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5. Kapitel 4

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Vestrgadda, Osten von Ulfrskógr

Der Wind, der unablässig von Norden heranstob, zerrte an Garawan ith Ciaras Kleidung. Er war in mehrere Lagen Wolle gehüllt und trug einen dicken, gefütterten Kapuzenmantel. Dennoch fror er, obwohl das Klabauterfell die größte Kälte noch eine Weile von seinem ausgemergelten, verdorrten Körper fernhielt und er die Kapuze bis tief in die Stirn gezogen hatte. Kaum etwas von seiner runzligen Haut war der Luft ungeschützt ausgesetzt. Frieren tat er trotzdem ständig, selbst in seinem geheizten Haus. Vermutlich kam die Kälte von innen, verlosch sein Körper langsam, wie der Muttersee unter dem Berg es tat. Alt, verbraucht und ausgebrannt. Der schwindenden Kraft zum Trotz kostete es ihn keine Überwindung, sich der zunehmend eisigen Witterung auszusetzen.

Sein Körper mochte verbraucht sein, sein Geist war es nicht und würde es wohl auch nie sein. Die Neugier auf das Unbekannte und die Faszination des Neuen trieb ihn an wie eh und je. Das galt für Nemunadej, die neue Heimat der Vannbarn, und das galt erst recht für den alten Wald, an dessen Rand er sich jetzt befand. Der Bau der Siedlung war nahezu abgeschlossen. Keinen Tag zu früh, denn wie sie vor Kurzem erfahren hatten, war sie alles, was ihrem Volk geblieben war. Trotz der Bestürzung über die Katastrophe, welche die Welt unter dem Berg ereilt hatte, in der er so viele Jahre verbracht hatte, konnte er sich an dem Neuen erfreuen. Mehr als die Stadt selbst aber zog ihn der Wald an.

Die uralten, mächtigen Bäume des Vestrgadda erhoben sich vor ihm gen Himmel wie eine lebendige Wand. Das kühle Dunkelgrün der Nadelhölzer wurde immer wieder durch die kahlen Stämme und Äste der Eiseneichen unterbrochen. Kiefern und Tannen gab es in dem großen, alten Wald überall. Tiefer im Waldesinneren im Osten gab es Flächen, die von Birken dominiert wurden, weiter im Süden ersetzen Buchen die Eichen, die hier als Laubbaum vorherrschend waren. Über ihnen zerwühlte der Wind stahlgraue Wolkenmeere, die tief über dem Land flossen und dem Firmament so ein wenig von der Weite nahmen, welche für die Vannbarn so ungewohnt war.

Für Garawan waren die Bäume ein noch größeres Wunder, als sie es für die Angehörigen seines Volkes ohnehin schon darstellten. Die Vannbarn, die jetzt hier lebten, hatten nie etwas anderes gekannt, als die Welt unter dem Berg. Ihre Generation und die beiden davor hatten die Oberwelt der nördlichen Berge bereits nicht einmal mehr für kurze Zeit betreten. Das Grau hatte auf das Leben der Vannbarn kaum eine Auswirkung gehabt. Die Verhältnisse an der Oberfläche des Eisgebirges hatten sich von lebensfeindlich zu tödlich gewandelt. Selbst die spärlichen Überlebenden der Flora, vereinzelte Kiefern, die ihre Wurzeln verzweifelt in den dünnen, eisigen Boden krallten, hatten für diese Generation nur in den Geschichten der Alten existiert. Wie so vieles aus dieser Welt.

Garawan sah die Bäume jedoch mit gänzlich anderen Augen, als es die meisten seiner Brüder und Schwestern taten. Das galt für jeden Baum, aber besonders für diese alten Majestäten, die seit Jahrhunderten hier lebten, davon Jahrzehnte völlig unbehelligt von menschlicher Hand. Das war selbst vor dem Grau nicht viel anders gewesen. Die Witterung hier war seit jeher rau und unwirtlich, und entsprechend dünn hatten die Menschen das Land besiedelt. Nur wenige Norselunder nannten diesen Landstrich je ihre Heimat, bevor auch die Letzten schließlich verhungerten oder aufgaben und nach Westen zogen.

Der alte Druide, der sich mit der Linken auf seinen Stab stützte, legte die rechte Hand auf die Schnittfläche eines großen, niedrigen Baumstumpfes. Sie befanden sich am Rand eines der drei Holzfällerlager, in denen die Vannbarn seit einigen Wochen Bauholz für die Errichtung von Nemunadej gewonnen hatten.

Inzwischen waren zwei der Lager aufgegeben worden, und dieses war eines davon. An die drei Dutzend Männer und Frauen arbeiteten hier noch, doch sie sammelten nur die letzten Reste an Holz ein, die man als Brennmaterial nutzen konnte. Das Leben unter dem Berg lehrte einen, nichts zu vergeuden. Auch war die Ehrfurcht der Vannbarn vor dem Leben dieser neuen Welt zu groß, um verschwenderisch mit seinen Gaben umzugehen. Garawan hoffte, dass dieser Respekt mit der Zeit nicht verblasste. Er für seinen Teil würde dafür tun, was er konnte. Die neue Situation war in gewisser Weise schrecklich, aber die war auch eine Chance für einen Neuanfang.

Obwohl der alte Druide dicke Fäustlinge trug, konnte er die dünne Spur von Leben fühlen, die noch immer in dem Holz des Stumpfes floss. Es war nur ein sterbender Hauch, der Baum war längst gefällt und die Wurzeln verrotteten. Und doch war noch ein Funken von dem vorhanden, das diesen Ort so überreichlich erfüllte. Er war der älteste Angehörige seines Volkes, hatte beinahe dreihundert Zyklen gelebt, und doch war er ebenso unter dem Berg in einer Welt aus Stein geboren worden, wie jeder andere Vannbarn. Die Druiden der Kinder des Sees hatten in ihrer über hundert Generationen dauernden Geschichte gelernt, ihre Kraft aus dem Stein zu ziehen.

Als er das erste Mal allein am Rand des alten Waldes gestanden hatte, war er von so großer Ergriffenheit erfasst worden, dass es ihn beinahe zerrissen hätte. Die Kraft, die durch die Bäume floss, sprach zu der in seinen Adern, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte. Es war unmöglich, sich vor diesen Gefühlen, diesem uralten Band abzuschirmen. Er hatte vor Rührung geweint wie ein alter Narr, und es war ihm nur allmählich und mit Mühe gelungen, sich wieder fassen. Als einer der mächtigsten Druiden seines Volkes hatte er sein ganzes, langes Leben über eine tiefe Verbundenheit zu dem Stein seiner Heimat empfunden. Diese Verbindung war ein essenzieller Teil seines innersten Selbst. Seiner Seele, wenn es sie denn gab.

Hier hatte er erkannt, dass all das nur ein kümmerlicher Ersatz für das war, was die seinen vor vielen hundert Jahren verloren hatten, als sie Nemues Ruf unter den Berg folgten. Es hatte sich angefühlt wie ein Nachhausekommen an einen Ort, von dem man nicht gewusst hatte, dass er existiert. Die meisten alten Druiden wären an dieser Erkenntnis zerbrochen. Ihn jedoch hatte das geschützt, was ihn schon immer von den meisten Menschen abgegrenzt hatte, nämlich der unbändige Durst nach neuen Erfahrungen. Weder der Untergang seiner Welt, noch die Bedrohung der Existenz seines Volkes hatten diese Triebkraft in ihm abtöten können. Auch die Gebrechen des Alters und der Zerfall des Körpers vermochten es nicht. Allein dem Tod würden sein Wissensdurst und seine Neugier sich zu beugen haben, wie alle lebenden Dinge es taten.

Er dankte im Stillen dem verstorbenen Nemuto, dem Herrn über die große Grotte, während der Blick seiner wässrigen Augen über den wundervollen Wald schweifte. Er wusste nicht, ob es Zufall oder Voraussicht war, dass unter den Siedlern der letzten Gruppe, die der Erzdruide vor seinem Tod auf den Weg geschickt hatte, verhältnismäßig viele junge Druiden gewesen waren. Es war nur eine Handvoll, kaum vier Dutzend, aber sie standen mit wenigen Ausnahmen am Anfang ihrer Ausbildung. Sie waren noch formbar genug, um den Weg der Bäume anzunehmen, und er würde tun, was immer in seiner Macht stand, damit sie ihren Weg erfolgreich beschritten. Er hoffte nur, dass Nemue ihm noch genügend Jahre schenkte, um diese Aufgabe zu vollenden.

Er zweifelte keine Sekunde daran, dass diese Magie die ursprüngliche, die einzig Wahre für seinesgleichen darstellte. All die Jahrhunderte des Druidentums des Steins konnten angesichts der Reinheit und Pracht der Lebenskraft der Bäume nichts als einen Ersatz dargestellt haben. Wenn dies gelang, würde die neue Welt vielleicht eines Tages die Verluste wert sein, die sein Volk erlitten hatte. Die Verluste, die so viel grauenvoller gewesen waren, als sie gedacht hatten. Und die so viel schneller über sie gekommen waren, als irgendjemand hatte erwarten können.

Er glaubte ein Geräusch vom dunklen, dichten Waldrand im Norden zu hören und drehte den Kopf. Er sah die verstreuten Arbeiter, die drei Gespanne, auf denen die Holzreste gesammelt wurden. Die Pferde schienen unruhig zu sein.

Einige Schritte entfernt sah er Chatikka ith Vallandor, die einen Fuß auf einen Baumstumpf gestützt hatte. Sie lehnte sich mit den Ellenbogen auf ihr Knie und starrte gedankenverloren in den Wald. Ihr Anblick lenkte ihn von dem vermeintlichen Geräusch ab und er fragte sich erneut, wie die ehemalige hohe Wächterin mit dieser Situation zurechtkam. Wie es wirklich in ihr aussah. Sie hatte die schreckliche Nachricht auf ungewöhnliche Weise empfangen, und war von dem Untergang ihrer alten Heimat mehr betroffen als sonst irgendjemand. Jeder Vannbarn hatte seine Wurzeln verloren, viele ihre Familien. Die meisten hatten dafür eine neue Heimat bekommen. Der Wächterin hingegen war zusätzlich zu den Verlusten ein Maß an Verantwortung aufgeladen worden, an dem sie unter Umständen zerbrechen würde. Er tat, was er konnte, um sie zu unterstützen, aber seit dem Erhalt der Nachricht der Katastrophe wirkte sie zwar entschlossener denn je, war aber auch zunehmend in sich gekehrt. Seine größte Sorge war, dass das Eisen in ihr brach. Es gab niemanden, der sie ersetzen konnte.

Ihr Blick huschte über den Waldrand, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Wie so oft in den letzten Tagen waren ihr die Gedanken entglitten und kreisten um die neuen Wendungen, die ihrer aller Schicksale genommen hatten. Ihre alte Heimat war von den Schattenfressern überrannt worden. Dem alten, schrecklichen Feind, gegen den sie gekämpft hatte, seit sie dem Kindesalter entwachsen war. Sie war von klein auf für den Kampf gegen diese Bedrohung erzogen und ausgebildet worden, und nun hatte eben jener Rivale um ihren Lebensraum die Vannbarn vernichtet, während sie tausend Landmeilen weit entfernt gewesen war.

Ihr Bruder und seine Familie tot, wie so viele tausend andere. Der Rat der Druiden ausgelöscht. Es bestand kein Zweifel daran, dass der Muttersee unter der großen Grotte inzwischen in Blut versunken war, anstatt den langsamen Kältetod zu sterben, vor dem sie in die neue Welt hatten fliehen wollen. Mehr noch als die daraus entstehenden Implikationen und der Schrecken der Nachricht an sich machte ihr aber die Art und Weise zu schaffen, in der sie die Botschaft erhalten hatte. Die Trauer und Verzweiflung über das Vorgefallene war etwas, das sie verarbeiten musste und irgendwie würde. Das Gefühl des Beschmutztseins, das sie ob der übernatürlichen Berührung und des Eindringens in ihren Kopf verspürte, würde wohl nur die Zeit verblassen lassen.

Es war ein nebliger Morgen gewesen, an dem sie, wie inzwischen üblich, ihren täglichen Streifzug durch das frisch erblühte Nemunadej machte, als der Vogel sie gefunden hatte. Es war einer der Raben des Zauberers, die er Chatikka und ihrem Bruder zur Verfügung gestellt hatte, um Nachrichten bei jedem Wetter in kürzester Zeit austauschen zu können. Nur waren es keine Raben oder Krähen, nicht mehr. Sie hatte von Begin an eine instinktive, intensive Abneigung gegen die schwarzen Kreaturen verspürt. Nachdem sie das gefiederte Geschöpf erblickte, blieb sie stehen und wartete widerwillig darauf, dass es in ihrer Nähe landete. Sie wollte die Nachricht, wie stets, so schnell wie möglich vom Bein des Tieres lösen und es wieder loswerden. Dabei achtete sie sorgsam darauf, den Vogel so wenig wie nur irgend machbar zu berühren.

Diesmal ließ er sich jedoch nicht in ihrer Nähe nieder und starrte sie stoisch an, während sie tat, was sie zu tun hatte. Zu ihrem Entsetzen hielt er auf sie zu und landete mit einem leisen Krächzen auf ihrer Schulter. Ihr stockte der Atem und sie war einen Moment lang starr vor Schreck. Bevor sie reagieren konnte, hörte sie dieses leise, wie aus der Ferne kommende Krächzen erneut in ihrem Ohr. Dann war es, irgendetwas, in ihrem Kopf und die Welt um sie herum versank in einem Nebel, der ungleich dunkler und dichter war als der, welcher an diesem Morgen über der jungen Stadt hing.

Ihr Blickfeld kehrte einen Wimpernschlag später zurück, doch war es an den Rändern unscharf und alles wirkte verschwommen. Sie sah ihren Bruder, der blutüberströmt zusammenbrach, praktisch geschlachtet wurde von drei Gestalten, die sie nicht erkennen konnte. Sie erhob sich in die Luft und flog zu einem hochgelegenen Fenster hinaus in das schimmernde Halbdunkel, das ihr so schmerzlich vertraut war und das sie niemals wiedersehen würde. Einige Flügelschläge später befand sie sich unter der Decke der großen Grotte, viele Mannslängen in der Höhe, und schaute hinab auf das, was für über drei Dekaden ihre Heimat gewesen war. Jetzt bot es ein Bild des Grauens.

Sie sah, wie sich die Felsen bewegten, mit denen man die Tore zu den äußeren Bereichen abgeriegelt hatte. Die zum Einsturz gebrachten Durchgänge brachen unter der Gewalt des Drucks der Angreifer erneut auf und ergossen eine Flut aus Feinden in die Grotte. Zum ersten Mal seit achtzig Generationen erreichten die Schattenfresser das Herz der Heimat der Vannbarn. Damals war es laut den Aufzeichnungen nur eine Handvoll gewesen. Jetzt zählten sie tausende. Chatikka kreiste langsam unter der Decke der großen Grotte. Sie sah, wie das Westtor wenige Augenblicke vor dem Nordtor aufbrach und Bestien aus den Löchern hervorquollen wie Eiter aus einer schwärenden Wunde.

Menschenähnliche Rümpfe mit kurzen Beinen und überlangen Armen, gedrungen, breit, mit dickem, pechschwarzem Fell bedeckt. Vom Hals an aufwärts ein Horror aus glühenden Augen, Fell und Zähnen. Die hohe Wächterin hatte unzählige der Monstren erschlagen und war mehr als ein halbes Dutzend Mal von ihnen verletzt worden. Die Zahl ihrer Schnitte und Prellungen, die von den Hieben des alten Feindes gegen ihren gerüsteten Körper stammten, war so unzählbar wie die Masse, die nun in die Grotte hereinbrach. Ihr ganzes Leben war dem Kampf gegen dieses Übel gewidmet gewesen, und nun sah sie, wie die Schattenfresser ihre Brüder und Schwestern abschlachteten wie Tunnelratten. Sie wusste nicht, wo die Seegarde war, sah nur vereinzelte Wachen, die gegen die Überzahl fielen wie Halme im Wind. Vermutlich hatten sie bereits in den Tunneln bis zum Letzten gekämpft und waren gefallen.

Ihre Augen, die ebenso wenig die ihren waren wie die Schwingen, welche sie in der Luft hielten, waren erbarmungslos. Sie blinzelten nicht, schlossen sich nie und sie wandten sich auch nicht ab, wie sie es gerne getan hätte. Hilflos sah sie minutenlang zu, wie die schwarzen, zottigen Monster über ihr Volk herfielen. Vereinzelter Widerstand durch bewaffnete Männer und Frauen, die sich den Angreifern einzeln oder in Gruppen entgegenstellten, wurde binnen weniger Augenblicke einfach überrannt. Die Bestien kämpften, wie Chatikka es von ihnen gewohnt war. Ohne Taktik oder Plan, dafür mit rasender, wahnsinniger Wildheit und brutaler Kraft. Angst oder Schmerzen schienen ihnen völlig fremd zu sein. Falls sie die Letzteren überhaupt spürten, wurden sie davon nur noch weiter angestachelt. Keine Furcht vor dem Tod, kein Bewusstsein für den Wert der eigenen Existenz, getrieben nur von Blutdurst und Hunger.

Diesen Feind hatte sie mit ihrer Seegarde jahrzehntelang in den räumlich begrenzten Schlachtfeldern bekämpft, welche die Tunnelsysteme ihres Volkes darstellten. Auf engem Raum konnte man einem solchen Gegner mit Disziplin und Mut standhalten. Was dort auf dem offen Feld der großen Grotte unter ihr geschah, war nichts als ein Gemetzel. Der Muttersee färbte sich bereits rot vom Blut der Vannbarn, als die Schattenfresser die steinernen Treppen zu den Wohngebieten erreichten, welche im Laufe von über hundert Generationen in den Berg geschlagen worden waren.

Wie eine Welle aus zottigem schwarzen Tod quollen die Bestien die Stufen hinauf und bald konnte Chatikka die Schreie von Frauen und Kindern hören. Die letzten verzweifelten Kämpfe wurden von Müttern geführt, die doch nicht mehr vermochten, als ihren Kindern wenige Atemzüge zu erkaufen. Dann wurden auch sie in Stücke gerissen. Am Ende, endlich, schlug der Körper, der nicht der ihre war, kräftiger mit den Flügeln. Sie erhob sich weiter zur Decke der Grotte, die nun ein Meer aus Blut und Tod überspannte, und fand schließlich einen Spalt, in dem sie verschwand.

Als der Rabe von ihrer Schulter flog und somit der Nebel seiner Erinnerung von ihr schwand, war sie auf der Straße in die Knie gebrochen. Die Mischung aus Ekel vor der Vergewaltigung ihres Geistes durch das gefiederte Geschöpf und die Trauer und das Entsetzen über das Gesehene traf sie schwerer als jeder Hieb einer Waffe. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit, die dem folgte, drohten sie zu zerreißen. Das Rabending, das seinen Dienst getan hatte, war daraufhin davongeflogen. Sie hatte es, wenigstens dafür war sie dankbar, nicht wiedergesehen. Wohin es verschwunden war, wusste sie nicht und es war ihr auch gleichgültig. Mochte es den Zauberer suchen und ihm die Botschaft bringen oder mochte es in der Hölle verschwinden, aus der es vermutlich stammte. Sie hatte Garawan sofort hinzugezogen und am Nachmittag einen Brief an den Jarl av Ulfrskógr geschrieben.

Sie hatte ihn nicht korrekturgelesen, bevor sie ihn mit einer Brieftaube gen Osten geschickt hatte. Sie konnte nur hoffen, nicht zu viel von ihrer Verzweiflung in die Zeilen gelegt zu haben. Sie wollte nicht, dass es wie ein Hilfeschrei klang, aber es war unabdingbar, ihrem Lehnsherren von der möglichen Gefahr zu berichten, die unter dem Berg heranreifen mochte. Wer konnte schon wissen, was die Schattenfresser taten, wenn sie mit ihrem Volk fertig waren.

Der einzige Lichtblick dieser Tage war die Gruppe Siedler gewesen, einige Zeit nach dem Besuch des unheiligen geflügelten Boten eingetroffen war. Es erschien ihr wie ein letztes Geschenk ihres Bruders. Es waren nicht nur einige Dutzend Mitglieder der Seegarde und eine Abordnung von Druiden unter diesen Menschen, sondern auch viele Frauen und Kinder. Die sechshundert Kinder waren die Ersten, die in der neuen Heimat eintrafen, und sie stellten nun die letzte Hoffnung für ihr Überleben dar. Insgesamt lebten nun über fünftausend Vannbarn in Nemunadej, der einzigen Bastion ihres Volkes. So, wie sie die Stadt angelegt hatten, würden doppelt so viele Menschen problemlos in ihrem Schutz Platz finden. Das Köttsten gedieh so gut, wie man es nur erwarten konnte. Ihre Verluste waren furchtbar, doch hatten sie überlebt und noch bestand Hoffnung. Für sich betrachtet war ihre Lage hier sogar außerordentlich gut. Sie hatten Nahrung, Schutz und verfügten über mehr Ressourcen, als sie brauchten.

Es gelang ihr nur mit Mühe, die Gedanken an die unheilige Vision zu verdrängen, die das Rabending ihr aufgezwungen hatte. Sie vermochte nicht zu sagen, ob die Fantasie ihr schlimmere Bilder in den Kopf gepflanzt hätte, wenn sie nur eine einfache Nachricht über die Geschehnisse unter dem Berg erhalten hätte. Einerseits war Gewissheit stets tröstlicher als vager, nagender Zweifel. Andererseits waren nun die bewegten Bilder unauslöschlich in ihrem Gedächtnis eingebrannt, wie die Menschen, die sie zeit ihres Lebens geschützt hatte, von dem alten Feind abgeschlachtet worden waren.

Sie fühlte nach wie vor eine unbestimmte Taubheit, von der sie nicht wusste, ob sie dagegen ankämpfen oder sie willkommen heißen sollte. Einerseits schwächte dieses Gefühl wohlmöglich ihr Urteilsvermögen, was gefährlich war. Auf der anderen Seite mochte es der letzte Schutz sein, der sie vor einem Zusammenbruch bewahrte. Und sie konnte es sich jetzt weniger denn je leisten, zusammenzubrechen.

Alle Vannbarn befanden sich in einem Schockzustand. Garawan und sie hatten nur kurz mit dem Gedanken gespielt, den Menschen die Wahrheit über das Schicksal ihrer Heimat für eine Weile vorzuenthalten. Es spielte keine Rolle, wann der Schock über die Katastrophe sie traf. In gewisser Weise war es jetzt, wo der Winter seine Krallen in das Land schlug, der bestmögliche Zeitpunkt. Wenn es für so etwas einen solchen gab. Wenn das Land im kommenden Frühjahr aus seinem frostigen Winterschlaf erwachte, gab es für jeden Mann und jede Frau mehr als genug zu tun. Die Monate, in denen Schnee und Eis die Menschen zumeist zur Untätigkeit verurteilten, konnten zum Begreifen, zur Trauer und zur Neuorientierung dienen.

Das sollten sie für dich auch tun, bevor du völlig in Verzweiflung versinkst, dachte Chatikka grimmig. Kaum jemandem würde es schwerer fallen als ihr, sich vom Alten zu lösen. Das Neue beinhaltete für sie so viel Verantwortung und Ungewissheit, dass ein Teil von ihr schreiend davonlaufen wollte. Die neue Situation schien diesen Zustand nicht zu verbessern. Ein anderer Teil flüsterte ihr zu, dass bei aller Trauer ein großer Teil der Sorgen von ihren Schultern genommen war. Sie war zunächst empört über diesen Gedanken, sah dann aber ein, dass er objektiv betrachtet seine Richtigkeit hatte.

Sie brauchte nicht mehr zu befürchten, was der Rat der Druiden tun mochte, um ihrem Bruder, ihrer Sache oder ihr selbst zu schaden. Niemand würde mehr das Volk aufwiegeln oder gegen sie intrigieren, weil es niemanden mehr gab. Die letzten paar tausend Überlebenden des Volkes der Vannbarn waren ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie waren von ihrer Führung abhängig und würden ohne sie binnen kurzer Zeit verstreut werden wie Federn im Wind. Die Verantwortung, die sie so niederdrückte, verlieh ihr gleichzeitig große Macht. In Ihr vereinte sich alte und neue Autorität und sie war als Führerin dieser Männer und Frauen über jeden Zweifel erhaben. Sie wurde von den Vannbarn noch immer als hohe Wächterin angesehen und hatte zugleich durch das Wort des Jarls den Titel der Lady av Vestrgadda.

Du bist frei, flüsterte ihr ein Teil von ihr zu. Chatikka erkannte, dass sie recht hatte, und doch war die erste Entgegnung, die ihr dazu einfiel: aber allein. Mehr als je zuvor. In den vergangenen Wochen hatte sie einsehen müssen, dass die einzige Geborgenheit, die sie im Leben gekannt hatte, von der Gesellschaft der Vannbarn ausgegangen war. Es war eine distanzierte, beinahe abstrakte Form der Geborgenheit. Sie wurde von der Gesellschaft gestützt, von der sie gebraucht wurde, eben weil sie gebraucht wurde. Und hatte sich daran etwas geändert? Im Grunde war diese Verbindung eher noch intensiver geworden, aber genau das bedrückte sie.

In der Vergangenheit war sie Schild und Speer der Vannbarn gewesen, aber die letzte Entscheidungsgewalt hatte bei ihrem Bruder, dem Erzdruiden gelegen. Unterstützt von dem Hohen Rat der Druiden. Nun lag all das auf ihren Schultern allein, auch wenn Garawan sein Möglichstes tat, um sie zu unterstützen. Er war alt und würde selbst bei optimistischer Betrachtung nicht mehr als ein paar weitere Jahre an ihrer Seite sein. Was den Jarl anging, war seine Zukunft durch die Intervention der Kirche ebenfalls kompliziert und ungewiss. Außerdem isolierten seine Probleme ihn von ihr, eine Tatsache, die sie täglich verfluchte.

Sie klammerte sich mit einer verzweifelten Hoffnung an den spärlichen Briefverkehr mit dem Jarl, den sie vor Garawan verbarg und sich selbst nur selten eingestand. Es war ihr ein beinahe tägliches Ritual geworden, vor dem Zubettgehen in seinen wenigen Briefen zu lesen. Sie waren größtenteils informell, und doch glaubte sie eine Zuneigung aus den Worten herauszulesen, die über den reinen Austausch von Informationen hinausgingen. Was sie zwischen den Zeilen zu lesen glaubte, zugleich gewünscht wie gefürchtet, mochte natürlich ebenso gut ihrer Einbildung entspringen.

Törichtes altes Weib. Dabei hatte sie mehr als genug Dinge, die ihre Aufmerksamkeit erforderten. Neben den sinnlosen Ablenkungen durch Trauer um ihren Bruder, den Verlust ihrer Heimat und den Gedanken an den Jarl. Der Aufbau von Nemunadej war zum größten Teil abgeschlossen. Die Gebäude waren fertiggestellt und winterfest. Das galt ebenso für die große Halle, den Tempel und die zahlreichen Werkstätten, wie für mehrere hundert Wohnhäuser. Die Nahrungsversorgung war mit dem Getreide, dass der Jarl ihnen zur Verfügung gestellt hatte, nach wie vor ungewohnt, aber gesichert. Ohnehin war diese Verköstigung zeitlich begrenzt.

Das Köttsten, das man in den letzten Wochen auf ausgedehnten Feldern in Gräben angepflanzt hatte, gedieh unerwartet gut. Offenbar war die karge Erde dieses Landstriches für den Pilz ein noch besserer Nährboden, als der Fels ihrer alten Heimat unter dem Berg. Schon bald würden sie einen Überfluss an dem Nahrungsmittel haben, das sie gewohnt waren. So gesehen war ihre Zukunft hier gesichert, doch nicht nur die Ungewissheit über die Vorgänge im Rest des Jarltums und Norselunds stellten eine Bedrohung dar. Immer öfter kam es zu Begegnungen mit Tieren, die von der geheimnisvollen Verderbnis entstellt waren. Bereits ein Dutzend verwachsener, aggressiver Hirsche war getötet worden, nachdem sie in die Stadt eingedrungen waren. Am Steinbruch nahe dem Skogbekk war ein Mann tatsächlich von einem Bock angefallen worden und hatte ihn mit einem Steinhammer erschlagen.

Die Veränderungen der Natur bedrohten die Vannbarn nicht direkt. Für sie war alles hier gleichermaßen neu und fremdartig. Das galt für die gesunde Umwelt ebenso wie für die verderbten Teile davon. Jedes Tier und jede Pflanze dieser Welt war für sie gewöhnungsbedürftig und bis zu einem gewissen Maß verstörend. Alles, was sie ihr Leben lang gekannt hatten, war der Muttersee, der warme Stein ihrer Heimat und die Tunnelratten. Und natürlich die Schattenfresser, die jetzt blutige Herrschaft über die Grotte unter dem Berg hielten. Da sie kein Fleisch aßen, spielte es für die Vannbarn keine große Rolle, ob die Fauna um sie herum intakt war oder nicht. Und doch war jede Bedrohung für das Jarltum auch eine für sie.

Nemunadej und Vestrgadda existierten nur durch das Wohlwollen des Jarls. Obgleich Chatikka noch immer unfähig war, die unfassbare Größe dieser Welt zu begreifen, war sie sich sehr wohl darüber im Klaren, wie viele verschiedene Kräfte in ihr herrschten. Ebenso war sie sich dessen bewusst, wie eng das Schicksal ihres Volkes mit dem der anderen Norselunder verbunden war. Das galt besonders jetzt nach der völligen Vernichtung ihrer Heimat. Zuvor war ihre Welt zwar langsam verblasst und gestorben, aber sie hatten dennoch über einen letzten Zufluchtsort verfügt. Der war ihnen nun genommen. Dieses Lehen war alles, was den Vannbarn geblieben war. Sie befanden sich in der gleichen Situation wie alle Norselunder. Entweder sie kämpften da, wo sie standen, oder sie vergingen im Strom der Zeit. Es gab nichts, wohin sie zurückweichen konnten, egal vor welcher Art der Bedrohung.

Sie spürte einen intensiven Blick auf sich ruhen wie die flüchtige Berührung einer Hand und drehte den Kopf. Noch immer halb in Gedanken versunken sah sie, wie Garawan sie aufmerksam musterte, und verzog die vollen Lippen zu einem schiefen Lächeln. Sie stieß sich leicht von dem Baumstumpf, auf den sie einen Fuß gestellt hatte, ab und wandte sich ihm zu. In dem Moment, in dem sie den Mund öffnete, erklang ein langgezogener Schrei in dem zu gleichen Teilen Schmerz und Schrecken zu liegen schien. Sie fuhr in die Richtung herum, aus der das Geräusch gekommen war und sah, wie am fünfzig Schritte entfernten Rand des Waldes ein Mann zwischen zwei Bäumen hervorkam. Er bewegte sich in einem leichten Trab, taumelte aber und schien unsicher auf den Beinen. Für einen Wimpernschlag wusste Chatikka nicht, was sie an diesem Anblick so stark irritierte. Es war offensichtlich, dass der Mann verletzt war, denn seine rechte Seite war blutüberströmt, aber sie hatte schon viele Verletzte in ihrem Leben gesehen. Dann, bevor sie loslief, drang in ihr Bewusstsein, was mit dem Körper des Mannes nicht stimmte und warum seine Art zu laufen so merkwürdig wirkte. Sein rechter Arm fehlte.

Garawan bemerkte die furchtbare Verletzung des Mannes im gleichen Moment, in dem er sah, dass Chatikka sich in Bewegung setzte. Es entstand Unruhe zwischen den Männern und Frauen, die über den abgeholzten Platz verteilt Holzreste gesammelt hatten. Sie liefen zu kleinen Gruppen zusammen, Äxte wurden gehoben und zwei Männer, die Garawan als Mitglieder der Seegarde erkannte, bewegten sich mit gezogenen Schwertern auf den schwerverletzten Mann zu. Der Unglückliche war so mit seinem eigenen Blut verschmiert, dass er kaum zu erkennen war, aber es handelte sich offensichtlich um einen der Holzfäller. Garawan folgte der Lady von Vestrgadda, so schnell es sein greiser Körper ihm gestattete.

Der Mann sah nicht so aus, als ob irgendeine Macht dieser Welt ihm noch zu helfen vermochte. Sobald er ihn erreichte, würde er ihm aber zumindest den Schrecken nehmen können und ihm so einige ruhige letzte Augenblicke ermöglichen. Sein Blick heftete sich einen Moment lang an die schreckliche Wunde in seinem Rumpf. Es sah aus, als wäre der Arm regelrecht aus dem Körper gerissen worden. Während er sich fragte, wie eine solche Verletzung zustande gekommen sein sollte, ertönte ein weiterer Schrei. Er kam aus der Richtung, aus welcher der Verletzte zwischen den Bäumen hervorgekommen war, und hatte nichts Menschliches. Es war Garawan auch unmöglich, irgendeine Emotion herauszuhören. Das urtümliche, unartikulierte Brüllen einer Bestie.

Der massige Körper, der zwischen zwei dicht zusammenstehenden Tannen hervorbrach, wirkte so abstoßend, dass der alte Druide beinahe stolperte. In den Schultern so hoch wie die Brust eines Vannbarn, war seine Masse durch das lange, zottige Fell kaum zu schätzen. Er mochte so viel wie fünf oder wie zehn Männer wiegen. Während das blutüberströmte Opfer zusammenbrach, hielt das Geschöpf, das es verfolgt hatte, inne und sah sich um. Je länger es dort stand, umsomehr Einzelheiten seines Äußeren drangen in Garawans Bewusstsein und seine Abscheu wuchs mit jedem Augenblick. Es war, zumindest früher einmal, ein Bär gewesen. Ein großer, alter Patriarch der Wälder, einer der riesigen norselunder Graubären, die in den nördlichen Gebieten von Vestrgadda und an den noch weiter im Norden liegenden Rändern von Ulfrskógr lebten. Nur war in seinen letzten Jahren die Verderbnis über ihn gekommen und hatte das einst ebenso majestätische wie mächtige Raubtier in etwas verwandelt, das aussah, wie ein lebendig gewordener Alptraum.

Die beiden Gardisten kamen kurz vor dem Geschöpf zum Stehen, während Chatikka sie beinahe erreicht hatte. Auch die anderen Vannbarn näherten sich ihm, aber langsamer und zögerlicher. Garawan konnte es ihnen nicht verdenken. Das Fell des Bären war gut eine große Spanne lang, wies aber unregelmäßig kahle Stellen auf, an denen gräuliches Fleisch durchschimmerte. Der Gang des Tieres war schwankend, weil seine Beine verformt waren. Keines von ihnen schien gleichlang zu sein und eines der Hinterbeine war so verwachsen, dass die Pfote beinahe nach hinten zeigte. Der Kopf sah verdreht aus, als habe jemand den Schädel halb zerdrückt.

Als er jetzt das Maul aufriss und erneut ein durchdringendes Brüllen ausstieß, sah Garawan mehrere Reihen Zähne. Bevor der Rachen sich schloss, glaubte er eine zweite Zunge gesehen zu haben, aber vielleicht war die vorhandene auch gespalten, wie die einer Schlange. Am abstoßendsten aber waren die Augen des Wesens. Sie lagen so weit unten und seitlich im Schädel, dass sie beinahe die Winkel des aufgerissenen Mauls berührten. Auf der Stirn, fast schon auf der Wurzel der Schnauze, befand sich eine Geschwulst, die rot und eitrig erschien. Das ganze Wesen wirkte deformiert und unwirklich, tatsächlich wie ein Monster aus einem bösen Traum, das es irgendwie in die richtige Welt geschafft hatte.

Das Bärending hob sich auf die missgestalteten Hinterbeine und öffnete das Maul zu einem neuen Schrei. Es bekam nur ein Schnaufen zustande und dann fiel es auf die Seite wie ein Betrunkener. Seine Glieder waren so verformt, dass das Tier die Fähigkeit, sich auf zwei Beine zu erheben, verloren hatte. Die Szene war mitleiderregend und abstoßend zugleich, als würde man den leprakranken Gauklern einer Jahrmarkttruppe aus der Hölle bei akrobatischen Übungen zuschauen.

Die beiden Gardisten hatten für solche Anwandlungen keinen Sinn, sie nutzen die vermeintliche Gunst des Augenblicks und sprangen vor, um mit ihren Klingen nach dem Kopf des Bären zu schlagen. Er schien unbeholfen zu sein, verfügte aber nach wie vor über ungetrübte Reflexe. Einen Schlag wischte er mit einer einer riesigen Pfote beiseite, wobei er dem Angreifer die Waffe aus der Hand schlug. Er fing sich zwei Schläge des anderen auf Kopf und Hals ein, bevor er wieder auf allen Vieren war, doch die Hiebe durchdrangen das Fell kaum.

Seine Pranke hingegen zuckte vor und traf den Mann so heftig am Kopf, dass er ihm beinahe den Schädel vom Hals riss. Während der Getroffene leblos zu Boden geschleudert wurde, griff der andere erneut an und rammte sein Schwert in die Seite des Tieres. Die Klinge drang in den Körper des Bären, doch der fuhr so schnell herum, dass die Waffe erneut aus den Händen des Gardisten glitt. Die Krallen des Bären trafen den Lederwams unter der Brust und rissen ihn mitsamt dem Bauch auf voller Länge auf. Der Unglückliche stieß einen kurzen, markerschütternden Schrei aus und brach zusammen.

Von hinten näherten sich zögerlich einige Männer und Frauen mit Holzfälleräxten. Chatikka hatte den Bären jetzt erreicht und schrie ihn an, um ihn von dem schwer verletzten Gardisten abzulenken. Sie hatte ihre Waffe gezogen, ein schweres Bastardschwert mit einer Klinge aus Nordstahl, dem Besten, das die Schmiede von Norselund zu fertigen verstanden. Davon abgesehen trug sie nur hohe Lederstiefel, ebensolche Handschuhe und einfache Wolle unter einem Klabauterfellmantel. Ihr Körper war ungeschützt, doch ihre Haltung schien so entspannt wie bei einem Trainingskampf. Die Bewegungen geschmeidig wie die einer alten Katze, ihr Blick starr auf die Schultern der Bestie gerichtet. Das Muskelspiel dort verriet ihr den Schlag einen Wimpernschlag, bevor die Krallen des Bären die Luft dort zerrissen, wo sich eben noch ihre Brust befunden hatte.

Sie glitt zur Seite und schwang das Schwert einhändig mit der Rechten, ein furchtbarer Rückhandschlag, in den sie all ihre Kraft und ihr Körpergewicht legte. Die Klinge wurde durch das dicke, zottige Fell abgebremst, aber sie drang dennoch tief ins Fleisch des Geschöpfes, das in Wut und Schmerz aufbrüllte. Sofort drang Blut aus der Wunde, das beinahe schwarz wirkte und ein übelkeiterregender Geruch erfüllte die Luft, der an verwestes Fleisch erinnerte. Außer sich, scheinbar mehr vor Wut denn vor Schmerz, hieb das Tier mehrere Male wild in die Luft, dann kauerte es sich zusammen und fixierte die Lady av Vestrgadda. Die bewegte sich langsam zur Seite und Garawan erkannte, dass sie das Tier damit ein Stück von dem Gardisten mit der zerfetzten Bauchdecke weglockte.

Der Mann hatte die Arme vor den Leib gepresst und atmete keuchend und flach. Der andere lag mit zertrümmertem Schädel tot am Boden, keine Mannslänge von dem ersten Opfer der Bestie entfernt. Garawan humpelte einige schnelle Schritte vor und ließ sich stöhnend neben dem Überlebenden nieder. Er musste darauf vertrauen, das Chatikka ihn deckte und mit dem Tier fertig wurde. So schob er seine Angst um sie resolut beiseite und legte eine knochige, klauenartige Hand auf die Brust des Sterbenden. Seine Augen waren schon glasig und er schien nicht mehr mitzubekommen, was um ihn herum geschah. Auch der Griff seiner Hände löste sich bereits von seinem aufgeschlitzten Unterkörper. Garawan sah, wie zwischen all dem Blut die Gedärme nach außen quollen.

Er griff mit der Routine vieler Dekaden nach der Macht, welche die Welt um ihn herum durchfloss. Dass es sich jetzt um eine andere handelte, als er gewohnt war, spielte dabei für ihn keine Rolle. Er hatte sich zeit seines Lebens nur der Magie bedient, die vom Muttersee aus durch den Stein seiner alten Heimat geflossen war. Und doch spürte er nun, wo er seine Kraft aus dem Fluss der Macht bezog, der durch die Bäume und die Erde floss, keine Spur von Fremdartigkeit oder Unbehagen. Im Gegenteil erschien ihm diese Form der Magie so vertraut und natürlich, als wäre er ihr seit einer Ewigkeit mit ihr verbunden. Und vielleicht stimmte das in gewisser Weise sogar, war doch seine Lehre die Gleiche wie die der Druiden, die über tausende von Jahren die Geschicke von Norselund gelenkt hatten. Als Weise, Berater, Richter und Heiler.

Er lenkte die Kraft mühelos und rasch. Der Wald um ihn herum war so voll von unverbrauchter, reiner Kraft, dass die Magie beinahe ohne sein Zutun in die Formen floss, die er ihr gebot. Er hörte ein leises Stöhnen, als das Bewusstsein des Mannes unter seinen Fingern schwand. Sein Atem wurde tiefer und ruhiger, sein Herzschlag langsamer und jeder Muskel in seinem verkrampften, noch vor Sekunden sterbenden Leib entspannte sich.

Er löste die Hand im gleichen Moment von dem blutigen Körper, als er aufsah. Genau in dem Moment stieß sich die missgestaltete Bestie mit den verformten Hinterbeinen ab und sprang Chatikka an wie eine monströse Katze. Die Wächterin hatte den Sprung kommen sehen und unterlief ihn, rammte das Bastardschwert mit beiden Händen in die Bewegung des Angreifers. Die Wucht des schweren Körpers riss ihr die Waffe aus den Händen und ihren Körper mit einem brutalen Aufschlag zu Boden, doch sie war sofort wieder auf den Beinen. Ihr Blick zuckte kurz zu Garawan hinüber und er sah, dass die Kriegerin völlig gefasst und konzentriert war. Keine Spur von Aufregung, Angst oder Panik.

Mit einem Satz war sie bei der Waffe des gefallenen Gardisten und hob sie vom Boden auf. Ihr eigenes Schwert war unter dem zuckenden Körper der Bestie begraben. Oder vielmehr darin, denn der Aufprall musste die Klinge auf voller Länge in den Leib des Tieres getrieben haben. Vorsichtig aber zielstrebig trat sie vor und trieb die Spitze der Waffe seitlich unter die Schulter des Bärendings. Der mächtige Körper wurde von einem letzten Zittern durchlaufen. Dann rollte er mit einem feuchten Schnaufen, in dem Garawan so etwas wie Erleichterung zu hören glaubte, zur Seite und lag still.

Mühsam kam er auf die Beine und humpelte zu der Kriegerin. Chatikka stand aufrecht da, die Hände in die Hüften gestemmt und betrachtete den Kadaver. Sie atmete tief aber ruhig durch die Nase, ihr Blick war sorgenvoll.

»Alles in Ordnung mit euch, alter Freund?«, wollte sie wissen.

»Aye«, nickte er und stützte sich auf seinen Stab, nachdem er keine Armeslänge neben ihr zum Stehen gekommen war. »Der Mann wird es überleben, aber sein Bauch wird Wochen brauchen, bis er wieder richtig heil ist. Und ich fürchte, dass er nie wieder ganz gesunden wird. Als Krieger haben wir ihn verloren.«

»Die anderen beiden haben mehr verloren«, sagte Chatikka düster. »Wir müssen in Zukunft sorgfältiger auf unsere Leute achtgeben. Jedes Leben ist jetzt zehnfach so kostbar wie zuvor, so wenige, wie nur noch übrig sind. Und wenn in den umliegenden Wäldern noch mehr von denen da sind, dann haben wir es mit einem Übel zu tun, das nicht geringer ist als das der Schattenfresser.«

»Wir müssen dem Jarl davon berichten«, sagte er. »Das ist etwas anderes als das Wild. Das erste Raubtier, das wir auf diese Weise verdorben gesehen haben. Es entstellt sie nicht nur, es macht sie offenbar auch verrückt. Wir müssen in Zukunft wirklich vorsichtiger sein. Ich wünschte, wir hätten früher mit Verteidigungsanlagen für die Stadt begonnen. Wenn solche Bestien im Winter aus dem Wald getrieben werden, ist die Siedlung nicht mehr sicher.«

»Aye«, nickte Chatikka seufzend, »aber es ist noch nicht zu spät. Noch ist der Frost nicht zu stark, und einfache Wälle sind schnell gebaut. Ich werde noch heute eine Nachricht an den Jarl verfassen und morgen damit beginnen, mich um den Bau von rudimentären Anlagen zu kümmern. Wer weiß angesichts von dem hier schon, was im Winter noch auf uns lauert. Zum Glück haben wir reichlich Material eingelagert und müssen nicht weiterhin Arbeitertrupps hier heraus schicken. Ich will niemanden mehr an solche Kreaturen verlieren, das ist so sinnlos.«

Sie drehte sich um und ging auf die anderen Vannbarn zu, während Garawan noch einen langen Blick auf das warf, was früher einmal ein Bär gewesen war. Der massige, verunstaltete Kopf lag auf der Seite und die glasigen, blutunterlaufenen Augen, die völlig deplatziert im Schädel lagen, starrten stumpf und leer über seine Schulter hinweg in die Ewigkeit. Das Maul stand halb offen und er sah mindestens drei Reihen von Zähnen, dahinter war die Zunge nur noch ein Klumpen verschlungenes Fleisch.

Am meisten aber fesselte seinen Blick die Geschwulst an der Grenze zwischen Stirn und Ansatz der Schnauze. Sie war klein, rund und an den Rändern blutverkrustet. Je länger er darauf starrte, desto mehr zwang sich ihm der Eindruck auf, dass es sich dabei um ein überwachsenes Auge handelte, das sich durch die Haut gefressen hatte. Als er seinen Blick endlich davon lösen konnte und zu den anderen ging, war ihm übel und kalt. Aber er war ein Greis, der lange über seine Zeit gelebt hatte, und dieser Tage war ihm ständig übel und kalt.

Trotzdem brauchte er lange, um das Bild des schwärenden Auges aus seinem Kopf zu verbannen.

Winterwahn

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