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1. Prolog

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Lendir

Das Tageslicht drang seit Jahrhunderten nicht mehr bis zum Waldboden vor. Das fahle, silbrige Licht, das hier zu jeder Stunde des Tages schimmerte, rührte von dem Wald selbst her. Die Helligkeit stammte zum größten Teil von Leuchtmoosen, die unregelmäßig auf den Ästen und entlang der Stämme der Bäume ebenso wuchsen, wie auf vereinzelten Felsen am Boden. Aber auch das glänzende Harz, das die nahezu schwarze Rinde der Silberbuchen wie Erzadern durchzog, leuchtete im Halbdunkel unter dem dichten Blätterdach.

Lendir hatte sich ein wenig abseits seiner Gefährten gegen eines der uralten, fast fünfzig Schritte aufragenden Gewächse gelehnt. Die Magie, welche die Heimat der Silvalum seit einer Ewigkeit durchdrang, floss in diesem Teil des östlichen Waldes tief und ungezügelt. Das war ihm und jenen die ihm folgten eine Hilfe, es brachte aber auch Nachteile mit sich.

Durch die hohe Sättigung an arkaner Energie in Erde, Pflanzen und Luft, gab es hier kein Leben außer den Bäumen selbst. Es gab keine Tiere, nicht einmal Insekten, und der Boden war frei von Unterholz. Als Letztes waren die flachen, mehligen Pilze, die sie bis zum gestrigen Tag gefunden hatten, stetig weniger geworden und dann völlig verschwunden. Er wusste, dass sich dieses Gebiet wie eine magische Todeszone in einem langgezogenen Streifen vor ihnen ausbreitete. Von jetzt an waren sie für längere Zeit auf den mitgebrachten Proviant angewiesen. Die hohe Intensität der Waldmagie war andererseits maßgeblich dafür verantwortlich, dass ihre Jäger sie bislang nicht gefunden hatten. Wenn alles weiterhin nach Plan verlief, würde das auch so bleiben. Wenn.

Der schlanke Silvalum stieß sich leicht von dem silbrig schwarzen Stamm der Buche ab und streckte den sehnigen Körper. Er war hochgewachsen und mehr drahtig als muskulös, wie die meisten Angehörigen des alten Volkes. Er trug den Bogen, den er als Teil von sich ansah wie einen Arm oder ein Bein, an einer Schlaufe auf dem Rücken. Seine Kleidung war schlicht, traditionell aus Pflanzenfasern gewoben und in einem dunklen Grüngrau gefärbt, das sich kaum von der Umgebung abhob. Zwei schlanke Klingen hingen, ebenfalls in schmalen Lederbändern, an einem Kordelgürtel. Die eine war so lang wie ein Unterarm, die andere so kurz wie eine Hand, beide dünn und beidseitig geschliffen. Er trug einen Mantel, dessen Kapuze sein langes, rabenschwarzes Haar fast völlig verbarg.

Lendir Iskariu war mit neunundvierzig Lebensjahren nach den Maßstäben des alten Volkes noch jung. In seinem harten, blassen Gesicht war jedoch nichts mehr von jugendlicher Vitalität zu erkennen. Um die goldenen Augen herum zog sich bereits ein Netz aus Falten, und die Züge wirkten verhärmt wie die eines alten Mannes. Er legte die rechte, unbehandschuhte Hand an die Rinde des Baumes, an dem er eben gelehnt hatte, und schloss die Augen.

Die Lebensenergie der Silberbuche durchfloss seinen Körper wie warmes, langsames Wasser. Lendir war kein Hirte und verfügte somit weder über eine magische Begabung noch über eine entsprechende Ausbildung. Wie alle Silvalum aber war er ein Geschöpf des Waldes und konnte die uralte Lebenskraft, die allgegenwärtige Waldmagie, fühlen. Er spürte die ungesunde Veränderung in diesem Strom, wenn auch nicht so deutlich wie Tasheili, die Hirtin, die ihnen die Flucht erst ermöglich hatte. Er nahm einen Hauch von Fäulnis wahr, obgleich weniger intensiv als bei den Pflanzen, die im Zentrum des Waldreiches wuchsen.

Er ließ die Hand sinken, öffnete die Augen und ging über das feuchte, dunkle Erdreich langsam zurück zu denen, die ihm in die freiwillige Verbannung gefolgt waren. So bezeichnete er selbst zumindest gerne seine Flucht und den Verrat, den er damit begangen hatte. Die Kapuzenmäntel, welche die Flüchtlinge trugen, verbargen sie so gut, dass sie wie kleine Hügel im Waldboden erschienen. In weiten Halbkreisen saßen sie am Boden, erholten sich und schöpften frische Kraft für den nächsten Teil ihrer langen, verzweifelten Reise. Er ging durch die Gruppen und Grüppchen von Menschen, klopfte hier jemandem auf die Schulter, sprach dort einen leisen Gruß.

Fast fünfhundert Silvalum waren ihm hierher gefolgt. So viel Verantwortung mehr, als er jemals angestrebt hatte. Und doch war es die einzige Hoffnung, die seinem Volk und seiner Familie blieb, davon war er nach wie vor überzeugt. Er mochte an den eigenen Führungsqualitäten zweifeln, jedoch keine Sekunde lang an der Notwendigkeit der Sache an sich.

Schließlich gelangte er zu einer Frau, die ein wenig abseits und allein im Zentrum der Silvalum saß. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und stützte die Hände auf die Knie, ihr Atem ging langsam und entspannt. Obwohl sie doppelt so alt war wie Lendir selbst, wirkte sie in der Ruhe, die sie umgab, jünger als er. Während er neben ihr in die Hocke sank, öffnete sie die Augen. Sie leuchteten in tiefem Graugrün, genau in dem Farbton der Blätter der Silberbuchen. Das wallnussbraune, glatte Haar verschwand im Nacken in der Kapuze ihres Mantels, als sie den Kopf etwas hob, um ihn anzusehen.

»Wie geht es dir?«, fragte er leise.

»Es geht mir gut. Es geht ihnen allen recht gut. Das ist nichts, worüber Du Dir sorgen machen musst«, erwiderte sie und machte eine knappe Geste, mit der sie die Männer und Frauen um sich herum einschloss. »Wir haben noch ein halbes Jahr, bis das erste Kind zur Welt kommen wird. Es ist alles in Ordnung.«

Er nickte und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Tasheili gehörte zu den letzten Hirtinnen, die das alte Volk hervorgebracht hatte. Damit war sie in der Lage, die allgegenwärtige Waldmagie zu sehen, zu fühlen und zu lenken. Es waren nur mehr eine Handvoll Hirten übrig, und in jeder Generation wurden weniger Silvalum mit der Gabe geboren. Tasheili war darüber hinaus die Gemahlin des Waldfürsten. Und sie erwartete, wie fast alle der zum überwiegenden Teil weiblichen Gefolgsleute von Lendir, ein Kind.

Dieser Umstand war der Grund dafür, dass sie sich ihm angeschlossen hatte. Ihre Unterstützung gab den Ausschlag, um das Wagnis überhaupt einzugehen. Zugleich hatte es erst ihr Einfluss ermöglicht, dass sie am Ende mit so vielen Seelen aufgebrochen waren. Ohne die Hirtin wäre der Waldläufer vermutlich nur mit einigen wenigen Vertrauten auf eigene Faust losgezogen. Gleich mehrere Hundert Mitglieder seines Volkes in eine ungewisse Zukunft zu führen, hätte er sich niemals zugetraut.

Es waren das Wissen, der Einfluss und die Autorität der Gemahlin des Waldfürsten, welche ihr Vorhaben in einem solchen Umfang überhaupt erst ermöglichten. Nur sie hatte eine so große Zahl Silvalum unbemerkt zusammenbringen können. Und nur die Macht der Hirtin hatte die Gruppe bis jetzt am Leben erhalten, indem sie den Weg und ihren Aufenthaltsort vor den schrecklichen Jägern verbarg, die ihnen folgten. Lendir selbst war der Kommandant der fürstlichen Späher. Damit war er für den Schutz der Ränder des Waldes verantwortlich, oder war es zumindest bis zu dem Verrat gewesen. Auch als Unterhändler und Bote zwischen dem alten Volk und den Menschen von außerhalb hatte er mit seinen Gefolgsleuten gedient. Bis man die ehemaligen Handelspartner auf den Befehl des Waldfürsten hin in Silvershire abgeschlachtet hatte. Das Massaker war nicht der entscheidende Grund für den Entschluss zur Flucht, hatte ihm aber endgültig vor Augen geführt, wie hoffnungslos die Lage in der Heimat tatsächlich war. Und vor allem, wie unrettbar sich der Fürst in den Wirren der Verderbtheit, die ihr Land zerfraß, verloren hatte. Oder in seinem eigenen Wahnsinn, so es diesen Unterschied denn gab.

»Du solltest dir ebenfalls einige Stunden Ruhe gönnen«, riss ihn die sonore Stimme der Hirtin aus seinen Gedanken. »Der beste Führer ist nutzlos, wenn er vor Erschöpfung zusammenbricht.«

Er lächelte sie an und nickte, legte seine Hand einen Moment auf ihren Unterarm und wand sich dann ab.

»Bald«, sagte er über die Schulter, und setzte die Runde durch die ruhenden Silvalum fort.

Er ging die Reihen der Rastenden ab, eine Gruppe nach der anderen, drückte hier eine Hand, umarmte dort eine Frau. Er versuchte denen, die ihm ihr Leben anvertraut hatten, so viel Zuversicht und Geborgenheit zu vermitteln, wie er nur vermochte. Sie sollten sich nicht im Übermaß um das Ungewisse sorgen, das auf sie lauerte. Ebenso wenig wie um das Siechtum und den Tod, die hinter ihnen lagen, oder über das unheilige Verderben, das sie jagte. Er schlug sich seiner Einschätzung nach recht gut darin, ein Selbstvertrauen auszustrahlen, das er nicht empfand. Es genügte, wenn all diese Sorgen und Ängste sich Tag für Tag in sein eigenes Herz fraßen.

Seine Gedanken schweiften bei dem Gang durch die Reihen der Flüchtlinge immer wieder in die letzten Jahre zurück. Der Niedergang seines Volkes mochte schon vor Generationen begonnen haben. Der kontinuierliche Rückgang der Zahl der Hirten war zumindest ein Indiz dafür. In den alten Tagen hatte es Hunderte von ihnen gegeben. Silvalum, die mit der Gabe geboren wurden, mit dem Wald und seinen Geschöpfen zu sprechen. Mit der Fähigkeit die Energie, die das Land durchfloss, zu fühlen und für ihr Volk nutzbar zu machen. In den letzten Generationen waren es stetig weniger geworden. Das lag nicht an mangelnder Ausbildung, sondern einfach daran, dass kaum noch Silvalum zur Welt kamen, die über genug Talent verfügten, um eine Unterweisung zu rechtfertigen.

Vor zwei Dekaden hatte den Neugeborenen dann immer öfter mehr gefehlt, als nur eine Verbindung zur Seele des Waldes. Anfangs war das Sterben der Säuglinge schleichend vor sich gegangen und es hatte nur die eine oder andere Missbildung gegeben. In den vergangenen drei Jahren hatte sich die Lage in einen Alptraum verwandelt. Jedes zweite Kind wurde inzwischen tot geboren oder starb wenige Tage nach der Entbindung. Oft ohne jeden ersichtlichen Grund. Im Laufe der letzten Monate waren die Zustände unerträglich geworden, und nur noch zwei von zehn Säuglingen überstanden die erste Lebenswoche. Anstehende Geburten, einst ein freudiger Anlass, waren jetzt gefürchtet, und eine Schwangerschaft galt fast schon als Fluch.

Niemand vermochte zu sagen, worin das Sterben begründet lag. Alle wussten hingegen, dass jedes Stück Nahrung, jeder Tropfen Muttermilch und jeder Atemzug von der Waldmagie durchzogen war, die ihre Heimat seit Urzeiten durchdrang. Und die Hirten spürten schon lange, dass diese Magie sich veränderte. Über Jahrtausende war die urtümliche Lebenskraft des Waldes ihr Verbündeter gewesen. Sie hatte sie vor der Außenwelt verborgen und geschützt, hatte ihnen ein langes Leben und Gesundheit geschenkt. Nun schien es so, als würde sie sich gegen sie wenden und sie ins Verderben reißen.

Im Laufe der Zeit mehrten sich die Stimmen, die der Meinung waren, dass die Verderbnis von den Silvalum selbst verschuldet sei. Man erlaubte den Menschen seit Generationen den Frevel, am Rande des Waldes zu leben. Die ständige Präsenz und die immer weiter fortschreitende Annäherung an das schmutzige, primitive Menschenvolk habe die Seele des Waldes erzürnt. Dass der Waldfürst diesen Stimmen nachgab und daraufhin das stets friedliche Silvershire hatte vernichten lassen, war nur die Letzte in einer langen Kette von verzweifelten Entscheidungen. Was auch immer sie in der Fremde erwarteten mochte, die Alternative in der Heimat bedeutete Wahnsinn und Tod.

Das Tasheili eines Tages an ihn herangetreten war, hatte ihm zuerst einen unsäglichen Schrecken versetzt. Er hatte seine ersten Schritte, glaubte er zumindest, mit großer Vorsicht und Behutsamkeit getan. So viel Grübelei und Planung, um so früh zu scheitern. Aber die ruhige und bedachte Gemahlin des Fürsten nahm ihn nur beiseite und bot ihm ihre Hilfe an. Das wenige Wochen alte Kind, das sie unter dem Herzen trug, war es, dass für sie den Ausschlag gab. Das und sein eigener Ruf als verlässlicher, besonnener und zutiefst loyaler Mann, den er sich in den Jahren seines Dienstes erarbeitet hatte.

Der Hirtin war es zu verdanken, dass sie mit mehreren hundert Silvalum hatten fliehen können. Und allein ihre Macht verschleierte nun die Spur, welche sie im Fluss der Waldmagie hinterließen. Sie schien inzwischen auch die Einzige zu sein, die sie weit genug Richtung Osten zu führen vermochte, um sowohl der Verderbnis als auch den Jägern zu entkommen.

Lendir war ein erfahrener Waldläufer und hatte einige Dutzend seiner alten Weggefährten für diese Reise gewinnen können. Gute, tapfere Männer und Frauen, die den Wald und seine Wege kannten wie niemand sonst. Vor den Häschern, die der Waldfürst auf sie gehetzt hatte, gab es jedoch kein Entrinnen. Weder für ihn, noch für andere Sterbliche, die sich der Seele des Waldes nicht zu bedienen wussten. Anfangs hatte er daran gezweifelt, dass selbst die erfahrene Hirtin in der Lage war, die Spur von so vielen Silvalum zu verschleiern. Tasheili war sich ihrer Sache hingegen sicher, und bislang war die Reise reibungslos verlaufen.

Lendir fragte sich gelegentlich, ob die Beziehung zwischen der Fürstin und ihrem Gemahl schon zuvor getrübt worden war. Er hatte das Thema bis jetzt nicht angeschnitten und hatte es auch nicht vor. Offenkundig ging ihr das Wohl ihres ungeborenen Kindes über alles. Dieses Wagnis war die einzige Chance, dem Fluch zu entkommen, der sich scheinbar über ihr Volk gelegt hatte. Wenn es denn überhaupt eine Möglichkeit gab. Die Säuglinge, die hier in den Leibern der fast vierhundert Frauen heranwuchsen, mochten bereits unrettbar verloren und ihr Verrat ebenso sinnlos sein wie ihre Flucht.

Das Mirtiro, der Fürst des Waldes, den Pfad der Weisheit verlassen hatte, war spätestens mit dem Befehl für Silvershire deutlich geworden. Lendir konnte die Angst der anderen Silvalum nur zu gut nachvollziehen. Er verstand auch den verzweifelten Versuch, einen Schuldigen für das Elend zu finden, das über sein Volk hereinbrach. Es wäre eines gewesen, den Kontakt zu den Menschen abzubrechen. Genau damit hatte der ehemalige Kommandant der fürstlichen Späher zunächst gerechnet. Er hatte auf die Anweisung des Fürsten hin die bisher in Silvershire lebenden Silvalum am Waldrand empfangen, und in das Herz ihrer Heimat zurückbegleitet. Er hatte diese Entscheidung bedauert. Das Verhältnis zwischen den Außenweltlern und seinem Volk hatte sich im Laufe der Zeit beinahe zu einer distanzierten Freundschaft entwickelt.

Wenig später hatte er die Gruppe zu der Siedlung geführt, die den Ort gesäubert hatte, der von den Menschen Silvershire genannt worden war. An diesem Tag hatte er beschlossen, die Heimat zu verlassen. Von da an hatte er Pläne geschmiedet.

Er strich einer besonders jungen Frau, die sich in die Arme einer älteren schmiegte, über das Haar. Sie hob den Kopf und lächelte ihn an, die Augen von schimmerndem Gold wie seine eigenen. Man sah noch keiner von ihnen die Schwangerschaft an, aber er kannte sie beide. Er kannte inzwischen jeden der Flüchtlinge, jede einzelne Seele, die ihr Leben in seine Hände gelegt hatte.

Wenn ich versage, bin ich am Untergang unseres Volkes nicht weniger Schuld als Mirtiro, kam es ihm in den Sinn. Und ich habe nicht einmal die Entschuldigung, dem Wahnsinn anheimgefallen zu sein. Oder vielleicht bin ich das. Spürt der Fürst auf irgendeiner Ebene seines Geistes, was mit ihm passiert?

Grimmig schob er den Gedanken an den Mann, dem er vor vielen Jahren Treue bis in den Tod geschworen hatte, beiseite. Er hatte getan, was er für richtig hielt. Alles, was hinter ihnen lag, war jetzt nur noch insofern von Bedeutung, wie sie verhindern mussten, dass es sie einholte.

Seine Hauptaufgabe war es mittlerweile, den Menschen Zuversicht zu geben. Die eigentliche Arbeit des Führens lag inzwischen bei Tasheili. Anfangs führten Lendir und seine alten Weggefährten die Gruppe auf dem Weg nach Osten, und die Hirtin hatte die Gabe nur dafür verwenden müssen, ihre Spur zu verwischen. Je weiter sie in die dunklen Tiefen des Waldes vordrangen, umso unzuverlässiger wurden allerdings die Sinne der Waldläufer. Die Waldmagie war hier so intensiv, dass sie die Realität selbst vor den Augen und Ohren der Silvalum zu verschleiern vermochte. Mit jedem Tag musste die Hirtin ihre Aufmerksamkeit stärker aufteilen und sowohl dem Weg vor ihnen, wie auch dem hinter ihnen widmen.

Lendir hoffte, dass ihre Kraft ausreichte, um diese Belastung bis zum Ende durchzustehen. Mehr als einmal hatte sie die von ihm eingeschlagene Richtung drastisch korrigiert. Ihm wurde übel, wenn er daran dachte, wohin er sie hätte führen können. Mittlerweise verspürte er ein Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn ob seiner immensen Verantwortung unsagbar frustrierte. Ohne die Fähigkeiten der Hirtin würden sie sich in den gleichen magischen Schleiern verlieren, die über Jahrtausende hinweg Bedrohungen vom Inneren ihrer Heimat ferngehalten hatten. In den Rändern des Waldreiches waren im Laufe der Zeitalter ganze Heere von Außenweltlern spurlos verschwunden. Da spielten ein paar hundert Männer und Frauen mehr keine große Rolle. Die Zeiten, in denen die Schleier nur den Feinden des Waldes gefährlich werden konnten, schienen vorbei zu sein.

Oder aber du hast einfach die Gunst der Heimat mit deinem Verrat verspielt, dachte er plötzlich. Vielleicht gehörst du nun zu den Feinden des Waldes, und die alte Magie richtet sich deshalb gegen dich. Wäre das nicht eine interessante Wendung, wenn all diese Männer und Frauen sterben würden, nur weil sie einem Verräter wie dir folgen?

Er atmete einige Male tief ein und aus und ließ seinen Blick über die Bäume schweifen, die sich um ihn herum in alle Richtungen erstreckten. Es gab hier keine Lichtung im eigentlichen Sinne, aber die einzelnen Buchen standen weit auseinander. Durch das nahezu völlige Fehlen des Unterholzes bot der Boden ausreichend Platz für ihr Lager, und so war der Ort für die Rast so gut wie jeder andere.

Seine Augen suchten nach dem diffusen Verschwimmen, diesem leichten Flackern, dass er nur aus den Augenwinkeln wahrzunehmen vermochte. Er hatte es immer eine Weile gesehen, bevor Tasheili ihn zur Seite genommen und ihn zu einem Richtungswechsel aufgefordert hatte. Stets diskret und leise, so dass niemand etwas davon mitbekam. Sie wollte seine Autorität als Führer nicht untergraben und wusste, wie wichtig er für die Moral der Silvalum war. Den anderen Waldläufern, welche seit vielen Jahren unter Lendir dienten, blieben diese Vorgänge natürlich nicht verborgen. Sie merkten selbst, dass sie den eigenen, sonst so untrüglichen Sinnen nicht mehr trauen konnten.

Er beendete seine Runde wenig später und kam erneut an der Ruhestätte von Tasheili vorbei. Sie hatte die Augen jetzt offen, und er nickte ihr ihm Vorbeigehen zu. Er ging in die Richtung des Baumes, an dem er gelehnt hatte, hielt sich links davon und kam schließlich zu einer kleinen Gruppe von Frauen, in deren Mitte er Platz nahm. Lendir rückte an eine junge Silvalum mit dunkelblondem, lockigem Haar und leuchtend grünen Augen heran. Sie drehte sich ihm zu und lächelte, woraufhin er ihr eine der gelockten Haarsträhnen aus der Stirn strich. Ihr Gesicht war herzförmig, die Lippen voll, die Augen groß und strahlend, die Nase klein und gerade. Sie strahlte die makellose, wundervolle Vitalität der Jugend aus. Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Nach dem kurzen aber innigen Kuss legte er einen Arm um ihre Schultern und die Hand des anderen auf ihren Bauch. Sie döste wenig später langsam ein und Lendir wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihr Kind überleben würde.

Er schaute in den wabernden Nebel, in dem sich der Wald vor ihnen verlor, und versuchte selbst in einen Zustand zu gleiten, der dem Schlaf zumindest nahekam. Irgendwo dort draußen waren die Sentinel. Er konnte sie beinahe in den Schatten sehen, wie sie hin und herhuschten, die glühenden Augen auf die Spuren der Verräter geheftet, die schwarzen Bögen in den klauenartigen Händen. Wenn ihre Jagd Erfolg hatte, würde es nichts geben, was Lendir für seine Frau oder das ungeborene Kind tun konnte.

Leben oder Tod, Erlösung oder Verdammnis, jetzt oblag alles dem Urteil des Waldes. Schließlich glitt auch er hinüber in die Dunkelheit.

Blutherbst

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