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4. Kapitel 3

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Westmark, Königreich von Stennward

Louanne konnte nicht anders, als dem alten Mann immer wieder verstohlene Blicke zuzuwerfen. Dabei war der Greis, der sich ihnen vor Kurzem angeschlossen hatte, in keiner Weise sonderlich eindrucksvoll. Er war wohl früher einmal hochgewachsen gewesen, wirkte aber durch den mittlerweile stark gekrümmten Rücken nun eher knorrig. Er schien unter dem dunklen Mantel spindeldürr zu sein, und sowohl der struppige, eisgraue Bart, der ihm bis auf die Brust fiel, als auch das Haar wirkte ausgeblichen und leblos. Er trug einen grob geschnitzten Wanderstab, der etwa so lang war wie er selbst, stützte sich aber scheinbar mehr auf seinen vierbeinigen Begleiter als auf das Holz. Dieses Tier war es im Grunde auch, dass Louannes Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zog.

Mit seinem dichten Fell und den langen, gebogenen Hörnern war die schwarze Ziege das größte Tier seiner Art, dass sie je gesehen hatte. Und es gab reichlich Ziegen im Umland. Es war noch etwas anderes als seine Größe an dem Tier, das sie zugleich faszinierte und mit einem vagen Unbehagen erfüllte, aber sie vermochte nicht zu sagen, was genau dieses Gefühl auslöste. Das Tier stapfte stoisch neben seinem Herrn her und schien sich nicht daran zu stören, dass er sie die meiste Zeit über als Stütze benutzte. Ebenso wenig nahm sie in irgendeiner Form Notiz von Gerard, dem betagten Esel, den ihr Vater führte. Diese Gleichgültigkeit beruhte auf Gegenseitigkeit, wobei das alte Lasttier zwar noch immer kräftig und wohlgenährt, aber halbblind und fast völlig taub war. Ihm war im Grunde alles gleichgültig, solange er sein Futter bekam.

Für gewöhnlich mied ihr Vater jeden Kontakt zu anderen Wandersleuten, wenn sie von ihrem kleinen Heimatdorf in die Stadt reisten. Louis war kaum einen halben Kopf größer als Louanne, die mit ihren fünfzehn Jahren nach ihrer zierlichen Mutter kam, die starb, als sie selbst gerade fünf Jahre alt war. Dafür hatte er den Körperbau eines Bären. Nach dem Tod seiner Frau hatte er darüber hinaus ein dazu passendes Gemüt entwickelt. Sein Äußeres trug dazu bei, dass die meisten es sich zweimal überlegten, bevor sie einen Streit mit ihm vom Zaun brachen. Mit dem frühzeitig kahl gewordenen Schädel, der von den Schlägereien zahlloser Tavernenbesuche in seiner Jugend gebrochenen Nase und seinen tiefliegenden Augen, wirkte er trotz seiner geringen Größe bedrohlich. Bei aller Bitterkeit darüber, seine Frau so früh zu verlieren und sein einziges Kind allein großziehen zu müssen, war er jedoch trotzdem kein schlechter Kerl.

Sie waren des Morgens vor drei Tagen auf den Greis getroffen, der wie sie auf der Straße nach Petit-Ruisseau unterwegs war. Es war nach einem kurzen Gespräch der Vorschlag von Louis gewesen, den Rest des Weges gemeinsam zurückzulegen. Der Alte hatte sofort freudig zugestimmt. Wie sich herausstellte, hielt er sie nicht einmal auf. Er war so alt und wirkte auf den ersten Blick so gebrechlich, dass er Louanne beinahe ätherisch erschienen war. Dieses Äußeren zum Trotz schien er jedoch über eine gewisse innere Rüstigkeit zu verfügen. Er kam mit Hilfe von Ziege und Stock kaum weniger langsam voran, als es Gerard mit dem Wagen tat, den er hinter sich herzog.

Louanne begleitete ihren Vater seit drei Jahren auf den Reisen zur Stadt. Drei bis vier Mal im Jahr unternehmen sie die Fahrt, je nachdem, wie viel Waren sie zusammenbekamen, die sich zu verkaufen lohnten. Louis war ein in vielen Dingen bewanderter und begabter Mann, dem es jedoch immer am Durchhaltevermögen gemangelt hatte, es bei irgendeiner Arbeit zu echter Meisterschaft zu bringen. So befanden sich Töpferwaren in ihrem Gepäck, die er gemeinsam mit Louanne herstellte, ebenso wie Kupfergeschirre, die er in seiner schlichten Hofschmiede fertigte, wann immer er günstig an Metall kam. Auch einige Säcke Korn hatten sie dabei, außerdem zwei Ballen grob gewebten Stoffes. Die stammten von der Wolle der anderen Gehöfte des kleinen Dorfes, die von den Frauen gemeinschaftlich gewoben wurde.

Noch vor ein paar Jahren waren mehrere Dorfbewohner gemeinsam mit zwei oder mehr Wagen aufgebrochen, doch das Dorf war fortschreitend vergreist. Vermutlich würde es nur noch eine oder zwei Generationen dauern, bis es ausstarb. Der Boden war in den sechs Dekaden seit dem Grau immer schlechter geworden, und mit ihm die Ernten. Louanne hatte so wenig Perspektiven, wie ein armes Bauernmädchen von fünfzehn Lenzen nur haben konnte. Allzu viele Sorgen bereitete ihr das freilich nicht, denn sie liebte ihren Vater und der war zwar beinahe vierzig Jahre alt, aber dafür noch stark und gesund.

Sorgen machten ihr, wie jedermann, hingegen die Gerüchte, die sich langsam aber hartnäckig in der Gegend verbreiteten. Der Sohn des Königs sei an einer Seuche erkrankt, die in der Königsmark Mensch und Tier gleichermaßen befiel und sich weiter ausbreitete. Für gewöhnlich tat ihr Vater solche Geschichten als Unfug ab. Die Missbildungen an den Tieren, die in diesem Frühjahr zum ersten Mal auch das Dorf betroffen hatten, schienen diese Schauermärchen jedoch zu bestätigten. Drei Schweine und zwei Kälber hatte man von Mai bis Juli unmittelbar nach der Geburt getötet und verbrannt. Ihr Vater sagte ihr nicht genau, was mit den Tieren nicht gestimmt hatte. Verwachsen seinen sie gewesen und niemand bei klarem Verstand wolle das Fleisch dieser Geschöpfe verzehren oder ihre Haut an sich tragen.

Wieder ging ihr Blick zu der Ziege hinüber, deren langes, dichtes Fell schwarz wie Pech im fahlen Mittagslicht schimmerte. Es war für September bereits außergewöhnlich kühl, aber wenigstens war der heftige Wind am gestrigen Morgen abgeflaut. Jetzt war es beinahe windstill und die von kleinen Wäldchen unterbrochene, sanft geschwungene Hügellandschaft lag friedlich im Gesang vereinzelter Vögel da. Der Süden der Westmark mochte nicht mehr so fruchtbar sein wie vor dem Grau, aber das Land war jetzt im Herbst ebenso schön anzusehen, wie vor sechzig Jahren.

Ein leichter Schauer überlief Louannes Rücken und sie löste ihren Blick von dem gehörnten Tier. Sie zog den Kragen des dicken Wollumhangs, den sie über ihrem Oberteil und dem Hosenrock trug, enger um ihren Hals. Es war das Tier, das sie frösteln ließ, nicht die Kühle, aber das war zu kindisch, um es sich einzugestehen. Es war eine merkwürdige, viel zu große, hässliche Ziege. Aber eben eine Ziege, weiter nichts. Sie konzentrierte sich für einen Moment auf den Greis, der neben dem Tier dahinstapfte. Er ging weit übergebeugt und die Wölbung seines nach vorne gekrümmten Rückens wirkte beinahe wie ein Buckel. Obwohl er stets etwas zittrig wirkte, hielt er offenbar mühelos mit Gerard und ihrem Vater Schritt und wirkte dabei am Abend nicht erschöpfter als am Morgen. Jetzt drehte er den Kopf, als die Stimme ihres Vaters ertönte. Er hatte sich die eine Mannslänge zurückfallen lassen, die er zuvor vor dem Alten gegangen war.

»Ihr habt mir noch immer nicht gesagt, was ihr in Petit-Ruisseau sucht, alter Mann«, sagte Louis nicht unfreundlich. Er klang ruppig und leicht ungeduldig, aber das war sein normaler Duktus, wie seine Tochter zu ihrem Leidwesen wusste. Wenn ihr Vater wirklich verärgert war, wurde er laut und, wenn auch nicht ihr gegenüber, schnell gewalttätig.

»Habe ich das in der Tat nicht getan?«, erhob sich die brüchige Greisenstimme des Alten. Es klang beinahe wie ein heiseres Falsett.

»Nein, das habt ihr nicht«, bekräftigte Louis. »Ihr sagtet, ihr kommt aus der Nähe des Grenzortes Sapinbois. Als ich euch fragte, welche Geschäfte euch herführen, haben wir plötzlich über die erkrankten Tiere gesprochen. Danach wart ihr müde.«

»Nun«, meinte der Alte und zog das Wort in die länge, bis er in einem Husten abbrach. »Das Mädchen, das sich um mich gekümmert hat, sie ist gestorben. Ich habe keine Verwandten mehr und kann auf dem Land nicht für mich alleine Sorgen. Jedenfalls werde ich dazu wohl nicht mehr besonders lange in der Lage sein. Ich hoffe, in der Stadt eine billige Bleibe finden zu können. Und selbst wenn ich auf der Straße enden sollte, stirbt es sich immer noch angenehmer unter Menschen, als alleine in einer Hütte am Wald.«

Er warf einen mürrischen Blick zu dem Tier, auf dem sein Arm ruhte, und fügte hinzu: »Nun ja, oder fast alleine jedenfalls.«

»Es war ein ziemliches Wagnis, in eurem Alter ohne Hilfe aufzubrechen. Ihr müsst doch schon seit Wochen unterwegs sein«, meinte Louis.

»Ah«, machte der Alte und klang, wie Louanne fand, dabei selbst ein bisschen wie eine Ziege. Sie hob schnell eine Hand vor das Gesicht, damit man das Grinsen nicht sah, dass sie unmöglich unterdrücken konnte. Ein wenig sah der Mann auch aus wie eine Ziege, wie eine große, alte und dürre.

»Noch bin ich ganz gut zu Fuß. Und überhaupt nur ein bisschen zittrig, aber ich kann nicht mehr richtig Essen. Irgendwas ist mit meinem verdammten alten Magen nicht in Ordnung. Hat letztes Jahr irgendwann angefangen, glaube ich. Oder war es vor zwei Jahren? Na, ist ja auch egal. Jedenfalls merke ich, dass ich langsam schwächer werde. Und ich bin vielleicht ein bisschen senil, aber ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass ich nicht mehr besonders lange zu leben habe. Das ist auch in Ordnung, denn ich bin schon sehr, sehr alt. Trotzdem würde ich den Zeitpunkt meines Abtretens gerne noch ein wenig hinauszögern. Und nicht unbedingt allein sterben. Sapinbois ist ein elendes Loch, kaum mehr als ein paar Dutzend Bauernhöfe. Petit-Ruisseau ist die nächste größere Stadt, oder jedenfalls die Einzige, die ich kenne.«

»Dann müsst ihr also Geld dabei haben«, sagte Louis. »Damit in eurem Alter schutzlos über so viele Landmeilen zu reisen, kann das Leben genauso verkürzen, wie die schlimmste Krankheit.«

»Meint ihr, dass Wegelagerer so tief im Reich unseres geliebten Königs eine Gefahr darstellen?«, gab der Greis zurück. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal davon gehört habe, dass jemand hier in der Gegend überfallen worden ist. Das muss in den Jahren nach dem Grau gewesen sein, als alle halb verhungert waren. Aber ansonsten haben die Menschen hier genug, um nicht zu hungern und gleichzeitig eben auch nicht viel mehr, das sich zu stehlen lohnen würde. Eine recht gesunde Situation würde ich sagen. Außerdem seid ihr ja auch hier unterwegs, ein Mann allein mit seiner bezaubernden jungen Tochter. Wenn eine Bande zerlumpter Wegelagerer über einen herfällt, ist ein kräftiger Mann auf sich gestellt genauso wehrlos wie ein Greis. Ihr würdet vielleicht ein wenig länger durchhalten, aber das Ergebnis wäre ebenso fatal, nicht wahr?«

Bevor Louis etwas erwidern konnte, kam Louanne ihm zuvor.

»Ihr müsst die Welt vor dem Grau noch kennen«, sagte sie mit leuchtenden Augen. Louis war ihr einen mürrischen Blick zu, sagte aber nichts. Er wusste, wie verrückt seine Tochter nach allem war, was vor dem Grau lag. Diese nichtsnutzigen Flausen im Kopf musste sie von ihrer Mutter haben, soviel war sicher.

»Wie war es damals? Habt ihr da auch schon hier gelebt oder seid ihr im Königreich herumgekommen, als ihr jünger wart? Die paar Alten im Dorf bei uns haben alle ihr ganzes Leben hier verbracht. Für die hat es außer dem Hunger gar keinen großen Unterschied gemacht, ob der Himmel grau oder blau war.«

»So viel anders als jetzt war es davor auch gar nicht«, meinte der Greis. »Es war heller, wärmer und die Sonne war natürlich noch zu sehen. Ein Ball aus strahlendem Licht, der bei klarem Wetter im endlosen Blau des Himmels schien. Das ist im Grunde das Einzige von damals, das sich die jungen Leute kaum vorstellen können. Die Sonne, und wie sich ihre Strahlen auf der Haut anfühlen, wenn sie direkt auf einen scheint.

Aber sonst war die Welt der Menschen vor dem Grau nicht viel anders, als sie es jetzt ist. Wirklich brutal, oder wie du es wohl sehen würdest, aufregend, war die Welt nur in den ersten Jahren danach. Die Jahreszeiten waren durcheinander, es war viel zu kalt und zu nass und die Ernte auf den Feldern ist verfault oder erfroren. Die Hungersnöte waren furchtbar. Und dadurch kam es überall zu einer Art Bürgerkrieg. Die Menschen haben sich wegen eines Stückes Brot gegenseitig erschlagen, und die Herren waren nicht viel besser als das Gesinde. Alles versank im Chaos, aber irgendwie ist es dem König gelungen, nach Jahren wieder Ruhe ins Land zu bringen. Und unter Randolf hat sich die Lage dann dauerhaft stabilisiert.«

Er lachte ein meckerndes Lachen, das erneut frappierend an eine Ziege erinnerte. Für einen Moment dachte Louanne, dass sein vierbeiniger Begleiter in das Lachen mit einfallen würde. Aber das Tier stapfte nur stoisch neben seinem Besitzer her.

»Wer wollte sich auch schon mit Randolf anlegen. Er war noch fast ein Kind, als er die Krone nahm, aber er hat seine ärgsten Widersacher gleich in der ersten Woche nach der Machtübernahme abschlachten lassen. Da wussten die ganzen Herzöge und Grafen, mit wem sie es zu tun hatten. Und bald darauf wussten das alle.

Deine Neugier auf die Welt vor dem Grau ist also ganz unbegründet, mein Kind. Du verpasst nichts, weil du jetzt lebst. Die Sonne konnte schön sein, aber sie konnte auch unbarmherzig vom Himmel brennen. Heute ersäuft oder verfault mal eine Ernte, früher konnte es sein, dass eine verbrannte oder verdorrte, jedenfalls in der Südmark. Macht keinen großen Unterschied. Die Menschen sind immer gleich, und das Leben ist es auch.«

»Also seid ihr in eurer Jugend herumgekommen? Ihr redet nicht wie jemand, der sein ganzes Leben in einem kleinen Dorf vergammelt ist.«

»Lou, mäßige dein Schandmaul«, knurrte Louis, doch der Alte lachte wieder leise unter seinem fahlen, struppigen Bart.

»Du hast recht, Mädchen. Ich war in meiner Jugend ein rastloser Geist. Ein Wanderer, wenn es je einen gegeben hat. Ich war in vielen Teilen des Reiches und auch in vielen Teilen der Welt. Aber das ist sehr lange her, und die letzten paar Jahrzehnte bin ich tatsächlich in Sapinbois vergammelt, wie du es so treffend bemerkt hast.«

»Erzählt mir von euren Reisen«, drängte Louanne aufgeregt. »In Petit-Ruisseau findet sich genauso wenig jemand, der Geschichten aus der Welt erzählen kann, wie in unserem Dorf. Jedenfalls keine, die nicht nur schlecht erfunden oder nachgeplappert sind. In der Stadt sind zehnmal so viele Leute, aber alle sind im Grunde genauso langweilig wie zu Hause.«

»Lou, nun ist es aber gut«, setzte Louis erneut an, verstummte aber, als etwas am Horizont seine Aufmerksamkeit erregte. »Was ist das denn«, murmelte er leise.

Die Straße, die leicht geschwungen gen Norden führte, erstreckte sich vor ihnen mehrere Landmeilen weit, bevor sie hinter der Kuppe eines Hügels verschwand, den sie an diesem klaren Tag gerade noch erkennen konnten. Auf diesem Weg kam man direkt bis nach Petit-Ruisseau und unmittelbar darauf zu einem Wegekreuz. Von dort aus führte die Straße im Westen zur Küste, während es nach Norden und Osten in das Herzland der Westmark ging. Über den Hügel, der für die kleine Gruppe Reisende den sichtbaren Horizont bildete, sah man in der Ferne nun mehrere schwarze Punkte gleiten. Louanne konnte sie gerade noch erkennen. Sie wusste, dass ihr Vater die Augen eines Falken hatte, war aber überrascht, als der Greis erneut seine brüchige Stimme erhob.

»Bewegen sich schnell, müssen Reiter sein«, sagte er halblaut und offenbar mehr zu sich selbst.

»Verdammt hätte ich doch meinen Mund gehalten und nicht von Wegelagerern angefangen«, sagte Louis gepresst. »Hier ist mir seit Jahren niemand begegnet außer anderen fahrenden Händlern. Im Süden endet diese Straße im Grenzland, in die Südmark kommt man über die Handelsstraße weiter im Osten.«

Er ließ Gerard anhalten und trat zum Wagen, in dem er einen Augenblick herumwühlte, bevor er unter einem Ballen Stoff ein Schwert hervorholte. Es steckte in einer schäbigen Lederscheide, die er mit raschen, geschickten Handgriffen an seinem Gürtel befestigte.

»Lumpenpack reitet keine Pferde«, meinte der Alte. »Ich weiß nicht, wie die Preise heutzutage aussehen, aber zu meiner Zeit waren ein halbes Dutzend Pferde zehnmal so viel Wert wie der Plunder, den ihr auf dem Wagen habt. Nicht, dass ich Eure Waren schlecht machen wollte.«

Louis zog eine Augenbraue hoch und schaute zu dem Greis hinüber. »Plunder, eh? Naja, wahrscheinlich habt ihr da nicht einmal ganz unrecht. Und trotzdem kann das da vorne nichts Gutes bedeuten. Aber egal. Gehen wir weiter und halten wir uns am Rand der Straße. Vielleicht reiten sie einfach vorbei und lassen uns in Ruhe.«

»Könnt ihr mit dem Ding da umgehen, wenn es sein muss?«, wollte der Greis wissen und deutete auf das Schwert. »Es sieht nicht gerade neu aus, scheint aber ganz leidlich gepflegt zu sein.«

»Gegen einen Mann? Gut genug«, gab Louis zurück. »Gegen mehrere Reiter? Nein. Aber wir werden sehen.«

Sie setzten ihren Weg fort, wobei Louanne sich auf den Wink ihres Vaters ein wenig zurückfallen ließ. Sie ging jetzt hinter dem Wagen und vor dem Greis, der mit seiner schwarzen Ziege das Schlusslicht bildete. Sie war für gewöhnlich nicht sonderlich ängstlich, aber je näher die Reiter kamen, je unbehaglicher war ihr zumute. Mit jedem Detail mehr, das sie erkennen konnte, wurde ihr klar, dass es sich nicht um einfache Reisende handelte. Und ganz gewiss nicht um Händler.

Sie zählte acht Reiter, die ihnen in zügigem Trab entgegenkamen. Die Pferde erkannte sie alsbald als einen bunt zusammengewürfelten Haufen aus allen Farben und Rassen. Als die Fremden näher herankamen, stellte sie fest, dass es sich bei den Reitern ebenso verhielt. Der Älteste von ihnen hatte mehr grau als braun im Bart und wirkte alt und verbraucht, der jüngste schien kaum älter zu sein als sie selbst. Es war keiner der unheimlichen schwarzen Männer aus dem fernen Kontinent im Süden dabei, von denen Louanne einmal in der Stadt einen gesehen hatte.

Ansonsten waren Haut und Haar von hell bis dunkel in unterschiedlichen Schattierungen vertreten. Sie trugen heruntergekommene, grobe Kleidung, die vor Dreck hart zu sein schien. Ihre Helme und Kettenhemden machten als Einziges an ihnen einen gepflegten Eindruck. Jeder von ihnen war bewaffnet. Sie erkannte Schwerter und Keulen an den Gürteln und Sätteln. Vier von ihnen hatten außer ihrem Schild einen Speer auf den Rücken geschnallt. Zwei von ihnen trugen einen der leichten Kreuzbögen, die sie bei den berittenen Soldaten des Grafen in der Stadt schon einmal gesehen hatte.

Um Männer des Grafen oder der Stadt handelte es sich bei den Kerlen dort jedoch mit Sicherheit nicht. Nicht nur, dass sie keine Wappenröcke mit den entsprechenden Farben oder Banner trugen. Sie sahen auch aus wie das gemeinste Räuberpack, bis auf die Tatsache, dass sie für Wegelagerer zu gut gerüstet waren. Louanne konnte die Qualität der Waffen nicht beurteilen, aber sie wusste, dass Kettenhemden teuer waren, genauso wie die robusten Helme auf den Köpfen der Fremden. Selbst die Stadtbüttel trugen zumeist nur gestepptes Leder.

Sie warf einen verstohlenen Seitenblick auf die beiden Männer an ihrer Seite, während die ihren Weg langsam fortsetzten. Ihr Vater starrte geradeaus und sie sah, dass seine Kiefer krampfhaft arbeiteten. Er schwitzte trotz der Kühle und sie konnte förmlich spüren, wie sich seine Gedanken um eine Möglichkeit drehten, die drohende Gefahr abzuwenden. Er war kein ängstlicher Mann, eher im Gegenteil, getrieben von Zorn und oft unbeherrscht, aber er war auch nicht dumm. Wenn diese Kerle dort Ärger machen wollten, standen ihre Chancen mehr als schlecht. Sie drehte den Kopf ein Stück, um den Alten anzuschauen und stellte verwundert fest, dass er von den nahenden Reitern völlig unbeeindruckt zu sein schien.

Er stapfte mit unverändertem Gesichtsausdruck dahin, den knorrigen Stab in einer Hand, die andere im Nackenfell der großen schwarzen Ziege, die ihm keinen Schritt von der Seite wich. Nachdem er die Männer ebenso früh bemerkt hatte wie ihr Vater, mussten seine Augen noch scharf sein. Er machte weder einen dummen noch senilen Eindruck und wusste demnach, was dort vorne für eine Gefahr auf sie zukam. Sie mochten Glück haben, und es handelte sich nicht um Räuber, sondern um Lohnschwerter, aber so wie sie aussehen, bedeuteten sie so oder so ärger.

Louanne glaubte nicht, dass sie einfach an ihnen vorbeireiten würden. Zum vielleicht ersten Mal in ihrem Leben war sie froh darüber, dass sie nicht gerade als Schönheit zu bezeichnen war. Sie hatte die kleine Nase und die großen, hübschen Augen ihrer Mutter, aber auch den überbreiten Mund ihres Vaters und dessen grobe Physiognomie. Sie war nicht direkt hässlich, aber durch die flächigen Züge und die Asymmetrie ihres Gesichtes völlig unscheinbar. Auch was ihre Figur anging, war sie nicht eben zufrieden mit sich. Sie wusste, dass ihr Hintern zu breit war, genau wie ihre Hüften. Außerdem fand sie ihre Beine zu kurz und ihre Brüste sahen immer noch nicht viel anders aus, als sie es vor zwei Jahren getan hatten. Sie glaubte nicht, dass sie irgendeinen Mann dazu einlud, ihretwegen einen Streit anzufangen.

Warum der Alte so sorglos zu sein schien, verstand sie dennoch nicht. Wenn es zu Gewalttätigkeiten kam, würde er noch hilfloser sein als sie. Unfähig zu kämpfen oder auch nur den Versuch zu unternehmen zu fliehen. Und vor allem hatte er nichts zu bieten, was einen Räuber dazu bringen konnte, ihn zu schonen. Im Gegenteil, wenn er für seine letzten Jahre ein neues Leben in der Stadt beginnen wollte, musste er zumindest eine gewisse Menge an Geld oder Wertsachen bei sich haben. Dennoch erweckte seine Körpersprache den Eindruck, er befände sich auf einem Spaziergang.

Sie schaute ruckartig wieder nach vorne, als sie plötzlich die Hufschläge der Reiter hören konnte. Die Männer verschwanden für einen Moment hinter einem Hügel, aber der jetzt immer deutlicher werdende Lärm zeugte von ihrem unaufhaltsamen Näherkommen. Einen Augenblick später kamen sie an der Kuppel wieder zum Vorschein. Es war jetzt klar, dass sie nicht einfach vorbeireiten würden. Als sie in die Senke hinter den Hügel verschwunden waren, ritten sie noch in loser Formation hintereinander. Als sie jetzt wieder in ihr Sichtfeld kamen, bildeten sie eine Reihe, die sich über die volle Länge der Straße zog. Es gab keine Möglichkeit ihnen auszuweichen, keine Chance, ihnen zu entkommen. Sie hörte ihren Vater eine derbe Verwünschung ausstoßen und sah, wie er Gerard mit dem Wagen am Wegesrand zum Stehen brachte. Der Alte tat es ihm gleich und machte neben dem Esel halt.

»Was auch passiert, halt um Gottes willen den Mund, Kind«, sagte Louis.

Louanne sah ihn mit vor Angst geweiteten Augen an und nickte nur stumm. Die Fremden kamen jetzt schnell näher und verlangsamten ihren Ritt erst wenige Schritte vor ihnen. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, ritten sie nicht vorbei. Im Gegenteil hielten sie sich auf der Seite der Straße, an dessen Rand ihr Wagen stand, und bildeten einen losen Halbkreis.

Einer von ihnen ließ sein Pferd ein Stück vortänzeln. Es war zu Louannes Erstaunen keiner der älteren Kerle, sondern derjenige, den sie auf ihr eigenes Alter schätzte. Auch die Stimme war hoch und jugendlich, hatte aber einen schneidenden Unterton, der sie älter wirken ließ.

»Na was haben wir denn hier für eine kleine Bande. Großväterchen, Papa und Tochter? Nicht ungefährlich dieser Tage und dann noch mit einem ganzen Wagen voller guter Sachen. Was macht ihr denn, wenn ihr auf Wegelagerer trefft?«

Er legte den Kopf schief und sah beim Sprechen erst ihren Vater und dann sie selbst an. Den Alten ignorierte er völlig, während sein kalter Blick so intensiv über ihren Leib glitt, dass sie ihn beinahe körperlich spüren konnte. Sie war keine Schönheit, aber sie war jung und kräftig und wer wusste schon, wie lange diese Männer keine Frau gehabt hatten. Noch immer fiel es ihr schwer zu glauben, dass der Junge der Anführer sein sollte. Er konnte unmöglich viel älter sein als sie selbst.

Louis war zwar überrascht, dass der Bengel die Bande anzuführen schien, aber nur für den ersten Augenblick. Er sah lächerlich jung aus, kaum alt genug, um sich regelmäßig rasieren zu müssen, aber sein Blick war so ausdruckslos und stumpf wie der jedes anderen gedungenen Mörders, den er in seinem Leben gesehen hatte. Und das waren einige gewesen, in verschiedenen Städten und Lagern überall in der Mark. Louis war in jungen Jahren ein kaum besserer Mann gewesen als diese Schlagetots.

»Ich mache diese Tour seit vielen Jahren«, erhob er die Stimme und war froh, dass sie fest war und nichts von der Angst um sich und sein Kind darin mitschwang. »Hier gibt es keine Wegelagerer. Und wenn sich derartiges Gesindel an meinen Wagen herantraut, bekommt es meine Klinge zu spüren. Ich nehme an, die Herren sind Schwerter im Sold? Ich habe euch in der Stadt nie gesehen, arbeitet ihr für den Bürgermeister von Petit-Ruisseau oder den Baron?«

Er hoffte inständig, dass er mit seiner Einschätzung richtig lag. Für Wegelagerer waren die Männer zu gut gerüstet, und er glaubte nicht, dass sie einfache Räuber waren. Lohnschwerter war die naheliegendste Vermutung. Normalerweise waren solche Männer für einfache Leute wie Louis und Louanne nicht sonderlich gefährlich, aber diese Bande hatte etwas Verlottertes an sich. Er wusste, dass es alle Arten von Söldnern gab. Die einen verkauften ihr Schwert an den meistbietenden, um ein möglichst gutes Leben zu führen. Es gab aber auch immer übles Mördergesindel, die es nicht so genau nahmen, ob sie fürs Töten bezahlt wurden oder nicht, und einfach jede Möglichkeit nutzten, von ihren Waffen gebrauch zu machen. Diese hier sahen aus wie die übelste Sorte. Schon sie Tatsache, dass sie ein halbes Kind anführte, zeugte von dem Charakter der anderen.

»Eigentlich ziehen wir hier nur durch«, grinste der Junge. »Die Stadt, von der Du sprichst, ist ein Dreckloch, die können sich uns gar nicht leisten. Und der Baron mit seinen Männern scheint von hier ziemlich weit weg zu sein, nicht wahr? Wir sind also gewissermaßen auf der Suche.«

Louis bemühte sich nach Kräften, möglichst unbefangen zu klingen. »Nun, wenn ihr hier weiter nach Süden zieht, werdet ihr kaum etwas Passendes finden. Die Straße führt in die Grenzlande zur Südmark und dort gibt es nur Dörfer und Gehöfte. Gen Osten im Herzland oder im Westen in den Küstenstädten stünden eure Chancen auf guten Lohn für eure Dienste sicher besser.«

Der Junge legte den Kopf erneut schief und machte ein so aufgesetzt nachdenkliches Gesicht, das es unfreiwillig komisch wirkte. Er wirkte durch die übertriebene Grimasse gleich noch einmal zwei Jahre jünger, doch seine anschließenden Worte negierten diesen Eindruck sofort wieder.

»Tja. Mag was dran sein. Danke für den Hinweis, alter Mann. Vielleicht gehen wir wirklich lieber nach Osten, denn nach Süden. Aber vorher würde ich sagen, wir schauen einmal was wir von deinem Wagen gebrauchen können. Außerdem sehen wir, wie dein Esel schmeckt, und ficken deine Kleine. Ist sie deine Tochter oder deine Frau, falls ihr Bauernabschaum den Unterschied überhaupt macht?«

Louanne stockte ob dieser Worte aus dem Kindergesicht für einen Moment der Atem. Sie sah, wie die Hand ihres Vaters zum Schwert griff, dann hörte sie ihn ein furchtbares Stöhnen ausstoßen. Der Laut ließ ihr die Knie weichwerden und sie stieß unweigerlich ein leises Wimmern aus, als er sich langsam in ihre Richtung drehte. Er sank neben dem Esel auf die Knie und ihr Blick wurde von dem kleinen Bündel Federn gefesselt, das sich dort befand, wo eigentlich sein linkes Auge sein sollte. Das verbleibende Auge, das, in dem kein Armbrustbolzen steckte, starrte sie noch eine endlose Sekunde lang voll von ungläubigem Entsetzen an. Dann brach der Blick und der Körper ihres Vaters sank zur Seite wie ein Sack Getreide. Sie fuhr zu den Reitern herum, als sie wieder das stumpfe, unheilvolle Knacken einer Armbrust hörte, dass von einem durchdringenden, hohen Schrei gefolgt wurde, der beinahe menschlich klang. Es brach ab, und Gerard brach in seinem Gespann zusammen. Der alte Esel zuckte noch zweimal mit den Hinterbeinen, dann lag er still.

»Ach scheiße Hank, was sollte denn das?«, erhob einer der Männer die Stimme. »Sollen wir den ganzen Kram tragen oder was?«

»Piss dich nicht ein«, erwiderte ein vielleicht dreißigjähriger Blondschopf mit einer schlecht vernähten Hasenscharte. »Die haben doch sowieso nichts, das wirklich was wert wäre. Das bisschen Zeug können wir die paar Meilen in die Stadt schaffen, dann saufen wir uns ein paar Tage die Hucke voll und ziehen dann weiter. Der beschissene Bürgermeister gibt uns ja keine Arbeit. Aber erst ficken wir ein bisschen. Und jetzt hör auf zu meckern, sonst kriegst du nur die Ziege.«

Louanne drehte sich auf dem Absatz um und begann zu rennen. Sie dachte nicht darüber nach, wusste im Grunde, dass es völlig sinnlos war, aber sie rannte trotzdem, so schnell sie nur konnte.

»Guckt mal, die Kleine will vorher noch ein bisschen spielen«, stieß einer mit einem rauen Lachen hervor.

»Na los, holt sie zurück«, schnarrte der halbwüchsige Anführer. »Hank, du erschießt die Ziege von dem Alten, wenn du sie nicht ficken willst. Die sieht frischer aus als der Esel, der ist ja fast schon an Altersschwäche verreckt.«

Er wand sich dem Greis zu, während der angesprochene seine Armbrust neu spannte. Drei der anderen preschten auf ihren Pferden los und holten das Mädchen in wenigen Augenblicken ein.

»Tja, Alter«, grinste der Junge. »Was machen wir denn jetzt mit dir, eh? Zum Ficken wärst du zu alt und zu hässlich, selbst wenn wir einen Sodomisten unter uns hätten. Wobei ich ja glaube, dass Tom da drüben eigentlich in alles seinen Schwanz stecken würde, solange es warm ist.«

Der besagte Mann, Anfang zwanzig aber bereits beinahe zahnlos und mit einem beachtlichen Schmerbauch, gruntze nur und spuckte aus.

»Ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn ihr davon absehen würdet, meiner Ziege die gleiche unerquickliche Behandlung zukommen zu lassen wie dem armen alten Esel.«

Die Stimme des Greises war hoch und brüchig, wie es bei sehr alten Männern oft der Fall war. Sie war jedoch auch ruhig, und er sprach so ungerührt und beiläufig, als führe er ein Schwätzchen auf dem Marktplatz.

»Hast du was am Kopf, du alter Pisser?«, sagte der Junge gedehnt.

»Was spielt das schon für eine Rolle?«, gab der Greis unbekümmert zurück. »Ich habe dringende Angelegenheiten im Norden zu erledigen und bin ausschließlich an einem ungestörten Fortkommen interessiert. Lasst meinen vierbeinigen Begleiter und mich ziehen, und erfreut euch an dem bisschen Leben, das euch noch bleibt, wenn ihr so eine Scheiße wie das hier öfters veranstaltet.«

Unglauben wurde nun in dem Gesicht des Anführers der Bande deutlich, das zugleich so jung und doch verlebt wirkte.

»Sag mal, du hast sie wirklich nicht mehr alle, oder?«

Aus einiger Entfernung drang ein Schrei zu ihnen, der in ein Schluchzen überging. Die Reiter hatten das Mädchen eine Weile gehetzt und sie dann gefangen. Einer hielt sie jetzt am Boden, während der Zweite die Pferde am Zügel hielt und der Dritte an seinem Gürtel herumfingerte.

»Was glaubt ihr, was ihr da macht, ihr Mistkäfer«, brüllte der Junge. »Ich ficke sie zuerst, also lasst eure traurigen kleinen Schwänze stecken und bringt die breitärschige Schlampe her. Kommt zwar aus einem kleinen Dreckskaff und ist älter als Zwölf, aber vielleicht ist sie ja wenigstens hinten noch Jungfrau.« Er drehte sich ruckartig zurück zu dem Greis. »Mach die verdammte Ziege alle, Hank.«

Die Armbrust knackte und ein Bolzen schlug mit einem dumpfen Geräusch genau zwischen den Augen der pechschwarzen Ziege ein, auf die der Greis sich stützte. Sie blieb einen Moment lang ungerührt stehen und zwei der Männer murmelten etwas Unverständliches, dann knickten ihre Beine ein und sie brach auf der Stelle in die Knie. Der Alte legte die Hände zusammen, als wäre nichts geschehen und sah zu dem jugendlichen Anführer hinüber, der sich mit einer geschmeidigen Bewegung vom Pferd gleiten ließ. Hinter ihm führte ein Mann die drei Pferde heran, während die anderen beiden das Mädchen hinter sich herschleppten.

»So, du komischer alter Hampelmann«, sagte der Junge mit gefährlich leiser Stimme. »Jetzt schauen wir doch mal, was du wirklich für einer bist.«

Er griff nach hinten an seinen Gürtel und zog einen Dolch mit einer breiten, zwei große Spannen langen Klinge hervor. Die Waffe wirkte alt, schmuddelig und abgetragen. Die Schneide selbst schien vom vielen Schärfen beinahe durchsichtig zu sein und war ohne Zweifel so scharf wie das Rasiermesser eines Barbiers. Er schob sich an den Greis heran, der noch immer völlig ungerührt dastand. Er hatte schon mit einigen Schwachsinnigen zu tun gehabt, und es war immer wieder aufs Neue spannend. Manche hatten die Verstümmelungen, die er an ihnen vorgenommen hatten, scheinbar interessiert verfolgt. Offenbar gingen bestimmte Formen der Schwachsinnigkeit mit einem Verlust des Schmerzempfindens einher. Andere hatten gekreischt und gefleht wie jeder normale Mensch auch. Im Angesicht von Folter und Tod unterschieden sich vermeintlich Gesunde und Geisteskranke in der Regel gar nicht sonderlich voneinander.

Louanne stöhnte tränenerstickt auf, als sie grob zu Boden gestoßen wurde. Sie riss sich den nackten Arm an einem spitzen Stein auf, bezweifelte aber, dass solche Verletzungen noch eine Rolle spielten. Ihr Kleid war zerrissen und hing nur noch an ihrer rechten Körperhälfte, die Knie waren aufgeschlagen und ihre Nase blutete. Aber all das war unbedeutend gegen das, was ihr noch bevorstand. Sie würden sie so lange missbrauchen, bis sie entweder tot war oder um den Tod bettelte. Es brauchte nicht viel, um das zu erkennen. Trotzdem starrte sie nun wie gebannt auf die Klinge des jungen Mannes, der sich dem Greis langsam näherte. Sie hatte den letzten Teil der Unterhaltung zwischen den beiden hören können.

Der Alte hatte im gleichen Ton mit diesem Abschaum gesprochen, wie die ganze Zeit über mit ihr und ihrem Vater. Er hatte nicht ein einziges Mal den Eindruck gemacht, wirklich senil oder schwachsinnig zu sein. Und doch musste er verrückt sein, so wie er jetzt völlig unbeteiligt zusah, wie der junge Mörder, denn nichts anderes war dieser Abschaum, auf ihn zukam. Selbst als sie seine Ziege getötet hatten, hatte er nicht mit der Wimper gezuckt.

Jetzt, wo es im Sterben lag, erkannte Louanne zum ersten Mal, was ihr an dem Tier so großes Unbehagen bereitet hatte. Es war nicht nur ihre stoische Ruhe oder die ungewöhnliche Größe, es waren die Augen gewesen. Eines dieser Ziegenaugen schaute verschleiert in den stählernen Himmel und sie bemerkte, dass es hell war. Blau oder Grau, was sie noch bei keiner Ziege gesehen hatte. Ihr Blick hob sich wieder zu dem Alten, den der Anführer der Bande nun erreich hatte. Die beiden ungleichen Männer, die ohne weiteres Urgroßvater und Urenkel hätten sein können, schauten sich einen kurzen Moment lang in die Augen. Dann hob der Junge die Klinge langsam und setzte sie in dem uralten, von Runzeln durchzogenen Gesicht unmittelbar neben dem rechten Auge auf.

»Möchtest du noch etwas sagen, bevor deine Welt dunkel wird, du irrer alter Pisser?«, erklang die schneidende Stimme des Jungen.

Diesmal blieb der Angesprochene stumm. Ein einzelner Blutstropfen quoll unter der Spitze des Messers hervor, dann ging ein Zittern durch den Arm, der die Waffe hielt. Noch immer hielten die beiden Männer Augenkontakt. Ein Moment völliger Lautlosigkeit entstand, der sich immer weiter ausdehnte. Als die die anderen Halunken gerade unruhig zu werden begannen, trat der Junge einen Schritt zurück, hob das Messer und zog die Klinge schwungvoll und mit großer Kraft durch seine linke Halshälfte. Sofort schoss eine Blutfontäne aus der klaffenden Wunde in die Kühle Herbstluft und die Beine des Mannes knickten praktisch im selben Moment ein. Louanne hörte die entsetzten Laute, welche die anderen Männer ausstießen, und riss die Augen auf. Dann ging alles unglaublich schnell.

Die vorgeblich sterbende Ziege sprang auf, rannte auf einen der Männer zu und rammte ihn mit dem Kopf so hart gegen den Oberkörper, dass der Brustkorb nach innen klappte. Der Getroffene wurde mehrere Schritte weit durch die Luft geschleudert und war tot, bevor er den Boden berührte. Zu Louannes Entsetzen zerfloss das gehörnte Tier daraufhin in der Luft, als bestünde sie aus zähem, schwarzen Wasser. Ihr Blick zuckte zu dem Greis, der beide Hände gehoben hatte und jetzt ruckartig in die Luft vor sich griff. Die Köpfe der beiden Männer, die ihr am nächsten standen, wurden so heftig herumgerissen, dass die Haut an ihren Hälsen aufplatzte. Das doppelte Krachen ihrer brechenden Knochen ging ihr durch und durch.

Sie hörte einen Mann kreischen wie ein kleines Kind, als die verformte schwarze Masse, die noch vor einem Wimpernschlag eine Ziege gewesen war, ihn erreichte. Es schien, als forme sich eine neue, ebenfalls vierbeinige Gestalt daraus, aber noch war unmöglich zu erkennen, um was es sich dabei handelte. Ein Teil des Gebildes, dass der neue Kopf werden mochte, traf auf den Mann und sofort quoll eine unglaubliche Menge Blut aus seinem Bauch. Er brach unter dem unförmigen schwarzen Angreifer zusammen und hörte auf zu schreien, als seine Innereien über die Straße verteilt wurden.

Sie hörte jetzt ein leises, unverständliches Murmeln und drehte erneut den Kopf. Der Greis murmelte irgendetwas und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Rechten, woraufhin einer der Söldner die Hände vors Gesicht schlug und zusammenbrach. Louanne sah noch, wie ein Schwall Blut zwischen seinen Fingern hervorspritzte, dann knickten seine Beine ein. Zwei weitere Männer hatten ihre Waffen gezogen und waren jetzt bei dem Alten. Der Letzte von ihnen hatte noch auf dem Pferd gesessen, das er jetzt antrieb, um zu fliehen. Offenbar hatte er kein Interesse am Ausgang dieses Kampfes. Louanne erkannte rasch, dass er mit dieser Einschätzung richtig gelegen hatte.

Einer der Männer hieb mit dem Schwert zum Kopf des Greises, doch dieser wischte den Schlag mit der bloßen Hand beiseite, als wäre es der Hieb eines ungezogenen Kindes mit einer Weidenrute. Gleichzeitig machte er einen Schritt nach vorn und hämmerte dem Angreifer den Handballen der anderen Hand mit so großer Wucht gegen den Kopf, dass er sich beinahe rückwärts überschlug, bevor er reglos liegenblieb. Der zweite Mann stieß nach dem Bauch des Greises, der mit Bewegungen auswich, welche die eines jungen Mannes waren. Ein Rückhandschlag traf den Söldner so hart seitlich am Kopf, dass der Schädel beinahe vom Rumpf gerissen wurde.

Das, was einmal eine große schwarze Ziege gewesen war, rannte in gestrecktem Lauf hinter dem letzten, fliehenden Söldner her, der sein Pferd wie verrückt antrieb. Es war noch immer schwarz wie die Nacht, ungewöhnlich groß und zottig. Nur schien es jetzt ein Hund zu sein. Es war unglaublich schnell, aber das Pferd wurde unbarmherzig angetrieben und schien selbst halb wahnsinnig vor Angst zu sein. Es blieb eine Länge vor dem riesigen Verfolger, bis der Greis in Richtung des Fliehenden zeigte und erneut etwas murmelte. Plötzlich hielt das Pferd an, so ruckartig, dass sein Reiter aus dem Sattel geschleudert wurde und hart auf der Straße aufschlug. Louanne hörte seine Schreie, die schlagartig verstummten, als die schwarze Bestie ihn erreichte und zerriss wie einen frisch geschlagenen Hasen.

Zitternd schaute sie zu dem Greis, der nun mit einem Lächeln auf den Zügen zu ihr kam. Nur, dass er kein Greis mehr war. Er war noch immer hochgewachsen, aber nicht mehr so klapperdürr, wie sie ihn gekannt hatte. Auch wirkte er geradezu hünenhaft, weil er nicht mehr in der gebückten Haltung eines betagten Mannes ging. Er bewegte sich überhaupt nicht mehr wie ein alter Mann, sondern kam mit geschmeidigen Schritten auf sie zu. Sein Gesicht zeigte noch immer tiefe Falten um die Augen den Mund, soweit man das unter dem Bart erkennen konnte. Doch jetzt wirkte er nicht älter als vierzig und strahle eine beinahe unheimliche Vitalität aus. Ihr Blick war von seinen Augen gefangen, die so grau waren wie der Himmel an einem regnerischen Tag.

Sie haben die gleiche Farbe wie die der Ziege, dachte sie zusammenhanglos, dann war er bei ihr. Er lächelte, während er seine behandschuhte Hand vor ihr Gesicht hob. Sie verspürte keine Frucht, als er seine Fingerspitzen sanft auf ihre Stirn legte. So wie seine Hand ihr Gesicht hinabglitt, so glitt sie selbst in die Dunkelheit. Er riecht nach verwelkten Rosen, war das Letzte, was sie in ihrem kurzem Leben dachte, bevor sie starb.

Der zottige Hund trabte mit blutverschmierter Schnauze die Straße entlang auf die verstreut am Boden liegenden Leichen zu. Der dunkle Mann schaute ihm entgegen, dann suchte er sich das kräftigste Pferd aus und schwang sich in den abgenutzten Sattel.

»So viel zu unserem Ansinnen, unauffällig zu reisen«, sagte er zu der Bestie. Seine Stimme hatte nichts mehr mit der des Greises gemeinsam. Sie war so dunkel wie das Grollen eines Sommergewitters und so kalt wie ein Schneesturm im Dezember. Er stieß dem Pferd mit den Hacken sanft in die Seiten und es trabte an.

Im Stillen verfluchte sich Darane für seine Vorsicht. Offenbar wollte es das Schicksal, dass sein Rückweg nach Norselund ein steiniger wurde. Er glaubte nicht an Dinge wie Schicksal, aber es konnte nicht schaden, sich einen gescheiterten Plan einzugestehen. Dies war nach einer Patrouille aus Tempelrittern und Priestern sowie einem Trupp Soldaten eines Barons der Südmark die dritte Unterbrechung seines Weges dieser Art gewesen. Von jetzt an würde er auf Geschwindigkeit setzen, anstatt auf Unauffälligkeit. Das Jahr schritt voran und er spürte das Unheil im Norden, das seine Anwesenheit erforderlich machte.

Winterwahn

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