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1. Prolog
ОглавлениеOstmark
Das gleichmäßige, monotone Rumpeln der Räder auf der unebenen Straße hatte mittlerweile etwas Einschläferndes. Hatten sie sich am Anfang ihrer Reise noch durchgeschüttelt gefühlt, wirkte das ständige Gerüttel inzwischen eher beruhigend. Zumindest auf die anderen. Bozena und der fünf Jahre alte Zlata dösten denn auch schon den ganzen Vormittag über.
Miró warf einen kurzen Blick nach hinten in den Wagen, wo sein Sohn friedlich in den Armen seiner Frau lag. Beide hatten die Augen geschlossen und waren von einem Wust aus Decken und Fellen umgeben. Die neunjährige Dobrina saß neben ihm auf dem Bock des Wagens und war ebenfalls in eine dicke Decke eingewickelt. Seine Tochter war wie meist zu energiegeladen, um schläfrig zu werden. Sie kompensierte das Unvermögen, in der Gegend herumzurennen und Schabernack zu treiben auf ihre Weise. Mal mit leise summenden Tagträumereien, mal mit aufmerksamem Studium der völlig trostlosen Landschaft. Dabei spielte sie mit ihren langen, gedrehten Goldlocken, von denen niemand genau wusste, woher die Kleine sie hatte. Alle anderen in der Familie hatten dunkles Haar, wie es für die Menschen der äußeren Ostmark üblich war. Trotz der engen Verbundenheit zu seinem Weib wären Miró vermutlich irgendwann ob dieser Haare stille Zweifel gekommen. Dobrina hatte jedoch neben den Augen und der Gesichtsform ihrer Mutter zum Glück auch unverwechselbar seine Nase und seinen Mund. Überhaupt hatte es nie Misstöne in ihrer Familie gegeben. Bis zum Begin dieses Jahres waren sie, obwohl bitterarm, auf ihre bescheidene Art und Weise glücklich gewesen auf ihrem kleinen Hof in den Grenzlanden.
Jetzt fand Miró ebenso wenig Ruhe wie seine Tochter. Sein Grund war allerdings kein Überschuss an jugendlicher Energie, sondern tiefe, zehrende Sorge um die Zukunft. Dabei hatte er eine ganze Reihe von Dingen, um die er sich den Kopf zerbrechen konnte. Zu allererst war da das Hier und Jetzt. Die unebene, streckenweise kaum noch existente Straße, über die der von zwei altersschwachen Ochsen gezogene Wagen rumpelte, auf dem sich alles befand, was sie besaßen. Er betete im Stillen ständig, das die alten Achsen und Räder hielten, denn weder hatte er Ersatzteile, noch wäre er allein in der Lage gewesen, das Fahrzeug zu reparieren.
Die Tatsache, dass sie überhaupt vorankamen, verdankten sie einer weiteren Gefahr für ihr Leben, nämlich dem bereits regelmäßig einsetzenden Nachtfrost. Allein dem durch die Kälte hartgefrorenen Boden war es zu verdanken, dass die Ochsen nicht bis zum Bauch und der Wagen bis zur Achse im Schlamm versanken. Auf der anderen Seite stellte eben jene Kälte im Moment zugleich die größte Gefahr für das Leben der kleinen Familie dar. Wenn ihnen hier draußen der Wagen kaputtging, würden sie jämmerlich erfrieren. Noch blieb es bei Nachtfrösten, während sich die Temperaturen am Tage knapp überhalb des Gefrierpunktes hielten. Jene waren jedoch in diesem Jahr früh dran, und der Winter würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Das war einer der Gründe, warum Miró so nervtötend langsam fuhr. Nur nichts bei dieser Witterung riskieren, so sehr es ihn auch noch immer drängte, möglichst schnell und weit vom Grenzland wegzukommen, das bis vor Kurzem seine Heimat gewesen war.
Nahrung hatten sie immerhin genug auf ihrer Reise. Miró schnaufte leise und schalt sich in Gedanken. Von wegen Reise. Nenn es doch beim Namen, eine Flucht ist es, nichts anderes. Das war es schon, als du von zu Hause aus nach Brosteni aufgebrochen bist. Unwillkürlich lief ihm ein Schauer über den Rücken und er spürte, wie sich sein Körper unter den vielen Schichten Kleidung mit einer Gänsehaut überzog. Allein der Name der Ortschaft, in der er mit seiner Familie gehofft hatte, Zuflucht zu finden, war ihm inzwischen ein Graus.
Sein Blick strich über die Rücken der beiden alten Ochsen, die gemächlich über den gefrorenen Boden hinwegschritten, über die leicht vereisten Felder, durch die sie seit Tagen fuhren. Hier gab es nichts als karges, unebenes Land, dass nur ab und an von kleinen, eine Handvoll Bäume umfassenden Wäldchen unterbrochen wurde. Die Welt war eine trostlose, stumpfe Suppe aus Grau. Den Göttern sein Dank hatte sich der Regen in den letzten Tagen ihrer Reise in Grenzen gehalten. Auch jetzt war es bereits bitterkalt, und der Wind blies wie kleine Messer in jede nicht geschützte Stelle der Haut, aber es fiel nur vereinzelter, leichter Nieselregen.
Bis vor einigen Monaten waren sie mit dem Wenigen, das sie hatten, zufrieden gewesen. Miró gehörte eines der siebzehn bescheidenen Gehöfte, die in ihrer Gesamtheit das kleine Dörfchen Frasin bildeten. Es lag nur fünf Tagesreisen von dem Beginn der östlichen Tundra entfernt, weit draußen in den Grenzlanden des Königreiches. Miró wusste, dass sie sich in einem Königreich befanden. Wie der König hieß, wusste er nicht, und es war ihm auch herzlich gleichgültig. Sie lebten ein Leben in Armut, aber sie hatten einander und die harte Arbeit war erträglich, weil es immer gerade so dazu reichte, dass sie nicht hungern mussten. Miró wusste, dass das keine Selbstverständlichkeit war.
Seine Großeltern waren in der Hungersnot nach dem Einbruch des Grau gestorben und sein Vater hatte die Erinnerung an sie und die schreckliche Zeit damals mit seinen Geschichten am Leben erhalten. Sie kamen zurecht, sie litten keinen Hunger und vor allem waren die Kinder gesund und kräftig. So ging es allen Familien in Frasin, denn auch wenn die Dorfgemeinschaft im Grunde nur aus verstreuten Gehöften bestand, hatte man doch einen Dorfplatz und ein Gemeindehaus, in dem man sich regelmäßig traf und besprach. Man half sich gegenseitig und rang dem harten Land so das Nötigste ab, um zu überleben. Daran hatte sich auch nichts geändert, als man die ersten Hühner hatte töten müssen. Natürlich schlachtete man des Öfteren Hühner. Diese hatte man allerdings verbrannt, was unter normalen Umständen als unverzeihliche Verschwendung gegolten hätte. Sie mochten einfältige Menschen sein, aber keiner von ihnen wäre so dumm gewesen, das Fleisch dieser verwachsenen Tiere zu essen.
Das alles hatte im Frühjahr 825 angefangen, wenn Miró sich recht erinnerte. Niemand hatte eine derartige Krankheit je beim Federvieh gesehen und die Besorgnis war groß gewesen. Man hatte sofort Tiere untereinander getauscht und ein paar neue Ställe gebaut, um nicht von einem Brutplatz abhängig zu sein. Von da an war es immer wieder vorgekommen, dass ganze Gelege Küken hervorgebracht hatte, die man sofort getötet und verbrannt hatte. Die Vorfälle wurden bald zur Gewohnheit und man nahm sie hin, wie man es in diesen harten Landen gewohnt war, Dinge hinzunehmen. Man ertrug sie und arbeitete noch ein wenig härter.
Im späten Herbst 825 hatte man dann auf dem Hof vom alten Krasiemir die erste Ziege getötet. Sie hatte merkwürdig verformte Hinterläufe und einen schiefen Brustkorb, am übelsten aber war die Geschwulst auf ihrer Stirn, gleich oberhalb der Augen. Es sah aus, als würde dem armen Tier ein drittes, entzündetes Horn wachsen. Ziegen waren schlimmer als Hühner. Ziegen gab es nicht so viele, sie wuchsen nicht so schnell wie Federvieh und ihr Fleisch und ihre Milch war kostbar. Als das Frühjahr 826 anbrach, waren schon die Hälfte der Ziegen und fast ein Drittel der Hühner tot. Manche behaupteten, dass sie die Tiere am Abend gesund und normal im Stall einschlossen und sie am nächsten Morgen mit diesen widerlichen Verwachsungen vorfanden und erschlagen und verbrennen mussten.
Der Boden im Grenzland gab nicht viel her, und das Überleben der Menschen hing zum größten Teil von der spärlichen Viehzucht ab. Hühner und Ziegen, besonders wohlhabende brachten es sogar fertig, sich ein paar Schafe oder gar Schweine zu halten. Solche Wohlhabenden gab es in Frasin nicht. Als im Sommer 826 die letzte Ziege verbrannt worden war, bekamen die Menschen ernsthaft Angst vor einer Hungersnot, aber da begann auch schon das Schlimmere. Der alte Krasiemir, der den am weitesten vom Dorfplatz abgelegenen Hof bewirtschaftete, wurde im Juni zum letzten Mal gesehen. Von ihm, seiner Frau und den beiden geistig etwas zurückgebliebenen Söhnen fand man nie wieder eine Spur. Im August verschwand der lange Milenko mitsamt seiner Sippschaft. Den ganzen Herbst und Winter über verbrachten die meisten Familien in Angst und Sorge.
Als der Schnee und das Eis vor dem kurzen Frühling zurückwichen und sie im Frühjahr die große Versammlung in der Halle abhielten, bemerkten sie, wie viele von ihnen fehlten. Sie machten sich auf und klapperten die Höfe einem nach dem anderen gemeinsam ab. Dabei stellten sie fest, dass von den siebzehn Gehöften von Frasin nur noch acht bewohnt waren. Alle anderen erwiesen sich als verwaist. Man fand keinen der Bürger und auch kein einziges Tier mehr. Die Ochsen, von denen sich jeder Hof je nach Wohlstand zwei bis sechs Paar hielt, waren ebenfalls verschwunden. Ziegen gab es ja nicht mehr, und ein Pferd hatte hier noch nie jemand besessen. Die sah man bestenfalls, wenn mal eine Patrouille der Tempelritter vorbeikam, was hier draußen vielleicht alle fünf Jahre einmal geschah.
Von da an war nichts mehr wie zuvor. Verzweiflung und Angst wandelten sich allmählich in Misstrauen und Feindseligkeit. Miró glaubte zu verstehen, dass viele der Menschen vor Angst ganz einfach langsam aber sicher verrückt wurden. Es gab keine Versammlungen mehr und man half sich auch nicht mehr gegenseitig. Im Juni verschwand der einarmige Droblio mitsamt seiner Familie und eine Woche später fand man den ältesten Sohn des nächstgelegenen Hofes auf einem nahen Feld. An seinem Tod war nichts Geheimnisvolles. Es war offensichtlich gewesen, dass ihm jemand erst eine Mistgabel in den Rücken gestochen und dann den Schädel zu Brei geschlagen hatte.
An dem Tag hatte Miró beschlossen, seinen Hof aufzugeben. Er entschloss sich, so schnell wie möglich wegzugehen, solange noch Zeit dazu war. Um seine Fantasie war es nicht sonderlich gut bestellt, aber er war nicht dumm. Er konnte sich ohne weiteres ausmalen, wie die letzten Tage von Frasin aussehen mochten, und das hatte er vor, sich und seiner Familie zu ersparen. Außerdem war er selbst von abergläubischer Angst zerfressen. Was auch immer all die Menschen und Tiere holte, konnte nicht natürlichen Ursprungs sein. Er hatte sich niemals vorstellen können, den Besitz zu verlassen, der sich seit Generationen vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde. Es war ein kümmerliches Stück Land, aber es hatte immer ausgereicht, seinen Vorfahren ein anständiges, wenn auch von Armut bestimmtes, Leben zu ermöglichen. Wie leicht ihm die Entscheidung letztendlich fiel, war ein deutliches Zeichen seiner Verzweiflung.
Sie hatten ihren größten Wagen mit allem vollgepackt, das irgendwie von Wert war. Viel war es nicht gewesen, aber zumindest waren die letzten beiden Ernten verhältnismäßig reichlich ausgefallen, und sie hatten einen beruhigenden Vorrat an Nahrung zur Verfügung. Es hatte ja auch nur zu dem einige Tagesreisen entfernten Dorf Brosteni gehen sollen, und nicht bis zur nächsten Ordensburg der Tempelritter, die jetzt ihr Ziel darstellte. In dem kleinen Nachbarort lebte Bozenas Familie, oder vielmehr das, was davon noch übrig war. Die Eltern seiner Frau waren gestorben, als sie selbst noch ein Kind war, und auch sonst war ihre Sippe nicht gerade vom Schicksal verwöhnt worden. Immerhin war es ihrem Onkel nach dem Tod seiner Frau gelungen, mit den beiden Söhnen den bescheidenen Hof zu halten, den sie am Rande des Ortes besaßen. Dieses Gehöft sollte ursprünglich die Zufluchtsstätte, und mit etwas Glück die neue Heimat, ihrer Familie werden. Sie hatten die beiden Ochsen in den frühen Morgenstunden angespannt und waren lange vor Tagesanbruch aufgebrochen.
Die Straßen in dieser Gegend waren, um es milde auszudrücken, in einem erbärmlichen Zustand. Das waren sie schon zu den Zeiten vor dem Grau gewesen, obwohl da noch vereinzelt Kleinhandel betrieben worden war. Inzwischen war es im Grunde gleichgültig, zu welcher Jahreszeit man reiste. Jede Fahrt war eine kleine Katastrophe. Sie brauchten vier Tage, bis sie das Dorf erreichten und jedes Nachtlager war ein Alptraum aus Kälte und Dunkelheit. Trotzdem bestand Miró darauf, dass sie regelmäßig rasteten, anstatt der Bitte von Bozena nachzugeben und den Wagen mit ihr abwechselnd und ohne eine Pause durchfahren zu lassen. Sie fürchtete sich vor der Dunkelheit, dem Kältetod und eventuell herumstreifenden Wölfen. Er aber sorgte sich um das Leben seiner Ochsen, denn wenn die zusammenbrachen, war ihnen der Tod so gut wie sicher. Da er sich durchsetzte, waren die Tiere bei ihrer Ankunft in Brosteni noch bei guter Gesundheit, was sich als wahrer Segen herausstellte.
Sie erreichten den Ortsrand am frühen Mittag. Der Himmel war verhangen und aus dem stahlgrauen, zerwühlten Meer aus Wolken fiel feiner Regen. An diesem Tag war die Kälte schon beinahe winterlich, aber durch den fehlenden Wind besser zu ertragen als an den vorhergegangenen. Im Stillen hatte Miró befürchtet, die Dorfgemeinschaft hier in einer ähnlichen Verfassung vorzufinden, wie die in Frasin. Angespannt, verängstigt und gefährlich misstrauisch. Zunächst war er erleichtert darüber, dass alles so ruhig war. Es schien, dass sich rein gar nichts seit seinem letzten Besuch vor fast zwei Jahren verändert hatte. Noch immer lag der große Dorfplatz still und von einem guten Dutzend alter Kiefern gesäumt im Zentrum der zehn Gehöfte, die den Kern des Ortes ausmachten. Weiter draußen befanden sich über zwanzig kleinere Höfe, zu denen auch der von Bozenas Familie gehörte. Sie waren kreisförmig um den Platz verteilt, in dessen Mitte sich eine niedrige aber geräumige Halle befand, die sowohl zur Versammlung der Bewohner, wie auch als Marktplatz diente. Oder vielmehr gedient hatte.
Die Erleichterung über die ruhige und unaufgeregte Atmosphäre schlug bald in Unglauben und schließlich in Schrecken und Verzweiflung um. Sie suchten den ganzen Tag über nach einer lebenden Seele, verbrachten letztendlich eine grauenvolle Nacht in der verwaisten Halle und brachen am nächsten Morgen auf, sobald sie wieder die Straße erkennen konnten. In Brosteni gab es nichts mehr für sie. Für keinen Menschen und kein Tier, wie es schien. Jeder einzelne Hof war auf die gleiche unheilverkündende Art und Weise verlassen, wie es in ihrem Heimatdorf der Fall war. Mensch und Tier waren ohne eine Spur verschwunden, alles andere war noch da, unberührt und verwaist. Wagen, Werkzeuge, Kleidung und die Vorräte, die reichlich genug waren, um die Bewohner über den Winter zu bringen.
Während Frasin noch dabei war, seinen letzten Atem auszuhauchen, war Brosteni bereits ein Geisterort. Sie hatten überlegt, sich weiteren Proviant aus den herrenlosen Gebäuden zu holen, es dann aber sein lassen. Wer mochte wissen, was hier vor sich ging, oder welcher Fluch auf den Dingen lag. Am Ende brachen sie auf, ohne auch nur Decken oder Brennstoff aus dem Dorf mitzunehmen. Es schien so, als wäre dieser Ort schon länger oder stärker befleckt, als der, vor dem sie flohen. Und jetzt war es offenkundig eine Flucht, denn im Grunde hatten sie nichts mehr, wohin sie reisen konnten.
Nachdem sie ein gutes Stück Weg zwischen sich und den unheimlichen Kadaver eines Dorfes gebracht hatten, beschloss Miró schließlich, den Weg nach Westen einzuschlagen. Die nächsten beiden Ortschaften waren Solca im Südwesten und Pancota im Norden, aber er suchte und fand die ehemalige Handelsstraße, auf der sie sich jetzt seit einigen Stunden befanden. Beide Siedlungen waren je nach Witterung gute zwei Wochen weit entfernt und damit viel Näher als sein jetziges Ziel. Doch zum einen kannten sie dort niemanden, und zum anderen hatte er Angst, sie ebenso tot und leer vorzufinden wie Brosteni. Und wie Frasin vermutlich inzwischen war oder es in Kürze sein würde. Er würde der verfallenen alten Straße, oder dem, was von ihr übrig war, folgen und das Beste hoffen.
So kurz vor dem Winter bestand kaum die Gefahr, auf Wegelagerer zu treffen. Das lag zum einen daran, dass es einfach zu kalt war, um längere Zeit im Freien zu überleben, hatte aber auch den Grund, dass Überfälle zu dieser Jahreszeit wenig aussichtsreich waren. Es war kaum jemand dumm genug, sich freiwillig dem tödlichen Frost auszusetzen, welcher seine Krallen die dunklen Monate über in die Grenzlande schlug. Die einzige Ausnahme mochten Expeditionen der Templer bilden, und an die wagte sich kein noch so verzweifelter Strauchdieb heran.
Die Straße, auf der sie sich nun befanden, führte von den äußeren Grenzlanden geradewegs gen Westen und würde sie irgendwann zum nächstgelegenen Templerstützpunkt bringen. Miró hatte mit dem Transport der jährlichen Abgaben des Dorfes nichts zu schaffen gehabt, das hatte stets der lange Milenko erledigt. Daher war er selbst nie dort gewesen. Weit von der Straße entfernt konnte sich die kleine Ordensburg jedoch nicht befinden. Und selbst wenn sie daran vorbeifahren sollten, würde die Straße sie irgendwann in eine größere Ortschaft bringen. Auf jeden Fall aber, und das war das Einzige, was wirklich zählte, weit fort von dem Unheimlichen, das nach und nach alle Grenzorte in Geisterdörfer verwandelte.
»Papa, guckt mal, da läuft jemand«, schreckte ihn die glockenhelle Stimme von Dobrina aus seinen Gedanken. Er folgte dem ausgestreckten Finger des Mädchens die Straße entlang und schüttelte den Kopf. Er wollte sie gerade schelten, als er weit vorne doch einen kleinen Umriss erkannte. Am rechten Straßenrand schien sich wirklich etwas zu bewegen. Zu klein für einen Reiter allerdings, und welcher Wahnsinnige würde sich um diese Jahrszeit zu Fuß auf den Weg machen?
»Ich sehe es, sei jetzt bitte still Kind, wir müssen vorsichtig sein«, sagte er leise.
Zu seinem Erstaunen hielt die Kleine tatsächlich den Mund. Kein Schwall von Fragen warum und weshalb, wie sonst von ihr zu erwarten war. Er warf ihr aus dem Augenwinkel einen Blick zu und sah, dass sie den Blick wie hypnotisiert auf die Gestalt geheftet hatte, die dort vorne auf der Straße war. Mit ihrer gerunzelten Stirn und den ineinandergelegten Händen wirkten sie weniger besorgt oder gar ängstlich, als neugierig und konzentriert. Angst war ohnehin etwas, das Dobrina nicht zu kennen schien. Bis jetzt wenigstens noch nicht.
Er schaute wieder nach vorne und ließ die Ochsen weiterhin ihr gemächliches Tempo halten. So näherten sie sich der Gestalt nur langsam. Die Umrisse des Fremden verschwammen zunächst in dem dunstigen Grau, aber Miró erkannte bald, dass es sich in der Tat um einen Mann handeln musste. Er war zu groß für eine Frau und selbst auf diese Entfernung konnte man erkennen, dass seine Schultern auffällig breit waren. Außerdem schien er Rüstzeug zu tragen.
Dafür, dass er sich zu Fuß und vermutlich schon eine ganze Weile über die Straße schleppt, ist er ziemlich schnell, dachte Miró bei sich. Es mochte sich um einen Reiter handeln, der kürzlich sein Pferd verloren hatte. Sie hatten keinen Kadaver am Wegesrand gesehen, waren aber auch von der schmalen Straße aus, die nach Brosteni führte, auf die alte Handelsstraße eingebogen. Der ehemalige Handelsweg verlief gerade nach Osten weiter und löste sich dann kurz vor der Grenze langsam in Wohlgefallen auf. Früher hatte er zum Handeln mit den friedlich sesshaft gewordenen Stämmen der Goyaren gedient, aber diese Zeiten waren schon vor dem Grau lange vorbei gewesen. Durchaus möglich, dass er Fremde sein Pferd irgendwo im Osten verloren hatte und nun versuchte, sich zu Fuß in Sicherheit zu bringen. Es musste schrecklich sein, bei den inzwischen regelmäßigen Nachtfrösten zu Fuß zu reisen. Das galt umso mehr, wenn man sich in der Gegend nicht auskannte. Aber wer um alles in der Welt würde sich überhaupt um diese Jahreszeit so weit im Osten herumtreiben wollen?
Miró sah nach einer Weile, dass der Mann sich tatsächlich mehr über den Boden schleppte, als dass er marschierte. Er war schnell, aber er humpelte stark, und als er näher kam erkannte er, dass es sich mehr um ein kontrolliertes Fallen als um einen raschen Gang handelte. Sie waren noch gute zweihundert Schritte hinter ihm, als er sie bemerkte, stehenblieb und sich langsam umdrehte. Ein Gefühl der Übelkeit fuhr Miró in den Magen, so sehr machte ihm die nagende Angst zu schaffen. Der Fremde musste mindestens einen Kopf größer sein als er selbst. Ob verletzt und erschöpft oder nicht, war er gerüstet und bewaffnet. Man konnte deutlich ein langes Schwert erkennen.
Wenig später erkannte Miró auch die Rüstung, und seine Angst wandelte sich in eine vage Mischung aus Besorgnis und Hoffnung. Zuerst hatte er mit wachsendem Unglauben angenommen, dass der Fremde sich in voller Rüstung dahinschleppte, aber dem war nicht so. Er trug Leder und Wolle und darüber ein offenbar ärmelloses, kurzes Kettenhemd. Nur die hohen Plattenstiefel und die Stulpenhandschuhe waren gepanzert. Unnötig schwer, aber vermutlich gefüttert. Was war dem Kerl bloß passiert? Überhaupt sah der Mann aus, als käme er direkt aus der Hölle. Als sie näherkamen, sah Miró, dass er von altem, getrockneten Blut ebenso besudelt war wie vom Dreck der Straße. Sein langes Haar war nach hinten geklatscht und klebte dunkel verschmiert an seinen Schultern. Trotz des furchtbaren Äußeren erkannte er die Rüstungsteile des Mannes. Er wusste nichts von Rittern oder Heraldiken, aber selbst ein einfacher Bauer des Grenzlandes kannte die Templer.
Jener dort musste zu ihnen gehören. Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt oder war überfallen worden. Auf jeden Fall konnte er nur das gleiche Ziel haben wie Miró und seine Familie, nämlich die nächste Ordensburg. Obwohl er noch immer ein ungutes Gefühl beim Anblick des völlig zerschlagenen Mannes hatte, war er doch erleichtert. Wenn sie dem Ordensbruder halfen, würde man ihnen zumindest für eine Zeit lang Unterschlupf gewähren, da war er ganz sicher. Außerdem würden sie die Burg so nicht verpassen können. Als er das Gesicht des Tempelritters erkennen konnte, verließ für einen Moment beinahe der Mut. Es war völlig verdreckt und wirkte ausgemergelt. Offenbar litt der Mann bereits seit einer ganzen Weile Hunger. Von den Gesichtszügen war unter all dem Schmutz kaum etwas zu erkennen, aber die Augen leuchteten so blau und kalt wie ein Bergsee.
Guter Gott, der ist doch nicht erst seit ein paar Tagen unterwegs, durchfuhr es ihn. Einen Wimpernschlag lang war er kurz davor, den Wagen anzuhalten, zu wenden und so schnell die Ochsen laufen konnten in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen. Doch dann hob der abgerissene Fremde die Hand und winkte ihnen langsam zu. Mit einem tiefen Seufzen erwiderte Miró das Winken. Dobrina tat neben ihm das Gleiche und lächelte dem Mann zu.
So war es also in der Hölle. Vermutlich würde es ihm noch zum Vorteil gereichen, diese Erfahrung gemacht zu haben, wenn er sie überlebte. Und bei Gott, den es nicht gab, das hatte er verdammt nochmal vor. Er war dem Feuer und dem Fleischwolf aus Wiedergängern nicht entkommen, um jetzt so kurz vor dem Ziel zu verrecken.
All die Tage, gottverdammte Wochen mussten es inzwischen sein, die er sich durch die endlose Tundra gekämpft hatte, würden nicht umsonst sein. Durften nicht umsonst sein. Nachdem letzten, verzweifelten Schlachten an jenem verfluchten Ort, an dem seine Expedition aufgerieben worden war, hatte es nur noch zehn Ritterbrüder gegeben. Und ihn selbst. Von den anderen waren vier schwer verwundet gewesen und in der Nacht nach der Schlacht gestorben. Einer war völlig wahnsinnig geworden und war in der Dunkelheit schreiend und weinend in die Tundra geirrt. Sie hatten nie wieder etwas von ihm gesehen. Ein weiterer schnitt sich in der dritten Nacht die Kehle durch.
Letztendlich machten sie sich zu fünft auf die bittere Heimreise. Da hatten sie noch die Pferde, aber sonst auch nichts. Der Tross war in den Flammen vergangen, ebenso wie beinahe vierhundert Männer und zahllose dieser grobschlächtigen Wilden. Ein Tag in der Hölle des Todes und des Feuers, dem eine gefühlte Ewigkeit in der Hölle der Kälte und Trostlosigkeit folgte. Und bald auch der des Hungers. Ihr Proviant war verbrannt und die Tundra bot kaum genug für ihre Pferde. Ab und an sahen sie ein paar scheue Kaninchen, aber niemand hatte einen Bogen oder eine Armbrust retten können. Doch die Natur tat ihren Dienst, wie sie es immer tat.
Das zurückliegende Grauen hatte die Männer zutiefst traumatisiert und verstört, jedenfalls galt das für die anderen. Der Hunger zehrte an ihren physischen Kräften und die Kälte tat ihr Übriges. Als der Erste von ihnen starb, ordnete er an das Pferd zu schlachten und ließ das Fleisch aufteilen. Sie konnten es nicht konservieren, aber es war auch wahrlich niemand mehr sonderlich wählerisch, was Nahrung anging. Wasser aus Pfützen und kleinen Bächen, mehr oder weniger frisches Pferdefleisch, Wurzeln und vereinzelte Beeren, das war ihr neuer Proviant auf ihrer Reise durch die Hölle. Sie aßen nach und nach die Pferde und begruben ihre Brüder.
Nun, jedenfalls taten sie das, bis sie nur noch zu zweit waren. Irgendwann wurde der Hunger unerträglich und er tötete den anderen in der Nacht. Dieses Mal war er nicht so verschwenderisch, den Mann zu beerdigen. Fleisch war Fleisch. Dadurch lebte das Pferd eine weitere Woche, bevor er es schlachtete. Sein eigenes Pferd zu töten widerstrebte ihm so sehr, dass er fast noch einmal drei Wochen durchhielt. Oder vielleicht kam es ihm auch nur so lange vor. Zeitgefühl schwindet schnell. Dann brach sich das erschöpfte Tier ein Bein und nahm ihm die Entscheidung ab.
Wie lange war das jetzt her? Tage? Wochen? Er wusste es nicht. Seit einiger Zeit schleppte er sich nur noch instinktiv nach vorne, solange er konnte. Dann rollte er sich zusammen und ruhte, suchte sich irgendetwas, um darauf herumzukauen, und wenn es nur Grasbüschel waren, und ging weiter, sobald er die Kraft dazu fand. Kapitulation war keine Option. Niemals.
Er hörte das leise Rumpeln des Wagens hinter sich und weigerte sich eine ganze Weile, darauf zu reagieren. Er hatte in letzter Zeit des Öfteren Dinge wahrgenommen, die nicht da waren. Geräusche, Gerüche. Hufschläge, die nicht da waren, Stimmen, die Geistern gehörten. Das Stöhnen der Wiedergänger, das Knistern, wie das Feuer ihr Fleisch verbrannte, die Schreie der sterbenden Brüder. Der Geruch von verwesenden Leichen und gebratenem Fleisch. Und nicht zuletzt das grauenvolle Flüstern des Nekromanten in seinem Kopf, ein Nachhall dessen, was er wahrgenommen hatte, als die Welle unheiliger Magie durch ihn hindurchgefahren war. Bevor die Leichen der Gefallen sich erhoben und seine Männer abgeschlachtet hatten.
Doch das Rumpeln blieb hartnäckig und seine Kraft war am Ende, so hielt er schließlich seufzend an. Er drehte sich langsam um und erstarrte. Es war natürlich möglich, dass ihn seine Augen trogen, aber das Bild war im Grunde zu unspektakulär, um eine Sinnestäuschung zu sein. Ein schlichter Zweispänner, gezogen von zwei Ochsen, die offenbar in keinem viel besseren Zustand waren als er selbst. Bauern, einfacher Pöbel aus den Grenzlanden. Was auch immer sie hinausgetrieben hatte, sie fuhren in seine Richtung. Und dort gab es nichts außer der Ordensburg. Er musterte die Gestalten auf dem Fahrzeug. Der Mann war in mittleren Jahren, ein kleiner, kräftiger Kerl mit einer hässlichen Visage und schütterem Haar. Hinten im Wagen sein Weib und ein kleineres Gör, wie es aussah.
Sein Blick wurde magisch von dem kleinen, goldgelockten Engel angezogen, der neben ihm auf dem Bock saß. Er spürte, wie neue Kraft in seine Glieder floss, und merkte zugleich, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Selbst auf diese Entfernung sah das Mädchen bezaubernd aus.
Langsam und mit großem Kraftaufwand hob Baldric von Dunstan den rechten Arm und winkte den Reisenden bedächtig entgegen. Der Alte erwiderte seinen Gruß und mit einem dünnen Lächeln sah Baldric verzückt, dass auch Goldlocke ihm winkte. Vielleicht gab es doch einen Gott.
Ein erschreckender Gedanke.