Читать книгу Blutherbst - Wolfe Eldritch - Страница 5
2. Kapitel 1
ОглавлениеWachtstein
Der Kommandoraum von Wachtstein thronte als höchster Punkt über dem Rest der Festungsanlage. Das runde, fünfzehn Meter durchmessende Gewölbe bildete das Herz des Hauptquartieres des Ordens. Schmale, hohe Fenster mit spitzen Bögen zogen sich reihum in regelmäßigen Abständen durch das Mauerwerk. Die steinernen Wände waren nicht mit Holz vertäfelt, wurden aber zu weiten Teilen von Regalen und dicken Teppichen verdeckt. Hier befand sich die umfangreichste Ansammlung weltlicher Bücher im gesamten Königreich. Nur der nahegelegene Haupttempel der Kirche des Lichtbringers verfügte über eine größere Zahl an Schriftstücken. Dort fand man auch die letzten okkulten Werke, magische Schriften und hexerische Pamphlete aus der Zeit vor der Erleuchtung. Die wenigen, die in den Tagen des Erwachens nicht der Säuberung durch Kirche und Inquisition zum Opfer gefallen waren.
Die schweren Kartentische, die das Innere des Raumes dominierten, beherbergten Karten der gesamten bekannten Welt. Von einigen winzigen Inseln vor der Küste der Westmark, bis zu den Steilküsten im Norden von Norselund, ebenso wie von den trostlosen Weiten im Osten bis zu den dunklen Dschungeln auf dem Kontinent im Süden. In kleinem Maßstab fand man hier Flüsse, Wälder, Berge wie auch Städte, Dörfer und Burgen. Die komplette erforschte Welt lag verteilt auf einem halben Dutzend Tische unterschiedlicher Größe.
Der Raum selbst lag in der Spitze des zentralen Turms des Hauptquartieres. Wachtstein befand sich auf einem abgeflachten Hügel. Man hatte die Kuppe der Anhöhe vor der Errichtung der Festung mühsam abgetragen und so ein natürliches Fundament geschaffen. Anschließend war eine kreisförmige Wehranlage von einer Landmeile Durchmesser errichtet worden. Beinahe drei Dekaden hatte der Bau gedauert. Bis heute galt die Heimstatt der Templer als gewaltigstes Bollwerk des Reiches. Die Ringe der äußeren Anlage ragten viele Mannslängen hoch gen Himmel und wurden von zahllosen Verbindungsgängen und Toren durchzogen. Der innere Bereich der Festung glich einem übergroßen Bergfried, der inmitten eines Irrgartens von über hundert Zwingern unterschiedlicher Größe aufragte.
Der Hauptturm überragte alles um sich herum um mehrere Schritte. Er war mit einer eigenen, niedrigen Ringmauer umgeben und beherbergte im unteren Teil ebenso Wachstuben und Vorratslager, wie eine kleine Küche und Gastquartiere für hochgestellten Besuch. Dem folgte der Kommandoraum und direkt darüber befand sich das Quartier des Hochmeisters. Das Oberhaupt des Ordens lebte hier, im Herzen der Organisation, deren Geschicke er führte.
Severin de Contaut nannte diesen Ort seit beinahe fünfzehn Jahren sein Zuhause. Der ehemalige Landmeister der Westmark war inzwischen seit fast vier Dekaden ein Bruder des Templerordens. Gerade erklomm er an der Seite eines geschätzten aber seltenen Gastes eine steile, steinerne Treppe. Diesen Weg, der für ihn ein tagtägliches Ritual darstellte, ging er für gewöhnlich allein. Die Stufen führten vom Kommandoraum aus an seinen Gemächern vorbei und nach oben, auf die Spitze des Hauptturmes. Von den Zinnen aus hatte man an klaren Tagen einen Blick auf die Stadt und das Umland, der seinesgleichen suchte. Das Panorama umfasste die grünen Hügel des Landes ebenso wie den Fluss, die Königsburg und den Haupttempel des Lichtbringers. Wachtstein war zwar niedriger gebaut als Burg und Tempel, lag aber aufgrund seiner Position auf der Anhöhe etwas erhabener als alle anderen Bauwerke.
Der Mann, der sich jetzt neben ihm mit den Stufen abmühte, gehörte zu den wenigen Freunden, die de Contaut sein eigen nannte. Sie hatten gerade ein ausgiebiges Frühstück, bestehend aus Eiern, gebratenem Speck und gesüßtem Haferbrei genossen. Wie bei nahezu jeder Mahlzeit hatte Jarek Zdravko sich maßlos überfressen. Der alte Landmeister der Ostmark schnaufte hörbar beim Erklimmen der Stufen, während der Hochmeister eine Gewandtheit zeigte, die seiner Jahre spottete. Sie waren ein ungleiches Paar, bei dem der Mann aus der Ostmark deutlich den Kürzeren zog, und doch hatte er sich sein Amt mit Intelligenz, Beharrlichkeit und Mut redlich verdient.
»Es geht doch nichts über ein wenig Bewegung nach einem guten Essen«, sagte Jarek jetzt in einem sarkastischen Tonfall und mit dem unverkennbaren Akzent der äußeren Ostmark. »Machst du das jeden Morgen?«
»Das tue ich«, erwiderte der Hochmeister mit einem dünnen Lächeln. »Obgleich ich nicht jeden Morgen so viel Nahrung in mich hineinstopfe, wie wir es gerade getan haben. Aber für gewöhnlich bleibt es zum Frühmahl auch bei einem Brei, wenn ich allein esse.«
»Dabei hast du doch eben schon kaum etwas gegessen«, grinste der Mann aus der Ostmark und wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. Er schwitzte, obwohl es alles andere als warm war. Der Frost mochte der Vergangenheit angehören, aber der Wind hier oben war noch immer eisig.
»Wenn du weiter so viel frisst, wirst du irgendwann platzen, alter Freund«, sagte Severin nicht unfreundlich, »das Alter verzeiht die Sünden der Jugend nicht mehr so leicht.«
»Ah, es gibt schlimmere Arten zu sterben, als sich zu Tode zu fressen. Außerdem bin ich ohnehin bald ein paar Wochen im Feld, da kann ich mir vorher ruhig noch ein paar Pfund anfressen.«
»Du willst also nach wie vor eine der Expeditionen persönlich anführen?«, erkundigte Severin sich.
»Ja, das will ich«, bestätigte der Landmeister. Jede Spur von Fröhlichkeit war jetzt aus seiner Stimme gewichen. »Auch wenn das, was wir finden werden, mir nicht gefallen wird. Entweder wird das nämlich gar nichts sein, oder aber irgendetwas, das für die Auslöschung von über einem Dutzend Dörfer verantwortlich ist.
Ich weiß nicht, welche der beiden Alternativen mir lieber ist. Wochenlang umsonst in der Wildnis herumzuirren, oder in eine Teufelei hineinzulaufen. Auf jeden Fall habe ich es gründlich satt, hilflos herumzusitzen und mir Meldungen darüber anzuhören. Vor allem, wenn die so klingen, als ob meine Offiziere blind und taub durch das Land stolpern und wirres Zeug zusammenfantasieren.«
»Ich habe die Berichte gelesen«, erinnerte Severin ihn. »Wie bist du mit der Aufstellung der Truppen zurechtgekommen? Ich nehme an, dass du bald aufbrechen wirst?«
»Übermorgen«, nickte Jarek, »bevor ich mich hier festfresse. Bis ich wieder im Osten bin, sollte die Tundra weit genug aufgetaut sein, dass wir einigermaßen vorankommen. Ich habe die drei Expeditionen beisammen, die Männer sind in Bereitschaft, die Trosse so gut wie vollständig.«
»Gab es wegen den herzöglichen Truppen Probleme, oder hat de Grabow ohne zu murren kooperiert? Es gelingt mir noch immer nicht, mich daran zu gewöhnen, wie umgänglich der Mann zu sein scheint, nachdem ich seinen verdammten Vater so lange ertragen musste.«
Jarek grinste und nickte. »Das ging diesmal vollkommen reibungslos. Nicht, dass der Junge sonst ein sonderlich unangenehmer Zeitgenosse wäre, wie du schon sagtest. Als er von dem Befehl des Königs erfahren hat, war er sofort Feuer und Flamme. Er hat zwar nichts Derartiges durchblicken lassen, aber ich glaube, er hätte selbst etwas auf die Beine gestellt, wenn ihm der König nicht zuvorgekommen wäre. Auf diese Weise, mit unserer Hilfe, ist es ihm natürlich lieber, die Situation mit den Grafen an der Grenze ist ja nach wie vor eine Katastrophe.«
»Steht es immer noch so schlecht um die Grenzlande?«, wollte Severin wissen. Die Ostmark hatte sich als Einzige im Reich nie ganz von dem Chaos erholt, das nach dem Grau über die Welt hereingebrochen war. Große Teile des Grenzgebiets lagen auch sechzig Jahre nach dem Umbruch noch brach. Aus der östlichen Hälfte seiner Grafschaften bekam Herzog de Grabow nur spärliche Steuern. Die dort ansässigen Vasallen waren vollauf damit ausgelastet, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, dafür zu sorgen, dass die Bauern nicht verhungerten und die immer wieder auftauchenden Banden aus Gesetzlosen im Zaum zu halten.
»Der Osten ist einfach nur völlig im Arsch«, schnaufte Zdravko. »Ohne uns wäre die Grenze unbewacht und es gäbe statt Dörfern nur eine Handvoll kleine Räuberlager. Den westlichen Teil des Herzogtums hat de Grabow seit ein paar Jahren wieder fest im Griff. Etwas Besseres als der Tod seines Vaters konnte der Ostmark nicht passieren, wenn du mich fragst.
Jedenfalls scheint der Herzog mehr als froh zu sein, dass er nicht selbst über die Grenze muss. Oder dabei einige seiner wenigen zuverlässigen Grafen bei der Sache riskiert. Er hat die geforderten Männer bereitwillig unserem Befehl unterstellt und scheinbar auch halbwegs brauchbare Leute geschickt. Proviant und Transport sind ebenfalls geregelt. Bis zum Herbstanfang sollten wir tiefer in der Tundra sein, als irgendjemand seit dem Erwachen der Heiligkeit des Lichtes nach Osten vorgedrungen ist.«
Severin nickte und stützte sich mit beiden Händen auf das Mauerwerk zwischen zwei Zinnen. Der Blick über das morgendliche Land war jeden Tag aufs Neue beeindruckend und verlor nie seine Wirkung auf ihn. Die Luft war kalt und klar und er konnte die Hügel, Wiesen und Felder des Umlandes auf viele Landmeilen erkennen. Sein Gehör wurde langsam schlechter, aber seine Augen waren noch immer die eines Falken.
»Hast du schon entschieden, wen du mitnehmen willst, wenn du schon so unvernünftig bist, nicht selbst zu Hause zu bleiben?«, fragte er.
»Stoinok nimmt den Norden, er mag es kalt, ich den Süden und Dunstan bekommt die Mitte«, antwortete der Landmeister, dessen Atem sich wieder halbwegs beruhigt hatte.
»Marschall Baldric von Dunstan«, intonierte Severin mit ausdrucksloser Stimme. »Wie macht der sich eigentlich? Warst du mit seiner Ernennung zum Marschall zufrieden?«
Zdravko lächelte dünn und zog eine Augenbraue hoch.
»Ich weiß nur, dass er sich hier vor Jahren mal eine schwerwiegende Verfehlung geleistet hat. War ich nicht bei, geht mich nichts an. Aus einem Grund, denn ich nicht zu packen bekomme, mag ich den Mann nicht, aber das ist nebensächlich. Er ist einer meiner Besten. Ein wenig distanziert und verschlossen, und manchmal wirkt er beinahe arrogant, aber die Brüder respektieren ihn. Viele mögen ihn, besonders die Jüngeren. Er wird ein guter Marschall. Wenn man ihn ließe, würde er vielleicht sogar einen guten Landmeister abgeben, in zehn oder zwanzig Jahren.«
Severin nickte nur langsam und schaute wieder über die Zinnen, ohne weiter darauf einzugehen. Er war ebenfalls nicht hier gewesen, als diese böse Verfehlung, wie Zdravko es genannt hatte, passiert war. Das war sechzehn Jahre her, zwei Jahre, bevor man Severin de Contaut zum jüngsten Hochmeister seit Bestehen des Ordens ernannte. Doch hatte er die vertraulichen Berichte gelesen, und das mehr als einmal.
Es gab nur sehr wenige Brüder wie von Dunstan, dem Herrn sei dank, und über jene führten die Templer diskret aber sorgfältig Buch. Sie hatten diesen Mann in die Mark geschickt, die am weitesten vom Herzen des Reiches entfernt lag. Im rauen, wilden Grenzgebiet war es immer einfacher, jemanden falls nötig verschwinden zu lassen.
Es mochte stimmen, dass die Abstammung eines Bruders im Orden keine Rolle mehr spielte, aber den Angehörigen eines Adelsgeschlechtes hinzurichten war dennoch stets eine unschöne Sache, die man nach Möglichkeit zu vermeiden suchte. So hatte sein Vorgänger den jungen Baldric zunächst nur in die rauste Gegend des Reiches versetzt. Man war davon ausgegangen, dass er wieder töten würde. Das taten tollwütige Hunde wie er immer. Wenn es dazu kam, war es einfacher und sauberer, ihn auf die eine oder andere Weise im Grenzland verschwinden zu lassen, als ihn in der Hauptstadt hinzurichten. Unfälle passierten, Überfälle von Gesetzlosen waren in der Ostmark ebenfalls keine Seltenheit, es gab viele Möglichkeiten.
Doch von Dunstan war nicht wieder auffällig geworden. Er hatte sich nach dem einen Zwischenfall ebenso mustergültig verhalten wie zuvor. Severin war ein Mann, der einem andere stets eine zweite Chance zugestand, doch in diesem Fall hatte er immer ein ungutes Gefühl gehabt. Zu genau hatte der Bericht die Details dessen wiedergegeben, was der Ordensbruder mit der jungen Hure getan hatte. Wie er ihren Körper zugerichtet hatte. Es gab viele Abstufungen von Mord und zahlreiche Nuancen von Gewalt und Brutalität. Zu gewissen Taten war nur ein zutiefst kranker Geist in der Lage.
Solange Severin de Contaut der Hochmeister des Ordens war, würde von Dunstan ganz sicher kein Landmeister werden. Und doch vertraute er auf das Urteilsvermögen seines alten Freundes. Wenn Jarek den Mann für einen fähigen Marschall hielt, dann war er das auch, ganz gleich, welche Untiefen in seinem Inneren lauern mochten.
»Ich bin nur sehr lückenhaft informiert«, meinte Zdravko nun, »klärst du mich noch darüber auf, wie es andernorts aussieht, bevor ich aufbreche? Irgendetwas Neues von Silvershire, dem Thronfolger, der Küste?«
Die Mine des Hochmeisters verdunkelte sich schon bei der ersten Frage. Er drehte sich zu dem Freund um, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer.
»Dieser Tage wünschte ich mir fast, ich würde auch schlechter informiert werden«, meinte er mit einem schiefen Lächeln. »Silvershire gibt es nicht mehr. Wenn wir den Namen verwenden, sprechen wir nur noch über ein kleines Heerlager an dem Ort, an dem es sich früher befunden hat. Das Massaker an den Bewohnern hast du noch mitbekommen, denke ich?«
Der dickliche Landmeister nickte. »So lückenhaft ist die Informationskette dann doch nicht.«
»Nun«, fuhr Severin mit einem Nicken fort, »die dorthin gesandten Brüder sind ebenso tot wie die Priester, die sie begleitet haben. Nur zwei oder drei Angehörige der Inquisition konnten sich so glücklich schätzen, den Aufenthalt dort zu überleben. Alle anderen haben sich, wenige Tage nach ihrem Eintreffen, die Lunge aus dem Leib gekotzt. Niemand weiß, ob es eine Krankheit oder ein Gift war. Wie es aussieht, haben diese Bastarde aus dem Wald erst die komplette Bevölkerung abgeschlachtet und dann ein kleines Geschenk dagelassen. Inzwischen ist alles, was von Silvershire noch übrig ist, verbrannte und gesalzene Erde.«
»Das ist übel«, brummte der Landmeister, »und was weiter? Du hast von einem Heerlager gesprochen?«
»Wir haben nach dem Erhalt der Kunde sofort massive Verstärkung geschickt. Soldaten des Königs und des Herzogs, um die Gegend abzuriegeln, Mitglieder des Ordens und der Kirche, um die Grenze zum Wald dichtzumachen.
Was immer unsere Leute getötet hat, wir haben es ausgelöscht. Ob nun durch das Feuer oder Gabe der Priester, jetzt ist der Waldrand jedenfalls sauber. Von den verdammten Silvalum fehlt weiterhin jede Spur. Die Straßen im Umland sind abgeriegelt und dort, wo früher Silvershire war, befindet sich jetzt ein Heerlager. Größtenteils Männer von Herzog de Ortega, dazu ein paar Brüder und einige Mitglieder der Kirche. Wenn sich der nächste Waldling dort zeigt, wird er nicht besonders viel Freude haben, denke ich.«
Er räusperte sich, streckte den Rücken und schob die Gedanken an den Süden wieder beiseite. Er war selbst einige Male in Silvershire gewesen und hatte die rustikale Ortschaft gemocht und die eigenartig friedliche Atmosphäre am Rande des uralten Waldes genossen.
»An den westlichen Küsten ist alles ruhig«, fuhr er fort, »wobei es das ja ohnehin war. Die Schiffe sind schließlich still und leise verschwunden. Soweit ich informiert bin, hat sich die Lage nicht geändert. Jedenfalls hat noch niemand von Piraten berichtet oder sonst etwas Auffälliges bemerkt. Das ist eine von diesen lästigen Angelegenheiten, die man nur langfristig beobachten kann. Der verdammte Ozean ist einfach zu groß.
Was den Königssohn angeht, sieht die Situation ähnlich düster aus, fürchte ich.«
»Immer noch?«, warf der Landmeister ein. »Nach all der Zeit seit seiner Verletzung? Ich hatte angenommen, dass die Priester ihn hier, im Herzen der Kirche und des Reiches, heilen können.«
»Dahlenbrugge hat getan, was er konnte.« Severin zuckte mit den Schultern. »Ich habe selbst ein paar Mal mit dem Erzbischof gesprochen. Beim letzten Mal meinte er, der Junge sähe aus, als würde er keine Woche mehr schaffen. Das war aber vor zwei Monaten auch nicht anders. Er besucht den Prinzen immer noch regelmäßig, aber er kann nichts mehr für ihn tun. Mehr als warten bleibt dem König nicht.«
Der Landmeister der Ostmark nickte und seufze. »Nur eine Gewitterwolke mehr, die über unseren Köpfen hängt.«
Einen Moment lang tat er es seinem Freund und Vorgesetzten gleich und ließ seine Blicke über die friedvolle Landschaft schweifen, welche Wachtstein umgab.
»Ach verdammt, so sehr ich meine Heimat liebe, ich wäre gerne noch eine Weile hier geblieben«, sagte er schließlich. »Aber ich schätze, wenn ich die frostfreie Zeit voll ausnutzen will, muss ich in ein bis zwei Wochen den Abmarsch befehlen.
Wie läuft es eigentlich mit deinem Landmeister hier, macht dir von Hainesruh immer noch Ärger? Ich meine mich zu erinnern, dass du zwischen den Zeilen erwähnt hast, dass dir dein aufstrebender direkter Untergebener nicht sonderlich viel Freude macht.«
Das faltige Gesicht des Hochmeisters verzog sich, als ob er gerade in eine Zitrone gebissen hätte.
»Du willst mir unbedingt noch den Morgen versauen, bevor du wieder abreist, mag das angehen?«
Zdravko grinste breit über sein feistes Gesicht. »So schlimm?«
Severin seufzte und schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Manchmal glaube ich, das Problem liegt eher bei mir beziehungsweise an meiner Abneigung ihm gegenüber. Er ist ein Wichtigtuer, der keine Gelegenheit auslässt, um sich in den Vordergrund zu spielen, ob hier, bei Hof oder bei der Kirche. Leider ist er darüber hinaus außergewöhnlich intelligent und kompetent. Er hat ein Gedächtnis wie eine Bibliothek und ist ein fähiger Mann. Was er anpackt, erledigt er vorbildlich. Aber er sprüht bei Bedarf auch geradezu an Charme und hat eine gelassene Arroganz am Leib, die meine Geduld oft auf eine harte Probe stellt.«
»Will er deinen Stuhl?«, fragte Zdravko.
»Darum scheint es ihm gar nicht zu gehen. Das ist ja der Grund, warum sein Verhalten manchmal so an mir frisst. Das würde ich verstehen. Er ist jung und fähig, attraktiv und gewitzt. Ein gewisser Ehrgeiz wäre nur natürlich.«
»Aber wenn ich deine Briefe richtig verstanden habe, kümmert er sich um Belange, mit denen er nichts zu tun hat. Die teils eher in deine Entscheidungsfindung fallen würden«, meinte der Landmeister.
»Das tut er auch. Das tut er, wenn auch diskret, eigentlich ständig. Aber, und das ist der Punkt, warum ich ihn nie richtig zu packen bekomme, er macht das gut. Er tut es beiläufig, ohne offensichtlich einen Vorteil daraus zu ziehen. Und er gibt sich dabei in seinen Entscheidungen keine Blöße, tut nichts anderes als das, was ich auch tun würde.
Er ist wie ein Gockel, wenn es darum geht, den Orden zu repräsentieren. Aber wenn er seine Befugnisse überschreitet, dann tut er das offenbar uneigennützig und mit einer aufreizenden Bescheidenheit.«
Der alte Hochmeister hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Arme und ließ sie wieder sinken. »Ich kann es nicht besser erklären. Wie ich eingangs sagte, manchmal glaube ich schon, dass es einfach nur an mir liegt. Dass ich seine Art nicht ausstehen kann und deswegen Gespenster sehe. Aber trotzdem, dieser Mann ist mir suspekt, das war er schon immer.«
Der Landmeister grinste nicht mehr, lächelte aber noch immer breit und nickte. »Ich hatte vor, mir heute nochmal in Ruhe die Stadt anzuschauen. Morgen mache ich eine kurze Aufwartung beim Kardinal und übermorgen geht es zurück in die alte Heimat. Willst du mitkommen und ein wenig den Fremdenführer spielen?«
»Nein«, murmelte Severin, »amüsiere du dich gut. Friss dich nicht zu voll, dann können wir später zu Abend essen und gemeinsam etwas trinken. Ich nehme doch an, du gedenkst die letzten beiden Abende mit deinem alten Freund zu verbringen, und nicht in irgendwelchen Tavernen in der Stadt.«
»Worauf du dich verlassen kannst, Severin«, erwiderte der Landmeister und klopfte seinem alten Weggefährten auf die Schulter. »Und keine Sorge wegen meines Appetits, der wird ungebrochen sein.«
Nachdem Jarek Zdravko kurz darauf gegangen war, begab der Hochmeister sich an seinen Schreibtisch. Es war ein gewaltiges altes Ding aus Rotholz, das im südwestlichen Teil des Kommandoraums in einer künstlichen Ecke aus zwei Bücherregalen stand.
In Kürze würde Gregor hier sein, der fünfundzwanzigjährige Sekretär, der ihm seit knapp zwei Jahren zur Hand ging. Severin hatte mit zunehmendem Alter immer länger für seine Schreibarbeit gebraucht, und sich schließlich für diese ihm ohnehin lästige Arbeit eine Hilfe besorgt. Seine Rechte ruhte einen Moment lang auf dem Bericht aus Haquadelaor, den er seinem alten Freund gegenüber nicht erwähnt hatte. Er handelte von dem Überfall auf Umbrahope, wo nur mit Mühe eine aus dem Nichts kommende Invasion von wilden Stämmen zurückgeschlagen worden war. Die Angelegenheit war für den Landmeister der Ostmark bedeutungslos. Zumal er ohnehin den größten Teil des verbleibenden Jahres in der Tundra verbringen würde. Severin grübelte einen Moment über die Folgen, die der Verlust der Handelsmetropole auf dem Südkontinent für das Reich haben konnte. Schließlich richtete er sich in seinem Stuhl auf und streckte sich. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Sein störrischer Geist hatte sich, wie so oft, wieder einmal an Aden von Hainesruh, dem Landmeister der Königsmark verhakt.
Er erinnerte sich noch genau daran, wie er den Mann vor über zehn Jahren kennengelernt hatte. Er war ein Angehöriger des Landadels aus der im Nordwesten gelegenen Grafschaft Greifenwalde. Über seine Jugend war kaum etwas bekannt. Man wusste nur, dass er im Alter von vierzehn Jahren die Baronie seines Vaters geerbt hatte. Aus einem Geschlecht entstammend, das für seine Frömmigkeit bekannt war, traf der junge Baron an seinem sechzehnten Geburtstag eine aufsehen erregende Entscheidung.
Er trat, kinderlos und ledig, dem Orden bei und überantwortete diesem sein Lehen. Damit verzichtete er auf Titel und Land ebenso, wie auf das Fortführen seines Geschlechts. Es kam durchaus vor, dass ein Graf der Kirche oder dem Orden das eine oder andere bescheidene, eher unbedeutende Lehen spendete. Um ein solches handelte es sich im Falle von Hainesruh denn auch zweifellos. Mit dem alten Landsitz, drei kleinen Dörfern und zwei Waldstücken war es wenig bemerkenswert. Dennoch war die Tatsache, dass ein Baron von sich aus all seinen Besitz und seine Privilegien aufgab, um sich der Religion zu überantworten, ein einmaliges Ereignis gewesen.
Die Gerüchte um die wahren Beweggründe des jungen Barons, die von Schwachsinn bis zu heimlicher Knabenliebe gereicht hatten, waren bald verstummt. In nur wenigen Jahren erarbeitete sich Aden von Hainesruh einen Ruf als frommer, zielstrebiger und fähiger Bruder. Als er vor zwölf Jahren nach Sigholm und Wachtstein gekommen war, hatte er gerade dreiundzwanzig Winter gezählt. Anfangs war auch Severin von dem jungen Mann beeindruckt gewesen.
Aden war hochgewachsen, noch ein paar fingerbreit größer als er selbst. Dazu hatte er die Statur eines Kriegers und markante, attraktive Züge. Der alte Hochmeister hatte sofort den Stolz in dem Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der geraden, schmalen Nase erkannt. Aber da war auch eine stechende Aufmerksamkeit und Intelligenz in den smaragdgrünen Augen des jungen Mannes. In den folgenden Jahren bestätigte der hünenhafte Bruder mit der blassen Haut und den feuerfarbenen Haaren den ersten Eindruck des Hochmeisters ebenso, wie seinen guten Leumund.
Severin hatte im Grunde nur darauf gewartet, dass es früher oder später zu Problemen kommen würde. Er hatte im Laufe seiner Zeit im Orden viele junge und fähige Brüder wie Aden kennengelernt. Oft waren es die Söhne von niederen Adligen, wohlhabenden Händlern oder anderen einflussreichen Familien. Mit anderen Worten, erfolgsverwöhnte Kinder aus privilegiertem Hause. Früher oder später eckten diese Männer mit ihrer Einstellung und ihrem Verhalten im Orden an. Sie stolperten über ihre Überheblichkeit, ihren Ehrgeiz oder einfach über den Stolz, den ihr Stand in der Welt außerhalb der Gemeinschaft der Templer sie gelehrt hatte. Überhaupt kamen vielerlei Makel und ernste charakterliche Missbildungen in dem weltabgewandten Umfeld des Ordens schneller ans Tageslicht, als sie es in der freien Gesellschaft zu tun pflegten. Sei es die Feigheit vor einem Kampf, die Angst vor einer Prüfung, Knabenliebe und zahlreiche weitere Schwächen und Abnormitäten der Persönlichkeit. Dinge, die ein Mann unter weniger isolierten Umständen oft für viele Jahre vor anderen verborgen halten konnte. Nicht selten sogar vor sich selbst. Ab und an fand man dann so schwer gestörte Seelen wie im Falle von Dunstan. Wenn diese Männer vollständig erfasst hatten, dass sie den Rest ihres Lebens im Orden verbleiben würden, brachen sie für gewöhnlich früher oder später zusammen. Die Stolzen wie die Kranken gleichermaßen. Was Aden von Hainesruh anging, so irrte Severin sich jedoch in seiner Einschätzung.
Es gab nie eine Beschwerde über den jungen Mann, keine Gerüchte ob verdächtiger Ausflüge in die Stadt oder die umliegenden Dörfer. Kein Streit mit anderen Brüdern, keine gar zu ausufernden Saufgelage, keine zerschlagenen Tavernen. Obwohl eine latente Arroganz von seiner Person ausging, schien er die Menschen, mit denen er verkehrte, ganz natürlich für sich einzunehmen. Seine leicht herablassende Art überspielte er mit einer vorzüglichen Höflichkeit. Er war aufmerksam, gebildet und befleißigte sich nicht zuletzt eines Humors, den er seinem jeweiligen Umfeld anzupassen verstand. Fein und geistreich bei Hof, gröber und zotiger im Kreise der Brüder.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Severin, ob er nicht doch, in einem Winkel seines Unterbewusstseins, eifersüchtig auf den Ordensbruder war. Er missgönnte weder von Hainesruh noch einem anderen Mann seinen Erfolg oder Rang. Der Hochmeister war dem Orden als junger Mann aus eigenem Antrieb beigetreten. Er hatte seinen Platz im Leben immer im Dienste des Lichtbringers gesehen. Und in dem des Schwertes, denn bei Gott, ein Krieger war er. Die Unzufriedenheit und der Selbstzweifel, die bei einem Mann zu Neid und Missgunst führten, waren ihm stets fremd gewesen. Doch er war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass er immer ein grobschlächtiger alter Haudegen sein würde. Ob bei Hof oder in den Kreisen der Kirche. Er war im Grunde ein Mann aus dem Volk, der sich mit Kraft, Beharrlichkeit und einem wachen Kopf den Weg an die Spitze des Ordens erkämpft hatte. Das adelsverheißende »de« in seinem Namen war im Grunde ein Witz. Die Baronie Contaut war ein kleines Landgut mit zwei Dörfern im Nirgendwo der nördlichen Westmark. Vermutlich hatte sein nichtsnutziger Bruder den bescheidenen Besitz in den zwanzig Jahren, in denen sie keinen Kontakt mehr pflegten, längst versoffen.
Es stand außer Frage, dass der junge Landmeister von Stennward einen ungleich leichteren Stand hatte, als es damals bei Severin der Fall gewesen war. Für ihn war seine Korrespondenz mit dem Hof stets nur ein notwendiges Übel. Ohne seine Freundschaft zu Kardinal von Grünesfelde sähe es in den Belangen der Kirche kaum anders aus. Von Hainesruh hingegen bewegte sich auf jedem Parkett gleichermaßen sicher und mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit.
»Aber du bist kein missgünstiger alter Mann, und das weißt du auch ganz genau«, murmelte er kaum hörbar. Wenn er in dieser Art dachte, halblaut und versunken, hörte er in seinem Kopf die ruhige, raue Stimme seines längst verstorbenen Vaters. Eines Mannes, der über die Weisheit und das Wissen eines Bischofs verfügt hatte, aber als Graf an seiner Sanftmut und Güte gescheitert war.
Was dich irritiert, ist eben die Tatsache, dass er überall glänzt. Bei Hof, in den Reihen der Priester wie auch in denen der Brüder. Das Volk kennt und mag ihn und selbst der götterverdammte Randolf geht mit ihm anders um, als er es mit dir oder dem Kardinal tut. Wenn die beiden miteinander reden, ist es fast, als würde der König mit einem seiner Herzöge sprechen. Und das wirklich Merkwürdige ist, dass er das offenbar nicht einmal bemerkt. Aden scheint manchmal überall gleichzeitig zu sein, ist bei jedermann gleichermaßen geschätzt und macht nie Fehler. Oder hast du ihm je auch nur ansatzweise einen Vorwurf machen können? Kein Mensch sollte so unfehlbar sein, und einzig und allein das ist der Grund für dein Misstrauen ihm gegenüber. Deswegen fühlst du dich in seiner Gegenwart unbehaglich. Wenn man sich mit ihm längere Zeit unterhält, ist es, als spräche man mit einer betörenden Maske und der Teufel weiß, was hinter dieser Fassade lauern mag. Es ist nichts an ihm natürlich, aber andererseits kann niemand eine Fassade ein ganzes Leben lang aufrechterhalten. Der Mann ist falsch, er ist einfach nicht richtig.
Severin de Contaut hob mit einem Ruck den Blick und schüttelte leicht den Kopf. Jedes Mal die gleiche verdammte Grübelei, wenn er mit seinen Gedanken zu lange bei seinem ersten Landmeister verweilte. Dieser Kerl irritierte ihn mehr als jeder andere Mensch, mit dem er in seinem Leben zu tun gehabt hatte. Die Tatsache, dass er diese Gedanken nicht abschalten und von Hainesruh auf die ihm eigene, pragmatische Art und Weise gegenübertreten konnte, ärgerte ihn dabei am meisten. Er beschloss, sich einen warmen Mantel überzuziehen und einen Rundgang durch Wachtstein zu machen, um sich abzulenken. Auf seinem Weg nach draußen wünschte er sich einmal mehr, er würde das Hauptquartier des Ordens nicht mit von Hainesruh teilen müssen. Der Landmeister war ebenso in Wachtstein zu Hause wie Severin als Oberhaupt der Templer.
Eine eigene Burg wirst du wohl keinem von euch bauen können, ertönte die Stimme seines Vaters spöttisch in seinem Kopf. Es sei denn, du möchtest in deinem Nachruf als der Hochmeister bekannt werden, der wegen seiner Alterszickigkeit die Goldvorräte des Ordens verprasst hat. Severin murmelte eine Verwünschung vor sich hin, und beschleunigte den Schritt. Er nahm sich vor, den Abend wieder mit Jarek zu verbringen, sobald dieser aus der Stadt zurückgekehrt war. Die Zeit mit einem alten Freund zuzubringen war allemal sinnvoller, als sich über unabänderliche Umstände den Kopf zu zerbrechen. Außerdem ging er langsam auf die sechzig zu, während dem Freund eine Reise ins Ungewisse bevorstand. Wer wusste schon, wann und ob der Herr sie erneut zusammenführen würde. Wenig später, als er durch die Wehrgänge der ringförmigen Festung marschierte, war er froh, an der frischen Luft zu sein.
Bewegung war noch immer das Beste, für den alten Körper ebenso wie für den rastlosen Geist. Seine Laune hellte sich bis zum Abend auf, und so verbrachte er einige seltene, gesellige Stunden mit seinem langjährigen Freund. Die beiden alten Kameraden genossen die letzten gemeinsamen Tage, die ihnen beschieden sein sollten, in vollen Zügen.