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4. Kapitel 3

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Lendir

Lendir atmete auf, als er zum ersten Mal wieder vereinzelt kleine Pilze und Flechten am Waldboden sah. Auch an den unteren Enden der Baumstämme zeigte sich stellenweise erneut Bewuchs durch Ranken und Moose. Diese Veränderungen waren ein Zeichen dafür, dass sie den auf gespenstische Weise leblosen Teil des Waldes hinter sich gelassen hatten.

Die unnatürliche Leere unter den dunklen Bäumen war einem dünnen Unterholz gewichen. Es bestand aus kleinen Büschen, Farnen, Moosen und Flechten. Auch Beeren und Pilze gab es wieder, was eine zusätzliche Erleichterung war. Ihr mitgebrachter Proviant ging langsam zur Neige und Nahrungsmangel war das Letzte, was sie gebrauchen konnten. Obwohl es so schien, als hätten sie den kranken Wald hinter sich gelassen, verließ Lendir sich nicht mehr auf seinen Orientierungssinn. Zu oft hatte er in den vergangenen Tagen getäuscht, in diesen Waldungen, die nicht mehr die seinen waren. Regelmäßig suchte er Augenkontakt zu Tasheili, um sich zu versichern, dass der von ihm eingeschlagene Weg sie tatsächlich nach Osten führte. Noch zweimal hatte die Hirtin die von ihm gewählte Richtung korrigieren müssen. Seit vorgestern nickte sie jedoch nur und lächelte, wenn sie wieder einmal seinen Blick spürte. Wie es schien, fand er sich im Moment besser zurecht, was daran liegen mochte, dass die Magie des Waldes hier schwächer wurde. Oder auch nur die Verderbtheit derselben nicht mehr so gravierend war. Das half ein wenig gegen das Gefühl der Verlorenheit, dass sich seiner immer hartnäckiger zu bemächtigen versuchte.

Ein sanfter Druck an seinem Arm ließ ihn leicht aufschrecken. Er drehte den Kopf und erwiderte das Lächeln von Uniro, die lautlos neben ihm herschritt. Er bot seiner Gemahlin den Arm, woraufhin sie sich bei ihm unterhakte.

»Wir kommen langsam wieder in gesunden Wald«, sagte sie leise, während sie nebeneinander hergingen. »Ich wünschte, ich wüsste, wie lange wir noch im Schutz der Gehölze verweilen können, bevor wir den Rand erreichen.«

Ihre Stimme war ruhig und fest, doch Lendir hörte und fühlte ihre Besorgnis und die verhaltene Furcht, die darin mitschwang. Wie weit der Wald noch reichen würde, vor allem aber was dahinter kam, war inzwischen auch seine größte Sorge. Er war nicht so vermessen, sich im Bezug auf ihre Verfolger in Sicherheit zu wiegen. Die Jäger, die ihnen nachstellten, waren ebenso unberechenbar wie unermüdlich. Doch bei aller Gefahr, die nach wie vor hinter ihnen lag, war der Weg vor ihnen nicht weniger bedrohlich und ungewiss. Sie befanden sich in einem Teil des Waldes, den seit Jahrhunderten kein Mitglied ihres Volkes mehr betreten hatte. Irgendwo im Osten mochte der Ort liegen, welcher der Legende nach gleichermaßen die Quelle des Dunkelsilberwaldes wie auch des Volkes der Silvalum selbst war. Es war aber ebenso gut möglich, dass nichts als endlose, verlassene Einöde auf sie wartete. Die Zuflucht, auf die sie hofften, konnte sich als ein altes Märchen herausstellen, das sich im Laufe der Jahrhunderte zum Mythos entwickelte hatte.

»Von jetzt an«, sagte er sanft, »weiß niemand mehr, was vor uns liegt. Ich wünschte mir auch weniger lose Enden, weniger Ungewissheit, aber wir können nur weitergehen und auf das reagieren, was wir vorfinden. Zumindest scheint es so, als wenn die anderen uns gehen lassen würden. Tasheili hat unsere Spur trefflich verschleiert und wir haben die Jäger offenbar hinter uns gelassen.« Oder aber sie wissen, was im Osten liegt, fügte er stumm in Gedanken hinzu. Und sie halten es für verschwendete Zeit, uns weiter zu folgen, weil wir ohnehin dem Untergang geweiht sind.

Die junge Frau sah ihm ins Gesicht und lächelte traurig. Offenbar war Lendir nicht der Einzige, der von düsteren Vorahnungen heimgesucht wurde.

»Wollen wir hoffen, dass zumindest die Gefahr hinter uns von uns abgelassen hat«, sagte Uniro schließlich. »Die Dinge, die vor uns liegen, sind in ihrer Ungewissheit schrecklich genug. Sowohl was den Weg angeht, wie die Früchte unserer Leiber. Mögen die Bäume wissen, ob all das hier überhaupt einen Sinn hat.«

Der Waldläufer zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, blieb aber stumm. Er wusste nicht, was er seiner Gefährtin darauf erwidern sollte, zu sehr zerfraßen ihn selbst die Zweifel. Zweifel an sich selbst, aber auch an dem, was er getan hatte. Er war sich nur zu gut darüber im Klaren, dass all dies nichts als eine Verzweiflungstat darstellte. Er und die seinen versuchten vor dem Säuglingssterben davonzulaufen, dass ihr Volk seit Jahren heimsuchte, so einfach war das. Und dabei vielleicht ebenso sinnlos wie naiv. Die Veränderung des Umfeldes mochte helfen, wenn die verderbte Waldmagie der Grund für das Kindersterben war, oder auch nicht. Wenn sie scheiterten, würde nicht einmal das eine Kind aus zehn Geburten leben, aber spielte das dann noch eine Rolle?

»Glaubst du, dass wir das Tal finden werden?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Das Tal dachte er und seufzte leise. Brúndalur, das braune Tal, oder, in der alten Sprache, Brúncluah, was so viel wie altes Leben bedeutete. Die Wiege ihres Volkes und des ersten Saatkornes des hohen Waldes. Es gab auch Legenden der Menschen darüber, in denen es meist das Rabental genannt wurde. Angeblich, weil ständig riesige Raben über dem Wald im Inneren des Tals kreisten, die Augen des großen Hirten. Das war natürlich Unsinn, denn selbst unter den Silvalum gab es seit tausend Jahren niemanden mehr, der auch nur behauptete, diesen Ort gesehen zu haben. Und doch, wenn diese Wiege ihres Volkes existierte, war es nur folgerichtig, in Zeiten höchster Not dort Zuflucht und Heilung zu erhoffen. An dem Ort, an dem alles begonnen hatte. Selbst wenn es dort enden sollte, war die Reise nicht umsonst gewesen. Alles war besser, als langsam in den Klauen der verdorbenen Waldmagie ihrer Heimat dahinzusiechen und mit anzusehen, wie ihre Säuglinge starben.

Dennoch fürchtete Lendir jeden neuen Tag. Er fürchtete, der Wald könne einfach zu Ende sein. Nur ein langgezogener Waldrand, wie im Westen bei Silvershire, und dahinter eine leere Ebene, nichts als endlose Weite aus Gras oder Steppe. Keine Silberbuchen mehr, keine Waldmagieadern, die den Boden durchzogen, nur noch fremdes Land. Niemand wusste, ob ein Silvalum überhaupt in der Lage war, längere Zeit außerhalb der Ströme der Magie des Waldes zu leben. Es war durchaus möglich, das er sie alle in den sicheren Tod führte, noch bevor das ungeborene Leben in den Leibern seiner Gefolgsleute auch nur eine Chance bekam, so gering diese sein mochte.

»Ich weiß es nicht«, gab er nach einem kurzen Moment zu. »Ich hoffe es. Aber ich glaube, dass alles, was vor uns liegt, besser ist als das, was wir hinter uns gelassen haben. Wie auch immer die Zukunft aussehen mag, oder wie lange sie dauert. Hinter uns liegt nur der Tod.«

Sie hielt inne und legte ihm ihre Hände auf die Brust. Ihre Augen suchten seinen Blick, bevor sie sprach. »Ich spüre und teile Deine Zweifel«, sagte sie ernst. »Abends sind wir nicht allein und die anderen machen sich schon genug Sorgen. Aber ich weiß, dass wir vielleicht in unser Verderben laufen.«

Er öffnete den Mund, doch sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Len, du sollst nur wissen, dass ich es nie bereuen werde, dir gefolgt zu sein. Ebenso wenig wie ich es je bereuen werde, deine Gefährtin geworden zu sein. Oder dein Kind zu tragen. Vergiss das nie, falls der Weg noch dunkler wird.«

Er schluckte schwer und spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Unfähig zu sprechen zog er sie fest in die Arme und hielt sie, während er um Fassung rang. Rührseliger Narr schalt er sich, während eine einzelne Träne über seine Wangen lief und sich im Haar seiner Gefährtin verlor. Rührseliger alter Narr. Sie standen für einen viel zu kurzen Moment so da, dann gingen sie weiter, bevor jemand von den anderen sie bemerkte. Ihre Brüder und Schwestern gingen nahezu lautlos um sie herum ihres Weges. Einige stumm, andere flüsternd im gemeinsamen Gespräch versunken. Die Gruppe bewegte sich angesichts der Tatsache, dass sie mehrere hundert Personen zählte, mit gespenstischer Stille.

Lendir hob den Blick zu den Kronen der allgegenwärtigen Bäume. Wenn sich die Beschaffenheit des Bodens während ihrer Reise auch immer wieder geändert hatte, das schützende Blätterdach der Silberbuchen war beständig über ihnen.

Kann der Weg für unser Volk überhaupt noch dunkler werden, fragte er sich. Sie hatten ihre einzigen Verbündeten abgeschlachtet, verloren fast den gesamten Nachwuchs an ein nicht greifbares Grauen und waren nun, nicht zuletzt durch sein eigenes Tun, in sich gespalten. Die Silvalum als Volk mochten den Tiefpunkt ihrer Existenz erreicht haben. Für seine Gefährten auf dieser verzweifelten Reise hingegen lauerten viele unbekannte Abgründe. Die Verfolger mochten sie noch immer einholen, und wenn das geschah, gab es nichts auf der Welt, das sie zu retten vermochte. Lendir und die anderen Waldläufer würden bis zum Tode kämpfen, um die Frauen und das ungeborene Leben in ihnen zu schützen, doch gegen ihre Jäger konnte keine sterbliche Macht bestehen. Noch entmutigender war die Vorstellung, dass sie es nach Osten schafften, das Ende des Waldes erreichten, und wenig später in der Fremde starben, weil sie das Band zur Magie ihrer Heimat verloren hatten. Dass sie verreckten wie Fische, die unachtsam auf trockenes Land geworfen wurden. Oder aber sie blieben am Leben, fanden eine neue Heimat und verloren trotzdem alle Kinder, weil die Verderbnis bereits in ihren Körpern selbst war. Diese letzte Möglichkeit, ebenso so einfach und naheliegend wie unspektakulär, erschien Lendir ob ihrer Banalität als die grausamste.

Warst du eigentlich schon immer so ein feiger, melancholischer Narr, oder ist das ein neuer Wesenszug, kam ihm plötzlich in den Sinn. Als Nächstes grübelst du wieder über den Ursprung und den Grund der Verunreinigung der Waldmagie. Oder des Zornes der alten Götter, den sie bedeuten mag. Solche Abwärtsspiralen im Denken und Fühlen haben vermutlich auch Mirtiro und die Irren, die ihm folgen in den Wahnsinn getrieben. Nur kranke Gemüter konnten Hunderte von Menschen abschlachten und praktisch einen Krieg mit dem Königreich anfangen. Wenn du nicht damit aufhörst, dich selbst zu zerfleischen, kannst du dir gleich die Kehle durchschneiden, dann sind die anderen mit Tasheili alleine besser dran.

Er schloss halb die Augen und rief sich das Bild der Hirtin vor Augen. Ihre schlanke, gerade Gestalt, von der Schwangerschaft noch kaum gezeichnet, genau wie die seiner jungen Gefährtin. Lendir fragte sich, ob die Ruhe und das Selbstbewusstsein, dass die Hirtin ausstrahlte, ebenso vorgetäuscht war, wie es bei ihm der Fall war. Er glaubte es nicht, hoffte es nicht.

Der Schrei, der plötzlich die Luft durchschnitt, war hoch und wimmernd und beendete seine Gedanken wie der Hieb einer Klinge. Die Akustik im Inneren des Waldes war tückisch, doch sein Kopf fuhr instinktiv nach Nordosten und er begann zu rennen. Weitere Geräusche bestätigten ihm, dass er in die richtige Richtung lief. Neuerliche Schreie, Rufe und irgendetwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Eine Art Summen, fern und nah zugleich. Er bewegte sich mit dem Geschick und der Schnelligkeit eines Eichhörnchens über den Waldboden, während seine Hände ohne sein Zutun Bogen und Köcher fanden. Er spürte mehr als er sah, wie die anderen auseinanderstoben. Alle anwesenden Männer, wie auch einige der Frauen, waren aktive oder ehemalige Späher, im Kampf ausgebildete Waldläufer. Lendir sah, wie dutzende von Bögen mit aufgelegten Pfeilen in die Richtung schwenkten, aus denen der Lärm kam.

Er kam wie angewurzelt zum Stehen, nachdem er die ersten seiner Gefährten erreicht hatte. Die Silberbuchen wuchsen in diesem Bereich mehrere Meter auseinander und vor ihnen Tat sich eine kleine Lichtung auf. Sein Blick war auf einen Punkt zwischen den Stämmen gebannt, während die anderen zu seiner Linken und Rechten langsam einen Halbkreis bildeten. Das Geschöpf stand zwischen zwei der uralten Bäume, keine dreißig Schritte vor dem ehemaligen Anführer der Späher. Man hatte den Eindruck, es wäre gerade direkt aus einem der Stämme der Silberbuchen getreten. Wenn die alten Überlieferungen der Wahrheit entsprachen, konnte das tatsächlich der Fall sein.

Der Körper der Gestalt war entfernt humanoid, wenn auch mit bizarren Proportionen. Die knorrigen Beine waren zu kurz, der verdrehte Leib zu lang und die Arme wirkten gelenklos und tentakelartig. Sowohl der Rumpf als auch die Extremitäten schienen aus zahllosen, ineinander verknoteten Wurzeln zu bestehen. In den dickeren Ranken der Kreatur, die sich knapp vier Schritte hoch erhob, konnte man mattleuchtende Adern von silbrigem Harz erkennen. Wie Blutgefäße schien die mystische Substanz, die sonst nur von den Silberbuchen produziert wurde, den ansonsten verdörrt wirkenden Körper netzartig zu durchziehen. Das Geschöpf wiegte sich leicht, wie eine Weide im Wind, doch die knorrigen Wurzelbeine machten nicht den Eindruck, mit dem Waldboden verwachsen zu sein. Zwischen den Schultern bildete eine einzige, dicke Wurzel einen kurzen, knotigen Hals. Der Kopf war eine groteske Mischung aus Baumkrone, Stamm und verzerrtem, entfernt menschenähnlichem Gesicht.

Neben der Kreatur lag ein Waldläufer reglos am Boden, die Glieder verdreht wie die einer von einem jähzornigen Kind achtlos weggeworfenen Puppe. Lendir glaubte zunächst, dass der Schrei, den er anfangs gehört hatte, von dem unglücklichen Mann verursacht worden war. Dann jedoch erklang das hohe, wimmernde Weinen aufs Neue. Es erscholl in seinem Kopf und schien gleichzeitig tief aus dem Inneren des Waldes zu kommen. Er begriff nach einer Sekunde, dass es die Kreatur war, die diese Laute hervorbrachte. Es war ein Geräusch von solcher Trauer, Pein und Melancholie, dass sich seine Augen unweigerlich mit Tränen füllten. Nachdem es verklungen war, entstand ein Moment der Stille, der sich endlos hinzuziehen schien. Auf der einen Seite verharrte das Geschöpf, auf der anderen Seite dutzende von Silvalum, die mit ihren Bögen auf den alptraumhaften Besucher zielten.

Plötzlich spürte er eine sanfte Berührung, als sich eine Hand leicht auf seine Schulter legte. Er drehte den Kopf ein kleines Stück und sah die ebenmäßigen Züge der Hirtin. Ihr Gesicht war entspannt und wirkte gelassen, aber die Augen verrieten ihre Besorgnis.

»Es ist kaum möglich«, sagte sie flüsternd, »aber es ist eine Dryade. Es kann nichts anderes sein.«

Sie hatte so leise gesprochen, dass Lendir sie eben noch verstanden hatte, obwohl sie keine Armeslänge von ihm entfernt stand. Und doch war das Ungesicht des Geschöpfes beim Klang ihrer Stimme zu ihnen herumgefahren. Es starrte sie mit nachtschwarzen Höhlen im dunklen, von silbrigem Schimmer durchzogenen Wurzelgesicht an. Wieder war da dieses Summen, ein unterschwelliges Geräusch, das man mehr fühlte als hörte.

Einer der Männer neben ihnen ließ den Bogen sinken, murmelte etwas und legte die Waffe schließlich zu Boden. Dann ging er mit bedächtigen Schritten und ausgebreiteten Armen auf den uralten Baumgeist zu.

»Feragen«, fuhr ihn Lendir mit leiser Stimme aber in scharfem Ton an. »Bleib stehen. Was zur ...«

Der andere Waldläufer war bis zur Hälfte an die Dryade herangekommen, als er innehielt und sich umdrehte.

»Wir wissen nichts«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Dass dieses Wesen dort Wirklichkeit ist, führt mir diese Tatsache nur zu deutlich vor Augen. Wenn es die alten Geister noch gibt, dann haben wir vielleicht doch das Herz unserer Heimat erzürnt. Dann sind vielleicht wir die Verwirrten und Verlorenen, und Mirtiro und die seinen dienen dem Willen des Waldes. Was ist denn, wenn der Wald wirklich zürnt?«

Er deutete hinter sich auf die Dryade, die sich ihnen jetzt mit ihrem gesamten Körper zugewandt hatte. Lautlos starrte sie mit schwarzen Nichtaugen auf die Gestalt von Feragen.

»Hätte der Wald nicht das Recht dazu«, fuhr dieser nun fort, »wenn seine Verkörperungen, wie dieses Geschöpf, bei seinen Kindern nur noch als Legenden oder Märchen zählen? Wenn seine Kinder mit den Außenweltlern verkehren und Waren von draußen in seine Welt fließen lassen? Wissen wir denn, was die Gegenstände von den Menschen in unserem Reich verursachen? Für mich zählt jedenfalls nur noch das dort«, schloss er mit einer Handbewegung in Richtung der Dryade hinter ihm, »ich unterwerfe mich dem Willen der Alten, wie es unsere Ahnen getan haben. Andere Autoritäten erkenne ich nicht mehr an, weder die von Mirtiro, noch die deine.«

Er drehte sich zu dem uralten Wesen um und ging weiter auf die knorrige, verdrehte Gestalt zu.

»Wenn der Wald verderbt ist«, ertönte die klare und tragende Stimme von Tasheili, »dann können es auch seine Geschöpfe sein. Ebenso wie sein Geist oder sein Wille. Nichts ist vor diesem Übel gefeit, selbst die alte Magie nicht.«

Feragen kam beim Klang ihrer Stimme aus dem Tritt und blieb stehen. Erneut drehte er sich um. Hinter ihm war die Dryade bei den Worten der Hirtin zum Leben erwacht. Sie hob ihre Wurzelbeine aus dem Waldboden und machte einen erschreckend raschen Schritt in die Richtung des einsamen Waldläufers vor ihr. Ihre lange, schmale Gestalt trat mit einer fließenden, kraftvollen Bewegung vor und eine halbe Sekunde darauf traf einer ihrer Arme den Mann mit einer spielerisch wirkenden Geste im Rücken. Er flog wie ein Blatt im Wind zur Seite, prallte ein Dutzend Schritte weiter gegen den Stamm einer Silberbuche und blieb reglos liegen.

»Schießt«, schrie Lendir, riss den Bogen hoch und folgte seinem eigenen Befehl. Während er den nächsten Pfeil auflegte, warf er einen schnellen Blick über die Schulter.

»Thei, fort von hier, nimm die Schwangeren und flieh.«

Zahllose Pfeile schlugen in schnellem Stakkato in den knorrigen Körper der Dryade. Die meisten von ihnen prallten ab oder zerbrachen. Selbst die wenigen, die in der rindenartigen Haut des Baumgeistes steckenblieben, waren scheinbar völlig wirkungslos.

Die Hirtin machte einen Schritt zur Seite und schüttelte den Kopf.

»Sie hat mich gehört«, sagte sie ruhig und hob die Hände.

Lendir sah, wie die Luft vor ihren Handflächen auf die Art zu flimmern begann, wie sie es über einem Feuer tat. Ein matter, orangefarbener Glanz erfüllte die Luft vor ihrem Körper. Noch immer schlugen Pfeile in den Körper der Dryade. Im Sekundentakt trafen die tödlichen Geschosse mit einer Präzision, die von der jahrzehntelangen Übung der Schützen zeugte. Es wirkte, als wenn ein paar Kinder einen Baum mit Kieselsteinen bewarfen.

Lendir ließ den Bogen fallen und zog seine beiden Klingen, während die Dryade auf die Hirtin zukam. Die Bewegungen des Geschöpfes, ein wiegendes Gleiten, als berühre es nicht einmal den Waldboden, ließen ihn schaudern. Als es nur noch zwei seiner langen Schritte von Tasheili entfernt war, sprang er vor. Er schlug mit der längeren der Waffen zu, wobei er sein Körpergewicht hinter den Schlag legte. Der Treffer erschütterte seinen Arm bis zur Schulter hinauf, doch er ignorierte den Schmerz und glitt ansatzlos in eine Hechtrolle. Um Haaresbreite entkam er dem zischenden Hieb eines Wurzelarmes, und entging damit dem Schicksal, zerschmettert zu werden. Sein eigener Konter, der einem erwachsenen Mann eine Gliedmaße abgetrennt hätte, prallte ebenso wirkungslos ab, wie zuvor die Pfeile der Waldläufer. Er kam auf die Beine und griff erneut an, doch die Dryade wischte ihn mit dem anderen Arm beiseite wie ein lästiges Insekt.

Er spürte, wie der verdrehte, knorrige Arm des Baumgeistes ihn traf, ein Gefühl, als wenn ein Riese ihn mit einer gewaltigen Weidenkeule geschlagen hätte. Verzweifelt versuchte er, dem Schlag etwas von seiner Wucht zu nehmen, indem er sein Gewicht verlagerte. Trotzdem brachen einige Rippen wie dünne Äste und die Schulter wurde aus der Pfanne gestoßen, als er aufschlug.

Der Aufprall auf dem Waldboden presste ihm die Luft aus den Lungen und seine Sicht wurde für einen Moment dunkel und verschwommen. Er richtete sich dennoch langsam auf, kam in eine sitzende Position und wurde von einer Schmerzwelle überrollt, während er noch gegen Übelkeit und Schwindel kämpfte. Der linke Arm war ein nutzloses Anhängsel seines Körpers geworden, jeder Atemzug ein Dolch in der Brust. Er konnte nichts tun, als dazusitzen und gegen die Schwärze anzukämpfen, die sich von allen Seiten in sein Sichtfeld zu schieben versuchte.

Die Dryade hatte mit ihren langen, weidenartigen Armen zwei weitere Männer niedergestreckt, die sich ihr in den Weg gestellt hatten, um die Hirtin zu schützen. Es wurde nicht mehr geschossen, doch floh auch niemand. Zu gebannt waren die Anwesenden von dem Anblick der uralten Inkarnation des Geistes des Mutterwaldes. Diese stand jetzt direkt vor Tasheili und hielt beim Klang ihrer Stimme erneut inne. Knarrend bog sich der Wurzelhals, als sich der Kopf dem Boden näherte, um den Blick auf die zierliche Silvalum zu senken. Vor der Frau waberte eine bernsteinfarbene, flimmernde Blase, ein Schild aus reinster Waldmagie.

»Halte ein, alte Schwester«, intonierte Tasheili, »um deiner Kinder willen beschwöre ich dich.«

Sie hatte die Hände jetzt in der Höhe ihres Bauches erhoben, wo ihr ungeborenes Kind schlief. Die Handflächen noch immer nach außen gewandt, stand sie aufrecht da, den Kopf weit im Nacken, um in das Ungesicht der Dryade blicken zu können.

»Wir sind die Kinder des Waldes, alte Schwester, wie wir es immer waren. Um unseres Schwures und unseres Blutes willen ...«

Einer der Weidenarme glitt mit einer fast zärtlichen Bewegung nach vorne und in den Bauch der Silvalum. Er drang ohne jeden Widerstand durch den nutzlosen Schild und dann weiter nach oben in das Fleisch der Hirtin. Er hob den zarten Körper vom Boden, als wäre er ein Sack voller Federn.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Tasheili von dem Weidenarm an ihrem Leib hinab wieder und zurück. Ihr Gesicht war eine Fratze aus Unglauben und Grauen. Das knorrige Ding stecke tief in ihren Rippen und was immer in ihrem Bauch gelebt hatte, musste zerquetscht worden sein wie ein Insekt. Langsam aber unerbittlich hob sie sich weiter vom Boden. Sie richtete den brechenden Blick ein letztes Mal in das schreckliche Antlitz des Baumgeistes. Das war leicht, weil sie sich jetzt auf gleicher Höhe befand. Die Hirtin öffnete den Mund, doch es drang nichts daraus hervor als ein gutturales Gurgeln und ein Schwall dunklen Blutes.

Für einen Augenblick war es bis auf das leise Knarren des wiegenden Körpers der Dryade völlig still. Dann schleuderte sie die Sterbende achtlos fort. Ein Stimmengewirr erscholl und Lendir sah in der ihn zunehmend umfangenen Dunkelheit, wie die Silvalum auseinander stoben.

Zwei Frauen und ein Mann griffen die Dryade mit ihren Klingen an, die Gesichter in Wut und Wahnsinn verzerrt. Sie wurden geschlachtet wie Vieh. Andere ergriffen blind die Flucht und rannten, so schnell sie die Beine trugen, in den Wald. Hier und da entstand kurz ein Gerangel, dann flogen wieder Pfeile durch die Luft. Viele schossen jetzt vorbei, doch auch die wenigen Treffer blieben so wirkungslos wie zuvor.

Mühsam drehte Lendir seinen Körper, um sich weiter umzusehen. Er hoffte inständig, Uniro nicht in der Nähe des Baumgeistes zu finden. So schön es auch gewesen wäre, sie noch einmal zu sehen, bevor er starb. Doch sie jetzt zu sehen würde bedeuten, dass sie dem mordenden Alptraum, der soeben ihre letzte Hoffnung zerstört hatte, viel zu nahe war. Auch wollte er nicht erleben, wie sie in diesem Chaos niedergetrampelt wurde. Obwohl all das natürlich im Grunde keine Rolle mehr spielte.

Mit, wie es ihm vorkam, unendlicher Langsamkeit drehte er seinen Kopf erneut in die Richtung, in dem sich die Dryade befand. Verwirrt sah er, wie der dünne Weidenkörper an Geschwindigkeit aufnahm und loslief. Drei dieser furchtbaren, gleitenden Schritte, und das Geschöpf schien zu rennen. Drei weitere, und es bewegte sich so schnell, dass es vor den Augen verschwamm. Dann ertönte wieder dieser langgezogen, wimmernde Schrei, als es mit voller Wucht eine Silberbuche traf. Der Körper verschmolz mit der dunklen, silberdurchwobenen Rinde, als würde er in eine Flüssigkeit eintauchen.

Für einen Wimpernschlag sah Lendir, wie die zerfließende Gestalt der Dryade unförmig in die Buche hineinwaberte, dann war die Kreatur verschwunden. Ein flimmernder Umriss sprang aus der anderen Seite des Stammes heraus und flitze rasend schnell zum nächsten Baum. Dort wiederholte sich das Schauspiel, nur dass die Dryade jetzt nur noch als Schatten zu erkennen war. Sie flimmerte blitzartig von Baum zu Baum. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis sie Lendirs brechendem Blick entschwunden war.

Während die Schmerzen in langsamen, krampfartigen Wellen über ihn herfielen, fragte er sich, ob die anderen sich nun wieder sammeln würden. Erschöpft sank er auf den Waldboden und erzitterte unter dem nächsten Krampf. Er sah in der Ferne den verdrehten und verstümmelten Körper von Tasheili. Was von ihr übrig war, hing auf einem der bodennahen Äste einer Silbereiche, in die der Baumgeist sie geworfen hatte. Die Hirtin war nur noch blutiges Fleisch, ausgeweidet wie ein Stück Waid.

Selbst wenn es ihr gelungen sein sollte, ihre schrecklichen Jäger abzuhängen, war sie doch die einzige Hoffnung gewesen, einen Weg aus dem Wald und in eine neue Zukunft zu finden. Dahin, zerschmettert, verloren. Die Schwärze wurde dichter und Lendir spürte, wie die Bewusstlosigkeit mit jeder Welle der Pein näher rückte.

Ein Teil von ihm wollte dagegen ankämpfen, wollte seine Uniro noch einmal wiedersehen, sie in den Armen halten. Wollte kämpfen und dafür Sorgen, dass all ihre Verluste nicht umsonst waren.

Der andere sah immer und immer wieder das Bild vor sich, wie der knorrige Arm der Dryade beinahe zärtlich in den Körper der Hirtin geglitten und ihr das ungeborene Kind am eigenen Brustkorb zerquetscht hatte.

Dieser Teil wollte einfach nur in die Dunkelheit gleiten und vergessen. Dieser Teil siegte.

Blutherbst

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