ist tot.«
»Der Stationshalter?« fragte der Riese verstört.
»Ja, er war tot. Shibell hat mich im Stationsgebäude angefallen. Er muß hinter der Tür auf mich gewartet haben. Und er schlug mich mit dem Revolver nieder, als ich eintrat. Ich taumelte zurück, konnte ihn aber vom Boden aus noch mit einem schnellen Schuß stoppen. Dann fand ich den Alten hinterm Haus. Er war tot.«
»Dafür wird Shibell hängen!«
Wyatt zog die Schultern hoch.
Da stützte sich der Riese mit seinen gewaltigen Armen vor ihm auf die Tischkante.
»Meinen Sie etwa, daß er ihn nicht umgebracht hat?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete der Marshal. »Wo sind die beiden Flanagans?«
Der Texaner richtete sich auf: »Das möchte ich auch wissen!« Er zog eine schon angerauchte Strohhalmzigarre aus der Tasche und zündete sie wieder an.
»Bah, schmeckt das Zeug biestig.«
Er warf sie in den immer mit Wasser gefüllten bereitstehenden Brandeimer.
Wyatt nahm seine Zigarrentasche mit der Rechten aus der Jacke und reichte dem Riesen eine neue Zigarre.
»He, das habe ich gar nicht verdient«, wehrte der Tex ab, »Sie haben hier die Bande eingelocht, und ich lasse sie davonfliegen.«
Wyatt schüttelte den Kopf. »Sie können nichts dafür, Luke.«
»Ich weiß nicht, ich bin ein Idiot, wie kann ich die Kerle entkommen lassen? Sie jagen Kolby nach und haben ihn ganz bestimmt gestellt, und auf dem Rückritt müssen Sie die Halunken einsammeln, die mir davongekrochen sind.«
Ein stechender Schmerz zog durch den Oberarm des Marshals. Er verzog nur für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht.
»Ach – machen Sie sich doch keine Gedanken, Luke. Sie können doch wirklich nichts dafür. Wir wollen froh sein, daß sonst nichts passiert ist. Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte sich hier eine Menge tun können.«
»Mir reicht’s. Es hat sich gerade genug getan«, knurrte der Riese und ließ sich auf einen Hocker nieder.
*
Doc Holliday war in den Crystal Palace zurückgegangen.
Er trat an den Tisch der Spielerin, nahm den Hut ab und erklärte: »Ich muß noch ins Office, nach dem Marshal sehen.«
Die Frau saß wie versteinert auf ihrem Platz. Sie hatte den Kampf mit angesehen.
Und obgleich sie schon manche Schießerei im Westen erlebt hatte, hatte sie dieser furiose Gunfight, den sie da beobachtet hatte, schmerzlich an den Augenblick erinnert, an dem sie selbst hier vorm Eingang des Crystal Palace von Kolby niedergeschossen worden war.
»Ist er schwer verwundet?« fragte sie.
»Nein, nein, ich komme gleich zurück.«
Sie nickte.
*
Als Doc Holliday ins Office kam, war der Texaner gerade damit beschäftigt, eine Whiskyflasche aus dem Schrank zu holen und dem Marshal ein Glas zu füllen.
Wyatt hatte die Hand schon um das Glas gespannt, als Holliday eintrat.
Der Marshal hatte also einen Schluck trinken wollen.
Dann war es also doch schlimmer, als der Georgier angenommen hatte.
»Kommen Sie, lassen Sie mich gleich nachsehen.« Er untersuchte die Wunde.
Glücklicherweise war es auch ein Durchschuß. Aber die Fleischwunde schmerzte offensichtlich sehr.
Holliday hatte seine schwarze krokodillederne Instrumententasche mitgebracht, die er auf all seinen Ritten durch den Westen stets mit sich führte.
Er reinigte die Wunde sorgfältig und legte einen sauberen Verband an.
Wyatt saß mit hartem Gesicht auf der Tischkante und blickte vor sich hin.
Er mußte an die Worte denken, die der Georgier heute mittag im Anblick der Turmpyramide gesagt hatte.
Es war wirklich ein höllisches Leben, das sie hier lebten.
Er hob den Kopf und blickte den Spieler an.
»Fertig?«
»Ja.«
Er zog seine Jacke an.
»Jetzt weiß ich wenigstens, warum ich einen Doktor mit mir durch den Westen schleppe. Die Rechnungen, die ich für Wundbehandlungen und Kugelzüge, Verbände und Pflaster zu zahlen hätte, gingen ins Astronomische. Am besten lasse ich Ihnen in Dodge gleich drei meiner Monatsgehälter überweisen.«
Holliday nickte. Er stand jetzt auf seinem gewohnten Platz, zwischen Tür und Fenster an die Wand gelehnt, den linken Fuß angezogen und die linke Hand unter dem rechten Ellbogen. In der Rechten hielt er eine Zigarette.
»Jetzt weiß ich wenigstens, aus welchem Grund ich durch den Westen reite«, kam es ironisch von seinen Lippen. »Man muß eben eine Lebensaufgabe haben. Das scheint meine zu sein.«
Da wurde die Tür aufgestoßen, und zur Verwunderung der drei Männer trat Nellie Cashman ein. Sie hatte den Messinggriff noch in der Hand, während ihre Augen den Marshal suchten.
»Mr. Earp!« entfuhr es ihr tonlos, »ist Ihnen etwas passiert? O Gott, Sie sind verwundet.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sie den Jackenärmel über der Schulter hängen haben, weil Sie die Jacke nicht angezogen haben. Was ist passiert? Ich habe nichts gehört. Ich stand gerade mit Sam vor der Tür. Er hat nur gesehen, daß Doc Holliday seine Tasche geholt hat.«
Der Marshal winkte ab. »Nicht so schlimm, Miß Nellie.«
Sie sah den Georgier an.
Der zog die Schultern hoch und senkte den Blick.
Luke Short stand am Gewehrständer, stieß eine Winchester in die Halterungen und knurrte: »Nicht so schlimm. Nein, bei ihm ist überhaupt nichts schlimm. Er scheint aus Eisen zu sein…«
Plötzlich sah Holliday den Lichtschein aus Virgils alter Schlafkammer ins Office fallen.
»Ist da jemand drin?« fragte er.
»Ach, du lieber Gott, das habe ich ganz vergessen!« rief der Tex. »Humpy Donegan liegt da. Die Hunde haben ihn niedergestochen. Ja, Doc, sehen Sie doch gleich nach ihm.«
Holliday stieß sich von der Wand ab und trat in die Schlafkammer.
Der grauhaarige Mann lag mit bleichem, eingefallenem Gesicht in seinen Kissen und hatte die Augen immer noch geschlossen.
Der Georgier beugte sich über ihn und nahm die Decke herunter. Dann öffnete er langsam den Verband. Kopfschüttelnd sah er auf die Wunde.
»Wer hat da herumgepfuscht?«
»Gulbranson, irgend so ein Halunke, der unten in den Minor Camps wohnt.«
Holliday erinnerte sich an den Mann.
»Eine Schande ist das«, preßte er durch die Zähne, behandelte auch die Wunde des Deputys sorgfältig und legte dem Mann einen sauberen Verband an. Dann holte er aus der Tasche, die der Tex mittlerweile hereingebracht hatte, ein Fläschchen, öffnete es und hob den Kopf des Bewußtlosen. Das Fläschchen hielt er ihm unter die Nase.
Auf einmal schlug Humpy Donegan die Augen auf. Er sah von einem zum anderen. Links über ihm war das Gesicht des Georgiers.
Rechts neben dem Bett stand der riesige Texaner.
Unten am Fußende stand Wyatt Earp, und über seine Schulter blickte Nellie Cashman mit großen, ängstlichen Kinderaugen.
Der Deputy wollte den Mund öffnen.
Holliday schüttelte den Kopf. »Sie müssen jetzt nicht sprechen.«
Die Augen des Verwundeten wanderten von Doc Holliday zu Wyatt Earp. Und dann sah er rechts neben sich den Texaner. Der griff mit einer unbeholfenen Geste nach seiner Hand.
»Mach dir keine Sorgen, Hum. Doc Holliday ist da, der kriegt das schon wieder hin.«
Er wandte sich ab und ging hinaus. Draußen hörte man, wie er einen Stuhl rauh gegen den Tisch schob. Dann knurrte er: »Und jetzt werden die Flanagans gesucht!«
Wyatt hörte, wie er eine Winchester aus dem Gewehrständer holte und knackend durchlud.
Wyatt verließ den Schlafraum und trat ins Office.
»Warten Sie, Luke, ich komme mit.«
Da war auch Nellie Cashman im Bureau. »Wyatt!«
Er wandte sich nach ihr um.
Die Blicke der beiden begegneten einander.
»Wohin wollen Sie schon wieder!« flüsterte die Frau bebend.
Der Marshal ging einen Schritt auf sie zu.
»Hal und Edward Flanagan sind aus dem Jail ausgebrochen, Miß Cashman«, sagte er mit rauher Stimme.
»Ja, ich habe es inzwischen gehört. Aber deswegen müssen Sie doch jetzt nicht wieder weg?«
»Wir müssen sie suchen.«
»Aber Sie sind doch verwundet.«
»Ach, es ist nicht so schlimm…«
»Wyatt…« Sie griff nach seinem Arm.
Der Mann spürte die Wärme ihrer Hand.
Da trat Doc Holliday in die Tür der Schlafkammer.
»Nehmen Sie ihn nur mit, Miß Nellie. Er muß sich hinlegen.«
Wyatt schüttelte den Kopf und machte sich von der Frau los. »Ich muß die Flanagans suchen. Ich vermute, daß einer von ihnen den alten Hucksley ermordet hat.«
*
Wyatt Earp und Luke Short hatten stundenlang sämtliche Saloons der Stadt durchsucht.
Keine Spur von den Flanagans, keine Spur von Phin Clanton.
Das Haus der Flanagans lag wie ausgestorben da.
In der Frühe des nächsten Morgens stand der Marshal wieder vor dem Haus der Flanagans.
Er sah sofort, daß in der Nacht jemand hiergewesen sein mußte, denn das Tor, das er selbst fast einen Yard breit offengelassen hatte, war jetzt bis auf einen Spalt zugezogen.
Er schob sich in den Hof und blickte um die Hausecke.
Da sah er den Alten auf der obersten Stufe der Treppe sitzen. Als der bärtige Mann den Missourier sah, glitt ihm die Pfeife aus dem Mund, ihr Tonkopf zerschellte auf den steinernen Stufen.
»Schade«, meinte der Marshal, »so geht alles in die Brüche.«
Der Alte hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und sah ihn gallig an.
»Was wollen Sie, Marshal?«
»Ich suche Hal und Ed.«
»Die sind nicht hier.«
»Kann sein, aber Sie wissen, wo sie sind.«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete der Alte, »und wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen nicht sagen.«
Da trat der Missourier nahe an die Treppe heran: »Dann werde ich Ihnen etwas sagen, Nick Flanagan. Ihre Söhne haben draußen auf der Pferdewechselstation Hucksley, den Stationsleiter niedergeschossen.«
Wie von der Tarantel gebissen, fuhr der Alte auf.
»Das ist nicht wahr!«
»Es ist ein Zeuge des Mordes da, Nick Flanagan.«
»Shibell!« entfuhr es dem Alten. »Wir werden diesen Hund…«
Jäh brach er ab. Eine beinerne Blässe überzog sein Gesicht.
Der Marshal wandte sich um und ging um die Hausecke herum auf das Hoftor zu. Noch hatte er es nicht ganz erreicht, als er durch eine Bretterritze den Helfer vom Postoffice, den dreiundzwanzigjährigen Fepe Gerringer, auf das Haus zukommen sah. Da stutzte der Mann plötzlich.
Er hatte den Falben gesehen, der draußen vor dem Haus stand.
Wyatt hatte das Pferd nicht etwa mitgenommen, weil er das große Stück vom Russian House bis hierher nicht zu Fuß zurücklegen mochte, sondern weil er die Absicht hatte, von hier aus zur Clanton Ranch zu reiten.
Der Posthelfer hatte den Falben offensichtlich erkannt, schob den Brief, den er in der Hand hatte, rasch in die Tasche, wandte sich um und ging die Gasse hinauf, zurück zur Allenstreet.
Wyatt wartete, bis er verschwunden war. Dann ging er hinaus auf die Gasse, ließ den Falben stehen und verschwand drüben im Hof von Rozy Ginger. Im gleichen Augenblick versuchte der Mann an ihm vorbei aus dem Hof zu entkommen.
Mit raschem Griff hatte der Marshal ihn gepackt und zerrte ihn in den Hof zurück.
Es war der schräge Curle, wie er in der Stadt genannt wurde. Ein texanischer Tramp, der sich seit Jahren im Cochise County herumtrieb.
»Na, was hast du denn heute wieder gestohlen, Curle?«
»Nichts, Marshal, ich schwöre es Ihnen.«
Wyatt zog ihm mit einem raschen Griff ein zusammengeknäultes, fast neues Pferdehalfter unter der Jacke hervor. Das Gesicht des Tramps war schuldbewußt in die Länge gezogen wie ein Pferdegesicht.
Wyatt hob das Halfter an. »Ich möchte wissen, was Rozy Ginger dazu sagt, wenn ich ihr das Halfter zurückbringe.«
Der Marshal spannte seine Rechte um das linke Handgelenk des Tramps.
»Jetzt bist du dran, Curle.«
»Mr. Earp, ich…?Es ist nur so, ich habe keinen Cent mehr in der Tasche, und ich hatte Hunger. Und ich dachte mir…«
Der Marshal nickte.
»Ich weiß, was du dir dachtest. Wenn du oben in Howards Mietstall das Halfter anbringst, gibt es vielleicht einen Dollar. Und dafür wiederum gibt es ein paar Whisky.«
»Mr. Earp, ich bitte Sie, ich…«
»Schweig!«
Wyatt packte das Halfter und hängte es an einen Wagenholm.
»Hör zu. Du bist doch mit den Flanagans befreundet?«
Argwöhnisch durchforschte der Tramp das Gesicht des Missouriers.
»Ich weiß nicht…, Marshal. Warum fragen Sie?«
»Meine Sache. Du gehst jetzt aufs Post Office und sagst, du solltest den Brief für Nick Flanagan holen. Er wartet auf einen Brief.«
Der Tramp war sofort damit einverstanden, froh, so billig davonzukommen. Fünf Minuten später kam er tatsächlich mit dem Schreiben zurück.
Wyatt fing ihn oben in der Gasse ab und nahm es an sich.
»Komm mit.«
»Aber ich dachte mir…, da ich den Dienst für Sie erledigt habe…«
»Du kommst trotzdem mit.«
Wyatt ging ins Marshals Office, wo er Doc Holliday und Luke Short traf. Er schickte einen Jungen, der den Mayor und den Richter Gordon holen sollte.
Die beiden trafen nach einer Viertelstunde ein.
Wyatt trug ihnen seinen Plan vor.
Richter Gordon nickte: »Das können Sie unbedenklich tun, Marshal. Die Flanagans stehen unter schwerem Verdacht. Und da der Postbote, der mit ihnen befreundet ist, den Brief nicht bringen wollte, weil er Ihr Pferd sah, besteht der Verdacht, daß in dem Brief etwas steht, was für die Polizei von Wichtigkeit sein kann.«
Der Brief wurde geöffnet.
Wyatt las ihn durch. Aber es schien nur ein belangloses Schreiben irgendeines Mannes aus La Punta zu sein. Das war eine Stadt, die etwa sechsundzwanzig Meilen nordöstlich von Tombstone lag. Da schrieb eine Frau namens Peggy:
Lieber Nick, ich hoffe, es geht Dir gut. Bei uns ist alles beim alten. Meine Nachbarin ist vor vierzehn Tagen gestorben, und ihr Kind hat jetzt keine Mutter mehr.
Jerry Sixteen Trees ist noch gesund und die beiden Shilbys auch. Joe Norton, ich glaube, Du kanntest ihn auch, ist im Sommer gestorben. Er war über neunzig. Nun laß bald wieder einmal etwas von Dir hören. Deine Peggy.
Die Männer blickten einander an.
»Das ist nichts von Bedeutung«, meinte der Richter.
Wyatt las den Brief noch einmal für sich durch und reichte ihn dann dem Georgier.
Der las ihn ebenfalls, faltete ihn zusammen und gab ihn zurück. Das schien also nichts gewesen zu sein.
Der schräge Curle stand an der Tür und blickte den Marshal fragend an.
Der blickte ihm in die Augen: »Hör zu, Curle. Du kannst noch einmal verschwinden. Aber wehe, wenn du über das, was sich hier ereignet hat, ein Wort verlierst, dann kannst du was erleben.«
»Kein Wort wird über meine Lippen kommen«, schwor der Tramp und stob hinaus.
Wyatt Earp beschloß, auf die Clanton Ranch hinauszureiten.
Der riesige Tex stand an der Bohlentür zum Gefängnistrakt und hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt.
»Hoffentlich kommen Sie bald wieder, Marshal.«
»Ja, in ein paar Stunden bin ich wieder da.«
Wyatt ging hinaus. Als er den Falben vom Zügelholm losmachte, sah er, daß auch Doc Hollidays Pferd vor dem Office stand.
Eben verließ der Gambler das Bureau.
»Ich komme mit, Wyatt.«
Der Missourier hatte ein winziges Lächeln in den Augenwinkeln.
»Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, Doc…« Dabei streifte sein Blick die elegant gekleidete Frau, die eben aus dem Eingang des Grand-Hotels kam, um zum Crystal Palace hinüber zu gehen.
Der Georgier stand auf der obersten Vorbaustufe und blickte auf seine Fingernägel: »Nein, ich hatte nichts Besonderes vor.«
Er dachte daran, daß er bis spät in die Nacht hinein mit Laura Higgins im Crystal Palace gesessen und gespielt hatte.
Keiner der beiden hatte das Gespräch noch einmal berührt, das sie zu Beginn des Abends geführt hatten.
Als sie am Crystal Palace vorbeiritten, stand die Frau da und blickte mit großen, sehnsüchtigen Augen dem schwarzen Reiter nach.
Gegen elf Uhr erreichten sie die Ranch.
Sie schien wie ausgestorben dazuliegen.
Wyatt stieg auf den Vorbau und klopfte an die Tür.
Da sich niemand meldete, zog er das Fliegengitter auf und blickte in den weiten Wohnraum.
Hinten in der Ecke saß ein Mann, hatte den Kopf in die Hände gestützt und starrte auf das grelle Rechteck, das die Sonnenstrahlen durch das Fenster auf die weißgescheuerten Dielen warfen.
Wyatt zog die Drahttür hart hinter sich zu.
»Hallo, Ike.«
Ja, es war Ike Clanton, der da in dem abgewetzten Plüschsessel saß und sich jetzt erhob.
»Hallo, Wyatt.«
Neun Yard lagen zwischen den beiden Männern.
»Ziemlich weiten Ritt, den wir da hinter uns haben«, meinte der Marshal.
Ike ging zum Tisch, nahm aus dem Zinnbecher eine Strohhalmzigarre, wie auch Luke Short sie rauchte, schob sie zwischen seine weißen Zähne und riß ein Zündholz an der Tischkante an.
»Ja«, versetzte er, ohne den Marshal anzusehen.
»Es war ein weiter Ritt.«
Es war einen Augenblick still. Eine große Fliege summte um die Kerosinlampe, die an der Decke hing.
»Wo ist Phin?«
Ike trat ans Fenster, schob es mit der Linken hoch und schnippste das Zündholz hinaus in den Hof.
»Das möchte ich auch wissen«, antwortete er.
»Er hat mich in Nogales angefallen, Ike.«
»Ja, ich dachte es mir.«
»Wußten Sie, daß wir hinter Ihnen waren?«
Da wandte sich der massige Mann zur Seite und blickte den Marshal aus seinen gelben Augen offen an.
»Nein, ich wußte es nicht, aber ich dachte es mir.«
»Ich bin Ihnen nach Tombstone gefolgt. Aber ich habe Sie gestern nicht gefunden.«
»Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich auf Sie gewartet.«
Spott, Ironie, beißender Hohn. Oder? Meinte er es etwa ehrlich? Wer wollte diesen Mann durchschauen.
»Wissen Sie etwas von den Flanagans?«
»Nein, ich weiß nichts von Phin und nichts von den Flanagans.«
»Warum sind Sie nach Martini hinübergeritten?«
»Wegen Phin. Es ist immer das gleiche, Marshal.«
Das konnte eine einleuchtende Erklärung sein.
Er hatte sich immer besorgt um seinen Bruder gezeigt, wenngleich er auch keine große Liebe für ihn empfand.
Seinetwegen war er nach Nogales gekommen, und seinetwegen konnte er auch nach Martini geritten sein. Das war jedenfalls nicht zu widerlegen.
»Hal und Edward Flanagan haben auf der Pferdewechselstation den alten Hucksley ermordet.«
Der Rancher schob die Unterlippe vor und nickte.
»Ja. Vielleicht haben Sie Pferde gebraucht.«
Da trat Wyatt rasch an den Tisch heran und suchte die Augen des einstigen Königs von Arizona.
»Hören Sie, Ike, finden Sie, daß das eine Entschuldigung für einen Mord ist?«
»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete der Rancher. »Es ist lediglich eine Vermutung von mir und, ja, vielleicht auch eine Erklärung.«
Wyatt wandte sich um und ging zur Tür.
»Ich werde die Flanagans finden, Ike. Und – vielleicht auch Phin.«
Der Rancher sah ihn nicht an, hatte die Hände in die Taschen geschoben und den Kopf in den Nacken gelegt.
»Ja«, sagte er mit heiserer, leiser Stimme, »ganz sicher werden Sie das.«
Wyatt ging hinaus.
Sie ritten in die Stadt zurück.
Vorm Crystal Palace stand Laura Higgins, die den Georgier anrief.
Holliday zögerte einen Augenblick, dann lenkte er seinen Rappen auf den Crystal Palace zu.
Als Wyatt ins Office trat, berichtete Luke Short, daß der alte Callhaun wieder dagewesen wäre, um sich über Clay Scott zu beschweren. Der Bursche habe die Familie wieder schikaniert.
Wyatt ging gleich wieder zur Tür.
»Well, ich werde mir den Burschen einmal vorknöpfen. Ich hatte es ohnehin vor, denn er war ja jahrelang mit Hal Flanagan befreundet.«
Wyatt ritt aus der Stadt.
Auf der Scott Ranch schien alles ausgestorben zu sein. Er traf nur den Rancher an.
Der kam ihm entgegen und rief: »Hallo! Welch hoher Besuch. Welche Ehre…«
»Sparen Sie sich Ihren Song«, unterbrach ihn Wyatt rauh, »wo ist Clay?«
»In La P…« Der Rancher unterbrach sich jäh. »Clay? Ich weiß nicht, wo er ist. Wahrscheinlich ist er unten in Tombstone.«
»Well, dann bestellen Sie ihm, wenn er sich noch einmal drüben bei den Callhauns sehen läßt, hat er es mit mir zu tun.«
Der Marshal wandte sein Pferd und ritt davon.
Aber nicht nach Tombstone zurück. Er ritt nach Osten hinüber.
Es war schon dunkel geworden, als er La Punta erreichte.
Er wußte selbst nicht genau, warum er hierher geritten war, aber der Rancher hatte irgendeinen Grund gehabt, zu verschweigen, daß Clay nach La Punta geritten war.
La Punta! Ein armseliges Nest von sechzehn Häusern, ebenso vielen Scheunen und einem alten Backhaus, das als Sheriffs Office umgebaut war.
Der Sheriff war ein alter Mann von fünfundsechzig Jahren, mit kahlem Schädel und müden Augen.
Als der Marshal bei ihm eintrat, war er hinter seinem Schreibtisch eingenickt. »He, Mister!«
Der Sheriff blickte auf, polierte sich mechanisch mit dem Hemdärmel den Stern und stand auf.
»Ja, was wollen Sie! Wer sind Sie? Wo kommen Sie her?«
»Das sind eine ganze Menge Fragen auf einmal. Mein Name ist Earp. Ich komme von Tombstone und bin hinter zwei Banditen her, die drüben auf einer Pferdewechselstation einen Mann umgebracht haben.«
»Earp, sind Sie etwa Wyatt Earp?«
»Ja, die beiden heißen Hal und Edward Flanagan. Möglicherweise ist ein Bursche namens Scott bei ihnen, Clay Scott.«
Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Da kann ich Ihnen leider nicht helfen, Marshal…«
Da es spät geworden war, suchte Wyatt ein Boardinghouse auf und nahm ein Zimmer. In der Frühe des nächsten Morgens ritt er aus der Stadt.
Es hatte keinen Zweck, hier einer bloßen Vermutung nachzujagen, während er vielleicht dringend in Tombstone gebraucht wurde.
Er hatte die Stadt verlassen, ritt aber nicht den gestrigen Weg zurück, sondern hielt sich auf einer alten Overlandstreet weiter südlich und sah nach etwa einer halben Stunde links ein kleines Gehöft, das von hohen Arizonapinien umgeben war.
Diese Bäume waren in dieser öden, steppigen Gegend eine wahre Seltenheit.
Wyatt lenkte den Hengst auf das Gehöft zu.
Es war von einem halbhohen Pfahlzaun umgeben, und durch das offene Tor konnte er in den Hof sehen. Rechts war das Wohnhaus, links gegenüber waren die Stallungen, daneben die Scheune und mehrere kleine Schuppen. Am Brunnen stand eine alte Frau, die mit der knarrenden Winde einen Eimer Wasser hochzog.
Der Marshal stieg vom Pferd und erkundigte sich bei der Frau nach den Gesuchten.
Die Alte schien ihn gar nicht verstanden zu haben.
Sie schüttelte den Kopf und verzog den zahnlosen Mund zu einem dummen Lächeln.
Wyatt wunderte sich selbst, daß er hierher geritten war. Allzuviel Hoffnung hatte er gar nicht dabei gehabt, als er vom Wege abgebogen war. Aber ausgeschlossen war es nicht, daß die flüchtigen Banditen hier vorübergekommen waren. Er zog sich wieder in den Sattel und ritt auf das Tor zu. Über die Dächer sah er die spitzen Baumwipfel. Eigenartig wirkte das hier in dieser Einöde. Sechzehn Bäume. Er hatte sie gezählt. In Gedanken.
Plötzlich zog er die Zügelleine an.
Der Falbe blieb stehen. Sechzehn Bäume! Sixteen Trees.
In seinem Hirn schlug es plötzlich Alarm.
Aber er bewegte sich nicht. Sixteen Trees. La Punta.
Sollte der Brief, der an den alten Flanagan von La Punta aus abgeschickt worden war, etwa doch mehr zu bedeuten haben? La Punta lag nicht weit von hier. Und hier war der Hof der sechzehn Bäume.
Da vernahm der Marshal ein Geräusch hinter sich.
Er wandte sich langsam um – und sah in die Augen von Hal Flanagan.
Der Bandit stand in der Tür des Wohnhauses und hatte einen Revolver in der Hand.
In seinen Augen stand ein böses Glimmen.
»Alle Achtung, Earp, ich hätte nie gedacht, daß Sie mich hier finden würden. – Absteigen!«
Es wäre Unsinn gewesen, in Anbetracht des gezogenen Revolvers im Sattel zu bleiben.
Wyatt stieg ab und ging langsam auf das Haus zu.
Hal Flanagan trat aus der Tür heraus und stellte sich daneben.
Dafür tauchte jetzt im Eingang sein Bruder Ed auf.
Der Marshal stand vor der Treppe und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Da wären wir ja alle beieinander. Fehlt nur noch der liebe Clay.«
»Der ist hier«, schrillte es da über den Hof.
Der Marshal wandte sich gar nicht um und nickte. »Habe ich mir gedacht.«
Edward Flanagan hatte den Marshal mit nicht so großer Selbstsicherheit wie sein Bruder Hal betrachtet. Immer noch saß in ihm die große Furcht, die er seit eh und je vor diesem Manne empfunden hatte.
Quäkend schnarrte er ihm zu: »Da sind Sie uns ja schön in die Falle gelaufen, Earp.«
»Halt’s Maul!« fauchte sein Bruder, ohne ihn anzusehen. »Rede keinen Blödsinn, er ist uns nicht in die Falle gelaufen. Durch puren Zufall hat er uns gefunden. Oder – war es vielleicht kein Zufall?«
Wyatt fixierte den älteren der Flanagans scharf.
»Warum hast du den Deputy niedergestochen?«
»Das will ich Ihnen genau sagen, Marshal. Weil er idiotisch genug war, sich mir in den Weg zu werfen.«
»Und warum hast du Hucksley niedergeknallt?«
Das Gesicht des Outlaws wurde plötzlich grau.
»Hucksley? Well, ich könnte es ja leugnen, aber das habe ich nicht nötig. Ich war es! Und wenn schon! Um den Alten ist es doch nicht schade. Der hatte doch ohnehin nichts mehr zu bestellen!«
»Ich habe gefragt, warum du ihn ermordet hast.«
»Es ist sinnlos, Ihnen eine Antwort darauf zu geben, denn Sie können sie doch nicht mehr verwerten, Earp. Aber ich werde es dennoch tun. Ich brauchte Pferde. Und die wollte er mir nicht geben.«
»Ihr hattet doch Pferde, als ihr nach Tombstone kamt.«
»Nein, nicht genug. Wir brauchten zwei Wechselpferde, um schneller aus der Gegend wegzukommen.«
»Und dafür hast du den alten Mann ermordet. Du bist also nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Pferdedieb. Du wirst hängen, Halman Flanagan. Du und dein Bruder Ed.«
»Ich?!« brüllte Ed verstört, »wieso ich? Ich habe ihn nicht niedergeknallt.«
»Nein, aber du warst dabei.«
»Ich konnte nichts machen. Ich stand in der Tür, als Hal…«
»Du sollst das Maul halten«, unterbrach ihn sein Bruder. »Was willst du denn. Wozu regst du dich auf. Er kann doch gar nichts mehr machen. In einer Minute liegt er hier tot vor uns im Sand, und wir verscharren ihn.«
Ed schluckte. »Tot vor uns im Sand«, stammelte er.
»Ja, was denn, was hast du denn gedacht?«
Die alte Frau, die am Brunnen gestanden hatte, kam schlurfend mit dem Eimer heran. Als sie an dem Marshal vorbeikam, lachte sie blöde.
»Soll ich rüberkommen, Hal?« rief Clay Scott von drüben.
»Nein, du bleibst, wo du bist.«
Also auch ihm, dem Mörder, war keineswegs so geheuer, wie er tat. Auch er hatte noch großen Respekt vor dem Mann, der da vor ihm stand.
Er lehnte sich gegen die Wand, behielt den Revolver in der Hand und sah den Marshal nachdenklich an.
»Mich würde nur interessieren, wie Sie den Hof hier gefunden haben.«
»Das war nicht sehr schwer, Hal. Ein Mörder hinterläßt immer eine deutliche Fährte.«
Da stieß sich der Bandit von der Holzwand ab, beinerne Blässe hatte sein Gesicht überzogen. Er schob den Revolver vor – die Beine gespreizt und die Hacken nach außen gestellt – und mit gefletschten Zähnen zischte er: »Du wirst sterben, Sternschlepper.«
»Ja, natürlich, Hal, ich muß sterben – und du, jeder. Es ist nur gut, daß man meistens nicht weiß, wann und wo man stirbt. Von dir weiß ich es. Du stirbst am Galgen.«
Ed griff sich an die Kehle. »Ich…«, stammelte er. »Ich… habe eigentlich nichts damit zu tun, Mr. Earp.«
Da riß Hal mit der ausgestreckten linken Hand einen Backhander zur Seite, der den Bruder klatschend ins Gesicht traf. Der Schlag zog Blut aus der Nase Edwards.
Wyatt blickte von einem zum anderen.
»Wirklich eine feine Familie, die Flanagans.«
Hal fauchte ihn an: »Diese Bemerkung können Sie sich sparen, Earp. Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie jetzt sterben werden.«
»Ja, Hal, das hast du gesagt.«
»Sie glauben es wohl nicht?«
»Weißt du, ich denke daran, daß mich neulich in Nogales ein Mann gefragt hat, ob ich nicht nach Texas kommen wolle, um bei den Ölbohrungen zu arbeiten.«
Über Hals Gesicht lief ein teuflisches Grinsen.
»Den Job hättest du annehmen sollen, Earp. Vielleicht wärst du dabei älter geworden.«
Da meldete sich wieder die schrille Stimme Clay Scotts von der anderen Hofseite her.
»Worauf wartet ihr eigentlich, macht endlich Schluß! Jede Minute, die der Kerl länger lebt, ist für uns doch nur gefährlich.«
»Ja, Scott, du hast recht. Für einen Feigling ist jede Minute gefährlich!«
»Ich bin kein Feigling!« krächzte der Cowboy.
»Und ob du einer bist. Stehst hinten in meinem Rücken und hast dich hinter einer Tür versteckt. Du elender Feigling.«
»Ich habe es nicht nötig, mich zu verstecken.«
Irgendwo im Rücken des Marshals ging eine Tür.
Wyatt drehte sich auch jetzt nicht um. Aber er wußte, daß auch Scott jetzt in den Hof gekommen war. Fünf Yard vor sich hatte er die beiden Flanagans.
Hal stand links und war sicher doppelt so gefährlich wie sein Bruder Edward. Und in seinem Rücken war Scott. Eine mörderische Situation. Und zumindest Hal und Scott waren zum Mord entschlossen.
»Du hättest im Jail bleiben sollen, Ed«, wandte er sich an den jüngeren Flanagan. »Shibell und Jimmy King sind auch wieder da.«
»Shibell?« stieß Ed hervor.
»Ja, Shibell.«
»Hat er verraten, daß Hal Hucksley erschossen hat?«
»Nein, er hat kein Wort gesagt. Das stand ohnehin für mich fest.«
»Ich bringe ihn um«, stieß Halman durch die Zähne. »Aber erst stirbst du, verdammter Sternschlepper.«
»Macht endlich ein Ende!« schrie Scott von hinten.
Die alte Frau war mit dem Wassereimer in die Küche gegangen und warf zufällig einen Blick durch das Fenster hinaus in die Savanne. Da sah sie hinten von der Overlandstraße einen Reiter in gestrecktem Galopp auf das Gehöft zukommen.
Es war ein Mann, der auf einem schwarzen Pferd saß.
Die geistesschwache Frau schüttelte den Kopf, wandte sich um und kam hinaus in den Hof. Sie schob Ed zur Seite und meinte: »Der Teufel kommt, ja, ja, der Teufel.«
»Schaff mir die Alte aus den Augen«, krächzte Hal.
Ed stand auf zitternden Beinen neben der Tür.
»Du weißt, daß sie manchmal Ahnungen hat, Hal.«
»Ja, sie hat sogar untrügerische Ahnungen. Der Teufel ist nämlich schon da. Sieh ihn dir an, da steht er vor dir und hat einen Stern. Und sein Name ist Earp!«
»Auf einem schwarzen Pferd!« plapperte die Alte und ging an Wyatt vorbei in den Hof.
»Die Alte macht mich verrückt. Ich habe dir gesagt, du sollst sie mir aus den Augen schaffen«, brüllte Hal.
Da trat Scott weiter vom Scheunentor weg und kam an den Brunnen heran. Er kehrte jetzt dem Ranchtor den Rücken und hob den linken Arm.
»Hör zu, Hal, wenn du zu feige bist, anzufangen, dann werde ich das machen!«
Da biß der Mörder Halman Flanagan die Zähne zusammen und hob den Revolver an.
In diesem Augenblick peitschte vom Hoftor her ein brüllender Schuß über den Hof und stieß dem Cowboy Clayson Scott den Hut vom Kopf.
Clay fuhr herum und starrte entgeistert auf den Mann, der etwa zwölf Schritt von ihm entfernt in der Mitte des offenen Ranchtores stand.
Er war groß, schlank, sehnig, hatte ein aristokratisch geschnittenes blaßbraunes Gesicht, das von einem eisblauen Augenpaar beherrscht wurde. Zu seinem nach der neuesten Mode geschnittenen schwarzen Anzug trug er ein weißes Rüschenhemd und eine schwarze Samtschleife.
Sein schwarzer Stetson saß ihm tief in der Stirn.
»Doc Holliday!« Der Schrei brach aus drei Kehlen gleichzeitig.
Hal Flanagan faßte sich zuerst. Er spannte den Colt und gab einen Schuß auf den Marshal ab. Aber nicht schnell genug.
Wyatt hatte einen Sekundenbruchteil früher mit einem hämmernden Schuß seinen rechten Arm getroffen. Der Revolver entglitt dem Mörder.
Er griff mit der Linken nach seinem zweiten Colt.
Da aber spannte der eigene Bruder beide Hände um seinen Arm.
»Nicht, Hal!«
Der Kopf des Mörders sank auf die Brust herunter. Er war erledigt.
Die drei Banditen wurden gefesselt und auf ihre Pferde gesetzt.
Wyatt Earp und Doc Holliday zogen sich in die Sättel und verließen das Räubernest der sechzehn Bäume.
Als sie auf der Overlandstreet waren, fragte der Marshal den Freund: »Wie sind Sie bloß auf den Gedanken gekommen, hier auf diesen Hof zu reiten?«
»Wahrscheinlich so, wie Sie darauf gekommen sind. Ich war auf dem Weg nach La Punta, da sah ich die frische Fährte, die hier rüberführte und erkannte die Hufabdrücke Ihres Hengstes. Und dann sah ich plötzlich die Bäume. Unwillkürlich zählte ich sie… Vielleicht wäre ich sonst gleich in den Hof geritten.«
»Dann sind Sie noch etwas früher darauf gekommen als ich«, entgegnete der Marshal mit einem leisen Lächeln.
*
Dieses Wochenende, der 17. September, versetzte den Tombstoner Banditen einen schweren Schlag.
Der Mörder Halman Flanagan wurde zum Tode durch den Strang verurteilt.
Und die anderen, die im Jail saßen, wurden zu mehrjährigen Strafhaft in Fort Worth verurteilt. Lediglich Edward Flanagan kam auf Betreiben des Marshals mit einer milden Strafe davon.
Der Mexikaner Enrique hatte der Verhandlung nicht das mindeste über die Organisation der Galgenmänner verraten. Obgleich ihm der Richter mit zehnjähriger Zwangslagerstrafe drohte, schwieg er beharrlich. Zu groß war seine Furcht vor den Graugesichtern.
Nach der Verhandlung stand Wyatt mit Doc Holliday und Luke Short im Marshals Office.
Der Riese nahm den silbernen Sechszack von der Hemdbrust und legte ihn auf den Schreibtisch.
»So, ich glaube, das Ding kann ich jetzt niederlegen.«
Da schüttelte der Marshal den Kopf.
»Nein, Luke, noch nicht. Ich muß Phin Clanton finden.«
Der Texaner blickte den Marshal nachdenklich an.
»Was haben Sie vor, Wyatt?«
»Wir müssen zum San Pedro Valley reiten.«
»Zum San Pedro Valley? Hausen da nicht irgendwo die McLowerys?«
»Ja, ich werde das Gefühl nicht los, daß wir dort nicht nur Phin finden…«
*
Luke Shorts grauhaariger Deputy wurde übrigens wieder ganz gesund. Seine zähe Natur ließ ihn den Messerstich, den ihm Hal Flanagan beigebracht hatte, überwinden. Von nun an stand er wieder an der Seite des Texaners, um ihm zu helfen, im wilden Tombstone für Ruhe und Ordnung zu sorgen.