Читать книгу Der Drachenzahn - Wolf Awert - Страница 11
Tamalone
ОглавлениеNachdem Tama die Lagerhalle verlassen hatte, hielt sie sich links und ging durch einen Torbogen. Dahinter begann ein Labyrinth. Die engen Gassen wurden noch enger. Von einem weiteren rechteckigen Platz zweigten gleich mehrere Sträßchen ab. Es roch gut hier, so als würde irgendwo gekocht, und sie stellte fest, dass sie Hunger hatte. Über den Dächern der Häuser konnte sie die runden Formen der Pilzhüte sehen, in denen die Stadtelfen lebten. Das erleichterte ihr die Orientierung. Kurz entschlossen betrat sie die erste Gasse, von der sie annahm, sie würde sie wieder auf eine größere Straße bringen. Doch weiter als bis zu den Türen von drei Häusern kam sie nicht. Auch die anderen Gassen endeten blind. So blieb am Ende nur ein weiterer Torbogen übrig, der so wenig Licht passieren ließ, dass Tama bereits nach wenigen Schritten im Dunkeln stand. Sie blickte zurück. Dort, von wo sie hergekommen war, zeichnete sich eine helle Hufeisenform aus weißem Sonnenlicht ab. Vor ihr war nichts als eine formlose Schwärze. Sie schob sich an der Wand entlang. Die Wand gab ihr eine Richtung und gleichzeitig hoffte sie, auf diese Art neugierigen Augen zu entgehen.
Es war schwer sich vorzustellen, dass dieses Dunkel irgendwo hinführte. Entweder waren alle Lampen zerstört worden, oder … Auf keinen Fall führte der Weg sie aus dieser Gegend heraus. Hier war sie falsch. Tama machte kehrt. Der weiße Halbkreis des Torbogens war noch da. Doch nun bildete er den Rahmen für eine Gestalt. Groß. Breite Schultern. Und viel zu lange Beine, als dass sie menschlich sein konnte. Tama ging mutig auf das Wesen zu, schickte ihren Geist voran und suchte eine Verbindung. Was sie fand, war Hass. Hass in einer so herzfüllenden Größe, dass kein anderes Gefühl daneben Platz hatte.
Auch die Gestalt hatte sich in Bewegung gesetzt. Sie ging unbeholfen, schaukelte mit dem Oberkörper und schwankte so sehr, dass es aussah, als würde sie beim nächsten Schritt das Gleichgewicht verlieren. In dem Licht des Platzes, das drei, vielleicht vier Körperlängen der Gasse erleuchtete, konnte sie nicht mehr erkennen als einen Umriss. Nein, vor ihr stand kein Mensch. Und das war auch kein Elf. Vor ihr stand ein - Monster!
Tama schalt sich wegen ihrer Wortwahl, die zu nichts taugte, als Panik aufsteigen zu lassen. Ein Tiermensch, korrigierte sie sich. Aber weder Wolf noch Bär. Also nicht ihre Reisegefährten, die mit ihr zusammen in NA-R angekommen waren, sondern ein wirkliches Monster. Tiermensch, verbesserte sie sich erneut. Es gab keine Monster, sondern nur Gestaltwandler mit Menschen- oder Elfenblut. Unerwünschte Gedanken über mögliche Eltern drängten sich auf. Tama vertrieb sie. Sie wollte nicht daran denken, wie seine Eltern zusammengekommen sein mochten und was sie getrieben hatten. Den aufkommenden Ekel konnte sie zwar kaum unterdrücken, aber sie würde kein Urteil fällen, ohne die ganze Geschichte zu kennen.
„Ich grüße Euch. Ich suche den Weg zu den Hauptstraßen und habe mich dabei verlaufen. Könnt Ihr mir helfen?“ Sie konnte nur hoffen, dass sie den Tiermenschen mit ihrer Gedankensprache erreichte. Jetzt wartete sie auf eine Antwort. Die kam so unerwartet wie ein Hagelschlag von blauem Himmel.
Der Hass verschwand von einem auf den anderen Moment, aber nur, um dann mit doppelter Stärke zurückzukommen. Das Monster sprang aus dem Stand nach vorn, machte einen einzigen Riesensatz bis zu ihr hin und riss sie um. Tama schlug mit dem Kopf auf und konnte für einen Augenblick nichts mehr sehen außer Sternen und Funken. „Nein, nicht“, wimmerte sie, als sie zwei geballte Fäuste über sich sah, die im Begriff waren, ihr den Kopf zu zertrümmern.
„Nicht nein, ja!“, hörte sie und dann kam der Schlag. Die Faust sah sie noch kommen, die eine und auch die zweite Faust, die in der Luft stillstand. Dann war nichts mehr.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Dreck. Ihr war übel. Der Gestank um sie herum war unbeschreiblich. Sie drehte den Kopf. Links und rechts Mauerwerk. Über ihr Mauerwerk. Sie versuchte sich aufzurichten und stöhnte. Ihr Kopf dröhnte, aber sie war am Leben und konnte sogar etwas sehen. Hinter ihr gab es Licht, vor ihr war Dunkel. Aus dem Dunkel erhob sich eine Gestalt. Das musste das Mo…, der Tiermensch sein. Beine bis zum Himmel mit gewaltigen Oberschenkeln. Er trug Kleidung, wenn man die dreckigen Fetzen als solche bezeichnen wollte. Und immer noch umhüllte der Hass die schreckliche Gestalt. Aber nicht mehr wild flatternd wie eine Fahne im Wind. Eher dumpf und erdrückend.
Starke Arme, mächtige Fäuste. Sie tastete über ihre Stirn und zuckte zusammen. Die Faust musste sie irgendwo zwischen Schläfe und Wangenknochen getroffen haben. War sie dem Schlag im letzten Moment ausgewichen? Das war schwer vorstellbar. Andererseits, hätte diese Faust sie richtig getroffen, lebte sie nicht mehr. Froh, dass ihr Kopf wieder zu arbeiten begann, suchte sie die ersten Worte zusammen. „Ich heiße Tamalone“, sagte sie. „Aber meine Freunde nennen mich Tama. Seid Ihr mein Freund? Und wohnt Ihr hier?“
Der Tiermensch riss den Kopf hoch. Große Augen, glatte Haut. Kein Fell oder Gefieder und plötzlich ganz viele Gefühle auf einmal. Hass und Verzweiflung, ein Lachen, das nach Galle schmeckte. Aber auch leises Staunen. Dann wieder Wut. Wut ist besser als Hass, dachte Tama bei sich. Wut ist heiß, man kann sie kühlen. Hass ist kalt, und je älter er ist, desto schwieriger ist es, ein Feuer für ihn zu finden. Ich muss weiterreden. Er kann mich hören. Ich muss herausfinden, ob er mich auch verstehen kann. In Gedankensprache versuchte sie es erneut: „Es geht Euch nicht gut. Was fehlt? Wobei kann ich Euch helfen?“
„Torso. Hunger.“ Dann zeigte er mit dem Finger auf Tama, sagte noch: „Viel Fleisch“, und schüttelte dann ratlos den Kopf. Er öffnete ein paarmal das Maul. Ein Quaken und Blubbern und ein unverständliches Gurgeln. Dann wieder Gedankensprache in klaren, langsam und sorgfältig formulierten Worten: „Du kannst sprechen. Du bist Erste, die mit Torso spricht. Auch Schlangenauge spricht nicht, und der ist …“ Torso sprach ein Wort aus, das Tama nicht kannte, und unterlegte es mit Gefühlen wie Himmel, Größe, Allmacht, Wärme und Essen. „Was ist besser? Hunger und Sprechen oder runder Bauch und Schweigen?“ Er schüttelte wieder den Kopf.
„Runder Bauch und Reden“, sagte Tama.
„Geht nicht“, sagte Torso.
„Erst reden und dann essen.“
Torso schien nachzudenken. Dann nickte er sehr zögerlich. „Geht. Aber Torso will reden, essen und dann wieder reden.“ Er schaute Tama von Kopf bis zu den Knien an. „Das geht nicht“, sagte er.
„Wir werden einen Weg finden“, sagte Tama, stand auf, schwankte und wäre umgefallen, wäre Torso nicht losgesprungen und hätte sie aufgefangen. Und so standen sie zusammen. Torso hielt Tama fest, und Tama fühlte die Unentschlossenheit in diesem stinkenden Körper und die Unfähigkeit, eine Entscheidung zu treffen. Torso wusste wirklich nicht weiter.
„Halt mich fest. Mir ist noch ein wenig schwindelig.“ Sie klammerte sich an ihn und die Fetzen, die er trug, weil sie unter allen Umständen auf den Füßen bleiben wollte. Voller Zufriedenheit stellte sie fest, wie der Hass sich zurückzog. Er war immer noch da, und nichts würde ihn vertreiben können, aber er hatte sein Ziel verloren oder ein anderes gewählt, das nicht mehr Tama hieß. Nur die Verzweiflung war geblieben. Die allein würde schon dafür sorgen, dass der Hass zurückkam. Früher oder später. Aber bis dahin … Tama nahm Torsos Hand, zog ihn in Richtung Wand, wo die kleine Lampe brannte und rutschte an dem Mauerwerk herab. Torso zog sie mit sich. „Wer ist Schlangenauge?“, fragte sie.
„Er schickt mir manchmal jemanden zum Essen. Hat er dich auch geschickt?“
Tama schüttelte den Kopf. „Ich habe meinen Weg verloren, aber dafür habe ich dich gefunden.“
„Er beschützt mich“, sagte Torso und verband seine Gedanken mit Bildern von der Bürgerwehr, die er im Hass erstarren ließ.
„Die Elfenleute sind also deine Feinde.“
Torso zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Sie Angst vor mir und Schlangenauge.“
Die Bürgerwehr patrouillierte mit dem Segen der Stadtelfen durch die Straßen. Tama konnte sich nicht vorstellen, dass sie vor einem Tiermenschen Angst hatte. Und vor Schlangenauge auch nicht. Sie würde herausfinden müssen, was da lief.
„Ich hole Essen“, sagte sie. „Kannst du mich bitte zum Torbogen bringen. Ich bin noch etwas schwach nach dem Sturz.“ Sie drückte Torso an sich. „Ich helfe Freund Torso. Reden, essen, reden.“
Der Tiermensch stand auf, nahm Tama auf den Arm und begann zu springen. Immer mit beiden Beinen gemeinsam, wie Frösche es tun, und in wenigen Sätzen standen sie unter dem Torbogen. Tama schaute sich um. Sie versuchte sich zu erinnern, wo es nach Essen gerochen hatte, als sie den Platz betreten hatte. „Torso, warte. Ich muss allein gehen.“
Und dann marschierte sie los. Auf Beinen, denen jede Festigkeit fehlte aber die mit jedem Schritt an Sicherheit gewannen. Sie spürte Torsos Augen Löcher in ihren Rücken brennen. Deshalb ging sie langsam, fand das Haus und klopfte an die Tür.
„Hunger“, sagte sie und verband das Wort mit der Bitte und die Bitte mit Mitleid. Der Mann, der ihr die Tür geöffnet hatte, schüttelte den Kopf und wollte die Tür schon wieder schließen, als Tama forderte: „Gib!“. Ihr Wille schlug Löcher in den Schädel des Mannes. Der drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Um die geöffnete Tür kümmerte er sich nicht mehr.
Tama nahm nicht viel. Hier wohnten arme Leute. Die Männer kämpften für Schlangenauge oder hatten für ihn gekämpft. Sie waren schon froh, wenn sie genug für sich und ihre Familien hatten. Sie nahm etwas Brot mit sich und einige Zwiebeln. Nach einigem Nachdenken nahm sie auch noch ein Stück Speck mit und bezahlte dafür mit den zwei kleinen Stückchen Kupfer, die Schlangenauges Leute bei ihr übersehen hatten, als sie sie durchsuchten. Sie hoffte, dass es ausreichte. Dann kehrte sie zu Torso zurück, der unruhig gewartet hatte.
„Jetzt essen und dann wieder reden“, sagte sie.
„War nicht sicher, dass du zurückkommst.“
Als Antwort nahm sie einfach nur seine Hand und drückte sie.
„Ich traue Schlangenauge keinen einzigen Schritt über den Weg“, sagte Lufthauch, „und jedes zweite Wort von ihm ist gelogen. Aber was den Weg angeht, hat er die Wahrheit gesagt. Es gibt nur links und rechts. Von rechts sind wir gekommen und keiner Tamalone begegnet. Also müssen wir wohl tatsächlich nach links. He, warte!“
Dorman war bereits mit langen Schritten losgegangen, ohne Lufthauchs umständliche Erklärung bis zum Ende abzuwarten. „Hier sind überall nur verdreckte Wohnhäuser mit verdreckten Wohnungen. Tamalone wird nicht aufs Geradewohl irgendwo geklopft haben. Bleibt nur das schwarze Loch da drüben.“
„Welches schwarze Loch?“
„Das dort unter dem Torbogen. Komm.“ Dorman verfiel in einen lockeren Laufschritt. Lufthauch hatte keine Mühe mitzuhalten. Befriedigt stellte er fest, dass er der schnellere und ausdauerndere Läufer war und deshalb nun die Führung übernehmen konnte. Er war nicht nur schneller, er konnte mit seinen Elfenaugen auch besser sehen als Dorman. Beim Laufen drehte er ständig den Kopf hin und her und lauschte den Geräuschen, die sie umgaben. Das Rascheln kleiner Füße ordnete er flüchtenden Ratten zu. Vereinzelte Stimmen kamen aus den Häusern. Sie verstummten bald. Die Passage machte einen Knick. Es wurde heller. Lufthauch blieb stehen. „Tamalone“, rief er. „Ich heiße Lufthauch und muss mit Euch re…“
Weiter kam er nicht. Dorman war an ihm vorbei, als hätte er plötzlich Flügel bekommen, rannte auf das schwache Licht zu, wurde dabei immer flacher, als würde er zu einem Sprung ansetzen, und blieb urplötzlich stehen. Tamalone war ihm entgegengekommen, umarmte ihn und zog ihn hinter sich her.
Lufthauch rieb sich verwundert die Augen. Wo war dieser Dorman geblieben? Gerade noch hatte er Tamalone umarmt, hochgehoben, abgesetzt, und war dann nach vorn auf seine Hände gefallen. Für einen Augenblick hatte es noch so ausgesehen, als würde er auf allen Vieren hinter ihr herschleichen. Aber dann war er plötzlich weg. Futsch. Hatte sich in Luft aufgelöst. Was sich nun neben dieser Tamalone herumtrieb, war eine ausgewachsene, gewaltige Raubkatze mit rundem Kopf und einem Tüpfelmuster auf dem Fell. Lufthauch beschloss, sich zurückzuhalten und sich nur ganz vorsichtig zu nähern. Zumal da noch eine dritte Figur herumlungerte.
Tama wusste nichts von Lufthauchs Schwierigkeiten. Zwar hatte sie noch nie erlebt, dass sich ein Gestaltwandler mitten in einer schnellen Bewegung veränderte und schon gar nicht mit dieser Geschwindigkeit, aber ihre Gedanken waren jetzt woanders. „Pando, hier, das ist Torso. Er ist ein Gestaltwandler wie du. Nehme ich mal an. Er hat seine Gestalt nicht verändert, seit ich hier bin, aber das muss ja nichts heißen.“ Sie streichelte Pando über den Kopf. „Wir haben gerade etwas gegessen, aber Torso hat immer noch Hunger.“
Pando setzte sich hin und leckte sich das Fell, bevor er wieder auf Torso schaute. „Hallo, mein Freund. Warum versteckst du dich in diesem Loch?“
„Du auch?“, fragte Torso.
„Was auch?“
„Mit mir reden. Gestaltwandler können nicht miteinander reden. Nur ganz selten.“
„Ich kann, Tama kann, du kannst. Nun sag schon Freund, oder soll ich Bruder zu dir sagen, warum bist du hier?“
„Schlangenauge beschützt mich vor Elfen.“
„Und warum bist du nicht im Viertel der Gestaltwandler?“
„Dort holen sie mich weg.“
„Warum sollten sie?“
Tama kam ein Gedanke. „Sag mal Pando, als ich mit dem Frachter ankam, stiegen zwei Tiermenschen mit mir aus. Ein Wolfartiger und ein Bär, der auf seinen Hinterbeinen lief. Stolze Geschöpfe. Sind sie jetzt im Viertel der Gestaltwandler?“
„Weggebracht“, sagte Torso.
„Aber warum sollten sie …“ Pando legte den Kopf schief.
Mittlerweile hatte sich auch Lufthauch herangetraut. „Warum steht ihr hier rum und schweigt euch an. Oh, mein Name ist Lufthauch.“ Sein rechter Arm zuckte, als wollte er dem Tiermenschen die Hand reichen, aber dann begnügte er sich doch mit einer Verbeugung. „Ich bin ein Elf aus dem Wald und Beschützer des Lebens.“
„Er versteht Euch nicht“, sagte Tama.
„Aber er versteht Euch. Oder? Und wo ist Dorman, der Mann mit dem ich hergekommen bin?“
Tama fragte Lufthauch, ob ihn noch jemand außer diesem Dorman begleitet habe. Der schüttelte den Kopf. Wer hätte das denn sein sollen?, dachte er und sah auf einmal, wie sich Tamas Gesicht in einem jähen Schmerz verzog und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Doch sicher war er sich nicht, denn sie zwinkerte ihre Tränen ganz schnell fort. Und außerdem war die Sicht sehr schlecht in diesem Funzellicht. Da halfen auch keine Elfenaugen mehr.
„Du Betrüger“, sagte Tama plötzlich zu Pando in einer Endgültigkeit, die Lufthauch zusammenzucken ließ. „Du gemeiner Schuft, Verräter und Enttäuschung meines Lebens. Woher nimmst du die Unverschämtheit, zu mir über Vertrauen zu sprechen? Was sollte das ganze Spiel von ‚Ich kann besonders gut Menschen nachmachen.‘ Und dann stellst du dich absichtlich unbeholfen an. Aber wenn es darauf ankommt, schlüpfst du einfach in eine Menschengestalt.“ Tama wechselte zur Gedankensprache. „Torso, sag mir, kannst du auch so einfach eine Menschengestalt annehmen?“
Pando schwieg. Nur das Spiel seiner Ohren verriet seine Nervosität.
„Kann“, sagte Torso. „Weil Vater. Ist aber schwierig. Ich kann auch Mutter. Aber dauert. Am leichtesten ist so wie jetzt. Ein Teil Mutter, ein Teil Vater. Geht gut zusammen.“
„Ich danke dir für deine Ehrlichkeit, mein Freund. Es gibt nicht mehr viele Wesen in dieser Welt, die ehrlich sind.“ Und Tama tastete wieder nach Torsos Hand.
„He, ich kann das erklären“, sagte Pando.
„Und wie war das mit den Wächtern an den Bahnsteigen? Die haben dich erwischt, weil du zu langsam warst, um deine Form zu verändern.“
„Das habe ich nie behauptet“, protestierte Pando.
„Nein, aber die Wächter haben es erzählt. Du hast dich fangen lassen. Du hast dich absichtlich von den Wächtern fangen lassen.“
„Das stimmt. Ich wollte dich kennenlernen. Und das habe ich ja auch.“
„An dir ist nichts Echtes, Pando. Du bestehst nur aus Täuschung und Lüge, aus Verrat und Unehrlichkeit. Und die Gefühle von denen, die es gut mit dir meinen, trittst du mit Füßen und trampelst auch noch darauf darum. Verschwinde, hau bloß ab und geh mir aus den Augen. Ich kann dich nicht ausstehen und will dich nie, nie, niemals wiedersehen. Hörst du?“
„Ich habe noch nie jemanden verraten“, sagte Pando. „Und ich würde … Ist ja auch egal. Du machst ja doch, was du willst.“ Er ging ein paar Schritte rückwärts, wo der Schein der kleinen Lampe kaum noch hinreichte. Es war aber nicht Tama, die er floh. Torso hatte sich neben Tama aufgebaut.
„Vorsicht, Bruder. Tama ist Freundin. Und ich bin Sieger. Immer stärker als alle anderen. Sei vorsichtig.“
Pando brummte etwas, schwieg aber. Nur sein Schwanz peitschte die Luft und erzählte so von der Gemütslage, in der er sich befand.
Lufthauch hatte von all dem nicht viel mitbekommen. Er wusste nur, dass etwas passiert war, das nicht leicht wog. Er würde es schon herausfinden. Aber für ihn eilte es nicht. „Dein neuer Freund ist in keinem guten Zustand“, sagte er zu Tama. „Du solltest ihn fragen, wovon er lebt. Und wir sollten ihm etwas zu essen bringen.“
Tama nahm die Ablenkung gerne an. „Was isst du, Torso? Wir bringen dir etwas vorbei, damit du keinen Hunger mehr leiden musst.“
„Im Wald kleine Tiere. Fische im Tümpel. Ich fange. Vögel in der Luft. Ich fange. Geht aber auch mit Früchten oder Pflanzenteilen unter Erde. Hier schlimm. Ratten, Mäuse, dann das, was Schlangenauge schickt. Einmal viel, dann lange nichts. Immer zu wenig.“
Tama drückte den Tiermenschen noch einmal an sich. Der Gestank machte ihr nicht mehr viel aus. „Ich komme zurück. Sehr bald. Versprochen. Freunde sollten sich aufeinander verlassen können.“ Ihre Gedankensprache war etwas zu laut, aber Pando hätte auch so gewusst, für wen dieser Satz gemeint war.
„Wir müssen gehen“, sagte Tama, drückte Torso noch mal an sich und ging dann entschlossenen Schrittes durch die Dunkelheit zu dem hellen Fleck unter dem Torbogen. Lufthauch und Pando folgten ihr.
Pando hielt den ganzen Weg einen gehörigen Abstand, und Lufthauch nutzte die Gelegenheit, um mit Tamalone ein paar Worte zu wechseln. „Ihr konntet euch untereinander verständigen, hatte ich den Eindruck. Ich aber konnte nur dich verstehen“, sagte er. „Was war das?“
„Pando und Torso fehlen die Sprachwerkzeuge, die Menschen und Elfen haben. Zumindest Pando versteht aber die menschliche Sprache. Mag er auch die Form einer großen Katze gewählt haben. Und ja, uns drei vereint etwas, schmiedet uns zusammen. Wir wissen alle drei nicht, wohin wir gehören. Ich bin ein Mensch mit so viel Elfenblut, dass die Menschen mich nicht als eine der Ihren anerkennen. Pando und Torso sind zur Hälfte Mensch und zur Hälfte …“
„Tier“, ergänzte Lufthauch.
„Gestaltwandler“, korrigierte Tama. „Und ich mag mir gar nicht ausmalen, was das wirklich bedeutet.“ Sie verstummte abrupt. Den Gedanken, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen Pando und Torso gab, verschluckte sie. Stattdessen sagte sie mit einer merkwürdig kraftlosen Stimme: „Mir ist, als ob die Gestaltwandler der Schlüssel zu allen Dingen sind. Wenn wir uns nicht um sie kümmern, wird sich das einmal bitter rächen.“
In Lufthauchs Kopf spielten die Gedanken Nachlaufen. Mit Gestaltwandlern sprechen zu können, war keine Elfenmagie. Wer also war diese Tamalone? Und besaß nicht auch Sumpfwasser diese Fähigkeit? Aber der war zweifelsfrei ein reinblütiger Waldelf. Und wenn doch nicht? Nein, dieser Gedanke war zu verrückt, um auch nur gedacht zu werden. Denn dann hätte er ja ebenfalls Fremdblut in seinen Adern haben müssen. Aber die Sache mit den Gestaltwandlern ... Mit ihnen hatte alles angefangen. Das hatte auch Sumpfwasser behauptet. Oder nicht? Lufthauch wusste überhaupt nicht mehr, was er denken oder glauben sollte. Er zögerte, erinnerte sich daran, dass er gerade noch etwas ganz Wichtiges zu den Gestaltwandlern sagen wollte, aber dieser Gedanke war ihm in dem ganzen Durcheinander wieder entwischt. Dafür nagte es an seinem Selbstbewusstsein, dass er an der Unterhaltung zwischen Tama und den beiden Tiermenschen nicht hatte teilhaben können. Noch nie hatte er sich derartig ausgeschlossen gefühlt wie in dem stinkenden Loch neben Pando, Torso und Tamalone. Eigentlich hätte ihm das als Elf der Wehrhüter nichts ausmachen dürfen. Tat es aber doch. Und er bemerkte auch, dass Tamalone ihn gar nicht richtig wahrnahm. Auch das war er nicht gewohnt. Allgemein nicht und schon gar nicht von jungen Menschenfrauen, die sonst alle seinem Charme erlagen. Dazu brauchte er es noch nicht einmal darauf anzulegen. Der Elfencharme war ihm auch eher eine Bürde als ein Vergnügen, doch nun ärgerte ihn diese Nichtbeachtung beträchtlich. War er denn so wenig wert? Was würde wohl passieren, wenn er ein bisschen …
„Wir müssen noch über deinen Auftrag sprechen“, sagte er mit einer Stimme, in der Glocken erklangen, Bäche murmelten und der Wind die Felsen zum Singen verführte. Tamas Schritt geriet aus dem Takt, als sie den Kopf drehte und Lufthauch anschaute. Sie hatte gerade das Gefühl, ihr Herz würde in zwei Stücke gerissen. „Mutter, hilf“, betete sie, aber ihr Gebet kam zu spät. Mutters Ohren waren taub geworden.
Tama wusste, dass es von nun an nur noch einen Mann in ihrem Leben geben würde. Lufthauch! Aber mit der anderen Hälfte ihres Herzens wusste sie auch, dass ihre Gefühle nicht echt und nur das Ergebnis einer magischen Kraft waren. Das machte sie unsagbar wütend. Konnte man jemanden gleichzeitig erschlagen und küssen wollen? Denn genau das wollte sie in diesem Augenblick. Totschlagen und totküssen. Essen oder Reden. Woher dieser Gedanke jetzt auf einmal kam, verstand sie nicht. Hilfreich war er jedenfalls nicht. Torso hatte das gesagt. Es ginge nicht zusammen. Nur nacheinander und das auch nur, wenn sie selbst nicht die Nahrung war. Sie konnte Lufthauch erst küssen und dann erschlagen. Anders herum ging es nicht. Eine Liebe kann man nicht ersäufen und auch nicht verbrennen, dachte sie resignierend. Aber einen Zauber kann man brechen. Dann wird man merken, was von der Liebe noch übrig ist. Das ist auch nicht schwieriger, als in einer Küche herauszufinden, ob der Kochtopf hält, was sein Duft verspricht. Man muss nur den Deckel abnehmen und in den Topf hineinschauen.
Nein, es war überhaupt nicht einfach. Aber jetzt hatte sie wenigstens etwas zu tun, bis sie einen Weg ins Elfenviertel fand. Sie würde den Elfencharme zerstören und sich ihre Liebe zu Lufthauch aus dem Herzen reißen. Mutter zu finden war wichtiger als in Lufthauchs Armen zu liegen. Die Tränen, die ihr über die Wangen liefen, merkte sie nicht. Auch nicht, ob es Tränen der Wut oder der Verzweiflung waren. So blieben auch die Flecken auf der Lederkleidung unbeachtet, die die salzigen Tropfen hinterließen. Ihre Tränen, ihre Flecken.
Sie legten den Rest des Weges sehr wortkarg zurück. Lufthauch erzählte Tama, wie sie ursprünglich vorgehabt hatten, sie ins Elfenviertel zu bringen. „Aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Die Elfen kennen dich nun und haben dich fest im Blick. Aber mach dir keine Sorgen, uns fällt schon etwas ein.“
Tama schwieg, und als sie endlich etwas sagte, sprach sie davon, dass sie ihre Lederkleidung säubern müsse nach ihrem Ausflug, sie aber keine Ersatzkleidung besäße. Und so erreichten sie endlich den kleinen Laden neben dem des Königs, wo sich ihre Wege trennten. Sie standen zusammen, ohne ein Wort zu sagen. Tama verbiss sich ein „Lebe wohl“, weil sie sich von Lufthauch nicht trennen wollte, und Lufthauch stand regungslos neben ihr und verstand ihr Schweigen nicht. Er konnte auch nichts in ihren Augen lesen, denn Tama schaute auf ihre Fußspitzen. Wie früher, dachte sie. Da schaute ich auch immer auf den Boden. Den Kopf zu heben und der Welt zu trotzen hatte sie gerade erst neu gelernt. Hier in dieser Stadt. Das war noch gar nicht so lange her. Tama brauchte weder in Lufthauchs Augen zu schauen, noch sich in sein Gehirn zu begeben, um dessen Gedanken zu erraten. Sie wusste, worauf er wartete. Aber als sie dann daran dachte, dass Pando, dieser unverschämte Gestaltwandler, möglicherweise oben in ihrem Zimmer neben ihrem Bett liegen könnte, verdrängte frische Wut auch die letzten zärtlichen Gedanken. Diesen Triumph würde sie ihm nicht gönnen, gemeinsam mit Lufthauch vor seinen Augen zu erscheinen und sich seine Bemerkungen anhören zu müssen. Es war schon richtig so, den Elfen nicht mit in ihre Wohnung zu nehmen. Und so sagte sie „Leb‘ wohl“, schloss die Tür des kleinen Ladens auf, drehte sich noch einmal um und winkte ihm zu. Sorglos an der Oberfläche wie ein Falter, der sich von einer Blüte verabschiedet, an der er genascht hat. Dann drückte sie die Tür des Ladens auf und verschwand. Wenn ihm nur halb so viel an mir läge wie mir an ihm, hätte er mich ja zu sich bitten können, dachte sie. Die sich hinter ihr schließende Tür verdrängte etwas von Lufthauchs Einfluss. Besser fühlte sie sich deshalb aber nicht.
Lufthauch starrte Tama verärgert hinterher und fragte sich, warum sie ihn nicht zu sich mit nach oben genommen hatte und was so stark sein konnte, seinem Elfencharme zu widerstehen. Er winkte zurück. Wäre sie mit mir gekommen, wenn ich sie gefragt hätte? Ein müßiger Gedanke ohne eine feste Bleibe hier. Jetzt kann ich mich erst einmal um einen Schlafplatz für die Nacht kümmern. So kann doch keiner arbeiten. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Ich brauche eine Wohnung hier. Am besten hoch unter dem Dach in einer der Hauptgeschäftstraßen. Die Wehrhüter würden das bezahlen müssen, denn als Waldläufer oder Jäger konnte er sich so etwas nicht leisten. Mit diesen für einen Wehrhüter äußerst befremdlichen Gedanken eilte er mit langen Schritten zum Stadtrand. Sumpfwasser hatte ihm gesagt, wo er eine Spinne finden würde. Er brauchte einen neuen Plan.