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5. Kapitel Unser Dobbin
ОглавлениеCuffs Kampf mit Dobbin und der unerwartete Ausgang dieser Schlägerei werden allen Zöglingen aus Doktor Swishtails berühmter Schule noch lange im Gedächtnis haften. Dobbin (den die Knaben auch Dös-Dobbin, Hottehü-Dobbin nannten und mit vielen verächtlichen Spitznamen bedachten) war der ruhigste, schwerfälligste und, wie es schien, dümmste von allen jungen Herren bei Doktor Swishtail. Sein Vater hatte einen Kramladen in London, und man munkelte, er sei in Doktor Swishtails Schule nur unter der Bedingung „gegenseitiger Verbindlichkeit“ aufgenommen worden, das heißt, sein Vater bezahle für Lebensunterhalt und Ausbildung mit Waren anstatt bar, und der junge Dobbin stand nun – einer der Letzten der Schule – in schäbigen Kordhosen und einer Jacke, deren Nähte seine groben Knochen sprengten, als Verkörperung von soundso vielen Pfund Tee, Kerzen, Zucker, billiger Seife und Rosinen (wovon nur eine sehr geringe Menge für den Schulpudding geliefert wurde) und anderer Waren. Es war ein fürchterlicher Tag für den jungen Dobbin, als einer der Zöglinge, von einem Jagdzug durch die Stadt auf Zuckerwerk und Würstchen zurückgekehrt, erspähte, wie vor des Doktors Tür ein Frachtkarren von Dobbin und Rudge, Spezerei- und Delikatessenhandlung, London, Thames Street, voller Waren, mit denen die Firma handelte, entladen wurde.
Von da an hatte der junge Dobbin keine ruhige Minute mehr. Fürchterliche und grausame Neckereien wurden mit ihm getrieben. „He, Dobbin“, verkündete einer der Witzbolde, „da stehen gute Nachrichten in der Zeitung; Zucker wird teurer, mein Junge.“ Ein anderer stellte ihm eine Rechenaufgabe: „Wenn ein Pfund Kerzen siebeneinhalb Pence kostet, wieviel kostet dann Dobbin?“ Und jedes Mal folgte ein schallendes Gelächter der jungen Schurken, in das der Hilfslehrer und alle anderen einstimmten, die den Einzelhandel richtig als schandbare, nichtswürdige Tätigkeit verdammten und meinten, er verdiene Spott und Verachtung eines jeden wahren Gentlemans.
„Dein Vater ist doch auch nichts anderes als ein Kaufmann, Osborne“, sagte Dobbin unter vier Augen zu dem kleinen Knaben, der den Sturm gegen ihn heraufbeschworen hatte. Dieser antwortete darauf nur hochmütig: „Mein Vater ist ein Gentleman und hält eine Equipage.“ Mr. William Dobbin aber zog sich in einen Schuppen im Hintergrund des Spielplatzes zurück, wo er den freien Nachmittag in bitterster Trauer und Wehmut verbrachte. Wer unter uns erinnert sich nicht ähnlicher Stunden bitteren, ach, so bitteren Kinderkummers? Wer empfindet eine Ungerechtigkeit so tief, wen kränkt Geringschätzung so sehr, wer hätte ein so feines Gefühl für Recht und Unrecht, wer ist so dankbar für jede Freundlichkeit wie ein edelmütiger Knabe? Und ach, wie viele solcher sanften Gemüter erniedrigt, beleidigt und quält ihr wegen ein paar arithmetischer Formeln und einiger Brocken Küchenlatein!
William Dobbin jedenfalls war stets unter den allerletzten Schülern Doktor Swishtails zu finden, da er sich außerstande sah, auch nur die Anfangsgründe der obigen Sprache, wie sie in der wunderbaren „Etoner Lateinischen Grammatik“ aufgeführt sind, zu erlernen. Er wurde ständig von kleinen rotwangigen Bürschchen, die noch Lätzchen trugen, gehänselt, wenn er mit der untersten Klasse aufmarschierte, ein Riese unter den Kleinen, niedergeschlagenen, erschrockenen Blickes, in seinen engen Kordhosen, die Fibel mit unzähligen Eselsohren unter dem Arm. Alle, vom ersten bis zum letzten, machten sich über ihn lustig. Sie nähten ihm seine sowieso schon zu engen Kordhosen zu. Sie schnitten ihm die Bettgurte entzwei. Sie kippten Eimer und Bänke um, damit er sich daran die Schienbeine breche, was er auch jedes Mal fast tat. Sie schickten ihm Pakete, aus denen er Kerzen und Seife vom väterlichen Laden auspackte. Es gab kein Bürschchen in der Schule, das nicht mit Dobbin seinen Spott und Spaß getrieben hätte; und der Ärmste ertrug alles mit Geduld, sagte keinen Ton und war unaussprechlich unglücklich.
Cuff dagegen war der große Held und feine Pinkel der Swishtailschen Schule. Er schmuggelte Wein ein und schlug sich mit den Stadtjungen herum. Jeden Sonnabend ritt er auf einem Pony heim, das extra für ihn kam. In seinem Zimmer hatte er Stulpenstiefel, in denen er während der Ferien auf Jagd ging. Er besaß eine goldene Repetieruhr und schnupfte Tabak wie der Doktor. Er hatte die Oper besucht und kannte die Vorzüge der ersten Schauspieler, wobei er mehr von Kean hielt als von Kemble. Er konnte in einer Stunde vierzig lateinische Verse aus dem Ärmel schütteln. Er konnte französisch dichten, und was konnte oder wusste er nicht noch alles! Sogar der Doktor selbst fürchte sich vor ihm, hieß es.
Cuff, unbestrittener König der Schule, herrschte über seine Untertanen und drangsalierte sie in großartiger Überlegenheit. Dieser wichste seine Schuhe, jener röstete ihm das Brot, andere wieder mussten ganze Sommernachmittage lang beim Kricket Balljunge für ihn spielen. „Feige“ war der Junge, den er am meisten verachtete und mit dem er sich kaum je herabließ, persönlich zu verkehren, obwohl er ihn stets beschimpfte und auslachte.
Eines Tages hatten die beiden jungen Herren eine Meinungsverschiedenheit. Feige, der allein im Klassenzimmer war, schwitzte über einem Brief nach Hause, als Cuff eintrat und ihm einen Auftrag gab, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Törtchen drehte.
„Ich kann nicht“, sagte Dobbin, „ich möchte meinen Brief fertigschreiben.“
„Du kannst nicht?“ fragte Mr. Cuff und griff nach dem Schriftstück (in dem viele Wörter ausgestrichen oder falsch geschrieben waren und dessen Abfassung den Schreiber wer weiß wie viele mühsame Gedanken und Tränen gekostet hatte, denn der arme Bursche schrieb an seine Mutter, die ihn liebte, obgleich sie nur eine Krämersfrau war und in einem Hinterzimmer in der Thames Street wohnte). „Du kannst nicht?“ fragte Mr. Cuff. „Ich möchte mal wissen, warum nicht. Kannst du nicht morgen an die olle Mutter Feige schreiben?“
„Ich lasse sie nicht beschimpfen“, begehrte Dobbin auf und sprang von seiner Bank hoch.
„Nun, wirst du gehen?“ krähte der Hahn der Schule.
„Leg den Brief hin“, erwiderte Dobbin; „kein Gentleman liest fremde Briefe.“
„Hm, wirst du nun bald gehen?“ fragte der andere.
„Nein, habe ich gesagt. Hör auf, sonst verdresche ich dich“, brüllte Dobbin, sprang auf ein bleiernes Tintenfass zu und sah so bösartig aus, dass Mr. Cuff innehielt, seine Rockärmel wieder herabstreifte, die Hände in die Hosentaschen steckte und hohnlächelnd davonging. Von da an ließ er sich nie wieder mit dem Krämerjungen ein, obgleich wir ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen, dass er hinter Mr. Dobbins Rücken stets mit Verachtung von ihm sprach.
Einige Zeit nach diesem Vorfall geschah es, dass Mr. Cuff an einem sonnigen Nachmittag in der Nähe des armen William Dobbin auftauchte, der unter einem Baum auf dem Spielplatz lag und, abgesondert von den übrigen Schülern, die ihren verschiedenen Vergnügungen nachgingen, ganz einsam und beinahe glücklich sein Lieblingsbuch „Tausendundeine Nacht“ durchbuchstabierte. Würden die Menschen doch bloß Kinder sich selbst überlassen; würden doch die Lehrer nur aufhören, sie einzuschüchtern; würden die Eltern doch bloß davon ablassen, die Gedanken ihrer Kinder zu lenken und ihre Gefühle zu beherrschen – Gefühle und Gedanken, die allen ein Geheimnis sind (denn was wissen wir schon voneinander, von unseren Kindern, unseren Erzeugern, unseren Nachbarn, und wie unendlich viel schöner und heiliger sind doch wahrscheinlich die Gedanken der armen Knaben oder Mädchen, die ihr lenkt, als die der dummen und lasterhaften Person, die sie erziehen soll). Ach, würden nur, wie gesagt, Eltern und Lehrer ihre Kinder ein bisschen mehr sich selbst überlassen – der Schaden wäre unerheblich, wenn auch dabei weniger als in praesenti erreicht würde.
William Dobbin hatte also einmal die Welt vergessen, war mit Sindbad dem Seefahrer im Tale der Diamanten oder bei dem Prinzen Namenlos und der Fee Peribanu in jener prächtigen Höhle, wo der Prinz sie fand und wohin wir wohl alle gern eine kleine Reise machen würden – als das gellende Geschrei eines kleinen Jungen ihn aus seinen angenehmen Träumen schreckte. Er blickte auf und sah Cuff einen weinenden kleinen Knaben bearbeiten.
Es war der Bursche, der die Sache mit dem Krämerkarren verkündet hatte; aber Dobbin war nicht nachtragend, schon gar nicht gegenüber Jüngeren und Kleineren.
„Wie konntest du es wagen, die Flasche zu zerbrechen?“ schrie Cuff das Kerlchen an und schwang einen gelben Kricketstab über seinem Kopf. Der Kleine hatte den Auftrag erhalten, über die Mauer, die den Spielplatz umgab, zu steigen, und zwar an einer besonderen Stelle, wo die Glasscherben entfernt und in den Ziegeln bequeme Löcher angebracht worden waren; er sollte eine Viertelmeile laufen, eine Flasche Rum mit Zitrone auf Kredit kaufen und allen draußen herumlungernden Spähern des Doktors zum Trotz wieder in den Spielplatz zurückklettern; als er diese Heldentat gerade vollbrachte, war er ausgeglitten, die Flasche war zerbrochen und das Getränk ausgelaufen. Er hatte sich die Hose zerrissen und erschien nun wieder vor seinem Auftraggeber – ein zitternder, schuldlos schuldiger armer Wicht.
„Wie konntest du es wagen, die Flasche zu zerbrechen?“ schrie Cuff. „Du nichtsnutziger Pfuscher. Du hast das Zeug getrunken und erzählst nun, die Flasche ist zerbrochen. Hand her, Bursche!“
Dumpf schlug der Stab auf die Kinderhand nieder. Ein Stöhnen folgte. Dobbin blickte auf. Die Fee Peribanu war mit dem Prinzen Achmed in die innerste Höhle entflohen; der Vogel Rock hatte Sindbad den Seefahrer weit aus dem Diamantentale in die Wolken entführt – da lag die Wirklichkeit wieder vor dem ehrlichen William: ein großer Junge schlug grundlos auf einen kleinen ein.
„Die andere Hand her, Bursche!“ brüllte Cuff seinen kleinen Schulkameraden an, dessen Gesicht ganz schmerzverzerrt war. Dobbin flog am ganzen Körper, als er sich in seinen abgeschabten, engen Kleidern aufrichtete.
„Hier hast du noch was, du verflixter Kerl!“ rief Mr. Cuff, und abermals schlug der Stab auf die Hand des Kindes. (Entsetzen Sie sich nicht, meine Damen, jeder Schuljunge hat das getan. Auch Ihre Kinder werden es höchstwahrscheinlich tun und selbst erdulden müssen.) Wiederum sauste der Stab herab, und Dobbin sprang auf.
Seine Beweggründe kenne ich nicht. In der Schule sind Foltermethoden ebenso gestattet wie in Russland die Knute, und es ist eines Gentlemans unwürdig, sich zu widersetzen. Vielleicht empörte sich Dobbins törichtes Herz wider diese Tyrannei; vielleicht kochte in ihm auch noch ein Rachegefühl, und es verlangte ihn, sich mit dem glänzenden und tyrannischen Raufbold zu messen, der in der Schule allen Ruhm, alles Gepränge auf sich konzentrierte, für den allein die Fahnen geschwenkt, die Trommeln gerührt, Ehrenbezeigungen gegeben wurden. Welchen Beweggrund Dobbin auch gehabt haben mag, er sprang jedenfalls auf und schrie: „Halt, Cuff; schlag das Kind nicht länger, oder ich werde...“
„Oder du wirst was?“ fragte Cuff, verwundert über die Unterbrechung. „Los, Hand her, du kleine Bestie.“
„Ich prügle dich, wie du noch nie in deinem Leben geprügelt worden bist“, erwiderte Dobbin auf Cuffs Frage; und der kleine Osborne blickte, luftschnappend und in Tränen aufgelöst, verwundert und ungläubig auf, als er diesen erstaunlichen Kämpen mit einem Male zu seiner Verteidigung auftreten sah; Cuffs Erstaunen war kaum geringer. Man stelle sich unseren seligen Monarchen Georg III. vor, als er die Nachricht vom Aufstand der nordamerikanischen Kolonien hörte, man stelle sich den ehernen Goliath vor, als der kleine David vor ihn hintrat und ihn herausforderte – dann hat man die Gefühle vor Augen, die Mr. Reginald Cuff beherrschten, als er zu diesem Duell gefordert wurde.
„Nach der Schule“, antwortete er nach einer Pause selbstverständlich, mit einem Blick, als wolle er sagen: Mach dein Testament und teile in der Zwischenzeit deinen Freunden deine letzten Wünsche mit!
„Wie du willst“, meinte Dobbin, „Du musst mein Sekundant sein, Osborne.“
„Gut, wenn du meinst“, erwiderte der kleine Osborne; denn bekanntlich hatte sein Vater eine Equipage, und so schämte sich der Kleine ein wenig seines Kämpen.
Ja, als die Stunde des Kampfes nahte, schämte er sich beinahe, „Drauf, Feige!“ zu rufen; und während der ersten zwei oder drei Runden dieses berühmten Kampfes stieß nicht ein einziger der Knaben den Schlachtschrei aus, denn am Anfang ließ der versierte Cuff, ein verächtliches Lächeln auf dem Gesicht, leicht und spielerisch, als sei es nichts, die Schläge auf seinen Gegner niederhageln und schickte den unglücklichen Kämpen dreimal hintereinander zu Boden. Jedes Mal erhob sich ein lautes Hurragebrüll, und alle stritten sich um die Ehre, dem Sieger ein Knie zu bieten.
Was werde ich erst für eine Tracht kriegen, wenn das vorüber ist, dachte der junge Osborne, während er seinem Mann hochhalf. „Es wäre doch das Beste, du würdest aufgeben“, redete er auf Dobbin ein; „er hat mich doch nur ein bisschen verprügelt, Feige, und daran bin ich schon gewöhnt, weißt du.“
Aber Feige, der am ganzen Leibe zitterte und aus dessen Nüstern Wut sprühte, schob seinen kleinen Sekundanten beiseite und trat zum vierten Male an. Da er keine Ahnung hatte, wie er die gegen ihn gerichteten Schläge parieren könnte, und da Cuff die drei ersten Male angegriffen hatte, ohne seinem Gegner Gelegenheit zum Schlag zu geben, beschloss Feige, nun seinerseits den Kampf mit einem Angriff zu eröffnen; da er Linkshänder war, brachte er nun diese Faust ins Spiel und schlug einige Male mit aller Kraft zu – traf einmal Mr. Cuffs linkes Auge und ein anderes Mal seine schöne römische Nase.
Diesmal ging Cuff, zum großen Erstaunen der Umstehenden, zu Boden. „Gut getroffen, beim Zeus“, lobte der kleine Osborne mit Kennermiene und klopfte seinem Mann auf die Schulter. „Immer schön die Linke brauchen, Feige, mein Junge.“
Feiges Linke tat während des weiteren Kampfes ganze Arbeit. Jedesmal ging Cuff zu Boden. In der sechsten Runde schrien fast ebenso viele „auf ihn, Feige“ wie „auf ihn, Cuff“. In der zwölften Runde war Cuff ganz angeschlagen, wie man so sagt, und hatte alle Geistesgegenwart verloren und weder Kraft zum Angriff noch zur Verteidigung. Feige dagegen war so ruhig wie ein Quäker. Sein bleiches Gesicht, seine glänzenden, aufgerissenen Augen und eine stark blutende Schramme an seiner Unterlippe verliehen dem jungen Burschen ein so wildes und gräßliches Aussehen, dass viele Zuschauer Furcht ergriff. Trotzdem bereitete sich sein unerschrockener Gegner zur dreizehnten Runde vor.
Hätte ich die Feder eines Napier oder könnte so gut schreiben wie „Beils Leben“, so würde ich diesen Kampf im einzelnen beschreiben. Es war der letzte Angriff der Garde (das heißt, er wäre es gewesen, hätte Waterloo schon stattgefunden) – es war Neys Kolonne, im Sturm auf den Hügel von La Haye Sainte, von zehntausend Bajonetten starrend und gekrönt mit zwanzig Adlern; es war das Kampfgeschrei der Briten, die den Hügel hinabstürzten und sich dem Feinde entgegenwarfen, um ihn mit den wilden Armen der Schlacht zu umschließen; mit anderen Worten: Als Cuff, zwar mutig, aber ziemlich schwankend und betäubt, herankam, bearbeitete der Feigenhändler, wie bisher, mit seiner Linken tüchtig seines Gegners Nase und schickte ihn endgültig zu Boden.
„Ich denke, er hat nun genug“, meinte Feige, als sein Gegner ebenso glatt auf den Rasen sackte, wie ich die Billardkugeln habe in ihr Loch fallen sehen; und tatsächlich konnte oder wollte Mr. Reginald Cuff, als ausgezählt wurde, nicht aufstehen.
Und nun stimmten alle Knaben für Feige ein solches Freudengeschrei an, dass man hätte glauben können, er sei während des ganzen Kampfes ihr Liebling gewesen, und dass selbst Doktor Swishtail aus seinem Studierzimmer trat, um sich nach der Ursache des Lärmes zu erkundigen. Natürlich drohte er Feige mit einem gehörigen Quantum Prügel; aber Cuff, der gerade wieder zu sich gekommen war und seine Wunden wusch, stand auf und sagte: „Ich bin schuld, Sir, nicht Feige – eh, Dobbin. Ich habe einen kleinen Knaben verprügelt, und deshalb ist mir recht geschehen.“ Mit dieser großmütigen Rede ersparte er nicht allein seinem Sieger eine Tracht Prügel, sondern gewann auch seinen Einfluß auf die Knaben zurück, den er durch seine Niederlage beinahe eingebüßt hatte.
Der junge Osborne berichtete folgendes über den Vorfall nach Hause:
Zuckerrohrstockhaus, Richmond, März 18..
Liebe Mama!
Ich hoffe, es geht Dir gut. Ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du mir einen Kuchen und fünf Shilling schicken würdest. Hier hat es einen Kampf zwischen Cuff und Dobbin gegeben. Cuff, weißt Du, war der Hahn der Schule. Dreizehn Runden haben sie gekämpft, und Dobbin hat ihn tüchtig verprügelt. Cuff ist deshalb jetzt nur noch zweiter Hahn. Der Kampf war wegen mir. Cuff hat mich verdroschen, weil ich eine Flasche Milch zerbrochen habe, und Feige war dagegen. Wir nennen ihn Feige, weil sein Vater Krämer ist – Feige und Rudge, Thames Street, in der Innenstadt. Weil er für mich gekämpft hat, glaube ich, wäre es gut, wenn Du Deinen Tee und Zucker bei seinem Vater kaufen würdest. Cuff geht jeden Sonnabend nach Hause, diesmal kann er aber nicht, weil er 2 blaue Augen hat. Er hat ein weißes Pony, das holt ihn ab, und einen Reitknecht in Livree auf einem Braunen. Ich wünschte, Papa würde mir auch ein Pony schenken, und ich bin
Dein gehorsamer Sohn
George Sedley Osborne.
PS: Grüß bitte die kleine Emmy von mir; ich schneide ihr gerade eine Kutsche aus Pappe aus.
Nach Dobbins Sieg stieg seine Würde ungeheuer in den Augen all seiner Schulkameraden, und der Name Feige – bisher ein Schimpfwort – wurde zu einem ebenso ehrenvollen und populären Beinamen wie alle anderen in der Schule. „Schließlich kann er doch nichts dafür, dass sein Vater ein Krämer ist“, sagte George Osborne, der sich trotz seiner Kleinheit unter den Swishtailschen Jungen großer Beliebtheit erfreute; und seine Ansicht fand überall Beifall. Man bezeichnete es als gemein, über Dobbins Geburt zu spotten. „Alte Feige“ wurde zum Kosenamen, und der niederträchtige Hilfslehrer verhöhnte ihn nicht länger.
Dobbins Mut wuchs mit den veränderten Verhältnissen. Er machte erstaunliche Fortschritte im Lernen. Der herrliche Cuff selbst, über dessen Herablassung Dobbin sich nur errötend wundern konnte, half ihm bei seinen lateinischen Versen, „büffelte“ mit ihm in den Freistunden, brachte ihn im Triumph aus der untersten Klasse in die mittlere und verhalf ihm auch da zu einem ordentlichen Platz. Man entdeckte, dass er zwar schwach in den alten Sprachen war, in der Mathematik jedoch ungewöhnlich schnell auffaßte. Zu aller Zufriedenheit wurde er bei der nächsten öffentlichen Sommerprüfung der Drittbeste in Algebra und erhielt einen Preis, ein französisches Buch. Der geneigte Leser hätte das Gesicht seiner Mutter sehen sollen, als ihm der Doktor vor versammelter Schule, vor den Eltern und vielen anderen den „Télémaque“, jenen köstlichen Roman, mit der Widmung „für Gulielmo Dobbin“ überreichte. Alle Knaben klatschten Beifall zum Zeichen ihrer Sympathie. Wer beschreibt sein Erröten, sein Stolpern, seine Verlegenheit oder zählt die Füße, auf die er trat, als er zu seinem Platz zurückging? Der alte Dobbin, sein Vater, der jetzt zum ersten Male Achtung vor ihm empfand, gab ihm vor aller Augen zwei Guineen, wovon das meiste für einen allgemeinen Schulschmaus verbraucht wurde; nach den Ferien kam er in einem Frack zur Schule zurück.
Dobbin war ein viel zu bescheidener junger Bursche, um anzunehmen, dass er diese glückliche Wendung seiner Verhältnisse seinem eigenen, mutigen und mannhaften Einsatz verdanke: infolge einer gewissen Halsstarrigkeit zog er vor, sein Glück einzig und allein der Vermittlung und Güte des kleinen George Osborne zuzuschreiben, dem er daher auch von nun an seine Liebe schenkte, eine Liebe, wie nur Kinder sie fühlen – eine Liebe, wie sie der ungeschlachte Orson in dem bezaubernden Märchenbuch für seinen Besieger, den herrlichen jungen Valentine, empfand. Er warf sich dem kleinen Osborne zu Füßen und liebte ihn. Schon vor ihrer Bekanntschaft hatte er Osborne insgeheim bewundert. Jetzt war er sein Diener, sein Hund, sein Freitag. Er hielt Osborne für einen Ausbund von Vollkommenheit, für ihn war er der schönste, tapferste, fleißigste, gescheiteste, großherzigste Knabe der Welt. Er teilte sein Geld mit ihm, kaufte ihm unzählige Geschenke: Messer, Federtaschen, vergoldete Siegel, Süßigkeiten, kleine Singvögel und romantische Bücher mit großen bunten Abbildungen von Rittern und Räubern, in denen man oft die Widmung „Für George Sedley Osborne, Esquire, von seinem lieben Freund William Dobbin“ lesen konnte. Diese Huldigungsweise nahm George gnädig entgegen, da sie seinen hohen Verdiensten zukamen.
So geschah es denn, dass Leutnant Osborne, als er am Tage des Vauxhall-Ausfluges am Russell Square ankam, zu den Damen sagte: „Mrs. Sedley, hoffentlich haben Sie noch Platz; ich habe Freund Dobbin eingeladen, hier mit uns zu essen und uns nach Vauxhall zu begleiten. Er ist fast so schüchtern wie Joe.“
„Schüchtern! Pah!“ rief der beleibte Herr und warf einen Siegerblick auf Miss Sharp.
„Das stimmt, aber du bist unvergleichlich anmutiger, Sedley“, fügte Osborne lachend hinzu. „Ich traf ihn im Bedfordklub, als ich dich dort suchte, und ich sagte ihm. Miss Amelia sei heimgekommen und wir hätten alle vor, heute abend auszugehen, und Mrs. Sedley sei ihm nicht länger böse, dass er auf der Kindergesellschaft die Punschbowle zerbrochen habe. Können Sie sich noch an die Katastrophe vor sieben Jahren erinnern, Madame?“
„Über das rote Seidenkleid von Mrs. Flamingo“, sagte die gutmütige Mrs. Sedley, „was er doch für ein Tolpatsch war, und seine Schwestern sind auch nicht viel anmutiger. Lady Dobbin war gestern abend mit dreien davon in Highbury. Figuren haben die, Kinder, nein!“
„Der Alderman ist sehr reich, nicht wahr?“ fragte Osborne verschmitzt. „Meinen Sie nicht auch, dass eine von den Töchtern für mich eine gute Partie wäre, Madame?“
„Sie Dummkopf! Wer würde Sie schon nehmen mit Ihrem gelben Gesicht? Das möchte ich gern wissen.“
„Ich und ein gelbes Gesicht? Warten Sie, bis Sie Dobbin gesehen haben. Der hat dreimal das gelbe Fieber gehabt, zweimal in Nassau und einmal auf Saint Kitts.“
„Lassen Sie nur, Ihres ist gelb genug für uns, nicht wahr, Emmy?“ meinte Mrs. Sedley, worauf Miss Amelia nur mit einem Lächeln und einem sanften Erröten antwortete. Sie blickte auf Mr. George Osbornes blasses, interessantes Gesicht und den schönen, glänzendschwarzen, gekrausten Backenbart, der dem jungen Herrn selbst außerordentlich wohl gefiel, und dachte in ihrem kleinen Herzen, dass es weder in Seiner Majestät Armee noch in der ganzen Welt je ein solches Gesicht oder einen solchen Helden gegeben habe. „Ich kümmere mich nicht um Hauptmann Dobbins Hautfarbe“, sagte sie, „oder um seine Ungeschicklichkeit. Ich weiß, ich werde ihn stets gern haben.“ Der Grund dafür war seine Freundschaft und Ritterlichkeit für ihren George.
„In der ganzen Armee gibt es keinen netteren Menschen und keinen besseren Offizier, obgleich er nun einmal kein Adonis ist“, sagte Osborne. Dabei sah er treuherzig in den Spiegel und erhaschte dort den scharf auf ihn gerichteten Blick von Miss Sharp. Er errötete ein wenig, und Rebekka, dieses schlaue Hexlein, dachte in ihrem Herzen: Ah, mon beau Monsieur! Ich glaube, dass ich dein Kaliber jetzt kenne.
Als an diesem Abend Amelia im weißen Musselinkleid, frisch wie eine Rose, in den Salon getrippelt kam, bereit, in Vauxhall die Herzen zu erobern, und wie eine Lerche sang, trat ein langer ungelenker Herr mit großen Händen und Füßen und großen Ohren, die unter dem kurzgeschnittenen, schwarzen Haar noch mehr auffielen, auf sie zu. Er trug den häßlichen Uniformrock und den Dreispitz jener Zeit und machte ihr die linkischste Verbeugung, die je von einem Sterblichen dargebracht worden war.
Es war kein anderer als Hauptmann William Dobbin von Seiner Majestät ...tem Infanterieregiment, soeben aus Westindien zurückgekehrt, wo ihn das gelbe Fieber gepackt hatte. Dorthin hatte das Geschick sein Regiment beordert, während viele seiner tapferen Kameraden auf der Pyrenäenhalbinsel Ruhm ernteten.
Er hatte seine Ankunft mit einem so schüchternen und schwachen Klopfen angezeigt, dass es die Damen oben nicht gehört hatten; sonst wäre Miss Amelia ganz sicher nicht so kühn gewesen, singend ins Zimmer zu kommen. Nun aber drang das süße, frische Stimmchen geradewegs in das Herz des Hauptmanns und nistete sich dort ein. Als sie ihm die Hand zur Begrüßung hinhielt, zögerte er einen Augenblick, bevor er sie mit der seinen umschloß, und dachte bei sich: Ei, ist es möglich, bist du das kleine Mädchen im rosa Kleidchen, das ich doch erst kürzlich gesehen habe – an dem Abend, wo ich die Punschbowle umwarf, gerade nach meiner Ernennung? Bist du das kleine Mädchen, das George Osborne heiraten wird, wie er immer erzählt? Was für ein blühendes, junges Mädchen du bist! Der Schurke hat doch wahrhaftig das Große Los gezogen! All dieses dachte er, ehe er Amelias Hand ergriff und dabei seinen Dreispitz fallenließ.
Seine Geschichte von der Beendigung der Schule bis zu dem Augenblick, wo wir das Vergnügen haben, ihn wieder zu treffen, habe ich zwar nicht ausführlich erzählt, aber meines Erachtens doch für den scharfsinnigen Leser in dem Gespräch auf der vorhergehenden Seite einigermaßen verständlich angedeutet. Dobbin, der verachtete Krämer, war nun Alderman Dobbin, und Alderman Dobbin war Oberst bei der Londoner Bürgerwehr, die damals darauf brannte, den Einfall der Franzosen zu vereiteln. Der Herrscher und der Herzog von York hatten eine Truppenbesichtigung durchgeführt, an der auch Oberst Dobbins Korps beteiligt gewesen war (in diesem Korps war der alte Osborne nur ein kleiner Korporal). Oberst und Alderman war in den Ritterstand erhoben worden. Sein Sohn war zur Armee gegangen, und bald trat Osborne in dasselbe Regiment ein. Sie hatten in Westindien und Kanada gedient. Ihr Regiment war eben nach England zurückgekehrt, und Dobbin empfand für George Osborne immer noch die gleiche warme und hochherzige Freundschaft wie als Schuljunge.
Nun setzten sich diese trefflichen Leute bald zum Essen nieder. Sie sprachen von Krieg und Ruhm, von Bony und Lord Wellington und der letzten Nummer der „Gazette“. Jede Zeitung in jenen Tagen hatte in ihren Spalten einen Sieg, und die beiden tapferen jungen Männer brannten darauf, ihre eigenen Namen auf der ruhmvollen Liste zu erblicken, und verfluchten ihr mißliches Geschick, zu einem Regiment zu gehören, das bisher noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sich auszuzeichnen. Miss Sharp brannte vor Begeisterung bei diesem aufregenden Gespräch, Miss Sedley dagegen zitterte und wurde fast ohnmächtig beim Zuhören. Mr. Joe erzählte einige seiner Tigerjagdgeschichten, beendete die von Miss Cutler und Stabsarzt Lance, bediente Rebekka bei Tisch und aß und trank selbst riesige Mengen.
Er sprang auf, um den Damen mit umwerfender Anmut die Tür zu öffnen, als diese sich zurückzogen, und zum Tisch zurückgekehrt, schenkte er sich einen Becher Rotwein nach dem andern ein und stürzte ihn mit nervöser Hast hinunter.
„Er trinkt sich Mut an“, flüsterte Osborne Dobbin zu, und endlich kamen Stunde und Wagen für Vauxhall.