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8. Kapitel Persönlich und vertraulich
ОглавлениеMiss Rebekka Sharp
an Miss Amelia Sedley, Russell Square, London
(Portofrei – Pitt Crawley)
Meine teuerste, liebste Amelia!
Mit welcher Mischung von Freude und Kummer ergreife ich die Feder, um an meine teuerste Freundin zu schreiben! Oh, welcher Unterschied zwischen heute und gestern! Jetzt bin ich freundlos und allein, gestern noch war ich daheim, in der süßen Gesellschaft einer Schwester, die ich immer, immer lieben werde!
Ich will Dir nicht erzählen, wie ich die verhängnisvolle Nacht unserer Trennung unter Tränen und mit unendlicher Traurigkeit zubrachte. Du gingst am Dienstag Freude und Glück entgegen, Deine Mutter und Deinen ergebenen, jungen Soldaten an der Seite, und ich dachte die ganze Nacht an Dich und sah Dich bei Perkins tanzen, gewiß die hübscheste von all den jungen Damen auf dem Ball. Ich wurde von dem Stallknecht in der alten Kutsche zu Sir Pitt Crawleys Stadtwohnung gefahren, wo ich, nachdem John, der Stallknecht, sich mir gegenüber sehr roh und unverschämt betragen hatte (o ja, es ist ganz ungefährlich für ihn, Armut und Unglück zu beschimpfen!), Sir Pitts Obhut übergeben wurde und die Nacht in einem düsteren alten Bett und noch dazu an der Seite einer schrecklichen, unfreundlichen, alten Scheuerfrau, die das Haus hütet, zubringen mußte. Die ganze Nacht tat ich kein Auge zu.
Sir Pitt ist nicht das, was wir törichten Mädchen uns unter einem Baronet vorstellten, als wir in Chiswick die „Cecilia“ lasen. Man kann sich wohl kaum etwas denken, was mit Lord Orville weniger Ähnlichkeit hätte. Vergegenwärtige Dir einen untersetzten, ordinären und schmutzigen Alten in abgetragenen Kleidern und schäbigen, alten Gamaschen, der eine abscheuliche Pfeife raucht und sich selbst sein abscheuliches Abendessen in einem Schmortopf kocht. Er spricht wie einer vom Lande und fluchte gewaltig über die alte Scheuerfrau und auf den Kutscher, der uns nach dem Gasthause brachte, von wo die Kutsche abfuhr; ich mußte den größten Teil der Reise außensitzen.
Bei Tagesanbruch wurde ich von der Scheuerfrau geweckt, und als wir am Gasthause angekommen waren, bekam ich einen Platz in der Kutsche. Als wir aber an einen Ort namens Leakington kamen und es anfing, in Strömen zu regnen, mußte ich – kannst Du es glauben? – mich draußen setzen, denn Sir Pitt ist Miteigentümer der Kutsche. Als in Mudbury ein Passagier zustieg, der einen Platz in der Kutsche haben wollte, mußte ich mich in den Regen setzen, wo mich indessen ein junger Herr von der Universität in Cambridge recht freundlich in einen seiner vielen Überröcke hüllte.
Dieser Herr und der Schirrmeister schienen Sir Pitt gut zu kennen und machten sich über ihn lustig. Beide waren sich darüber einig, dass er ein alter Knicker sei – womit sie einen sehr geizigen, knauserigen Menschen meinen. Wie sie erzählten, gibt er nie jemandem Geld, und so eine Knauserigkeit hasse ich. Der junge Herr machte mich auch darauf aufmerksam, dass wir den letzten Teil des Weges sehr langsam fuhren, weil Sir Pitt auf dem Bock saß und die Pferde auf dieser Strecke ihm gehören. „Wenn ich erst die Zügel in der Hand habe, werde ich sie nach Squashmore jagen“, sagte der Student. „Immer geben Sie's ihnen, Master Jack“, meinte der Schirrmeister. Als ich den Sinn dieses Satzes erfaßte und begriff, dass Master Jack die Absicht hatte, den restlichen Weg selbst zu kutschieren und sich an Sir Pitts Pferden zu rächen, mußte ich natürlich auch lachen.
In Mudbury jedoch, vier Meilen von Queen's Crawley entfernt, erwartete uns ein wappengeschmückter Vierspänner mit prächtigen Pferden, und so fuhren wir mit Pomp in den Park des Baronets. Eine schöne Allee von einer Meile Länge führt zum Hause, und die Frau am Parktor (auf dessen Pfeilern eine Schlange und eine Taube, die Schildhalter im Crawleyschen Wappen, angebracht sind) machte uns unendlich viele Knickse, als sie die alten eisernen verschnörkelten Tore aufstieß, die denen im verhaßten Chiswick ähneln.
„Das ist eine Allee“, sagte Sir Pitt, „eine Meile lang. In diesen Bäumen da steckt Holz im Werte von sechstausend Pfund. Ist das etwa nichts?“ Allee spricht er Ollee aus, und nichts – nischt; es klingt so drollig; ein Mr. Hodson, sein Knecht aus Mudbury, saß mit im Wagen, und sie sprachen von Pfänden, Versteigern und Trockenlegen und Pflügen und eine Menge über Pächter und andere landwirtschaftliche Dinge – vieles, was ich gar nicht verstand. Sam Miles war beim Wildern ertappt worden, und Peter Bailey hatte man endlich ins Armenhaus gesteckt. „Geschieht ihm ganz recht“, sagte Sir Pitt, „dem seine Familie und er haben mich in den letzten hundertundfünfzig Jahren auf dem Gut genug betrogen.“ Vermutlich ein alter Pächter, der seine Pacht nicht bezahlen konnte. Eigentlich hätte Sir Pitt sagen müssen „dessen Familie“, aber reiche Baronets brauchen nicht so auf die Grammatik zu achten wie arme Gouvernanten.
Im Vorüberfahren bemerkte ich einen prächtigen Kirchturm, der einige alte Ulmen im Park überragte, und davor, mitten auf einer Wiese, umgeben von einigen Nebengebäuden, ein altes, rotes, efeubewachsenes Haus mit hohen Schornsteinen und in der Sonne blitzenden Fenstern. „Ist das Ihre Kirche, Sir?“ fragte ich.
„Ja, der Henker soll sie holen“, antwortete Sir Pitt (nur, meine Liebe, brauchte er einen viel schlimmeren Ausdruck), „wie geht es Buty, Hodson? Buty ist mein Bruder Bute, meine Liebe – mein Bruder, der Pfarrer. Ich nenne ihn Buty oder Biest, haha!“
Hodson lachte ebenfalls, dann aber wurde er ernster und sagte kopfnickend: „Ich fürchte, es geht ihm besser, Sir Pitt. Gestern war er auf seinem Pony draußen und besichtigte unsere Kornfelder.“
„Da hat er wohl nach seinem Zehnten gesehen, der Henker soll ihn holen!“ Hier benutzte er wieder den gleichen schlechten Ausdruck. „Wird ihm denn der Branntwein nie den Garaus machen? Er ist so zäh wie der alte Dingsda, der alte Methusalem.“
Mr. Hodson lachte wieder. „Die jungen Leute haben Universitätsferien und sind nach Hause gekommen. Sie haben John Scroggings so verdroschen, dass er beinah ins Gras biß.“
„Was? Meinen zweiten Wildhüter verdroschen!“ brüllte Sir Pitt.
„Er war auf dem Land des Pfarrers, Sir“, erwiderte Mr. Hodson; und Sir Pitt schwor wutschnaubend, dass er sie bei Gott deportieren lassen würde, wenn er sie einmal auf seinem Grund beim Wildern ertappte. Er verkündete: „Ich habe mein Präsentationsrecht verkauft, Hodson, keiner von der Brut soll die Pfarre bekommen“, worauf Mr. Hodson sagte, er habe vollkommen recht. Aus all diesem ist mir klargeworden, dass die zwei Brüder in Uneinigkeit leben – wie das bei Brüdern und auch bei Schwestern so oft vorkommt. Erinnerst Du Dich nicht an die beiden Miss Scratchley in Chiswick, die sich andauernd in den Haaren lagen – und an Mary Box, die Louisa immer stieß?
Kurz darauf sprang Mr. Hodson auf Sir Pitts Befehl aus der Kutsche und stürzte sich mit seiner Peitsche auf zwei kleine Knaben, die im Wald Holz sammelten. „Hau sie, Hodson“, brüllte der Baronet, „peitsch ihnen die Seele aus dem Leibe und bring sie ins Haus hinauf, die Vagabunden; ich werde sie einsperren lassen, so wahr ich Sir Pitt heiße.“ Und gleich darauf hörten wir Mr. Hodsons Peitsche auf die Schultern der armen kleinen schluchzenden Wichte klatschen. Als Sir Pitt die Übeltäter in Gewahrsam wußte, fuhr er weiter zum Schloß.
Die ganze Dienerschaft stand zu unserer Begrüßung bereit, und....
Hier, meine Liebe, wurde ich gestern nacht durch ein entsetzliches Getrommel gegen meine Tür unterbrochen; und wer, glaubst Du, war es? Sir Pitt Crawley in Schlafrock und Nachtmütze: was für eine komische Figur! Als ich vor solchem Besuche entsetzt zurückfuhr, trat er näher und griff nach meiner Kerze. „Keine Kerze nach elf Uhr, Miss Becky“, sagte er, „gehen Sie im Dunkeln ins Bett, Sie kleines hübsches Weibstück“ (so nannte er mich), „und wenn Sie nicht wollen, dass ich jeden Abend wegen der Kerze komme, so denken Sie daran, um elf Uhr im Bett zu sein.“ Und mit diesen Worten gingen er und Horrocks, der Butler, lachend davon. Du kannst glauben, dass ich keinen zweiten Anlaß mehr zu ihrem Besuch geben werde. Nachts machen sie zwei ungeheure Bluthunde los, die gestern nacht die ganze Zeit bellten und den Mond anheulten. „Ich nenne den Rüden Packan“, erklärte Sir Pitt, „er hat tatsächlich schon einen Menschen zerrissen und nimmt es mit einem Stier auf; seine Mutter hieß früher Flora, jetzt aber nenne ich sie Blaffer, denn zum Beißen ist sie nun zu alt, haha!“
Die große Haustür von Queen's Crawley, das ein abscheuliches, altmodisches, rotes Backsteingebäude mit hohen Schornsteinen und Giebeln im Stile der Königin Elisabeth ist, führt auf eine von der Familientaube und –schlange flankierte Terrasse. Weißt Du, meine Liebe, die Eingangshalle ist bestimmt ebenso groß und düster wie die in dem guten alten Schloß Udolpho. Sie hat einen ungeheuren Kamin, wo man Miss Pinkertons halbe Schule unterbringen könnte; der Feuerrost ist groß genug, um mindestens einen Ochsen darauf zu braten. Rundherum an den Wänden hängen wer weiß wie viele Generationen von Crawleys, einige mit Bärten und Halskrausen, andere mit riesigen Perücken und auswärts gedrehten Füßen, einige in langen, geraden Schnürleibern und Röcken, so steif wie Türme, wiederum andere mit langen Ringellocken und, ach, du lieber Gott, kaum Korsetts. An dem einen Ende der Halle befindet sich die große Treppe, ganz aus schwarzem Eichenholz, so unheimlich wie nur möglich; zu beiden Seiten führen mit Hirschgeweihen geschmückte hohe Türen ins Billardzimmer, in die Bibliothek, in den großen gelben Salon und in die Frühstückszimmer. Ich glaube, im ersten Stock gibt es wenigstens zwanzig Schlafzimmer; in einem steht das Bett, in dem Königin Elisabeth geschlafen hat. Meine neuen Schülerinnen haben mich heute morgen durch diese anheimelnden Räume geführt. Du kannst glauben, dass sie nicht freundlicher werden, wenn die Fensterläden stets zu sind; fast in jedem erwartete ich, beim ersten Lichtschein ein Gespenst zu erblicken. Wir haben ein Schulzimmer im zweiten Stock, in das mein Schlafzimmer und das der jungen Mädchen mündet. Dann folgen die Räume von Mr. Pitt – er wird Mr. Crawley genannt und ist der älteste Sohn – und die von Mr. Rawdon Crawley – er ist Offizier, wie ein gewisser Jemand, und befindet sich bei seinem Regiment. Raummangel gibt es hier nicht, das kann ich Dir versichern. Ich glaube, man könnte alle Leute von Russell Square im Hause unterbringen, und es bliebe immer noch Platz übrig.
Eine halbe Stunde nach unserer Ankunft läutete die große Tischglocke zum Essen, und ich ging mit meinen beiden Schülerinnen hinab (es sind sehr magere, nichtssagende Dingerchen von zehn und acht Jahren); ich trug Dein hübsches Musselinkleid (weswegen die abscheuliche Mrs. Pinner so frech wurde, als Du es mir schenktest), denn ich soll als Familienmitglied behandelt werden, nur wenn Gesellschaften gegeben werden, müssen die jungen Mädchen und ich oben speisen.
Die große Tischglocke rief also zum Essen, und wir alle versammelten uns in dem kleinen Salon, wo Lady Crawley sich aufhält. Sie ist die zweite Lady Crawley und Mutter der jungen Mädchen. Sie war die Tochter eines Eisenhändlers, und ihre Heirat galt als glänzende Partie. Sie scheint früher hübsch gewesen zu sein, und ihre Augen weinen ständig um die verlorene Schönheit. Sie ist blaß, mager und hochschulterig und hat offenbar nichts zu sagen. Ihr Stiefsohn, Mr. Crawley, befand sich ebenfalls im Zimmer. Er war in vollem Staate, feierlich wie ein Beerdigungsunternehmer. Er ist blaß, mager, häßlich und schweigsam, hat dünne Beine, eine eingefallene Brust, einen heufarbenen Bart und strohgelbe Haare. Er ist das leibhaftige Ebenbild seiner seligen Mutter über dem Kaminsims – Griselda, aus dem edlen Hause Binkie.
„Dies ist die neue Gouvernante, Mr. Crawley“, sagte Lady Crawley, trat auf mich zu und ergriff meine Hand, „Miss Sharp.“
„Oh!“ ließ Mr. Crawley sich vernehmen, streckte den Kopf kurz vor und wandte sich wieder einer umfangreichen Broschüre zu, die er gerade las.
„Ich hoffe, Sie werden nett zu meinen Mädchen sein“, sagte Lady Crawley, ihre roten Augen wie stets tränengefüllt.
„Ach Gott, Ma, natürlich wird sie das“, sagte die ältere; und mit einem Blick sah ich, dass ich mich vor dieser Frau nicht zu fürchten brauchte. Der Butler, ganz in Schwarz, mit einem ungeheuren weißen Jabot, das aussah, als sei es eine abgemalte Spitzenkrause der Königin Elisabeth in der Halle, meldete: „Gnädige Frau, es ist aufgetragen.“ Lady Crawley nahm Mr. Crawleys Arm und ging in den Speisesaal voraus, wohin ich ihr, an jeder Hand eine meiner kleinen Schülerinnen, folgte.
Sir Pitt war bereits, mit einer silbernen Kanne beschäftigt, im Zimmer. Er war soeben aus dem Keller gekommen und gleichfalls in vollem Staat, das heißt, er hatte seine Gamaschen abgelegt und zeigte seine kurzen, dicken Beine in schwarzen Wollstrümpfen. Das Büfett war beladen mit funkelndem altem Geschirr – goldenen und silbernen Bechern, Serviertellern und Menagen –, ganz wie in Rundell Bridges Geschäft. Auch alles auf dem Tisch war von Silber, und zwei Bediente mit rotem Haar und kanariengelben Livreen standen neben dem Büfett.
Mr. Crawley sprach ein langes Tischgebet, und Sir Pitt sagte amen, worauf die großen silbernen Deckel von den Gerichten abgenommen wurden.
„Was gibt es denn zu essen, Betsy?“ fragte der Baronet.
„Ich glaube Hammelbrühe, Sir Pitt“, antwortete Lady Crawley.
„Moutons aux navets“, setzte der Butler gravitätisch hinzu (ausgesprochen, bitte sehr, wie: Mudongonaveez), „und die Suppe ist potage de mouton à l'Ecossaise. Die Beigerichte bestehen aus pommes de terre au naturel und chou-fleur à l'eau.“
„Hammelfleisch bleibt Hammelfleisch“, sagte der Baronet, „ist was verteufelt Gutes. Was für ein Schaf war es, Horrocks, und wann habt ihr geschlachtet!“ „Eins von den schottischen Schwarzgesichtern, Sir Pitt, wir haben es am Donnerstag geschlachtet.“
„Wer hat was davon abbekommen?“
„Steel aus Mudbury hat zwei Keulen und den Rücken genommen, Sir Pitt; allein er sagt, das letzte sei zu jung und bloß verdammt wollig gewesen, Sir Pitt.“
„Möchten Sie etwas potage, Miss Sharp?“ fragte Mr. Crawley.
„Vorzügliche schottische Hammelbrühe, meine Liebe“, sagte Sir Pitt, „obwohl man es französisch benamst.“
„Ich glaube, in anständiger Gesellschaft ist es so üblich, das Gericht so zu nennen, wie ich es getan habe, Sir“, erwiderte Mr. Crawley hochmütig, und nun wurde uns das Besprochene samt dem mouton aux navets von den Bedienten in der kanariengelben Livree auf silbernen Tellern serviert. Danach gab es Ale und Wasser für uns junge Damen, in Weingläsern serviert. Ich bin keine Ale-Kennerin, aber ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass ich mir Wasser vorziehe.
Während wir uns an dem Mahl erfreuten, fragte Sir Pitt, was aus den Hammelschultern geworden sei.
„Ich glaube, sie wurden in der Gesindestube verzehrt“, sagte die Lady demütig.
„Das stimmt, gnädige Frau“, bestätigte Horrocks, „was anderes bekommen wir ja auch nicht.“
Sir Pitt brach in ein heiseres Lachen aus und setzte seine Unterhaltung mit Mr. Horrocks fort. „Das kleine schwarze Ferkel von der Kenter Sau muß doch jetzt ganz schön fett sein.“
„Es wird noch nicht gleich platzen, Sir Pitt“, versetzte der Butler ernsthaft, worüber Sir Pitt und die jungen Damen gewaltig lachen mußten.
„Miss Crawley, Miss Rose Crawley“, sagte Mr. Crawley, „euer Lachen scheint mir ganz und gar fehl am Platze.“
„Mach dir nichts draus“, sagte der Baronet, „wir werden das Ferkel am Sonnabend probieren. Schlachte es Sonnabend früh, John Horrocks. Miss Sharp ißt Schweinefleisch für ihr Leben gern, nicht wahr, Miss Sharp?“
Dies war, glaube ich, das ganze Tischgespräch. Als das Mahl beendet war, wurde eine Kanne heißes Wasser vor Sir Pitt gestellt, zusammen mit einer Korbflasche, die, glaube ich, Rum enthielt. Mr. Horrocks schenkte mir und meinen Schülerinnen ein Gläschen Wein ein, Lady Crawley erhielt einen Humpen. Als wir uns zurückzogen, holte sie aus ihrem Handarbeitskasten ein riesiges, nicht enden wollendes Strickzeug; die jungen Mädchen fingen an, mit einem schmutzigen Kartenspiel Cribbage zu spielen. Es brannte nur eine Kerze, aber sie stand in einem prächtigen, alten, silbernen Leuchter. Nach einigen Fragen, die die Lady an mich richtete, stand ich vor der Wahl, mich entweder an einem Band Predigten oder an der Broschüre über die Kornzölle, in der Mr. Crawley vor dem Essen gelesen hatte, zu ergötzen.
So saßen wir wohl eine Stunde, bis Schritte zu hören waren.
„Packt die Karten weg, Mädchen“, rief die Lady in großer Angst; „legen Sie Mr. Crawleys Bücher hin, Miss Sharp!“ Kaum waren wir diesen Befehlen nachgekommen, als Mr. Crawley eintrat.
„Meine jungen Damen, wir wollen unsere gestrige Abhandlung fortsetzen“, sagte er, „und jede von euch soll abwechselnd eine Seite lesen, so dass Miss Sharp Gelegenheit erhält, euch zu hören.“ Und nun begannen die armen Mädchen eine endlose, langweilige Predigt über die Bekehrung der Chikasaw-Indianer zu buchstabieren, die in der Bethesda-Kapelle in Liverpool gehalten worden war. War das nicht ein entzückender Abend?
Um zehn mußten die Dienstboten Sir Pitt und den ganzen Haushalt zur Abendandacht zusammentrommeln. Sir Pitt trat zuerst ein, ganz rot im Gesicht und etwas unsicher auf den Beinen; nach ihm erschienen der Butler, die Kanarienvögel, Mr. Crawleys Diener, drei andere Männer, die aufdringlich nach Stall rochen, und vier Frauenzimmer. Eine von denen war sehr aufgedonnert und warf mir einen verächtlichen Blick zu, als sie sich auf die; Knie fallen ließ.
Nachdem Mr. Crawley seine Ansprache und seine Erläuterungen beendet hatte, erhielten wir unsere Kerzen und gingen zu Bett. Dann wurde ich beim Schreiben gestört, wie ich meiner lieben, süßen Amelia bereits geschildert habe.
Gute Nacht! Tausend, tausend, tausend Küsse!
Sonnabend. – Heute morgen um fünf Uhr hörte ich das schwarze Ferkel quieken. Rose und Violet haben mich ihm gestern vorgestellt, auch den Ställen und dem Hundezwinger und dem Gärtner, der Obst für den Markt abnahm. Sie bettelten und flehten um eine Weintraube aus dem Gewächshaus; er meinte aber, Sir Pitt habe jede Beere gezählt, und er würde um seine Stelle kommen, wenn er sich breitschlagen ließe, eine wegzuschenken. Die lieben Mädchen fingen ein Füllen in der Koppel. Sie fragten mich, ob ich reiten wolle, und begannen dann selbst zu reiten, als der Stallknecht unter abscheulichen Flüchen herbeikam und sie fortjagte.
Lady Crawley ist stets und ständig mit ihrem Strickzeug beschäftigt. Sir Pitt ist regelmäßig jeden Abend betrunken. Er trinkt, glaube ich, mit Horrocks, dem Butler. Mr. Crawley liest abends immer Predigten, und morgens schließt er sich in sein Studierzimmer ein oder reitet in Grafschaftsangelegenheiten nach Mudbury oder nach Squashmore, wo er mittwochs und freitags vor den Pächtern predigt.
Herzliche Grüße und hunderttausendmal danke an Deinen lieben Papa und Deine liebe Mama. Hat sich Dein armer Bruder von seinem Arrakpunsch wieder erholt? Gott, o Gott! Männer sollten sich vor dem bösen Punsch hüten!
Immer und ewig die Deine.
Rebekka
Alles in Betracht gezogen, ist es, glaube ich, ganz günstig für unsere liebe Amelia Sedley vom Russell Square, dass Miss Sharp und sie nicht mehr zusammen sind. Rebekka ist gewiß ein drolliges, komisches Geschöpf, und die Beschreibung der armen Lady, die um ihre verlorene Schönheit weint, sowie die des Herrn „mit heufarbenem Backenbart und strohgelben Haaren“ ist zweifellos sehr scharf und verrät eine große Weltkenntnis. Dass sie, als sie auf den Knien lag, an etwas Besseres hätte denken können als an Miss Horrocks Bänder, hat uns wahrscheinlich beide in Bestürzung versetzt. Aber der geneigte Leser wird sich erinnern, dass diese Geschichte den Titel „Jahrmarkt der Eitelkeit“ trägt und dass der Jahrmarkt der Eitelkeit ein eitler, verderbter, närrischer Ort ist, voll von Lug und Trug und Dünkel; und wenn auch der Moralist weder Talar noch Beffchen trägt, sondern ganz einfach dieselbe langohrige Narrenkappe, in der seine Gemeinde steckt, so ist er dennoch verpflichtet und verbunden, die Wahrheit zu sagen, soweit er sie kennt, mag er nun eine Schellenkappe oder einen Pfarrershut tragen; und im Laufe eines solchen Unternehmens kommt nun eben eine Masse Unangenehmes zur Sprache.
Ich habe in Neapel einen Kollegen gehört, einen Mann aus dem Geschichtenerzähler-Gewerbe, wie er einem Rudel ehrlicher, fauler Nichtsnutze am Meeresufer predigte und sich dabei in eine solche Wut und Leidenschaft über einige der Bösewichter steigerte, deren verruchte Taten er beschrieb oder erfand, dass er seine Zuhörerschaft mitriß; sie brachen mit dem Dichter in ein Gebrüll von Flüchen und Verwünschungen gegen das erdichtete Scheusal der Erzählung aus, so dass inmitten eines Sturmes von Mitgefühl der Hut herumging und die Bajocchi hineinfielen.
In den kleinen Pariser Theatern hört man andererseits nicht nur die Leute „Ah, gredin! Ah, monstre!“ brüllen und den Tyrannen des Stückes von den Logen herab verwünschen, sondern die Schauspieler selbst weigern sich entschieden, die Schurkenrollen, wie zum Beispiel infâmes Anglais, brutale Kosaken, und was es sonst noch davon gibt, zu übernehmen, und ziehen es vor, bei kleinerer Gage in ihrem wirklichen Charakter als ehrenwerte Franzosen aufzutreten. Ich stelle die beiden Geschichten einander gegenüber, damit man sehen kann, dass der Puppenspieler dieses Stückes seine Schurken nicht aus rein eigennützigen Gründen zeigt und durchprügelt, sondern weil er ihnen gegenüber einen aufrichtigen Haß hegt, den er nicht zu unterdrücken vermag und der sich in Schimpfreden und mit bösen Worten Luft machen muß.
Ich bereite daher meine gütigen Freunde darauf vor, dass ich eine Geschichte erzählen werde, in der viele abscheuliche Schurkereien und verwickelte – aber hoffentlich interessante – Verbrechen vorkommen werden. Meine Schurken sind ganze Kerle, das verspreche ich euch. Wenn wir an die passenden Stellen kommen, wollen wir es an schönen Worten nicht fehlen lassen, nein, bestimmt nicht! Wenn wir aber durch die stille Landschaft wandeln, müssen wir notgedrungen ruhig sein. Ein Sturm im Wasserglas ist abgeschmackt. Das sparen wir lieber für den gewaltigen Ozean oder die einsame Mitternacht. Dieses Kapitel hier ist noch sehr sanft. Andere – doch wir wollen nicht vorgreifen.
Auch möchte ich, während unsere Darsteller ihren Weg gehen, mir als Mensch und Bruder die Erlaubnis erbitten, sie nicht allein vorzustellen, sondern auch gelegentlich von der Bühne herabzusteigen und über sie zu sprechen. Sind sie gut und freundlich, will ich sie lieben und ihnen die Hand schütteln, sind sie dumm, mir mit dem Leser ganz insgeheim ins Fäustchen lachen, sind sie aber böse und herzlos, will ich sie so energisch ausschelten, wie es die Höflichkeit erlaubt.
Sonst würde der freundliche Leser am Ende noch meinen, ich verhöhnte die Abendandacht, die Miss Sharp so lächerlich findet; oder ich lachte über den schwankenden alten Silen von einem Baronet, während doch das Gelächter von einer Person herrührt, die nichts hochachtet als ihr Wohlergehen und kein Auge für etwas anderes als ihren Erfolg hat. Solche Leute leben in der Welt und kommen vorwärts – ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Hoffnung. Diese, meine Freunde, wollen wir uns mit aller Kraft vornehmen. Es gibt auch Leute darunter, die Erfolg haben und bloß Pfuscher und Narren sind, und um diese zu bekämpfen und bloßzustellen, wurde zweifellos das Lachen geschaffen.