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6. Kapitel 5

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Silvershire

Elias Santos ließ den Blick ebenso gelangweilt wie desinteressiert über die Straße und den umliegenden Wald schweifen. Es war bereits früher Nachmittag, aber das spielte im Grunde keine Rolle. Weder war sein Interesse am Wachdienst zu einer anderen Tageszeit größer, noch hätte sich der breite, gut befestigte Pfad betriebsamer gezeigt. Die Tage des geschäftigen Treibens gehörten für diesen Ort der Vergangenheit an. Das war freilich auch Sinn der Sache, denn das Gebiet war seit einiger Zeit eine verbotene Zone.

Er war jetzt bereits seit mehreren Wochen hier stationiert. Die Ortschaft Silvershire, die sich bis vor wenigen Monaten an diesem Ort befunden hatte, war inzwischen spurlos verschwunden. Der Ort war vor vielen Jahren als Handelsniederlassung gegründet worden. Über diese Verbindung hatte das Königreich seine Beziehungen zu dem befreundeten Volk der Silvalum gepflegt, das im östlich gelegenen Dunkelsilberwald lebte. Der Angriff, mit dem die Siedlung überrannt und die Bevölkerung abgeschlachtet worden war, hatte die Menschen völlig überraschend getroffen. Auch der Grund für die plötzlichen Feindseligkeiten lag im Dunkeln. Danach war eine Abordnung von Tempelrittern und Geistlichen eingetroffen. Diese Verbände hatten den Waldrand zunächst abgesichert. Dann jedoch waren sie bis auf wenige Ausnahmen binnen kürzester Zeit einem unerklärlichen Siechtum zum Opfer gefallen. Es war bis heute unklar, ob es sich um eine Art Krankheit oder ein Gift handelte, dass die Feinde zurückgelassen hatten. Woran die Männer genau gestorben waren, würde wohl auch ein ewiges Geheimnis bleiben. Jedenfalls war man danach gründlicher. Ein massives Aufgebot an Templern, Priestern und Soldaten nahm sich schließlich dem an, was von Silvershire übrig geblieben war. Sie hatten den Ort zerstört, ausgebrannt und geläutert.

Elias kümmerten solche Dinge ohnehin nicht. Er wusste, dass man den Ort niedergebrannt und den Boden gesalzen und umgegraben hatte. Danach war Öl in das Erdreich geschüttet worden und man hatte erneut die Flammen ihren Dienst tun lassen. Jetzt befand sich dort, wo einmal der freundschaftliche Handel zwischen zwei so verschiedenen Völkern geblüht hatte, ein Heerlager. Der Boden, auf dem es stand, war tot und der Rauch, der von den fast fünfhundert hier Gefallenen geblieben war, längst verweht.

Elias war mit neunundzwanzig Jahren einer der ältesten Kameraden, die hier ihren Dienst versahen. Insgesamt waren in der näheren Umgebung inzwischen knapp sechshundert Mann stationiert. Da waren zunächst einige Priester, die sich vorsichtshalber weiterhin im Heerlager aufhielten. Dann die Brüder des Templerordens, die offiziell das Kommando führten. Dazu kamen dutzende von Soldaten des Königs und noch einmal beinahe dreihundertfünfzig weitere in den Farben des Herzogs de Ortega. Gut die Hälfte von ihnen stammten aus den Reihen des Grafen Felipe de Serrat, und zu ihnen gehörte auch Elias. Es wunderte ihn, dass sowohl der Herzog als auch Graf abwesend war, während offenbar ein Marschall der Templer hier den Oberbefehl hatte. Aber was verstand er schon von solchen Dingen. Es kümmerte ihn im Grunde auch einen Dreck, solange er regelmäßig seinen Haferbrei bekam und die Wachablösung pünktlich war.

Elias hatte früh erkannt, dass man bei der Truppe am besten davonkam, wenn man tat, wie einem geheißen, sein Maul hielt und sowohl Ärger wie Verantwortung aus dem Wege ging. Dieser Einstellung verdankt er auch, dass er es, ungeachtet seiner über 15 Jahre im Dienste des Grafen, kaum zu einem höheren Rang gebracht hatte, als ein frisch rekrutierter Bauernlümmel. Er hatte damit kein Problem. Wenn ihm ein Bursche von zwanzig oder noch weniger Lenzen einen Befehl erteilte, dann führte er ihn eben aus. Schlimmer, als die Plackerei auf dem Hof seines Vaters oder, was noch beschissener war, in einer Werkstatt in irgendeiner Stadt, war nichts von dem, was hier von einem verlangt wurde. Ob man Latrinen für die Kameraden aushob oder eine Jauchegrube für das Vieh schaufelte, nahm sich nichts. Andererseits war man bei der Truppe sicher, dass man abends einen geschützten Platz zum Schlafen hatte und die Schüssel mit dem Brei voll war. Hier spielte es keine Rolle, ob die Ernte schlecht oder die Tiere krank waren. Für Elias war das gut genug und er war mit seinem Los so zufrieden, wie ein Mann von niedrigem Stand eben in dieser Welt sein konnte.

Nun verbrachte er bereits die sechste ereignislose Woche an diesem verlassenen Ort. Er hätte nichts dagegengehabt, wenn es ewig so weitergegangen wäre. Das Lager stand, der Alltag war geregelt und außer Langeweile gab es nichts zu beanstanden. Die wiederum war eher ein Geschenk als ein Mangel, bedeutete sie doch, dass es keine anstrengenden Arbeiten zu erledigen gab. Der Wachposten, an dem er nun in den Tag hineinträumte, lag direkt an der Straße, die bis vor einiger Zeit Silvershire mit dem Rest des Reiches verbunden hatte. Knapp zweihundertfünfzig Schritte hinter ihnen begann nach einer Wegbiegung das vom Wald umschlossene Lager.

Elias hatte keinen einzigen Fremden zu Gesicht bekommen, seit er hier Dienst tat. Kleine Wachposten, wie der grob zusammengehauene Unterstand, in dem er jetzt seine Schicht versah, zogen sich die Straße in weiten Abständen auf einige Landmeilen hin entlang. Meist waren sie mit zwei Mann besetzt. Dies hier war einer der Letzten und damit war die Chance, dass es doch einmal etwas zu tun geben würde, verschwindend gering.

»Was ist das denn für einer?«, ertönte plötzlich eine erstaunte Stimme neben ihm. Gonzo, mit richtigem Namen Ramon Gonzales, klang freilich immer mehr oder weniger erstaunt. Obwohl es natürlich Blödsinn war, war Elias sicher, dass der Mann schon von Kindheit an nur Gonzo genannt wurde. Vermutlich, weil er sich den ganzen Namen nicht merken konnte.

Er wusste, dass er selbst keine besonders große Leuchte war, aber er glaubte nicht, dass es einen dümmeren Mann in den Diensten des Grafen gab als diesen. Gonzo kam, so hieß es, aus einer verarmten Schreinerfamilie und war einundzwanzig Jahre alt. Seine Vorzüge waren offensichtlich. Er war gut einen Kopf größer als Elias und in den Schultern fast doppelt so breit. Seiner Unzulänglichkeiten wurde man spätestens dann gewahr, wenn er den Mund zu einem anderen Zweck aufmachte, als um Nahrung hineinzuschaufeln. Zum Glück gehörte Gonzo nicht zu der am weitesten verbreiteten und unerträglichsten Sorte Idioten. Nämlich denen, die ständig am Plappern waren. Er hielt meist das Maul und tat, was man ihm sagte. Das war im Grunde alles, was Elias von einem Partner erwartete. Er folgte nun träge dem ausgestreckten Arm des anderen Mannes, der mit einer kindlichen Geste die Straße entlangzeigte.

In einigen hundert Schritt Entfernung, in der nächsten Kurve, zwischen zwei steinigen, dicht mit Nadelbäumen bewachsenen Hügeln, war eine Gestalt aufgetaucht. Genauer gesagt waren es sogar zwei, die eine groß, die andere etwas kleiner. Er kniff die Augen zusammen und starrte in die Richtung der Neuankömmlinge.

Schnell erkannt er, dass es sich um einen Mann und einen Hund handelte. Einem verdammt dicken Brocken von Hund, wie es aussah. Beide zeichneten sich pechschwarz vor dem trüben Hintergrund des nachmittäglichen, grauen Himmels ab. Das Tier war zottig und entweder ungewöhnlich massig, oder aber der Mann war relativ klein. Es trabte neben seinem Besitzer her, dem es gut bis zu den Hüften reichte. Der Mann schritt zügig, jedoch scheinbar ohne große Eile aus und trug offenbar eine Art Reisemantel mit Kapuze.

»Keine Ahnung, was das soll«, murmelte Elias, »werden wir aber bald wissen, müssen ja hier vorbei. Verstehe nicht, wie die so weit kommen konnten, müssen doch mehr als ein Dutzend verdammte Posten vor dem hier auf dem Weg liegen.«

Er umfasste den Griff seines Speers fester, richtete sich auf und drückte den Rücken durch. Der Fremde, der nun immer weiter herankam, trug scheinbar schwere Stiefel, hatte ein kleines Bündel auf dem Rücken und war in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllt, der ihm bis über die Knie reichte. Die Kapuze selbst war tief ins Gesicht gezogen, der Mantel war jedoch halb geöffnet und gab den Blick auf dunkle Wolle frei. Je näher die Gestalt kam, desto weiter korrigierte er seine Schätzung betreffs der Körpergröße. Der Mann war ein Hüne, überragte vielleicht sogar Gonzo, obgleich er nicht ganz so massig gebaut war.

Wenn er so groß ist, dachte Jorge, ist der Hund ja ein beschissenes Pony. Das Tier wuchs beim Näherkommen mit dem Mann, und da es ihm bis zur Hüfte reichte, musste sich der Kopf für Elias etwa auf Brusthöhe befinden. Außerdem war das Tier zweifellos schwerer als er. Erneut fragte er sich, wie dieses merkwürdige Paar so weit gekommen war. Die beiden machten nicht den Eindruck, sich irgendwo heimlich durch die Bäume geschlagen zu haben. Und übersehen konnte die nun wahrlich niemand. Darüber hinaus fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, was jemand freiwillig hier draußen wollte. Es gab hier nichts mehr außer Wald und Soldaten. Die Nachricht über den Verlust von Silvershire musste sich mittlerweile überall im Reich herumgesprochen haben.

Er gab Gonzo einen Wink, und die beiden Männer bewegten sich ein Stück von ihrem Wachhäuschen weg, um sich nebeneinander in der Mitte der Straße aufzubauen. Der Fremde kam in gleichmäßigem Tempo auf sie zu, scheinbar unbeeindruckt von ihrer Anwesenheit. Als er noch gut fünfzig Schritte entfernt war, hob er langsam die Hände und schlug die Kapuze zurück, ohne aus dem Tritt zu kommen.

Das Erste, was Jorge auffiel, war die bleiche Haut des Mannes. Seine Hände steckten in Handschuhen, die ebenso nachtschwarz waren, wie der Rest seiner Kleidung. Im Kontrast dazu wirkte das Gesicht so weiß wie frisch gefallener Schnee. Der Fremde hatte langes, eisgraues Haar und einen ebensolchen Bart, der zu einem losen Zopf geflochten war.

Elias kniff die Augen zusammen. Nicht viel Dreck oder Matsch an seinem Zeug. Dafür, dass er eine ganze Weile bei dem Wetter unterwegs sein muss, sieht er aus, als hätte er die Straße nie verlassen. Und heilige Scheiße, der Hund. Am unteren Teil des Mantels, den Stiefeln und der Hose des Mannes konnte er Flecken und Spritzer von Erde und Schlamm sehen. Nicht in den Mengen, die man bei einem Reisenden in dieser Gegend und zu dieser Zeit erwartete, aber immerhin vorhanden. Das mattschwarze, zottige Fell des Hundes schien jedoch völlig sauber zu sein.

Eigentlich, dachte er, müsste sich diese schwere, riesige Töle doch bis zur Brust eingesaut haben. Das Vieh wiegt ganz bestimmt mehr als ich, auch wenn einiges von seiner Masse Fell sein muss.

Er schüttelte leicht den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann. Das war allerdings auch nicht viel besser oder weniger befremdlich. Das blasse Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und wurde fast zur Hälfte von dem dichten, grauen Bart verdeckt. Die Augen waren, wie Elias erkannte, als er der Mann bis auf wenige Schritte herangekommen war, von der allgegenwärtigen Farbe des Himmels, einem dunklen, tiefen Stahlgrau. Das Alter des Fremden zu schätzen war ihm unmöglich. Zwar war das Haar grau und man sah Runzeln gleichermaßen an der Stirn wie an Mund und Augen, aber gleichzeitig wirkte er unglaublich Vital und seine Bewegungen waren die eines unverbrauchten, jungen Mannes. Er konnte ein früh ergrauter Dreißiger sein, ebenso gut wie ein junggebliebener Fünfziger.

»Heda, die Straße ist auf den Befehl des Königs gesperrt«, sagte Elias nun mit fester Stimme. »Ihr könnt hier nicht vorbei und auch sonst nirgendwo in dieser Richtung. Kehrt um und geht dahin, wo ihr hergekommen seid.«

Der Fremde kam keine drei Schritte vor ihnen zum Stehen, der unheimliche Hund blieb zum Glück hinter ihm. Ein vages Lächeln zeichnete sich unter dem Bart ab und in den Augen funkelte etwas, das Belustigung sein mochte. Sein Blick ging rasch in Richtung des Lagers und dann wieder zu den beiden Männern vor ihm.

»Seid gegrüßt, die Herren Soldaten«, sagte er schließlich.

Elias hatte sich auf den Hund konzentriert, wahrlich eine riesige Bestie war das. Die Stimme des Mannes riss ihn jedoch sofort aus seinen Gedanken und schlug ihn in ihren Bann. Sie war unglaublich dunkel, ein wenig rau aber wohlmoduliert und trotz des starken Basses auf gewisse Weise melodiös. Außerdem war sie ebenso alterslos wie der Rest des Fremden. Dreißig? Vierzig? Fünfzig?

»Es ist lange her, dass ich Silvershire besucht habe«, fuhr der Wanderer nun freundlich fort. »Ich war viele Jahre auf Reisen. An einem weit, weit entfernten Ort.«

Elias entspannte die Hand um den Speer, den er umfasst hielt. Er spürte, wie sich Gonzo neben ihm ebenfalls zu entspannen schien. Was immer der Mann hier wollte, es schien keine Gefahr von ihm auszugehen.

»Wenn ihr mir nicht erlaubt, zu passieren, mögt ihr mir vielleicht verraten, was hier geschehen ist?«

Ramon Gonzales, seit langem und für den Rest seines kurzen Lebens nur »Gonzo« genannt, schenkte dem Fremden seine ganze Aufmerksamkeit. Es war viele Jahr her, dass er sich so sehr auf das, was man ihm sagte, hatte konzentrieren können.

Beim letzten Mal war der Sprecher sein Vater gewesen. Damals, als er noch die Geduld und den Ehrgeiz hatte aufbringen können, dem geistig beschränkten Sohn wenigstens die Grundlagen des Lebens beizubringen. Anfangs sogar noch, welch grausamer Scherz, die einfachsten Handgriffe des Schreinerhandwerkes. Der Vater sah freilich irgendwann ein, dass dies ein sinnloses Unterfangen war. Mit den Jahren wichen Zuneigung und Geduld für seinen minderbemittelten Sohn zunächst dem Mitleid und der Verzweiflung. Dem folgten Zorn und Gewalt. Die Jahre der immer heftiger und reichlicher verabreichten Prügel waren Gonzos erbärmlicher Aufnahmebereitschaft nicht unbedingt zuträglich. Das galt ebenso für seine sozialen Fähigkeiten und seine Kontingenz. Eines Tages hatte ihn sein Vater in einem Wutanfall halb totgeschlagen. Nachdem er sich davon erholte hatte, war er den Truppen des Grafen überlassen worden.

Jetzt aber hing er mit Hingabe an den Lippen dieses fremden Wanderers, der so freundlich mit ihnen sprach. Diese Stimme, irgendetwas im Timbre der Worte, weckte alte, lange verschüttete Erinnerungen in seinem Unterbewusstsein. Gefühle, die er niemals bewusst wahrgenommen hatte, an die er sich von selbst nicht hätte erinnern können. Es waren Empfindungen von Wärme und Geborgenheit, von der Zuneigung, die ihm ein alter Mann vor langer Zeit geschenkt hatte. Er wusste nicht, wer dieser Mann war, weil sein Großvater gestorben war, als er noch sehr klein gewesen war. Die ersten drei Lebensjahre hatte sich dieser Großvater um ihn gekümmert. Er hatte dem kleinen Ramon, der damals noch ein sehr stilles, ruhiges Baby und später ein sehr stilles, schüchternes Kleinkind war, viele Geschichten erzählt. Das war Jahre bevor aus Ramon der große, dumme Gonzo wurde. Auch darüber hinaus hatte er sich liebevoll um seinen Schützling gekümmert.

Opa hatte nach einem Unfall den linken Arm verloren und war zu sonst nichts mehr nutze. Der kleine Ramon war die letzte große Freude in seinem Leben gewesen. Er hatte den Jungen, den man damals noch für still und schüchtern hielt, anstatt für verblödet und zurückgeblieben, verwöhnt und umsorgt, wie er nur konnte. Dann aber war Opa krank geworden, hatte viel gehustet und war schließlich gestorben.

Eine einzelne Träne lief über die ungeschlachte Wange des Ramon der Gegenwart, der von einigen Gonzo der Riese, von den meisten jedoch Gonzo der Blöde oder Gonzo der Dummfick genannt wurde.

Elias ahnte nichts von dem Aufruhr, der in dem Kameraden herrschte. Es kümmerte ihn auch nicht, war er doch selbst gebannt von dem Fremden und seiner intensiven Präsenz.

»Silvershire wurde angegriffen«, hörte er sich sagen. »Schon vor einigen Wochen. Waren die Waldlinge und es gab keine Überlebenden. Die Ortschaft gibt es nicht mehr, sie wurde abgerissen, niedergebrannt und geläutert.«

Er schüttelte leicht den Kopf und wunderte sich darüber, warum zum Henker er diesem Mann Auskunft gab. »Es tut mir leid, aber hier darf niemand durch«, wiederholte er erneut, »Auf Befehl des Königs weise ich euch an ...«

»Das zu hören trifft mich zutiefst«, unterbrach ihn der dunkle Singsang der Stimme des Wanderers. Sie klang noch immer freundlich, doch jetzt hatte sie auch einen melancholischen Unterton. »Ich hatte sehr liebe Freunde in Silvershire. Die Nachricht ihres Todes auf so plötzliche Weise zu erhalten ist erschütternd. Es wird doch sicher einen Ort geben, an dem sie bestattet wurden.

Elias, mein Junge, du wirst mich doch zu ihren Gräbern führen, damit ich sie für einen Moment gebührlich betrauern kann, nicht wahr? Und Ramon, mein guter, stiller Ramon, du siehst so schrecklich müde aus, du möchtest doch sicher ein wenig schlafen.«

Er hob mit einer fließenden Bewegung die Hand und machte mit seinen langen Fingern eine spielerisch wirkende Geste.

»Ja, Mon sehr müde ist«, sagte Gonzo mit verträumter Stimme. Er sprach undeutlich und seine Worte klangen kindlich verwaschen. »Mon sehr Müde. Schlafen schön. Danke Opa Riko, Mon müde, Mon geht schlafen.«

Elias sah dem großen, breitgebauten Kameraden teilnahmslos nach, als er mit schlurfenden Schritten zum Wachhäuschen ging. Dieser höfliche, zuvorkommende Fremde hatte einen schrecklichen Verlust erlitten. Es war nur recht und billig, dass er ihn zu den Gräbern seiner Freunde führte, damit er Abschied von ihnen nehmen konnte. Sollte sich der blöde Gonzo doch ausruhen. Er war ohnehin zu kaum etwas gut, und zumindest war dann noch jemand hier. Nicht, dass diese dummen Wachposten überhaupt einen Sinn hatten.

Gonzo ging mit etwas unsicheren Schritten zu dem grob zusammengebauten Verschlag, der den Wachen einen rudimentären Schutz vor der Witterung bot. Er zwängte seinen massigen Leib in eine Ecke und setzte sich auf die raue Holzbank. Tränen liefen jetzt über seine Wangen, aber diesmal waren es Tränen des Glücks. Opa Enriko war gar nicht tot, er war wieder da und sprach mit ihm. Genauso liebevoll und geduldig wie damals, als er drei Jahre alt gewesen war, bevor jeder ihn Idiot und Blödian nannte und bevor sein Vater begonnen hatte, ihn blutig zu prügeln. Er hatte Opa ganz vergessen gehabt, aber nun war er wieder bei ihm.

Er zog die Beine an und schmiegte sich, so gut es sein gewaltiger Leib zuließ, in die Ecke des Verschlages. Dann steckte er den linken Daumen in den Mund, schloss die Lippen darum und war sofort eingeschlafen.

Fast augenblicklich bildete sich ein winziges Blutgerinnsel in seinem Herzen. Während Elias sich mit dem Fremden auf den Weg machte, löste es sich. Als die beiden Männer und der riesige schwarze Hund ihren Weg zur Hälfte zurückgelegt hatten, erreichte es Gonzos armes, unterentwickeltes Gehirn. Als Elias seinen letzten Weg beendet hatte, starb Ramon Gonzales mit nicht einmal fünfundzwanzig Jahren an einer Hirnembolie.

»Es ist wirklich sehr freundlich von euch, mir zu helfen, mein Lieber«, hörte Elias die Stimme des zuvorkommenden Fremden. Er war der Einzige, der sie hören konnte, denn sie erklang jetzt allein in seinem Kopf. Es war ihm wichtig, den Mann so schnell wie möglich zu den Gräbern seiner Freunde zu bringen.

Er wusste schließlich nur zu gut, wie furchtbar es war, wenn man Menschen verlor und nicht richtig um sie trauern konnte. Seine kleine Schwester, ein molliges und fröhliches Mädchen von gerade einmal vier Jahren war spurlos verschwunden, als er selbst erst sechs Jahre alt gewesen war. Seine Eltern und die Leute im Dorf hatten wochenlang nach ihr gesucht, aber nie auch nur eine Spur von ihr finden können.

Seine Mutter war über die Gram und durch die Ungewissheit krank geworden und zwei Jahre später gestorben. Da hatte er dann jemanden gehabt, um den er richtig trauern konnte. Freilich gab es auch danach Grund zu trauern, als die dumme Schlampe, die sein Vater kurz darauf heiratete, ihn ständig verprügelte.

Von seiner geliebten Schwester, der kleinem pummeligen Herminia, träumte er in manchen Nächten bis zum heutigen Tage. Dabei war sie seit beinahe zwanzig Jahren verschollen und musste längst tot sein.

Der Fremde, der nun der absolute Herrscher über jeden noch so geheimen Winkel seines innersten Selbst war, hätte ihm sagen können, was mit dem Kind geschehen war.

Der kleine Elias hatte seine jüngere Schwester lieb gehabt, aber er war auch eifersüchtig auf sie gewesen. Was immer sie tat, jeder war entzückt über die Fröhlichkeit, die das pummelige Mädchen mit dem sonnigen Gemüt ausstrahlte. Er selbst war eher ein stiller Typ, der am liebsten für sich allein war. Sie hatten dennoch viel Zeit miteinander verbracht, so auch an diesem einen Tag, welcher der Letzte für Herminia sein sollte.

Sie spielten wie so oft an dem nahen Fluss, nur ein kleines Stück hinter dem elterlichen Haus. Es kam zum Streit, was nicht oft passierte. Es war schwer, sich mit diesem Mädchen zu streiten. Doch heute Morgen waren ihre Eltern wieder besonders von ihr angetan gewesen und hatten Elias erneut links liegen gelassen. Das wiederum passierte oft, im Grunde genommen sogar ständig. So stritten sie, immer heftiger, weil Elias keine Ruhe geben wollte, und schließlich versetzte er seiner Schwester einen Stoß vor die Brust. Es war kein harter Stoß und er wollte ihr auch nicht wirklich weh tun, doch sie war völlig davon überrascht worden. Die liebreizende Herminia war es nicht gewohnt, von irgendjemandem nicht gemocht oder gar angegangen zu werden. Außerdem war Elias ein passiver Junge und neigte im Grunde nicht zur Aggression. So hatte dieser unbedachte Schubser ausgereicht, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie wich ein paar tapsige kleine Schritte zurück und stürzte am Ende. Nicht heftig, es wirkte zuerst eher komisch, aber dann geriet sie ins Rutschen und fand in dem nassen Gras der Böschung keinen Halt mehr. Sie war weitergerutscht und schließlich im Fluss gelandet, der sie sofort mit sich gespült hatte. Elias hatte ihre Schreie noch eine Weile gehört und sie noch erwidert, als sie längst verklungen waren. Er hatte an der Böschung gestanden und den Fluss angeschrien, als das kleine Mädchen schon lange verschwunden und in dem kühlen Wasser ertrunken war. Irgendwann war er einfach umgefallen. Als er wieder zu Bewusstsein sein kam, hatte sein Gehirn das unvorstellbare Leid und die Schuld, die ihn zu zerstören drohten, tief im Unterbewusstsein begraben. In den tröstlichen Unendlichkeiten des Vergessens.

In all den Jahren hatte Elias sich nie daran erinnern können, was wirklich mit seiner kleinen Schwester passiert war. Nur ab und an in seinen Träumen kamen die dunklen Dinge der Oberfläche so nahe, dass er von schrecklichen Alpträumen geplagt mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachte. Wovon er geträumt hatte, wusste er bei diesen Gelegenheiten nie, aber es waren lange Nächte, in denen er danach keinen Schlaf mehr fand.

All diese Dinge sah der Fremde Geist in seinem Kopf, doch er erzählte ihm nichts davon. Es spielte ohnehin keine Rolle mehr und außerdem war der Mann damit beschäftigt, so dicht neben Elias zu gehen, dass er ihn fast berührte. Elias selbst ging zielstrebig und mit festem Schritt durch das Heerlager. Er durchquerte die Ansammlung von Zelten und groben Gebäuden aus Holz, die Pferdekoppeln und Feuerplätze und hielt auf die Wege zu, die zu den Posten auf der zum Wald hin gelegenen Seite führten. Er winkte ab und an einem Kameraden, einmal grüßte er im Vorbeigehen respektvoll einen Templer. Er strahlte ein solches Selbstbewusstsein aus, dass niemand ihn aufhielt oder fragte, ob er nicht anderswo Dienst zu leisten hatte. Hier waren, wie an jedem Tag, Hunderte von Männern unterwegs und er fiel nicht weiter auf.

Den hochgewachsenen dunklen Schatten, der ihm dicht auf dem Fuße folgte, nahm niemand wahr. Ebenso wenig wie den Zweiten, langgezogenen, der dem Ersten folgte. Sie erreichten schließlich den provisorischen Friedhof, einen kümmerlichen kleinen Platz. Für Elias war er natürlich mehr als das.

Es war ein kleiner Dorffriedhof, der nicht einmal ein geschmiedetes Tor hatte, aber er war trotzdem gerne hier. Immerhin wurden die Ruhestätten von einer hüfthohen Mauer aus Bruchstein umgeben. Auf dieser Mauer hatte er als Kind oft lange gesessen, nachdem seine Mutter gestorben war. War es nicht schön, dass die Freunde des zuvorkommenden Fremden auf dem gleichen Friedhof lagen wie seine Mutter? Es war ein ruhiger und schöner Ort, hier konnte man in Frieden trauern. Mit einem Gefühl von tiefer Zufriedenheit drehte er sich zu dem Wanderer um. Elias konnte ihn ganz deutlich sehen, vor seinem Auge war weder der Mann noch sein Hund verschleiert.

»Wird sind da«, sagte er glücklich.

Der Wanderer nickte und hob die behandschuhte Rechte. Die langen Finger gespreizt, strich er vor dem Gesicht des jungen Mannes sanft durch die Luft. Elias lächelte noch immer, als seine Augäpfel sich nach oben verdrehten und er auf die Knie sank. Der Fremde umfasste das Kinn des völlig weggetretenen Soldaten, brach ihm dann mit einer raschen, fließenden Bewegung das Genick, wandte sich in Richtung des Waldrandes ab und ging davon.

Während die beiden Leichen hinter ihm langsam erkalteten, betrat Darane zum ersten Mal seit über zehn Dekaden den Heimatwald der Silvalum.

Blutherbst

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