Читать книгу Der Weg in die Vergangenheit - Wolf Awert - Страница 8
Tamalone
ОглавлениеTama staunte. Über sich selbst, über die Welt der Dunkelheit, die sie umfangen hielt, und über die Bewohner dieser Welt. Mit welcher Leichtigkeit sie in das Gehirn des Geistes mit dem großkrempigen Hut hatte eindringen können. So offen, wie sich eine weite Ebene jedem darbot, der von einem Berg hinunterschaute. War das die Magie, auf die sie die ganze Zeit gewartet hatte? Ihre Magie? Denn eines stand jetzt unverrückbar fest. In der Welt der Toten und Geister war die Magie der Drachen machtlos. Ihr Arm, bei der Ankunft noch entzündet und zur Bewegungslosigkeit verurteilt, schwieg nun und fühlte sich wieder kühl an. Die Verschmelzung von Drachenleder und Menschenhaut schien abgeschlossen zu sein. Oder nur unterbrochen. Aber das würde sie erst merken, wenn sie wieder in die Welt der Lebenden zurückgekehrt war. Bis dahin …
Ganz leicht, spielerisch nur ließ sie ihre Fingerspitzen über ihre neue Haut gleiten. Jetzt, wo Schmerz und Entzündung verschwunden waren, konnte sie ihre neue Kraft erkunden. Die erfüllte ihr ganzes Sein und schenkte ihr ein Gefühl von Freiheit, das sie bisher erst einmal in ihrem Leben gespürt hatte. Auf dem Schwarzen Biest, das sie und ihre Träume nach NA-R gebracht hatte. Mit jedem Atemzug hatte sie das Gefühl gehabt, dass all die Luft über der Ebene ihre Lunge füllte. Jetzt atmete sie das gesamte Totenreich ein. Mit jedem Atemzug. War das die Magie? Fühlten so auch die Drachen jeden ihrer Atemzüge?
Sie fühlte sich wieder gesund und stark. Jetzt musste sie nur noch Aureon und Argenton wissen lassen, dass es ihr gut ging. Die machten sich sicher Sorgen. Ob sie ihre neue Gabe …?
Tama beschwor ein Bild ihrer Familie, suchte Aureon und Argenton, fand sie nicht und sandte deshalb aufs Geradewohl ihre Botschaft ins Dunkle: „Es geht mir gut!“, rief sie in Gedankensprache. „Macht euch keine Sorgen.“
Ihr zweiter Versuch galt Baerben, mit der sie ein besonderes Gefühl verband. Sie glaubte, ihre Gestalt zu spüren und wiederholte die Botschaft.
Dann stellte sie eine Verbindung zur Schildkröte her. Das war viel einfacher, als zu ihrer Familie zu sprechen. Wenn Neven oder Altwi mit der Schildkröte redeten, konnten sie den anderen mitteilen, dass es ihr gut ging. Hoffentlich sprach auch jemand mit der Schildkröte. Doch das zu bestimmen, lag nicht in ihrer Macht. Sie kehrte mit ihrer Aufmerksamkeit zu sich selbst und der sie umgebenden Dunkelheit zurück.
In der Welt der Toten und Geister herrschten Dunkelheit und jetzt, nachdem das Schmerzgebrüll des Armes verstummt war, auch eine heilige Stille. Nur in der Ferne hörte sie kleine Kinder weinen und Männer in der Art schreien, wie sie es tun, wenn sie gegen etwas ankämpfen, das stärker ist als sie. Es waren die Schreie von Verlierern, die nie geglaubt hatten, einmal nicht zu den Siegern zu gehören. Als wenn man gegen die Natur gewinnen könnte, wo doch alle ein Teil von ihr waren. Ob auch hier die Gesetze von Raum und Zeit galten? Wenn ja, dann hätte sie gern gewusst, wie lange es dauert, bis ein Geist kommt, der zuvor gerufen, gefunden und hergebracht werden muss. Und was ist zu tun, wenn ein solcher Geist gar nicht bereit ist zu kommen?
Er würde gewiss kommen. Das erste und leider auch das letzte Mal, an dem sie diesem Wesen begegnet war, hatte sie sich von ihm losreißen müssen, so unerschöpflich war sein Redefluss gewesen. Aber Ungeduld war ein Gefühl, das an diesem Ort unbekannt war. Das musste sie noch lernen. Als der Geist dann endlich kam, hatte Tama sich wieder gefasst und sagte ganz höflich und bescheiden:
„Es tut gut, Euch wiederzusehen. Sagt, wie soll ich Euch anreden?“
„Ich heiße …“ Ein verwirrter Ausdruck zog über das blasse Gesicht. „Ich erinnere … Habe ich Euch nicht erzählt, dass Godwin, der Drache, mich meines Namens beraubt hat? Er allein ist schuld an meiner immerwährenden Existenz in der Welt der Geister und meiner Machtlosigkeit, sie zu verlassen.“
„Verzeiht. Ja, das habt Ihr, aber wir waren in Eile damals. Ich konnte nicht auf jedes Wort achten und habe vieles bereits wieder vergessen. Doch heute ist alles anders. Heute habe ich Zeit. Nur wegen Euch bin ich wiedergekommen, wegen Euch und um die ganze Geschichte zu hören. Von Anfang an bis zu ihrem bitteren Ende, von Eurer Hoffnung bis hin zu seinem schändlichen Verrat.“
„Schändlicher Verrat. Ja, das trifft es. Ein schändlicher Verrat war es in der Tat. Und das nach allem, was ich für diesen Drachen tat. Bereits sein Erscheinen hätte mich warnen sollen. Heißt es nicht, dass in einem großen und mächtigen Körper oft nur ein kleiner Geist herrscht? Dieser Drache war kein Wesen von Ehre. Zu diesem Urteil werdet auch Ihr kommen, wenn Ihr mich angehört und erfahren habt, was ich zu erzählen weiß.“
„Dann erzählt“, sagte Tama und musste sich sehr anstrengen, dass niemand und keiner und schon gar nicht dieser Geist da vor ihr bemerkte, wie aufgeregt sie war. Jetzt würde sie endlich ein Stück jener Wahrheit erfahren, die nach Pandos Ansicht zu groß für sie war. Aus der fernen Vergangenheit, in der all das begonnen hatte, was später die Welt, in der sie lebten, dazu gebracht hatte, den eigenen Untergang zu planen. Halva, was haben sie dir angetan? Ob sie auch noch etwas darüber erfuhr, was Pandos Mutter ihr verschwieg, wusste sie nicht, hoffte es aber. Und ob eine dieser beiden Geschichten jene war, die Pandos schwarze Schwester ihr verweigerte, konnte sie auch noch nicht sagen. Aber hieß es nicht, dass jedes Haus mit einem ersten Stein gebaut wurde, dem dann ein zweiter und noch viele andere hinzugefügt wurden?
„Bitte erzählt Eure Geschichte. Ich verspreche Euch, Euch nicht zu unterbrechen.“
Und der Geist erzählte seine Geschichte:
„Ich weiß nicht, was du über die glorreiche Vergangenheit unseres Volkes weißt, aber wir Menschen wurden nicht immer geknechtet und verachtet. Es gab einst große Reiche und Könige, die über sie herrschten. Vor allem aber gab es Magier, geschickter und mächtiger als jede Elfe, und die größten von ihnen hätten es auch mit einem Drachen aufnehmen können. Doch alles zerbrach, als die Magier sich zerstritten. Es ging um die Herrschaft über die Götter, um den Glauben, das rechte Denken und vor allem um das Geld, das einem Macht und die Freiheit verleiht zu tun, wonach es einem gelüstet. Am Ende war es ein Kampf, in dem jeder gegen jeden kämpfte und es keinen Sieger mehr gab. Die Mächtigen starben wie die Fliegen. Ich blieb als Einziger übrig, weil ich mich rechtzeitig in die Welt der Toten zurückzog, bevor auch dieser Weg durch Magie versperrt wurde. Zwar verlor ich dabei den größten Teil meiner Körperlichkeit, sodass ich bereits damals mehr Geist als Mensch war, und auch einen großen Teil meiner magischen Kraft, aber nicht mein Wissen. So erkämpfte ich mir Schritt für Schritt den Weg ins Leben zurück und arbeitete am Ende wieder als Priester. Wie hätte es auch anders sein sollen? Ich hatte ja nichts gelernt als meine Magie und auf die rechte Art mit den Göttern und den Menschen zu reden. Ich ließ mir eine Gebetsstätte erbauen und lebte von denen, die zwar die alten Götter hassten, aber doch nicht ohne sie leben mochten. Ein armseliges Leben, wenn man es mit den alten Zeiten verglich, und ein Tag verging wie der andere. Doch dann kam er.
Er, das war ein Krieger, wie ihn noch kein Mensch je zuvor gesehen hatte. Zwei Köpfe größer als jeder andere Mann, mit schwellenden Muskeln, einem Helm auf dem Kopf und einem mächtigen Schwert in der Hand. Ich benötigte nur einen Blick, um zu erkennen, dass der, der da wie ein Mensch auszusehen versuchte, kein Mensch sein konnte. Ihr versteht? Er hatte von allem zu viel. Zu groß, zu stark und die Bewaffnung recht altertümlich. Und als er dann zu mir sprach, wurde mir schnell klar, dass seine Stärke höchstens noch von seiner Dummheit übertroffen werden konnte. Begrüßte er mich doch mit einer Frage:
‚Was macht ihr hier?‘, wollte er wissen.
Es gab für mich keinen Grund, ihm nicht zu antworten. ‚Wer seid Ihr, dass Ihr nicht erkennt, dass wir beten‘, gab ich ihm zur Antwort.
‚Und zu wem betet ihr?‘
‚Zu dem unsichtbaren Gott. Diese Siedlung ist zu arm, um sich einen sichtbaren Gott zu leisten, den sie mit Dingen von Wert beschenken und schmücken könnte. Aber sie ist wohlhabend genug, ihm ein Zuhause zu bieten‘, sagte ich und wies mit der Hand auf das Gebäude hin, dessen Dach höher über der Erde thronte, als es nötig gewesen wäre, und in dem ich zusammen mit meinem Gott wohnte. Und dann fragte er mich:
‚Warum betet ihr nicht mich an? Mich kann jeder sehen. Da hättet ihr es einfacher.‘
Es bereitete mir Mühe, meine Überraschung zu verbergen und mein Lachen zu verschlucken. Ich blieb liebenswürdig und höflich, als ich ihm antwortete. ‚Ihr seht mir aus wie ein Krieger. Stark und mutig. Aber Krieger sind zahlreich wie Äste an einem Baum, wenn man weiß, wo man sie zu suchen hat. Niemand betet einen Krieger an. Warum sollte er so etwas tun?‘
Ganz offensichtlich gefielen ihm meine Worte genauso wenig, wie mir sein Vorschlag gefiel, ihn anzubeten, und er brauchte mehrere Atemzüge, bis er eine Antwort auf meine Frage fand. ‚Ich bin kein Krieger, auch wenn ich so aussehe. Ich bin … Nun, ein Gott bin ich auch nicht.‘ Dann zögerte er und fügte hinzu: ‚Oder nicht ganz, aber irgendwie schon. Es gibt niemanden in dieser Welt, der stärker oder mächtiger ist als ich.‘
Trotz seiner zur Schau gestellten Stärke konnte ich diesen Krieger nicht ernst nehmen und beschloss, mir einen Spaß zu machen. Ich verschränkte die Hände auf dem Rücken und umrundete den Mann. Dabei sah ich ihn von oben bis unten und von unten bis oben in einer Weise an, als suchte ich die Wahrheit und sagte: ‚Ich sehe wirklich nicht mehr als einen Krieger vor mir. Als Gott taugt Ihr recht wenig. Aber ich möchte nicht voreilig wirken. Es wäre durchaus möglich, Euch anzubeten, denn Ihr seid von außergewöhnlicher Gestalt. Wäre gut, wenn Ihr noch größer wärt und noch stärker, aber es könnte vielleicht jetzt schon reichen. Verstehe ich Euch richtig? Euer Wunsch ist es, angebetet zu werden?‘
Ich hatte mir schon eine Entschuldigung zurechtgelegt für den Fall, dass er zornig werden würde, aber er schien den Spott in meinen Worten nicht zu erkennen.
‚Es täte dem Land gut, wenn es einen Gott hätte, und allein aus diesem Grund strebe ich dieses Ziel an. Das würde auch die Anbetung mit einschließen. Ginge es allein um die Anbetung, verlangte ich nicht mehr, als mir zusteht. Und wenn das von meiner Größe oder Stärke abhängt, dann kann ich beides meinem Wunsch anpassen. Ist es so besser?‘, fragte er und füllte sich mit Luft und Substanz gleichermaßen. ‚Oder wollt Ihr noch mehr? Aber dann würde ich eine Größe erreichen, die vielleicht nicht mehr menschlich wäre, und ihr Menschen würdet vor mir fliehen, wie ich es bereits mehr als einmal erlebt habe.‘
Mir wurde übel vor Angst, als ich das Wesen dieses Kriegers erkannte. Mein Blut sackte mir in die Beine und mein Kopf wurde leer wie ein ausgelöffelter Kürbis. Tief verbeugte ich mich, um meine Ehrfurcht zu zeigen und vor allem mein Gesicht zu verbergen, denn vor einem Drachen darf man nicht schwach erscheinen.
‚Ich sehe in Euch noch viel von der alten Göttlichkeit‘, flüsterte ich. „Und Eure Magie ist stark, auch wenn sie mir fremd ist. So höret denn. Mein Name ist …‘
Der Magier verstummte. „Ich muss ihm damals meinen Namen genannt haben, jenen Namen, den ich heute so schmerzlich vermisse. Ich erklärte ihm, dass mein Name ursprünglich kein Name, sondern ein Ruf gewesen war. Jemand rief, und ein anderer hob den Kopf. So hatte alles einmal angefangen. Ich sagte ihm, dass ich ein Gottespriester sei und der letzte der alten Magier, der dem Volk der Menschen noch verblieben war. Es sei schwierig geworden mit der Magie, denn sie entfloh seit einiger Zeit dieser Welt, und ob und wann sie zurückkommen würde, stand mit unsichtbarer Tinte auf der Rückseite der Wolken geschrieben. Und dann sagte ich zu ihm: ‚Wer weiß, vielleicht bin ich in der Lage, Euch Euren Wunsch nach Göttlichkeit zu erfüllen, denn ich bin ein Kundiger und verfüge über viele Talente. Nur wenigen ist bekannt, dass alles damit begann, dass die Menschen die alten Götter bewunderten und anriefen. Da sie die alten Götter aber nicht verstanden, erschufen sie sich neue, und aus ihren Anrufungen wurden Gebete, und ihre Gebete wandelten sich zu Beschwörungen. Mögen Drachen und Elfenmagier das Geheimnis der Langlebigkeit kennen, eine wirkliche Unsterblichkeit ist einzig und allein die Angelegenheit der Menschen und ihrer Götter. Aber denkt daran, die Unsterblichkeit muss täglich neu erarbeitet werden.‘
Ja, so sprach ich damals. Vorsichtig und mit einem lockenden Klang in meiner Stimme. Diese magische Kreatur voller Kraft, aber ohne Witz und Geistesblitz, musste ein Geschenk der alten Götter sein. Eine fleischgewordene Möglichkeit, mich von einer Magie zu befreien, die mich zwischen zwei Welten festhielt, anstatt mir zu erlauben, frei umherzuziehen. Mir jene Kraft zu schenken, die ich brauchte, um mich loszureißen. Die Ankunft dieses Kriegers war mehr als ein Geschenk. Es war eine Verheißung, wie sie schöner nicht sein konnte.
In den groben Gesichtszügen des Kriegers konnte ich sehen, wie widerstrebende Gefühle miteinander rangen. Misstrauen, vorsichtige Freude, Verachtung und Erleichterung waren nur einige der Gefühle, die ich lesen konnte, und sie wechselten sich ab wie Sonne, Wolken und Regen unter einem nervösen Himmel. Hatte ich es mit meinem Spott zu weit getrieben?
Dann endlich: ‚Ich kenne die Magie der Drachen und weiß von der der Elfen. Aber von einer Magie der Menschen habe ich noch nie gehört. Erzähl mir von ihr.‘
Ich jubelte mit eingefrorenem Gesicht. Jetzt nur nicht den Fang im letzten Augenblick noch verlieren, dachte ich. Er zappelte doch bereits an meiner Angel. Ihn jetzt an Land zu bringen benötigte eine ruhige Hand, viel Geduld und die Gabe der aufmerksamen Beobachtung, denn meine Angel bestand nicht aus Rute, Leine, Haken. Sie war aus einem Material erschaffen, leichter als ein Spinnennetz. Das Versprechen, einen Wunsch zu erfüllen, war mein Haken, die Behauptung, vertraut mit einer Magie zu sein, zu der er keinen Zugang fand, war meine Rute. Und was verband den Haken mit der Rute? Die Geschichte der Magie der Menschen. Sie brauchte nicht in allen Dingen wahr oder gar wahrhaftig zu sein. Nur bedeutsam musste sie klingen und rätselhaft zugleich, mächtig und doch nicht bedrohlich, besonders, aber doch überall gültig. Und so sprach ich:
‚Die Magie der Menschen ist in der Tat ein rares Gut. Und ich bin noch nicht einmal sicher, ob sie vom ersten Menschen an all seine Nachkommen weitergegeben wurde. Für mich fühlte sie sich immer so an, als wäre sie nur geborgt oder auf Zeit geliehen. Aber da Ihr mir ebenfalls ein Kundiger zu sein scheint, könnt Ihr mir vielleicht mehr über meine Magie erzählen, als ich Euch. Einen Teil bekam ich von meinem Vater, der sie der Natur entnahm. So gehört mein Geschlecht zu einer langen Linie von Naturmagiern. Ich würde gern behaupten, dass diese Magie die meine sei, aber mein Vater war der letzte, der diese Kunst beherrschte, und sie verging mit seinem Tod. Und doch konnte ich noch Reste für mich retten, die allein betrachtet, zwar wenig bedeuten. In Verbindung mit anderen magischen Quellen hingegen …‘ An dieser Stelle machte ich ein wissendes Gesicht, als müsste dem Krieger vertraut sein, wovon ich sprach. ‚Den anderen Teil erhielt ich von meiner Großmutter, die sie durch meine Mutter bei der Empfängnis auf mich übertrug. Auf mich und auf meinen Zwillingsbruder, der leider viel zu früh verstarb, aber immer noch mit mir spricht und mich berät. Er gab mir im Todeskampf seine gesamte Essenz.‘
‚Wie hast du sie getötet? Deinen Vater, deine Mutter und deinen Bruder?‘
Bei diesen Worten erschrak ich. Vermochte dieser Kerl in mir zu lesen? Hastig sprach ich deshalb weiter, um solche Überlegungen gar nicht erst aufkommen zu lassen: ‚Meine Mutter war so gnädig, von allein zu sterben, nachdem sie bei der Geburt alles, was sie besaß, mir und meinem Bruder gegeben hatte. Vater und Bruder tötete ich mit Gift und Dolch. So wie es vorgeschrieben war.‘
Mir war bewusst, dass, während wir sprachen, die kleine Schar meiner Gläubigen auf uns schaute. Es wäre schön gewesen, wenn mein rätselhafter Besuch nicht gerade in der Gestalt eines Muskelbergs ohne Verstand erschienen wäre. Wie gern hätte ich meine Leute mit unserem Gespräch beeindruckt. Aber manchmal ist es, wie es ist. Nun mussten die Dinge leise ablaufen und geheim. Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, mit wem ich es zu tun hatte. Mit einem Drachen. Das war mir klar. Aber ein gewöhnlicher Drache war er nicht. Sicher war ich mir nur, vor einer ungeheuren Quelle der Magie zu stehen. Magie bedeutete Macht. Und Macht war ein anderes Wort für Freiheit. Meine Freiheit.
‚Wenn Ihr wirklich ein Gott werden wollt, dann kann ich Euch dabei helfen, weil ich den Weg dazu kenne. Nicht alle Pfade in die Vergangenheit sind verschüttet. Dem Kundigen, dem, der weiß, stehen immer noch viele Türen offen.‘
‚Was hindert dich denn daran, selbst ein Gott zu werden, wenn zutrifft, was du behauptest?‘
‚Das wisst Ihr nicht? Bei den alten Göttern. Liegt das nicht offen ausgebreitet vor allen, die Augen haben zu sehen? Es ist meine Menschlichkeit, meine Sterblichkeit, meine Schwäche. Etwas zu wissen, heißt nicht, es zu beherrschen. Den Weg zu kennen, nicht, ihn auch gehen zu können. Aber für Euch könnte ich ihn suchen und finden. Jemand wie Ihr wäre es wert. Mit Eurer Unterstützung und für Euch würde ich die Türen zu diesem Weg öffnen und ihn begehbar machen. Das wäre mir eine Ehre. Allein für die Ehre und für einen kleinen Obolus noch dazu als Ausgleich für meine Bemühungen.‘
Ich konnte sehen, dass der Krieger zufrieden war. Ihm schien zu gefallen, dass ein anderer für ihn die Arbeit tat, sodass er endlich fragte: ‚Was muss ich tun und was verlangst du von mir? Wisse, ich kann durchaus Wünsche erfüllen und Wunder tun, wenn mir der Sinn danach steht.‘
Ich rieb mir innerlich die Hände: ‚Zwischen Euch und Eurem Wunsch, ein Gott zu werden, stehen nur drei Hindernisse, die sich allerdings alle leicht überwinden lassen. Das größte ist unzweifelhaft, die Unsterblichkeit zu erlangen, denn nur, wenn Ihr unsterblich seid, könnt Ihr Euch als Gott betrachten. Das zu erreichen mag in Euren Ohren unmöglich klingen, ist es aber nicht. Ihr müsst lediglich eine Großtat vollbringen, die kein normaler Sterblicher jemals vollbringen könnte. Sie zu finden, ist das zweite Hindernis, das dem ersten vorangeht, denn nicht alles, was Ihr vielleicht als Großtat betrachten könntet, genügt den Ansprüchen der Magie. Was Ihr dazu braucht, sind Magie, Kraft und Größe, Eigenschaften über die Ihr allesamt in überreichem Maße verfügt. Und dann fehlt Euch als Drittes nur noch ein göttlicher Name. Er entsteht aus der Bewunderung Eurer Anbeter und aus den Erinnerungen an die Götter vor Eurer Zeit, die es zu verschmelzen gilt. Macht etwas Großes und holt Euch die Bewunderung von den Menschen. Ich weiß, wovon ich spreche, denn einige der alten Götter waren nur den Menschen bekannt. Aus Bewunderung und Anrufungen wurden Gebete und alle Erinnerungen galten den Toten. Das kommt uns entgegen, denn die Toten vollbringen keine neuen Taten mehr. Allerdings müssen wir uns an ihnen messen lassen.
Es mag sein, dass Ihr bereits einen Namen habt‘, fuhr ich fort. ‚Wenn nicht, spielt das auch keine Rolle, denn gleichgültig, wie man Euch bisher gerufen hat, der neue Name ist der Name eines Gottes, und mit seiner Übergabe von mir an Euch ist die Veränderung abgeschlossen. Nur eine Magie der rechten Art kann sie wieder rückgängig machen. Dass das aber unmöglich werden wird, dafür stehe ich ein, denn ich bin fortan der Wächter Eures Namens.‘
‚Wen soll ich erschlagen? Sag es mir.‘
Ich lähmte meine Augen, damit sie mir nicht vor Entsetzen in meinem Schädel herumrollten. Der Fremde sah nicht nur aus wie ein Krieger, er musste auch einen Teil seines Verstandes bei dem Formwandel verloren haben. Draufhauen, totschlagen. Männer wie er lebten in einer einfachen Welt. Wie konnte es sein, dass er trotzdem die Magie anzog wie verderbendes Obst die kleinen Fliegen? ‚Niemanden, mein Lieber‘, sagte ich daher und ließ dabei ein wenig an Respekt vermissen. ‚Was sollte daran besonders sein, zu töten oder zu zerstören. Das wäre weit unter Euren Fähigkeiten. Lasst uns lieber gemeinsam überlegen, ob uns nicht etwas Wirkungsvolleres einfällt. Aber zunächst sollten wir ein gegenseitiges Versprechen ablegen. Ich verspreche, Euch zu einem Gott zu machen, Euch die Unsterblichkeit zu schenken und die Menschen dazu zu bringen, Euch anzubeten. Letzteres kann etwas dauern, und auch die Unsterblichkeit zeigt sich nicht sofort. Habt also etwas Geduld. Ihr versprecht mir dafür einen deutlichen Zuwachs meiner Zauberkraft. Selbstverständlich nur, damit ich Euch unter den Menschen besser dienen kann, denn ein Gott ohne Priester oder Diener ist kein richtiger Gott. So haben wir beide etwas davon. Was haltet Ihr von meiner Idee? Ich muss auch eine neue Priesterschaft ausbilden, denn im Gegensatz zu Euch werde ich die Unsterblichkeit nie erlangen können und muss daher auch jenen Teil der Zukunft im Blick haben, an der ich nicht mehr teilhaben kann.‘
Mein Besucher nickte gleichmütig. Vielleicht hatte ich zu viele Worte gewählt, aber ich war ein Priester, und von einem Priester erwarten die Leute Geschwätzigkeit. ‚Die Unsterblichkeit …‘, fuhr ich fort, ‚… steckt in den letzten Resten der Schöpfungsmagie. Dort müssen wir sie suchen gehen und dort müssen wir auch Eure Großtat ansiedeln. Sagt, Ihr seid mir doch nicht zufällig einer der letzten Drachen und versteckt das vor mir?‘ Ich drohte dem Krieger mit dem Finger, als hätte ich einen kleinen Jungen vor mir und verfluchte mich sofort ob dieser Kühnheit. ‚So etwas solltet Ihr mir besser anzeigen‘, fuhr ich fort, ‚denn es vereinfacht die Angelegenheit ganz beträchtlich. Vielleicht zeigt Ihr mir einmal Eure wahre Gestalt. Nein? Nicht? Ganz wie Ihr wollt. Fühlt Euch nicht gedrängt zu Dingen, die wir letztlich möglicherweise doch nicht brauchen.‘
‚Du bist klug und kannst die Magie lesen. Das muss genügen‘, bekam ich zur Antwort. ‚Ich werde dir meine wirkliche Gestalt zeigen, wenn es an der Zeit ist. Und ja, ich bin ein Drache und noch mehr als das. Ich bin ein Altvater. Aber das wird dir nichts sagen und daher auch nicht helfen.‘
Ich erinnere mich noch, wie ich zusammenzuckte. Bei den Göttern, so einem gegenüber hatte ich einen Scherz gemacht. Ein Altvater? Ein Drache, der noch die alten Götter persönlich kennengelernt hatte. Etwa der Altvater? Ich hatte gehört, dass nur noch ein einziger von ihnen leben sollte. Mein Redefluss nahm an Geschwindigkeit zu, und die Worte sprudelten aus meinem Mund nur so hervor. ‚Als Gott braucht Ihr noch einen Namen. Auch darum werde ich mich kümmern. Großtat, Name und Unsterblichkeit. Die drei heiligen Dinge eines Gottes. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr sie erhaltet. Jetzt sagt mir noch, welche Magie Ihr beherrscht, welche Sprüche Ihr sprecht, welche Zauber Ihr webt, damit ich Euch verstehen kann.‘
Der Krieger schnaubte nur kurz durch die Nase. ‚Wir Drachen sind magische Wesen und damit selbst Magie. Wir denken nicht darüber nach. Nimm an, dass ich jeden Zauber weben kann, den du dir vorstellst, und du wirst recht haben. Auch wenn einiges verloren ging, was bei der Erschaffung der Welt noch gebraucht wurde.‘
‚Ja, lasst uns hoffen, dass die Verbindung zur Vergangenheit noch besteht. Ohne sie wird es schwierig.‘
Der Krieger warf sich in die Brust. ‚Die große Vergangenheit spricht immer noch zu mir. Auch wenn ihre Stimme leise geworden ist und sie nicht immer klar zu verstehen ist. Rufen kann ich sie, ihr befehlen aber nicht mehr.‘
‚Oh und Au, das klingt nicht gut. Ich hatte gehofft, Ihr könntet den Sog der Magie umkehren und sie zumindest für einen winzigen Augenblick zurückkehren lassen. Ihr erwähntet, dass die Lebenskraft in Eurem Volk schwindet, oder habe ich mich da verhört? Glücklicherweise hängt sie weder von der Vernunft noch von der Magie ab.‘
‚Darüber habe ich nicht gesprochen, aber deine Vermutung ist korrekt.‘
‚Gut. Dann erhöht einfach die Lebenskraft in Eurem Volk. Ist ja keine große Sache.‘
‚Es ist neben der Magie die einzige, große Sache. Rede sie mir nicht klein.‘
‚Verzeiht. Wir Menschen rascheln ständig im Stroh oder Unterholz. Wir bestehen nur aus Lebenskraft. Aber wenn Ihr sie Eurem Volk zurückbringt, ist die Hälfte Eurer Aufgabe bereits erledigt.“
‚Wie stellst du dir das vor? Wie einen magischen Wind? Du hörst zu viele Herdfeuergeschichten. Lebenskraft wird in einem engen Kontakt von Körper zu Körper übertragen. Aber kein Drache wird sich mit einem Menschen abgeben. Da mag der Mensch so laut rascheln, wie er mag. Das wäre ja so, als wollte sich ein Mensch mit einer Mücke paaren.‘
Ich konnte seine Empörung spüren. Irgendwo musste er mich missverstanden haben. Es war an der Zeit, es auf eine andere Art zu versuchen. Also setzte ich eine beleidigte Miene auf und knurrte: ‚Dann erzählt mir gefälligst von Euren Vorfahren. Alles Große kam aus dem Kleinen. Der erste Drache wird wohl kaum aus dem Himmel gefallen sein und die Erde mit einem Bums begrüßt haben. Wollt Ihr mir erzählen, dass da etwas herumlag, sich schüttelte und rief: ‚Hier bin ich!‘. Eure Vorfahren, werter Altvater, und keine Scheu jetzt. Ich weiß, sie waren einmal klein.‘
‚Sie sind tot und haben ihren Frieden in uns Drachen gefunden. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.‘
‚Ha! Ist es nicht. Ich möchte wetten, einige haben es nicht geschafft. Haben die Drachen verfehlt. Sind zu kurz gesprungen, abgerutscht, haben mit dem Halt auch den Frieden verloren. Was ist aus ihnen geworden?‘
Jetzt stand der Altvater wie vom Donner gerührt, sah einen kleinen abscheulichen Menschen vor sich, wusste, dass ich kundig und schlau war, dass sich aber in meinem Wissen auch Abgründe an Dummheit auftaten. ‚Schau dich doch um‘, sagte er, und seine Stimme wurde so laut, dass sie die Aufmerksamkeit der Betenden auf sich zog. ‚Am Himmel fliegen Vögel, Schlangen kriechen durch das Gras. Eidechsen sonnen sich auf Steinen, Fledermäuse durchhuschen die Nacht. Sie wurden zu Tieren ohne Vernunft und sind nun überall um uns herum.“
‚Ja, Kletterkraut und Bohnenranke!‘, rief ich aus. ‚Und da Ihr zaudert noch? Wenn die Verbindung zu den alten Göttern schwindet, dann gibt es doch noch Reste davon in Euren Vorvorfahren. Schenkt doch diesen Tieren die Vernunft. Nicht allen, das versteht sich von selbst, denn der Wert der Vernunft schwindet, wenn jeder sie hat. Nur denen, die Ihr für wert erachtet. Ein Tier mit Vernunft und dem Körper eines Vorfahren müsste für Euch doch ehrenwert genug sein und nicht das, was eine Mücke für einen Menschen ist.‘
‚Was hast du gegen Kletterkraut und Bohnenranken?‘
Ich schlug mir vor den Kopf, dass es klatschte, bei so viel Dummheit. ‚Geht!‘, rief ich. ‚Besucht die Tiere, ehret den Geist der Vorvorfahren. Der Weg ist gezeichnet. Jetzt müsst Ihr ihn nur noch betreten.‘
Er wollte nicht. Ich konnte es nicht fassen. Ich bot ihm die Unsterblichkeit an, und er wollte nicht. ‚Was ist?‘, fragte ich ungeduldig.
„Vernunft lässt sich nicht verschenken wie ein Teil der Jagdbeute. Sie muss mit der Magie des Körpers übertragen werden. Und kein Drache legt sich zu einem Tier.“
‚Was?‘, schrie ich. ‚Was glaubt Ihr denn, was unsere Götter getan haben? Sie haben sich in der Gestalt von Tieren zu uns Menschen gelegt, denn der Anblick eines Gottes aus nächster Nähe ist nicht zu ertragen und hätte jeden von uns auf der Stelle getötet. Außerdem: Ihr paart Euch nicht mit einem Tier, auch wenn es sich so anfühlen mag. Ihr paart Euch mit der Schönheit der Schöpfung oder mit der Erinnerung der einstigen Größe Eures eigenen Volkes und erhebt so das Niedere zu einer bisher nicht vorstellbaren Größe. Kennt Ihr nicht die Schönheit in unserer Welt? Sie gibt es überall, so wie auch das Hässliche überall sein Haupt erhebt. Geht und sucht die Schönheit, erkennt sie und findet sie erneut in dem Teil der Welt, der lebt. Die Schönheit ist einfacher zu finden als alte Erinnerungen, die sich bereits anstrengen zu verlöschen.‘
Und dann geschah es. Der Krieger wuchs, bildete Kopf, Schweif und Flügel aus und schwang sich mit einem einzigen Flügelschlag in die Luft. Mir blieb nur ein flüchtiges Bild des Altvaters, denn Staub, Sturm und Schrecken holten mich von den Füßen und nahmen mir die Sicht. Meinen Gläubigen erging es auch nicht besser. Zwar blieben sie stehen, da sie sich entfernt von uns aufhielten, aber dafür kniffen sie ihre Augen so fest zu, dass es fraglich war, ob sie sich wieder öffnen ließen. Der Drache hatte mich verlassen. Das ist der erste Teil meiner Geschichte.“
Tama schnappte nach Luft und rang um Fassung. Ihre Gedanken rasten zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her. Wenn es stimmte, was der Geist ihr soeben erzählt hatte, dann musste der Altvater Drache sich überwunden und doch einigen Tieren die Vernunft geschenkt haben. Dann war er allein war für das Erscheinen der Gestaltwandler verantwortlich. Ob er sich mit den Tieren gepaart oder einen anderen Weg gefunden hatte, würde sie vielleicht noch erfahren. Aber was für seltsame Wege sich die Wahrheit doch manchmal suchte. Nach dem Betrug eines Drachen hatte sie gefragt, und auf die Antwort wartete sie immer noch. Aber dafür hatte sie etwas anderes bekommen. Ungefragt und unerwartet hielt sie nun die Lösung des größten Geheimnisses dieser Welt in den Händen. Sie wusste nun, woher die Gestaltwandler kamen. Sie allein, wenn sie von diesem Geist einmal absah, wusste davon. Oder vielleicht doch nicht nur sie allein?
„Erzählt weiter“, drängte Tama ungeduldig. „Wenn ich Euch helfen soll, muss ich alles wissen.“
„Ihr wollt mir tatsächlich helfen? Was verlangt Ihr dafür? Ich gebe Euch alles, wozu ich in der Lage bin. Es ist ein geringes Versprechen, denn um mir tatsächlich zu helfen, müsstet Ihr stärker sein als ein unsterblicher Drache. Und das ist unmöglich. Aber allein für Eure Absicht möchte ich mich bedanken. Und wie es weiterging? Dann hört jetzt den zweiten Teil meiner Geschichte:
Ich stand wieder einmal vor meiner Gebetsstätte und sprach zu den Menschen, die noch bereit waren, einem Gott zu folgen und demjenigen, der zu ihm sprechen konnte, mit etwas Geld zu unterstützen. Da sah ich plötzlich unter den Gläubigen einen Pilger. Meine Leute traten erschrocken zurück, als sie ihn sahen, denn es schien, als wäre dieser fromme Mann des Wahnsinns.“
Der Geist machte eine Kunstpause. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte er wohl ein oder zwei tiefe Atemzüge genommen oder einen Schluck getrunken, um seine trockene Kehle anzufeuchten. Wer Geschichten erzählt, weiß, wann er eine Pause zu setzen hat.
„Ihr könnt Euch denken, wer der fremde Pilger war. Er wollte nicht auffallen. Deshalb verzichtete er auf die Gestalt des Kriegers. Aber es war zu viel Altvater in ihm, als dass es ihm gelingen konnte, nur einer unter vielen zu sein. Erneut überragte er alle anderen um einen Kopf, und ihm wuchs ein Bart von Kinn und Wangen, der so lang war, dass er ihn wie einen Gürtel um den Leib schlingen musste. Und in seinem Schädel brannten zwei Augen in unheilvoller Glut. Drachenfeuer, nahm ich an.
‚Tretet näher‘, sprach ich zu ihm. ‚Ihr wart lange fort. Ich hatte beinahe schon die Hoffnung aufgegeben, Euch jemals wiederzusehen.‘
‚Ich bin gekommen, um zu beten‘, sagte der Altvater unerwartet demütig und so laut, dass alle Umstehenden ihn hören konnten.
Ich schaute ihm in die Augen und für einen Moment versagte mir die Stimme. ‚Kommen wir deshalb nicht alle hierhin, mein guter Freund, und brauchen wir nicht alle ein solches Zwiegespräch, wenn wir eine große Aufgabe erledigt haben und feststellen, dass der entscheidende Schritt noch vor uns liegt. Ihr seid am richtigen Ort und kommt zu einer richtigen Zeit, weil von nun an jede Zeit für Euch die richtige ist. Aber vor allem steht Ihr vor dem richtigen Mann, der Euch geleiten kann.‘
Und zu den Umstehenden sagte ich: ‚Ein hoher Gast ist zu uns gekommen. Merkt euch seine Erscheinung. Die Welt wird noch viel von ihm hören, und ihr werdet morgen die Ersten unter ihnen sein. Doch für heute soll es uns genügen. Erlaubt mir, dass ich meinen Gast im Haus unter dem hohen Dach bewirte. Die Geister unserer Ahnen werden uns folgen.‘ Und mit diesen Worten führte ich den Altvater in das Haus und ließ mir berichten.
‚Die Schönheit zu finden, war leicht‘, erzählte der Fremde. ‚Ich flog über die höchsten Bergspitzen der Drachenberge und erfreute mich an dem glitzernden Eis über der Schwärze des Gesteins und am satten Grün der Büsche und Bäume. Doch half mir diese Schönheit nicht weiter. Deshalb verließ ich den Himmel und suchte das Leben auf einer Lichtung voll von Gras und Kräutern. Dort verwandelte ich mich in einen Steinbock, mit schwerem Gehörn und dichtem Bart. So wie deine Götter es einmal taten. Ich hatte kaum etwas von dem Gras abgerupft und einige der Kräuter gekostet, als ich ein Lachen hörte und drei Frauen aus dem Volk der Elfen vor mir sah. Sie waren schön. Jede auf ihre Weise. Ihre Gesichter besaßen eine Ebenmäßigkeit, die allen anderen Lebewesen fehlte. Und so waren sie besonders. Auch bewegten sie sich, als würden sie schweben und standen so zwischen den Wesen, die flogen, und denen, die gingen. Aber sie besaßen bereits die Vernunft. Und so vergnügte ich mich mit ihnen, ohne an meine Aufgabe zu denken. Mehr gäbe es nicht zu berichten, wenn nicht unser Tun auch die Tiere des Waldes angelockt hätten, sie uns zusahen und zu verstehen begannen. Nachdem ich das bemerkte, umgab ich mich mit Vögeln oder Schlangen, mit Echsen und Fledermäusen und ließ sie an meiner Magie des Augenblicks teilhaben. Die Waldelfen lachten über mich und meine Vorlieben, doch fühlten sie sich sicher, wenn ich bei ihnen war. Was nun? Den ersten Schritt habe ich gesetzt, die Tat ist vollbracht. Jetzt tue das deine.‘
‚Ihr macht es mir leicht‘, antwortete ich. ‚Lasst mich Euch zunächst einmal gratulieren, ältester und größter aller Drachen. Ihr habt aus den Wesen eines anderen Volkes Gefäße der alten Macht getöpfert und in ihnen mithilfe der Vernunft Magie angehäuft. Lebendige Gefäße für eine alte Macht. Jetzt sorgt noch dafür, dass diese Gefäße auch genutzt werden. Sorgt dafür, dass das Volk der Drachen Eurem Beispiel folgt. Fügt das Blut der Tiere Eurem Volk hinzu. Erfrischt Eure eigene Lebenskraft und die aller Drachen mit der Lebenskraft der Kinder Eurer Vorfahren. Sorgt dafür, dass es keinen Drachen mehr gibt, in dessen Adern nicht das Blut Eurer Vorfahren fließt, und Ihr habt vollbracht, was ich für unmöglich hielt. Die Elfen waren nur ein Werkzeug auf dem Weg, den Ihr zu gehen hattet.‘
‚Was du verlangst, hat schon begonnen. Warum, glaubst du, komme ich so spät? Mit den eigenen Augen konnte ich mich davon überzeugen, dass verwandelte Vorvorfahren meine Drachen besuchten und nicht abgewiesen wurden. Ich habe es erlaubt und werde es erst dann verbieten, wenn ich glaube, dass das Drachenblut zu dünn wird.‘
Ich muss zugeben, dass ich beeindruckt war. Der Altvater hatte ein neues kleines Volk geschaffen, das nun im Volk der Drachen aufging, und dessen altes Blut auffrischte. Entsprechend lobte ich ihn.
‚Ihr habt wahrlich den Strom der Zeit angehalten und für einen Augenblick umgekehrt. Es gibt nichts, was größer wäre. Jetzt ist es an der Zeit für den nächsten Schritt. Es gilt, ein Ritual durchzuführen. Das ist klein und unauffällig, und ich kann es fast neben anderen Dinge tun, ohne dass es auffällt. Solltet Ihr allerdings ein großes Ritual wünschen, eines, welches auch für das Volk der Menschen eine Bedeutung hat, dann sagt es mir, und ich werde dafür sorgen, dass die Welt zu Euch aufblickt. Die Wirkung ist dieselbe. Macht nur mehr Arbeit. Aber für Euch tue ich alles, das dürft Ihr mir glauben, denn ich habe geschworen, Euch zu dienen, und halte mich an meine Seite unserer Abmachungen.‘
Ich sah den Altvater zögern. Hatte ich doch richtig vermutet. Ein großes Ritual, das hatte etwas, das ihn kitzelte. Und dieser Kitzel kämpfte mit seiner Ungeduld. Am Ende gewann die Ungeduld und er sagte: ‚Ich erkenne Eure Bemühungen an und werde sie entsprechend belohnen. Aber nun lasst uns fortfahren. Ich bin begierig, meine Unsterblichkeit zu erlangen und neugierig zu erfahren, wie sie sich anfühlt. Auch kann ich es kaum erwarten, meine Pläne zu ändern, denn die Pläne eines Unsterblichen werden gewiss ganz andere sein als die eines Drachen, der nur ein langes Leben zu erwarten hat.‘
‚Möchtet Ihr noch eine Erfrischung, bevor ich beginne?‘, fragte ich ihn und goss leicht rötlich gefärbtes Wasser aus einem Tonkrug in zwei Becher. ‚Molte‘, erklärte ich ihm. ‚Eine Beere, die von weit herkommt, halb getrocknet über die Meere transportiert wird und immer noch Saft liefert. Etwas süß, etwas herb, etwas bitter. So wie das Leben.‘
Ich wusste, was nun passieren würde. Als ich von den Meeren sprach wie über gute Freunde, lief ein Schatten über meinen Körper, kam und verschwand, unauffällig wie das Starren einer Katze, leicht wie der Trippelschritt einer Amsel, und lautlos wie das Gähnen eines Hundes. Damit band ich mein Schicksal an das Schicksal aller Drachen und nicht nur an die der Berge. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Altvater es bemerkte. Drachen schauen mit vielen Augen, und wenn die Ursache eines Schattens nicht das Licht ist, dann bleibt nur noch Magie. Naturmagie? Oh, nein. Dafür roch sie zu dumpf, zu abgestanden und nach einem Wasser, der seit Jahrhunderten unbewegt ruhte. Und Drachenmagie war es auch nicht. Selbst die Drachenmagie, die er kannte, war zu jung dafür. Die Magie der Weltenschöpfer? Möglich aber unwahrscheinlich. Auch hatte er an sie keine Erinnerungen. Die Magie der Schöpfung war eine Magie des Aufbruchs. Aber das hier war eine Magie des Verfalls. Dem Altvater reichte es. Er packte mich an meinem Mantel, zog mich an sich und zischte in Drachenzunge: ‚Welches Spiel spielst du hier mit mir, kleiner Mann?‘
Ich hustete und spuckte mehr, als es nötig war, und begann zu schimpfen. ‚Welcher tollwütige Fuchs hat Euch jetzt wieder gebissen, dass Ihr mich zwingt, ganz von vorn anzufangen? Wenn Ihr wollt, dass ich heute noch fertig werde, dann lasst mich meine Arbeit machen.‘
Der Altvater löste die Faust, doch sein Misstrauen verschwand nicht. ‚Der Schatten‘, sagte er. ‚Was war mit dem Schatten? Und erklär mir, was du soeben getan hast und was hier vorgeht.‘
Ich war um Würde bemüht, ordnete meine Mantelfalten neu und setzte eine ungnädige Miene auf. ‚Wenn Ihr mir nicht vertraut, dann sollten wir die ganze Sache lassen. Was ich getan habe? Ich habe mich aufgemacht, Euch die Unsterblichkeit zu holen. Ja glaubt Ihr denn, die liegt hier einfach so herum in Kisten und Kasten oder Truhen und Schränken? Sie muss gerufen werden, sie muss kommen, sie muss ein Teil von Euch werden, so wie Euer Atmen ein Teil des Windes ist. Und sie muss gehorchen. Ein Band ist nötig zwischen Euch und der Ewigkeit, doch lässt sich dieses Band weder flechten noch weben. Es wächst wie eine Schlingpflanze den Baum hinauf, wird immer dicker, mächtiger, stärker und braucht dazu weder Licht noch Wasser. Soll ich weitermachen oder habt Ihr noch weiteren Bedarf, Dinge zu erfahren, die Sachen der Menschen und nicht der Drachen sind? Aber fragt nur ruhig weiter. In einem großen Ritual hätte ich all das öffentlich gemacht. Doch Ihr wolltet es schnell und heimlich.‘
‚Hätte ich gewusst, was ich gesehen habe, hätte ich mich für das große Ritual entschieden. Aber wenn du mir jetzt in kurzen Worten sagst, was die Sachen der Menschen sind und nicht der Drachen, dann will ich zufrieden sein und dich nicht weiter stören.‘
‚Versprochen?‘
‚Bei der Ehre der Drachen.‘
‚Nun gut. In kurzen Worten. Keine Geschichte, keine Legende. Eine Sache der Menschen. Ich sag’s Euch und mache das, was ich tue, etwas deutlicher, damit ihr erkennt, dass ich die Wahrheit sage. Aber es könnte sein, dass es nicht mehr so angenehm ist. Wenn Ihr es nicht mehr aushaltet, trinkt einen Schluck. Moltebeeren, sage ich nur. Bitter und süß wie das Leben.“
Altvater ließ seine Augen aufglühen, und ich stand auf. Jetzt galt es.
„Ich weiß nicht, wie es bei euch Drachen oder bei den Elfen gehalten wird, aber wir Menschen sprechen mit unseren Vorfahren, und unsere Vorfahren sprechen auf vielerlei Arten auch mit uns. Wir Menschen haben eine Verbindung zu unseren Ahnen, die keine Macht der Welt jemals wird zerreißen können. Mit unserem Geist und Körper sprechen wir. Die Verbindung wird von unseren Eltern geschmiedet mit dem, was Eltern und Großeltern an ihre Kinder übergeben. Diese Verbindung geht auch durch den Tod nicht verloren, selbst dann nicht, wenn wir es so wollten. Ich weiß nicht, was Ihr über Tod und Leben wisst, aber die Elfen kennen dieses Band nicht, weil ihre Toten in den Wald zurückkehren, der ihr Volk einst hervorgebracht hat. Die Tiere kennen es nicht, weil die Tiere fast nichts kennen. Daran ändert auch die neue Vernunft nichts. Und ihr Drachen? Über Euch zu sprechen fehlt mir jetzt der Mut nach Eurem Ausbruch. Außerdem haben mich meine Eltern so erzogen, dass ich über andere Völker nicht gern schlecht rede. Aber die Langlebigkeit der Drachen mag dazu geführt haben, dass sie ihre Vorfahren vernachlässigen. Vielleicht haben auch sie einst die Möglichkeit besessen, ein solches Band zu flechten, aber das müsst Ihr besser wissen als ich. Wo leben die toten Drachen, wenn sie überhaupt noch leben? Gibt es in der Welt einen Platz für verstorbene Drachen?‘
Bei den Gedanken an den Tod wurde der Altvater unruhig, und ich nutzte diesen Moment für mich. Erneut glitt der Schatten über meinen Körper in einer schlangengleichen Bewegung von unten nach oben. Und verschwand. Und nun hatte sich auch meine eigene Gestalt verändert. Sie war dünner und durchsichtiger geworden. Ich hatte von meiner Substanz geopfert, wozu ich noch in der Lage war, ohne die Verbindung zur Menschenwelt völlig zu verlieren. Und das alles in der Hoffnung diese Substanz und noch mehr davon wieder zurückzubekommen. Ich zeigte dem Altvater meine mürben Knochen, ausgefranste Sehnen und zerfallenes Fleisch. Kurz nur, dann kam das Bild eines gesunden Mannes zurück. Nur der ihn begleitende Gestank war schwer zu ertragen. Der Altvater trank einen großen Schluck. Die Moltebeeren halfen tatsächlich etwas, wenn man an sie glaubte, aber Drachen glaubten selten. Sie wussten. Und was er roch, waren Tod, Vergessen und Ewigkeit, die ich in diesem Augenblick vertrieb. Er hatte vom Duft der Unsterblichkeit geträumt. Von Blumen oder frischem Fleisch. Wie grausam doch die Wahrheit sein konnte.
Ich versuchte ihm, die Situation zu erklären, dass wir Menschen einzigartig sind, als Einzige über ein eigenes Totenreich verfügen, das mit der Welt der Lebenden verbunden ist. Zu ihm habe ich Zutritt, auf es kann ich zurückgreifen, sagte ich ihm und sprach von den Vorteilen. Ein Magier, der auch nur ein bisschen auf sich hält, wandert zwischen den Reichen der Toten und Lebenden hin und her wie zwischen zwei Zimmern seiner Hütte. Ich verschwieg ihm nur meine Schwäche und mein Unvermögen, jemals völlig in die Welt der Lebenden zurückzukehren, wenn er mir nicht zu mehr Substanz und Magie verhalf.
‚Und weil das so ist …‘, sagte ich, ‚…hören mir alle Verstorbenen dieser Region zu. Und wenn ich sage: ‚Betet zum Altvater‘, dann werden sie das für mich tun. Und wenn die Toten zum Altvater beten und mit ihren Nachkommen reden, dann beten auch die Lebenden zum Altvater. Und wenn genügend Hirne an Euch glauben, dann werdet Ihr zu einem Gott, und die Unsterblichkeit stellt sich von ganz allein ein. Ist wie ein kleines Brot zu backen. Einfache Sache, wenn du Mehl hast, Wasser, Salz, und ein Feuer.‘
Aber der Altvater hatte mich durchschaut und machte mir Vorwürfe. ‚Du hast mich betrogen. Du lebst schon lange nicht mehr. Ich bin einer Illusion aufgesessen. Am liebsten würde ich dich zerreißen, aber wie soll man töten, was nicht mehr lebt?“
Also das war nun wirklich übertrieben. Ich redete auf ihn ein wie ein Bauer, dessen Maultier drei Gebete brauchte, um einen Schritt weiterzugehen. ‚Ihr versteht immer noch nicht. Ich bin ein Wanderer zwischen den Welten. Der war ich nicht immer. Aber ich bin nicht tot. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich nicht mehr ganz lebendig bin. Die alten Götter haben mich getötet, als sie gingen, und ließen doch genug von mir übrig, dass ich mein Ich mithilfe meiner Magie retten konnte. Ich möchte nicht weiter darüber reden. Das war alles ein riesengroßes Missverständnis damals. Aber seitdem flieht mich die Magie und deshalb helfe ich Euch in Eurer Angelegenheit. Wollen wir nicht weitermachen? Es fehlt Euch nur noch Euer Name.‘
Es fehlte nicht nur der Name, es fehlte vor allem das Vertrauen, aber dem Altvater blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen.
Der Schatten wanderte ein letztes Mal hin und her. Ich öffnete Tür und Fenster. Der Gestank der Vergangenheit verschwand mit dem Wind.
‚Mein Name‘, sagte der Altvater.
„Den habe ich mitgebracht. Altvater Godwin sollt Ihr von nun an heißen. Unsterblich werdet Ihr sein und auch ein Gott, wenn das mit der Anbeterei erst einmal so richtig läuft. Und jetzt erfüllt auch Ihr Euer Versprechen und verstärkt meine Magie ein wenig durch die Eure. Ihr habt ja genug davon.“
‚Das will ich gerne tun, tüchtiger, letzter Magier der Menschen‘, sagte Altvater Godwin in einer ganz anderen Stimme als noch Augenblicke zuvor. ‚Ich schenke dir einen Teil meiner Magie, weit mehr als du verdienst, aber ich werde großzügig sein, weil das meine Art ist. Damit du aber auch weiterhin das tust, was du mir versprochen hast, nehme ich als Pfand deinen Namen an mich. Ich belasse ihn in dieser Welt, damit er nicht verloren geht, nehme dir aber die Erinnerung daran. Jetzt wirst auch du ewig leben, wie bisher auf der Grenze zwischen den Reichen von Tod und Leben, aber dort keinen Unsinn mehr anstellen können.“
‚Was hätte ich denn für einen Unsinn anstellen können, urmächtiger Godwin?‘ Meine Stimme in der Welt der Lebenden war nur noch ein Flüstern, das bald verstummen würde.
‚Was weiß ich? Die Magie gebiert viele Möglichkeiten. Du könntest beispielsweise einem zweiten Drachen deine Gunst anbieten. Hinter meinem Rücken. Oder …‘
Mein Verzweiflungsschrei hallte durch gleich zwei Reiche, in dem die einen sich nicht mehr sicher waren, ob sie überhaupt noch etwas gehört hatten, und die anderen in wilder Panik auseinander stoben. Gestalt gewann aber nur ein einziger Satz: ‚Ich verfluche dich.‘ Mehr hatte ich nicht mehr zu sagen. Ich sah das zufriedene Grinsen auf dem Pilgergesicht, denn ein Fluch benötigte Magie, um zu wirken, die Magie ein Ich und das Ich einen Namen. Den Namen aber, den besaß nun er. Und damit auch die Macht über mich.
Wenn du mir also helfen willst, dann bringe mir meinen Namen zurück. Doch wie das möglich sein soll, wissen nur die Götter, und die haben uns Menschen verraten.“