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2. Kapitel 1

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Krakesten

Der weitläufige Obstgarten von Burg Krakesten schimmerte noch immer in goldener und roter Pracht. Selbst das düstere, diesige Grau dieses frühen Nachmittages vermochte dem Farbenspiel kaum etwas von seinem Zauber zu nehmen. Der Herbst war in diesem Jahr früh hereingebrochen, ungewöhnlich kalt, und machte den Eindruck, nicht lange bleiben zu wollen. Fast schien es, als ob er den nahenden Winter fürchtete. Gut die Hälfte des Blattwerkes hing noch an den allmählich kahlwerdenden Ästen der zahllosen Apfel- und Kirschbäume. Die gefallenen Blätter verwandelten die nähere Umgebung der alten Festung derer von Krakebekk in einen See aus Winterfeuer.

Wenn doch alles so prachtvoll sterben würde, dachte Ragnar Oelskegg grimmig. Aber das tat es nicht, und der Anblick der Bäume war das einzig Schöne, das man derzeit in dem Jarltum zu Gesicht bekam. Bei seiner Ankunft aus Krakeborg, der nahe gelegenen Hauptstadt, hatten ihn die Köpfe auf den Zinnen des Tores der Burg nur zu deutlich daran erinnert, wie es um seine Heimat stand. Hier, im großen Garten, war er wenige Augenblicke zuvor in der Nähe des kleinen Friedhofes vorbeigekommen, in dem seit einigen Wochen die junge Herrin in der kalten Erde lag. Ebenfalls nicht auf so liebliche Art und Weise verschieden, wie es die Natur gerade tat. Mit der Klinge eines Attentäters aus dem Leben geschnitten, kaum dass sie ihrer Tochter das Leben geschenkt hatte. Damit war das Unheil über Krakebekk hereingebrochen, das sich jetzt in Form von gut zwei Dutzend abgeschlagener Köpfe manifestierte, die auf den Zinnen des Haupttores von Burg Krakesten thronten. Seit der dunklen Zeit der Regentschaft von Nantes dem Tier hatte es so etwas nicht mehr gegeben.

Ragnar war seit über fünfzehn Jahren der Majordomus der Festung und hatte in Abwesenheit des Jarls ebenso lange als dessen Stellvertreter gedient. Meist war das nur während der alljährlichen Besuche des Herrn auf dem Festland am Hof des Königs nötig gewesen. Diese Zeit hatte ein Ende haben sollen, da der Gemahlin des Jarls diese Aufgabe zukünftig zufiel. Eine Rolle, die sie in diesem einen Jahr auch vortrefflich ausgefüllt hatte. Doch dann war sie vor wenigen Wochen dem Attentat zum Opfer gefallen. Ragnar hatte die Entwicklung zuvor durchaus willkommen geheißen. Er widmete sich seiner Tätigkeit als Majordomus der Heimstatt der Familie von Krakebekk mit Freude und Hingabe, aber die Abwesenheit des Jarls war ihm immer unangenehm gewesen. Als zu groß empfand er während dieser Zeit die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete. Er war kein Führer und Regent, er war ein einfacher Mann, der gut organisieren konnte und über einen außergewöhnlich schnellen und scharfen Verstand verfügte. Sein Gedächtnis war außerordentlich ausgeprägt, sein Ehrgeiz dagegen unterdurchschnittlich entwickelt. Gleiches galt für seine Eitelkeit. Das machte ihn zum perfekten Vasallen und Diener eines Herrn, eine Tatsache, derer er sich wohlbewusst war, und die er nicht als Schwäche betrachtete.

Er stammte aus einem der ältesten Geschlechter Huskarlar derer von Krakebekk. Als junger Mann hatte er noch unter Waffen gedient, aber in der zweiten Hälfte seines Lebens bevorzugte er die Wolle vor dem Leder und der Kette. Das Schwert an seiner Hüfte war mittlerweile mehr Schmuck als Werkzeug. In früheren Jahren hatte er sich den Respekt seiner Zeitgenossen mit der Waffe am Wall erkämpft, danach mit Zuverlässigkeit und ebenso tiefem wie breitem Wissen um die Belange des Jarltums und Norselunds. Dieser Winter würde nun sein Dreiundfünfzigster werden, und er konnte sich nicht daran erinnern, je einen so düsteren erlebt zu haben. Und damit dachte er nicht an den beinahe schieferfarbenen Himmel und die biestige Kälte, die schon so früh im Jahr herrschte. Vielmehr hatte er die blutigen Köpfe vor Augen, welche die Besucher von Burg Krakesten begrüßten. An die Köpfe und das, wofür sie standen, an die schreckliche Zukunft, die sie versprachen.

In einiger Entfernung erkannte er einen der Nebeneingänge zur Burganlage und drosselte seinen Schritt. Er fuhr sich mit den Händen durch das schütter werdende, graublonde Haar und strich es nach hinten, wo es ihm über die Schultern des gefütterten Mantels fiel. Er sammelte sich innerlich und versuchte sich zu entspannen. Die letzte Zeit war für ihn in vielerlei Hinsicht belastend. Er führte seit der Beerdigung des jungen Weibes seines Herrn das Jarltum praktisch allein. Der Jarl war kurz nach der Beisetzung völlig außer sich geraten, hatte die Wahnsinnstat begangen, die mit den Köpfen auf den Zinnen geendet hatte und sich seitdem in einem Flügel der Burg verschanzt. Es schien niemanden mehr zu kümmern, was aus dem Jarltum wurde. Die beiden befreundeten Jarle waren ahnungslos und, wie er wohl wusste, selbst mit dem Druck belastet, den die Delegationen der Kirche ausübten.

Auf dem Jarl av Falksten lastete außerdem doppelte Gram. Erst war seine Schwiegertochter gestorben, dann hatte er die Kunde der Ermordung seiner Tochter bekommen. Er war gerade noch rechtzeitig zur Beisetzung da gewesen und am nächsten Tag gleich wieder abgereist. Sein Sohn war aufgrund des Todes der eigenen Gattin noch immer wie gelähmt und der Gefahr, die durch die Anwesenheit der Kirche herrschte, allein kaum gewachsen. Wie sich gezeigt hatte, galt das auch für Ragnars Herren, den jungen Bjorn av Krakebekk. Der hatte sich freilich mit einem Schlag von jeglichem äußeren Druck befreit. Was der Jarl in seinen Gemächern jetzt tat, wusste er nicht. Er kam nicht mehr zu ihm durch, und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein kleiner Kreis aus Kriegern unter einem einzelnen Hauptmann riegelte den Jarl vollständig von der Außenwelt ab. Das galt auch für den alten Majordomus selbst. Es war ihm unverständlich, wie der Jarl ausgerechnet diesem mistigen Schwein sein Vertrauen schenken konnte. Olaf Nemmer war ein Huskarlar in den mittleren Dreißigern, ein dreifacher Veteran des Walls und ein respekteinflößender Kämpfer. Er war stark, mutig und entschlossen in der Schlacht. Darüber hinaus war er ein faules, versoffenes Stück Dreck mit dem Charakter einer tollwütigen Ratte.

Mit seiner Brutalität sparte er weder an den Kameraden noch an Unschuldigen, ob Frauen oder Kindern. Seine Gemahlin war vor zehn Jahren jung gestorben und nicht wenige waren davon überzeugt, dass sie unter der Behandlung ihres Mannes einfach aufgegeben hatte. Eigene Kinder hatten sie, den Göttern sei es gedankt, keine gehabt. Von da an lebte Nemmer nur noch für den Dienst, wenn man es so nennen wollte. Ragnar hatte bislang nur herausfinden können, dass er maßgeblich an dem blutigen Abschlachten beteiligt gewesen war, das zu den Köpfen auf den Zinnen geführt hatte. Das passte natürlich ins Bild, und vermutlich verwechselte der verwirrte Geist des Jarls die Freude an sinnloser Gewalt dieses Bastards mit Loyalität.

Wie dem auch war, Olaf Nemmer befehligte jetzt einige Dutzend Männer, darunter Huskarlar und Karls, welche die absolute Macht über die unmittelbare Umgebung des Jarls ausübten. Niemand wurde zu ihm vorgelassen und er verließ den Flügel, in den er sich zurückgezogen hatte, seit Wochen nicht mehr. Er verkroch sich vor der Welt. Dummerweise drehte sich diese Welt jedoch weiter, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Bluttat so weite Wellen schlug, dass ein Sturm losbrach. Ein Sturm, der die meisten Bürger des Jarltums und der gesamten Insel völlig unerwartet treffen würde, wenn nicht bald etwas geschah.

In Krakeborg, wo Ragnar die meiste Zeit seit dem Tod der Herrin verbracht hatte, ahnte kaum jemand etwas von diesen Vorgängen. Man wusste natürlich von der Ermordung der Lady, nahm aber darüber hinaus an, der Herr befände sich in Trauer und habe sich deswegen von der Welt zurückgezogen. Die Angehörigen der Delegation der Kirche vermisste so oder so niemand. Vermutlich ging man davon aus, dass sie sich mit dem Jarl auf der Burg befanden. Was in gewisser, morbider Art und Weise ja auch den Tatsachen entsprach. Ihre Köpfe waren immerhin noch da.

In der Hauptstadt ging das Leben seinen gewohnten Gang, wie auch sonst überall im Jarltum. Ragnar hatte dafür gesorgt, dass alle Informationen bei ihm zusammenliefen. Ganz so, als sei der Herr auf dem Festland. Das war ohne Probleme vonstattengegangen. Zum einen kannten und respektierten ihn alle Verantwortlichen, zum anderen wusste man sich ohnehin nicht anders zu helfen, da der Jarl für niemanden zu sprechen war. Wenn man den Wachen, die ihn abschotteten, Schreiben überreichte, nahmen sie diese lapidar entgegen. Er vermutete, dass sie anschließend in einem Ofen landeten. Ob der Jarl überhaupt noch Interesse an Dingen der Außenwelt hatte oder nicht, vermochte er nicht zu sagen. Es war ebenso gut möglich, dass er sich gleichermaßen im Suff wie ihm Wahnsinn wälzte, oder aber sich vor Scham ob seiner Taten versteckte.

Er könnte sich vor einer Woche in seinem Schlafgemach erhängt haben, und du Narr würdest es nicht wissen, dachte er kopfschüttelnd. Eines war jedenfalls sicher, nämlich das Nemmer und seine Bande mit dem Status quo völlig zufrieden waren. Der Hauptmann hatte nach und nach die übelsten Kerle um sich geschart, die er aufzutreiben vermocht hatte. Inzwischen zählten auch schon einige Karls zu seinem Wachtrupp, die im Grunde nichts auf der Burg zu suchen hatten. Dafür fehlten einige bekannte Gesichter aus den Reihen der Huskarlar. Als Ragnar sich vorsichtig danach erkundigte, brachte er in Erfahrung, dass Nemmer sie in die Hauptstadt abbeordert hatte. Auf die gleiche Weise waren die Karls in die Burg gelangt. Er vermutete, dass es sich um Saufkumpane des Hauptmannes handelte. Er schien seine neu gewonnene Macht leidlich auszunutzen, um sich mit einer Gruppe aus Kriegern zu umgeben, die nur ihm gegenüber loyal waren. Eine eigene kleine Garde von tödlichen Lumpenhunden.

Es gab nichts, was er direkt dagegen tun konnte. Sein eigener Rang war nur vage definiert und zählte bei diesen Männern nichts. Ohne die Unterstützung des Jarls, oder gar gegen seine Anweisungen, konnte er nichts unternehmen. Er handelte im Grunde genommen schon die ganze Zeit über seine Befugnisse, indem er sich überhaupt um alle Belange kümmerte, die man aus reiner Verzweiflung an ihn herantrug. Durch den Tod der Herrin und die Isolation des Jarls von der Außenwelt war ein Machtvakuum entstanden. Der Teil davon, den er ausfüllte, war dazu geeignet, einige Zeit zu überdauern.

Der ständig größere werdende Teil, den Nemmer und seine Bande beanspruchten, vergrößerte nur das Unheil, das durch die Tat des Jarls über ihnen allen dräute. Und diesen Männern schien es völlig egal zu sein, was in einem Monat oder einem Jahr mit ihnen und Norselund geschah. Entweder die Tragweite dessen, was hier passiert war, kümmerte sie nicht, oder sie waren zu dumm, um sie zu verstehen.

In jedem Fall war es an der Zeit zu handeln, so sehr Ragnar die einzige Möglichkeit, die er noch sah, auch wiederstrebte. Er hatte lange mit sich gerungen, vielleicht zu lange. Aber er sah keinen anderen Ausweg mehr. Inzwischen glaubte er auch nicht, dass es überhaupt möglich war, die Lage noch weiter zu verschlimmern, als sie sich in Bälde entwickelt haben würde. Wenn ihn seine Loyalitäten nicht hätten zweifeln lassen, wäre sein Entschluss schon lange vorher gefallen. Das Tagesgeschäft, das an ihm hängenblieb, hatte ihn zusätzlich abgelenkt, doch schließlich hatte er sich zu einer Entscheidung durchgerungen. Jetzt musste er nur noch vorsichtig sein und das Schriftstück, das er vergangene Nacht aufgesetzt hatte, sicher auf den Weg bringen. Vorsicht war dieser Tage auf und um Krakesten selbst für die Menschen eine bittere Notwendigkeit, die ihr ganzes Leben hier verbracht hatten.

Er ließ den Obstgarten hinter sich zurück und betrat er den Seitenflügel der Burg, um sich zielstrebig auf den Weg zur Küche zu machen. Die Gänge waren menschenleer und es herrschte eine ungewöhnliche Ruhe. Von außen wie von innen schien der größte Teil von Krakesten in einer Art unheilvollem Schlaf zu liegen. Vielleicht übertrug er seine düsteren Gedanken auch nur auf seine Umgebung. Von dem Betreten des Gartens bis zum Erreichen der schweren Eisenholztür, die zur Burgküche führte, begegnete er keiner Menschenseele. Auch keiner einzigen Wache. Die neue Garde, wenn man sie denn so nennen wollte, bewachte das Haupttor und riegelte den Westflügel mitsamt dem Jarl hermetisch ab. Der Rest der Festungsanlage schien sie nicht zu interessieren.

Während er die Tür aufdrückte, fragte sich Ragnar, ob sich in seiner Abwesenheit überhaupt noch jemand um so etwas wie eine funktionierende Wacheinteilung gekümmert hatte. Er durchmaß einen fünf Schritte langen, schmalen Gang und stand dann mitten in der großen Burgküche. Es gab noch zwei kleinere, unter anderem auch in dem abgeschotteten Westflügel. Diese hier war jedoch für die Versorgung der gesamten Burg zuständig und das alleinige Reich von Harald Korhonen.

Der gewaltig anzuschauende Koch saß denn auch gerade auf dem massiven Lehnstuhl, der wie ein Thron mittig an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand aufgebaut war. Das Möbelstück stand auf einem kleinen Podest, von dem aus man den vollständigen, zwanzig Schritte durchmessenden Raum überblicken konnte, selbst wenn zwei Dutzend Gehilfen darin arbeiteten. Im Moment waren nur zwei anwesend, junge Burschen, deren Gesichter noch keinen richtigen Bartwuchs aufwiesen. Einer fegte den Boden, der andere putzte einen Kessel, der so groß war, dass sein halber Oberkörper darin verschwand. Korhonen steckte sich den Rest eines Stückes Käse in den Mund, kaute kurz, schluckte und erhob sich von seinem Stuhl. Ragnar trat näher und lächelte unwillkürlich.

Der Koch war nur zwei Jahre jünger als er selbst, war aber weniger gnädig gealtert. Sein Bart, drei Spannen lang und nachlässig geflochten, war bereits eisgrau und zeigte keine Spur mehr von der Flachsfarbe seiner Jugend. Vom Haupthaar war nur noch ein schmaler Haarkranz übrig geblieben, den der Mann in unregelmäßigen Abständen kurzschnitt. Tiefe Falten zogen sich durch seine feisten Züge, und obgleich er einen halben Kopf kleiner war als Ragnar, wog er ohne Zweifel mindestens sechzig Pfund mehr. Er schob eine gewaltige Wampe vor sich her, war aber auch in den Schultern deutlich breiter als der Majordomus und wäre ohne Weiteres als Schmied durchgegangen. Der bullige Mann arbeitete seit fast vierzig Jahren hier, hatte als Bursche angefangen und leitete die Küche von Krakesten seit zwanzig Jahren so resolut wie ein echter Souverän.

»Dachte schon, du bist in der vornehmen Stadt verschollen«, knurrte er und hob dann die Stimme mit einem finsteren Blick zu den beiden Jungen. »Raus mit euch, macht eine Pause, aber seht zu, dass ihr wieder da seid, bevor es Nachmittag wird.«

Während die Gehilfen ohne einen Laut hinaushuschten, reichten sich die beiden ungleichen Männer die Arme. Die Bewegungen des beleibten Kochs waren träge, aber als sie sich gegenüberstanden, sah Ragnar das gewohnte, vitale Funkeln in den blassgrünen Augen des alten Weggefährten. Sie kannten sich seit Kindertagen, waren Freunde geworden und bis heute geblieben. Korhonen stammte im Gegensatz zu Ragnar nicht aus einer Huskarlarfamilie. Er hatte als junger Bursche das Küchenmesser anstatt des Schwertes gewählt, es sich aber nicht nehmen lassen, zumindest eine Saison am Wall zu dienen. In den Tagen seit dem Tod der jungen Lady war der ruppige Koch der Einzige gewesen, in dem Ragnar Rückhalt gefunden hatte.

»War verlockend, sich einfach in der Stadt niederzulassen und so zu tun, als ginge mich die ganze Scheiße hier nichts mehr an«, grinste er müde.

»Als ob. Ausgerechnet du, der nur für seine Arbeit lebt«, gab der Koch zurück. »Lass uns runtergehen.«

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, drehte er sich um und watschelte auf eine beschlagene Tür in einer Ecke der Küche zu.

»Du hast die Jungs doch schon weggeschickt, und da willst du noch mit mir in den Keller?«, erkundigte sich Ragnar, während er dem Freund folgte. Der blieb stumm und öffnete die Tür mit einem der über zwei Dutzend Schlüssel, die in unterschiedlichster Form und Länge an einem eisernen Ring an seinem Gürtel baumelten.

Fast schob er den Majordomus durch die Öffnung und folgte ihm dann, wobei seine Fettrollen beinahe an den Türrahmen stießen. Rasch zog er das Türblatt hinter ihnen zu. Dann drehte er den Schlüssel im Schloss, ließ ihn samt Ring stecken und sie gingen die enge, aus Bruchsteinen gemauerte Treppe hinab. Drei kleine Öllampen erhellten den Gang nur spärlich, eine weitere am Boden der Stufen schaffte es kaum, das Dunkel in dem Kellergewölbe um mehr als einen Schritt weit zu vertreiben. Der Koch entzündete noch eine Lampe, und der Raum wurde von schummrigem, warmem Licht bescheiden ausgeleuchtet. Hier befanden sich Regalreihen voller Vorratssäcke, Kisten stapelten sich mannshoch und Fässer in allen möglichen Größen lagen oder standen herum. Korhonen zog einen Hocker hinter einem Regal hervor und ließ sich mit einem leisen, erleichterten Ächzen darauf sinken. Ragnar schaute sich kurz um, zog sich dann eine Kiste aus grobem Holz heran und nahm vorsichtig auf dem Behälter Platz.

»Ich hatte auf einen Bericht gehofft, über die Zeit in der ich weg war«, meinte Ragnar, »aber ist es schon so schlimm, dass wir uns hier unten verstecken müssen?«

»Ich weiß nur, dass die beschissenen Wände hier mittlerweile Ohren haben«, sagte Korhonen mürrisch. »Und das ich die meinen gerne noch eine Weile behalten würde. Mitsamt dem Kopf, an dem sie angewachsen sind. Es wird jeden Tag ärger mit diesem verdammten Scheißpack und sie werden auch ständig unverschämter.«

»Nemmer und seine Bande? Ich dachte, die treiben sich nur am Eingang und im Westflügel herum.«

»Tun sie auch, jedenfalls der harte Kern, wenn man es so nennen will«, nickte der Koch. »Aber es werden ja immer mehr und so langsam wird es, fürchte ich, wirklich gefährlich. Mach doch mal einen Rundgang, wenn wir hier fertig sind, einen durch die ganze Burg, meine ich. Und dann achte darauf, wie viele von den Wachen du noch kennst. Nemmer und seine Lumpenfreunde verlassen ihre Posten in der Nähe des Jarls nicht mehr, vermutlich aus Angst, dass ihn doch noch jemand zur Vernunft bringt. Das sind vielleicht zwei Dutzend, würde ich sagen. Der Bodensatz aus allen Truppen unter Waffen. Gemeine alte Drecksäcke, wie der lange Sören und solche notorischen Verrückten wie Karl Einauge aus Skogholm. Diese Art Leute halt.«

»Ich dachte, den hat man vor zwei Jahren aufgeknüpft«, sagte Ragnar. »Seit wann ist der denn hier? Und der lange Sören dient doch an der Brücke.«

»Einen Scheiß hat man«, erwiderte Korhonen grimmig, »und Sören ist seit fünf Tagen hier. Den hat Nemmer genauso herholen lassen, wie das andere Gesindel. Der Mann hat hier inzwischen mehr zu sagen, als für irgendjemanden gut wäre. Ihn selbst vermutlich eingeschlossen. Nicht, dass ich einen Dreck auf seinen Hals gebe. Ich habe keine Ahnung was der Jarl überhaupt noch von dem, was hier vor sich geht, mitbekommt. Du hast ja wohl bemerkt, das Nemmer nach und nach die Huskarlar in die Hauptstadt geschickt und mit Karls aus dem ganzen Jarltum ersetzt hat.«

»Sicher. Irgendwelche von seinen Saufkumpanen nehme, ich an. Olaf Nemmer ist ein Scheißkerl, aber er ist nicht dumm. Durch die Macht, die der Jarl ihm gegeben hat, wittert er natürlich Morgenluft. Gib so einem Kerl Befehlsgewalt, und er tut alles, um sie zu behalten.«

»Ganz genau. Nur nimmt das hier langsam wirklich bedrohliche Züge an. Ich weiß von mindestens zwei Männern, von denen ich angenommen habe, dass Nemmer sie in die Stadt geschickt hat, weil sie ihm unbequem waren. Gute Männer, die seit über zehn Jahren in der Wache gedient haben. Nun habe ich aber durch einen alten Bekannten, der eine Taverne im Norden von Krakeborg betreibt, erfahren, dass man sie da seit Monaten nicht mehr gesehen hat. Sie sind verschwunden, einfach so. Ich habe das dumme Gefühl, dass sie auch nie wieder auftauchen werden.«

»Hast du das jemandem gemeldet?«, setzte Ragnar an, beantwortete sich dann aber die Frage selbst. »Nein, natürlich nicht, wem auch.« Er fuhr sich mit einer Hand über die Augen. Verdammt, er war dieser Dinge so müde.

»Eben«, nickte der Koch mit einem dünnen Lächeln. »Ich hätte es dir melden können, aber du hast hier inzwischen auch nicht viel mehr zu melden als ich. Die Einzigen, die uns noch ernst nehmen, sind die Bediensteten. Außer der Bande beim Westflügel habe ich seit Tagen nur ein paar Karls als Wachen gesehen und ich habe nicht ein einziges verdammtes Gesicht erkannt. Mach den Rundgang, Ragnar, das war mein Ernst. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass Olaf Nemmer inzwischen der inoffizielle Kommandant der bewaffneten Kräfte auf Burg Krakesten ist. Der Jarl könnte erschlagen in seinem eigenen Blut verfaulen und keiner von uns würde es merken. Nemmer lässt niemanden zu ihm vor. Ich habe es versucht. Der Jarl will keinen Menschen sehen, das ist alles, was man von denen zu hören bekommt. Sie lassen sich Bier, Wein und gebratenes Fleisch kommen, fressen und saufen wie die Schweine und jagen jeden zum Teufel, der dem Westflügel zu nahe kommt. Und es gibt niemanden mehr, der ihnen in die Quere kommen könnte.«

»Eine verdammte Schande, dass der Jarl einen Lumpen wie Nemmer zu seinem Sprachrohr gemacht hat«, sagte Ragnar düster. »Selbst wenn ich einen Thane herholen würde, hat der auf der Burg des Jarls auch nicht viel zu melden. Das ist eine solche dumme, verfahrene Situation, als ob der Tod der Herrin nicht schlimm genug wäre. Von dem irrsinnigen Massaker, das der Herr angerichtet hat, ganz zu schweigen.«

»Hier herrscht im Moment tatsächlich der Wahnsinn«, stimmte Kohornen ihm zu. »Und das muss aufhören, und zwar bald. Wir gehen alle vor die Hunde, wenn wir keine Lösung finden. Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Das letzte öffentliche Wort des Jarls hat Nemmer die Autorität gegeben, die er jetzt in Anspruch nimmt. Es läuft alles auf eine direkte Konfrontation hinaus. Das Hauptproblem ist einfach, dass der Jarl nach dem, was er mit den verdammten Pfaffen gemacht hat, völlig unberechenbar ist. Der kann inzwischen genauso verrückt sein wie sein götterverdammter Urgroßvater. Ich traue hier niemandem mehr außer dir.«

Ragnar erschauderte bei den Worten des Kochs. Sein götterverdammter Urgroßvater, Nantes das Tier. Wohl der Einzige vor achtzig Jahren in der großen Schlacht gegen den König gefallene Norselunder, der von keiner Seele betrauert worden war.

»Ich verspüre jedenfalls wenig Lust, mich an einem Aufstand zu beteiligen und Nemmer zu entmachten, nur damit mir der Jarl nachher den Kopf abschlagen lässt«, endete Kohornen.

Ragnar schüttelte den Kopf und klopfte dem schwergewichtigen Mann neben sich auf die Schulter. »Das brauchst du auch nicht. Auch ich gehe das Risiko nicht ein. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Aber du hast recht, das hier ist weit genug gegangen. Ich werde uns Hilfe besorgen, so die Götter es zulassen. Ich wollte das nicht, weil es nach Verrat meiner Loyalität gegenüber meinem Herrn riecht, aber ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen. Es geht hier auch um den Fortbestand des Jarltums, wenn nicht gar von ganz Norselund. Weißt du, wie es um die kleine Talida steht? Ist sie immer noch bei ihrem Vater oder inzwischen anderswo untergebracht?«

»Mach dir keine Hoffnungen, die ist immer noch im Westflügel. Birla kümmert sich nach wie vor um sie. Sie lassen sie die Gemächer nicht verlassen, aber ich habe meine Quellen. Sie ist ständig ganz alleine mit der Kleinen, aber man lässt sie in Ruhe. Noch jedenfalls. Was hast du also vor, alter Freund? Ich hoffe doch, du lässt mich nicht im Ungewissen. Diese Sache frisst mir langsam aber sicher meine Nerven kaputt, auch wenn viele behaupten, ich hätte keine. Und um meine Verschwiegenheit musst du dich nicht sorgen, ich weiß sowieso nicht, mit wem ich hier noch reden kann, ohne meinen Hals zu riskieren.«

»An deiner Integrität herrscht kein Zweifel, Dickerchen«, lächelte Ragnar. »Ich werde die anderen beiden Jarle um Hilfe bitten. Wie gesagt, es riecht nach Verrat an Bjorn av Krakebekk, aber es ist keine Lüge, wenn ich behaupte, nicht zu wissen, ob der Jarl überhaupt noch lebt. Wir haben hier unhaltbare Zustände und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand außerhalb der Burg schon weiß, was mit der Delegation der Kirche passiert ist. Bestenfalls wird es Gerüchte in der Stadt geben. Die Jarle müssen davon erfahren. Ich kann nur hoffen, dass sie bei allen eigenen Problemen die Zeit finden, uns zu helfen. Ich kann die Verantwortung für all das nicht übernehmen und sonst ist niemand da.«

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Dann wollte Korhonen wissen: »Willst du einen Boten schicken? Nach Falksten oder Ulfrskógr?«

Ragnar schüttelte den Kopf. »Keinen Boten, zu gefährlich. Ich habe ein Schreiben aufgesetzt. Es wird ein Vogel sein, den ich noch heute losschicke. Ich würde es ebenfalls nach Möglichkeit gerne vermeiden, am Strick zu enden oder meinen Kopf in einem Korb zur letzten Ruhe zu betten. Auch von einem Stück Dreck wie Nemmer und seinen Spießgesellen erschlagen und verscharrt zu werden klingt, wie ich finde, wenig verlockend. Ein Vogel in der Nacht, der so die Götter wollen seinen Weg nach Falksten finden wird. Ich habe hier einen kleinen Verschlag mit ein paar speziellen Tauben für Notfälle. Ulfrskógr ist noch weiter weg, ich will einfach kein unnötiges Risiko eingehen. Wenn ich erledigt bin, ist niemand mehr mit genug Autorität hier, irgendetwas zu unternehmen. Dann könntest Du den Mistkerlen höchstens noch das Bier vergiften.«

»Hab schon drüber nachgedacht. Was hast du denn genau geschrieben?«

»Ich habe ehrlich geschildert, wie die Lage hier aussieht. Was der Jarl getan hat. Und um Hilfe gebeten. Die anderen Jarle waren unserem Herrn und Jarltum immer in Freundschaft verbunden, wir können nur hoffen, dass sich daran nichts ändert. Nemmer kann mir als Majordomus von Krakesten den Zugang zum Jarl abschneiden, bei einem befreundeten Jarl dürfte ihm das schwerer fallen. Was darüber hinaus geschieht, liegt nicht mehr in meiner Verantwortung. Davon trage ich ohnehin schon mehr als mir zusteht. Und mehr, als ich langfristig ertragen kann, wie ich zugeben muss. Ich bin kein Führer, nie gewesen und ich bin götterverdammt nochmal alt.«

»Wem sagst du das«, schnaufte Korhonen und sah mit einem Mal noch älter aus, als es ohnehin der Fall war. »Nun gut, dann halt mich bitte auf dem Laufenden. Falls ich irgendetwas von Interesse höre, sage ich dir bescheid. Wenn dieser Alptraum bloß bald ein Ende findet, ist es mir mittlerweile scheißegal, wer hier das Sagen hat. Ich habe nur keine Lust, meine letzten Jahre erfüllt von Angst in einem Schlangennest zu verbringen.«

»Hast du noch einen Schluck Wein für einen alten Mann, bevor er wieder hinaus in die Kälte muss?«, fragte Ragnar.

Sofort erhellte sich das feiste, runzlige Gesicht des Kochs.

»Den hab ich immer für dich.«

Während Ragnar wenig später die äußeren Treppen zu einem der hohen Außentürme hinaufstieg, schweifen seine Gedanken unzusammenhängend in die Vergangenheit. Es war nicht das erste Mal, dass eine solche unheilvolle und bedrohliche Stimmung über Burg Krakesten lag. Vor über zwanzig Wintern, damals als Jarl Birger av Krakebekk für kurze Zeit die Regentschaft über das Jarltum innehatte, hatte es sich ebenso angefühlt. Eine Atmosphäre ständiger Angst und Misstrauen, die über allem und jeden lag. Niemand war vor den unkontrollierten Wutausbrüchen des Herrn sicher gewesen. Nicht einmal seine eigene Familie.

Die Herrin und ein Sohn waren der Tobsucht des damaligen Regenten zum Opfer gefallen, bevor sein eigenes Leben mit einem tödlichen Sturz endete. So hieß es jedenfalls, auch wenn es ein Dutzend verschiedene, anderslautende Gerüchte gegeben hatte. Er selbst hatte da noch nicht die Position des Majordomus bekleidet und hatte von all dem nicht viel mitbekommen. Aber viele glaubten, dass Birger av Krakebekk nicht einfach betrunken von seinem Pferd gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte. Er trank zwar zunehmend unkontrolliert, war aber bis zum Ende ein Bär von einem Mann gewesen, den kaum jemals jemand hatte schwanken sehen. Unstrittig war hingegen die Tatsache, dass sein plötzlicher Tod seinem letzten verbleibenden Sohn das Leben gerettet hatte. Eben jenem Jarl von Krakebekk, der jetzt im Westflügel der Burg verschollen war.

Bis heute wusste niemand genau, ob das Schicksal den Menschen von Krakebekk zur Hilfe gekommen war, ober jemand nachgeholfen hatte. Ragnar kümmerte es nicht, und es war ihm ebenso gleichgültig, wie die Hilfe der Jarle aussehen mochte. Er würde tun, was nötig war, wenn er damit verhindern konnte, dass seine Heimat dem Untergang geweiht war. Er hatte nie mit dem Schicksal gehadert. Nach dem frühen Tod seiner Gemahlin hatte er sich gebrochenen Herzens völlig der Aufgabe gewidmet, für die Burg und deren Bewohner zu sorgen. Er würde nicht einfach tatenlos zusehen, wie alles zerfiel, für das er sein Leben lang gearbeitet hatte. Wenn das bedeutete, dass er die Zukunft den Schwingen einer braunen Nordtaube anvertrauen musste, dann war das eben so.

Der Wind zerrte an seiner Kleidung und es war mittlerweile dunkel geworden. Die Stufen vor sich konnte er nur vage erkennen, doch er wagte es nicht, ein Licht zu entzünden. Den Schein würde man weithin sehen können, vielleicht bis hinunter zu den Männern des verräterischen Hauptmanns, die sich irgendwo in der Nähe des Haupttores und des Westflügels herumtrieben. Keine der Wachen hatte ihm etwas zu befehlen, im Grunde genommen auch Nemmer selbst nicht. Sie verfügten jedoch über mindestens zwei Dutzend Schwerter gegen das seine, und die Sprache des Eisens folgte seit jeher ihren besonderen Gesetzmäßigkeiten.

So schlich er im Dunkeln herum und hoffte, dass ihn niemand entdeckte. In seiner eigenen Heimstatt, wie ein Dieb in der Nacht.

Winterwahn

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