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OUSO DUTY-FREE

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Den wartenden Passagieren wird der Weg freigegeben. Langsam fluten sie über eine mit seitlichen Ketten abgesicherte Rampe in den Bauch des Schiffes, ich mitten drin. Über eine andere Rampe rollen Autos, Dreiräder und LKWs in ihre Decks. Die Luft hier drinnen verdunkelt sich durch all die Abgase und lässt die Lampen orange erscheinen. Ich folge den Menschen, die, wie mir vorkommt, alle gewohnte Fährenbenutzer sind. Auf schmalen Treppen steigen wir im Laderaum neben den Autos ein paar Decks höher. Durch lange, schmale Gänge gelangt man hier zu den nummerierten Kabinen der verschiedenen Klassen. Da ich keine reserviert habe, folge ich den Billigreisenden. Bald tun sich nach mittschiffs große Säle auf, wie riesige Kinos, mit Reihen von Sitzen. Darin lassen sich die Menschen nieder oder legen zumindest auf einem ihr Gepäck ab. Ich mache es ebenso, verjage meinen Gedanken - was ist, wenn dir jemand den Rucksack klaut, und begebe mich auf ein höheres Außendeck.

Auf dem Bootsdeck komme ich ins Freie. Hier haben sich schon viele Passagiere eingefunden, um das Auslaufen mit zu erleben. Die Sonne ist gerade dabei unterzugehen und schafft mit ihrem Licht eine wehmütige Atmosphäre. Als ich mich über die Reling beuge, sehe ich, dass alle offenen Decks an Landseite voller Menschen sind und das Schiff gehörig krängt. Das erinnert mich an den Turm von Pisa. Über mir hängen die weiß gestrichenen Rettungsboote, große, unförmige Teile, aus Alublech genietet, jedes für 150 Personen zugelassen. Dann den Deckel drauf, und fertig ist die Sardinendose! Auf Deck, über das ganze Schiff verteilt, liegen zu meiner Beruhigung noch etliche selbstaufblasbare Rettungsinseln, mit ihrer Reißleine an der Reling befestigt. Auf den obersten für Passagiere unzugänglichen Decks sehe ich zudem noch Stapel von Rettungsflößen. Das sind schwimmbare Rohrvierecke mit einem Gitter aus Gurten als Boden. Ich bin beruhigt. Wir haben mindestens so viele Menschen wie die Titanic an Bord, haben zwar nicht ihren Luxus, dafür aber genügend Rettungsboote! Außerdem sind die Griechen seit der Antike als gute Seeleute bekannt. Unser Kapitän hat das vorhin mit seinem perfekten Anlegemanöver bewiesen! Und ist nicht der größte Reeder der Welt ein Grieche, Aristoteles Onassis, der kürzlich die Jaqueline Kennedy geheiratet hat?

Es scheinen soweit alle an Bord zu sein. Die Rampen werden hochgeklappt. Bis auf ein Fallreep, das frei neben der Schiffswand zur Pier reicht. Darüber klettern noch ein paar Verspätete an Bord. Die Leinen fallen. Das Schiff erwacht. Es fängt an zu vibrieren. Das Bugstrahlruder drückt einen Wasserstrom gegen den Kai. Bei halber Kraft zurück und voller Ruderlage kommt das Heck frei. Luftschlangen, die die Passagiere an Deck den Zurückbleibenden zugeworfen haben, spannen sich, zerreißen, und fallen wehend ins Wasser. Aus den Lautsprechern an Land krächzt, ich kann es kaum glauben, Nana Mouskouri: „Ich bin ein Mädchen aus Piräus, und liebe die Schiffe, den Hafen und das Meer! Ich lieb das Lachen der Matrosen, die Küsse, die schmecken nach See, nach Salz und Teer.“ Die Menschen winken sich noch zu, ihre Rufe werden bald unverstehbar. Die Pier entfernt sich immer weiter, die Kräne werden kleiner. Eine andere Fähre läuft tutend ein, um unseren Platz an der Pier einzunehmen. Ein Frachter zieht mit einer dunklen Rauchfahne am Schornstein an uns vorbei. Unsere Maschine kommt auf volle Drehzahl. Die untergegangene Sonne hat Himmel und Meer rot gefärbt. Die Akropolis schwebt in der Ferne in rosa Farben über der im Dauerdunst versunkenen Stadt. Ich bin wieder auf See!

Solange es noch etwas hell ist, erkunde ich das Schiff. Bald schon befinde ich mich auf der Brücke, wo die Hektik der Routine gewichen ist. Das Ruder ist die ganze Zeit besetzt. Zu viele Lichter tanzen um uns herum auf dem Wasser. Andauernd muss der Kurs geändert werden. Auch werden in der Nacht noch die Inseln Kea und Andros angelaufen, bevor es über das ägäische Meer nach Chios geht. Ich suche den Aufenthaltsraum auf, wo mein Gepäck auf mich wartet. Viele Sitze sind noch frei. Die Leute werden noch in den Restaurants und den Duty-Free Shops sein. Ich esse meine Brotzeit und lese etwas. Dann schlendere ich über das schwach beleuchtete Deck, stelle mich in den Fahrtwind, lausche den sich mit dem Seegang kreuzenden Bugwellen. Die Luft schmeckt leicht nach Salz. Gegen zwei Uhr verlassen wir den letzten Hafen. 100 Kilometer See-Törn liegen vor uns. An verschiedenen Stellen haben sich Gruppen gebildet und machen sich über den zollfreien Alkohol her. Auch in den Sälen geht es rund. Zuerst sind es noch die spielenden Kinder, die überall herumrennen. Früh schlafen geht in diesen Ländern niemand. Die Erwachsenen lassen die Flaschen kreisen. Man singt oder hebt den Ton, um sich verständlicher zu machen. An Schlafen ist vorerst nicht zu denken. Ist es die bewegte See, ist es der Uso? Bald springen die Ersten auf und rennen, so gut sie noch können, zu den Toiletten. Dort bilden sich bald Warteschlangen. Und man kann vielleicht einen Stuhlgang hinausschieben, aber nicht einen rebellierenden Magen! Die Leute laufen zur Reling. Doch da kommt ihnen das eben erst Gekotzte, je nach Windrichtung, wieder entgegen, oder das vom Nebenmann. Oder vom Deck darüber. Kaum ein Eck innerhalb und außerhalb der Aufbauten bleibt verschont, vorausgesetzt, es ist etwas vorhanden, wo man sich festhalten kann. Bald riecht es im großen Aufenthaltsraum nach Kotze, die rennenden Kinder rutschen darin aus, fallen hin und laufen weinend zur Mama. Doch diese hat mit sich selber genug zu tun, ist doch Papa stockbesoffen und seekrank dazu! Ich kriege hier drinnen kein Auge zu. Also schnappe ich mir den Rucksack und zwänge mich durch die engen Gänge und Treppen auf das Bootsdeck. Das hat sich inzwischen ziemlich geleert. Nur ein paar seefeste Pärchen verschönern sich knutschend die Fahrt. Endlich frische Luft! Hinter den Aufbauten entrolle ich meinen Schlafsack und finde ein paar Stunden Schlaf.

In der Früh will ich auf die Toilette. Wie sieht es da aus! Die ganze Treppe ist mit einer glitschigen Schicht aus Essen und Uso bedeckt. Zum Glück hat schon die Mannschaft, mit Schrubbern und Feudeln bewaffnet, den Kampf aufgenommen. Pure Routine! Als wir in Chios einlaufen, beruhigt sich die See. Mit Präzision bringt die Mannschaft das Schiff an die Pier. Die Menschen stehen schon vor den Türen und strömen bald darauf an Land. Ich lasse mein Gepäck in einem Hafenbüro zurück und gehe auf Erkundung.

Chios ist ziemlich trocken. Ein hoher, oben felsiger Berg überragt die Insel. Homer, der Verfasser der Ilias und der Odyssee, stammte von hier. Die Insel muss mal bessere Zeiten gesehen haben. Viele Häuser machen einen verlassenen oder verfallenen Eindruck, die meisten Felder liegen brach. Ist das wegen der Jahreszeit, oder herrscht auch hier Landflucht? Agaven und Feigenkakteen bilden Hecken oder haben sich auf das Brachland ausgebreitet. Ich begegne wenig Menschen. Zitronenbäume tragen Früchte, die niemand pflückt. Ich nehme eine, rieche daran. Weiß nicht, was damit machen. Da kommt eine Frau, wohl eine Bäuerin, vorbei, und lacht mich an. Zeigt auf meine Zitrone, pflückt eine, und isst sie wie einen Apfel. Ich beiße in meine. Sie lacht über mein Gesicht.

Ein paar Ziegen klettern über die Absperrmauern zwischen den Feldern. Niemand hindert sie daran. Es ist heiß. Der Seewind bringt etwas Erfrischung. Ich gehe zum Meer zurück. Der Strand besteht aus Kieselsteinen, die, leicht von den anrollenden Wellen bewegt, ein klirrendes Geräusch verursachen. Ich lege meinen Rucksack in den Schatten der Felsen am Rande der Bucht und renne nackt hinaus in das flache Meer. Ich habe den ganzen Strand nur für mich. Hier verbringe ich die Nacht. Am nächsten Tag soll ein Schiff nach Cesme gehen, zum türkischen Festland.

Im Hafen suche ich das Fahrkartenbüro und frage nach dem Ticket. Ich denke, ich habe falsch verstanden. Aber der Verkäufer schreibt es mir noch extra auf. Für die 10 Kilometer bis zum Festland will er umgerechnet 60 Mark, wo ich für die 250 Kilometer von Piräus bis hier nur 6 Mark bezahlt habe! Wegen Grenze und Krieg, ist die Antwort. Bald kommt das Boot eingelaufen. ‚Aphrodite‘ ist der stolze Name dieses alten Holzkahnes. So 10 Meter lang und 3 Meter breit, gerade breit genug, um quer ein Auto aufzunehmen. Aber wer hat in Chios schon ein Auto und fährt damit in Kriegszeiten in die Türkei? Ich bin also der einzige Fahrgast. Zum Glück hält eine dicke Farbschicht die Bretter zusammen. Alles Tauwerk ist aus Naturfaser, sogar ein Segel hängt einsatzbereit an einer Gaffel, falls der Motor mal ausfallen sollte. Ich bin beruhigt. Doch bei dieser Überfahrt hält er durch! Leise tuckernd schiebt er das Boot mit sprudelnder Bugwelle durch das blaue Meer. Als einziger Passagier habe ich ein Anrecht, das ganze Schiff kennenzulernen. Ich darf sogar das Ruder übernehmen. Dieses ist ziemlich schwergängig, hat wohl Kettenübertragung, und ziemlich viel Spiel darin. Aber das Wichtigste ist ja, dass man trotzdem ankommt!

Asien rückt näher. Ich erkenne die Mauern einer alten Festung, die auf das schräge Ufer gebaut ist. Sie muss mal sechs Türme gehabt haben, die zwei an der Uferseite sind noch gut intakt. Ihr zu Füßen liegt der Kai, wo unser Schiffchen bald anlegt. Zwei hölzerne Frachtsegler liegen vor Anker. Einer ist hoch mit Brettern beladen. Ich bin der einzige Tourist und folglich stürzen sich alle Händler auf mich, als ich den Fuß an Land setze. Eigentlich müssten sie doch sehen, dass ich schon schwer genug an meinem Rucksack trage! Um diesen und den Neugierigen zu entkommen, gehe ich zum Busbahnhof und kaufe mir ein Ticket nach Istanbul.

Am frühen Morgen kam der Bus in Üsküdar, einem Ort gegenüber Istanbul, an. Meine Augen brannten, und ich war wie gerädert. Der Bus war die ganze Nacht über gefahren und hatte nur dreimal Halt gemacht. Pinkelpause, und - vor allem - Teepause. Ich fand bald heraus, dass der Tee oder Cay, wie man im ganzen Osten sagt, der Mittelpunkt des Lebens ist. Bei jeder Gelegenheit wird ein Glas davon getrunken. Das Glas hat eine eigenartige Form, fast wie eine verlängerte Kreuzung aus Eierbecher und Eieruhr. Er wird glühend heiß serviert, meist mit zwei Stück Würfelzucker und einem winzigen Löffelchen auf einem Untersatz. Man fasst es am überstehenden Rand und schlürft vorsichtig die heiße Brühe, oft den Löffelstiel gekonnt zwischen zwei Finger geklemmt. Nicht nur in Bayern gibt es eine ausgetüftelte Trinkkultur! Außer dem Teetrinken scheint die Hauptbeschäftigung, zumindest der Männer, das Zigarettenrauchen zu sein. Der Bus war eine einzige dicke Rauchwolke. Die Windschutzscheibe vor dem Fahrer war bläulich angelaufen, was mit dem Dreck, der von außen anspritzte, nicht gerade die Navigation erleichterte. Außerdem schien die Scheibenwaschanlage nicht zu funktionieren, denn bei jedem Wischen verschmierte sich der Dreck nur noch mehr, wenn ein entgegenkommendes oder überholendes Auto uns mit einer Schlammfontäne bedacht hatte. Aber Überholer gab es wenige. Unser Fahrer war zu stolz, sich überholen zu lassen. Später sah ich, dass die Scheiben anderer Busse ebenso verschmiert waren. Da wurde mir klar: je schmuddeliger die Scheibe, desto besser der Fahrer! Außerdem gaben die vielen bunten Wimpel mit Koran-Suren und von Borussia Dortmund, die im Blickfeld des Fahrers baumelten, allen Insassen genug Vertrauen. In’ch Allah!

Schon im Busbahnhof schien ich die Attraktion zu sein: Jeder wollte mich in seinen Bus ziehen, ohne erst zu fragen, wo ich hin wollte. Alle Fahrer und Fahrgäste umstanden mich. Natürlich hatten sie mir angesehen, dass ich Deutscher war. „Alman?“, sagten sie immer wieder, „Alman – Türk Arkadesch!“, und rieben die ausgestreckten Zeigefinger beider Hände aneinander. Bedeutete dies etwas Obszönes? Fast jeder Zweite hier in Kuschadasi sprach Deutsch, war als Gastarbeiter in Deutschland gewesen. Diese hatten das Vorrecht, mit mir zureden. Durch einen Arbeiter aus Stuttgart erfuhr ich, dass Arkadesch so viel wie Freund bedeutet, und das Fingerreiben Freundschaft. Ich war beruhigt!

Vielleicht war ich vom Zigarettenrauch so gerädert. Solange ich meine Pfeife rauchte, hatte ich noch etwas Ruhe. Aber sobald sie ausgegangen war, wurden mir sofort Zigaretten angeboten. Ein Mann, der nicht rauchte, war kein Mann! Von seitlich, hinten, vorne, über den Sitz wurden mir Schachteln unter die Nase gehalten, mit dem einzigen in allen Sprachen der Welt gleichem Wort: „Zigarette!“ Nicht wie eine Frage, sondern als ein Befehl kam mir das am Ende vor. Noch so eine Busfahrt, und ich trauere meinem Motorrad nach! Die Hälfte der Fahrgäste bestand aus ehemaligen Gastarbeitern, die andere aus zukünftigen. Namen wie Borussia Dortmund, VFB Stuttgart, Bayern München, HSV usw. waren in aller Munde. Bei dieser nächtlichen Busfahrt durch die Türkei lernte ich mehr über die deutsche Fußballszene als in meinem Leben zuvor!

Kein einziger sagt ein schlechtes Wort über seine Zeit in Deutschland. Für alle ist es das gelobte Land. Dort hatten sie das Geld verdient, von dort hatten sie ihre Schubkarren und Schaufeln mitgebracht, um hier ihre Häuser aufzustocken, oder gar erst zu bauen. Um diese dann mit ihrer Familie zu füllen oder an Touristen zu vermieten, möglichst deutsche. Denn diese fingen anscheinend an, die Türkei zu entdecken. Wie ich. Außer mit Zigaretten hatten mich die Fahrgäste mit Ratschlägen für Istanbul überhäuft, wo wohnen, wohin nicht gehen…

Endlich spüre ich wieder festen Boden unter den Füßen. Ich hatte alle Einladungen abgelehnt, und den letzten klettenhaften Türken abgeschüttelt. Freundschaft ist schön. Gastfreundschaft auch. Darauf würde ich noch lange angewiesen sein! Aber das war ja mehr als Aufdringlichkeit! Ich huste den letzten Rauch aus meinen strapazierten Lungen. Reibe mir die müden Augen: Das kann doch nicht wahr sein, das ist ein Traum! Vor mir liegt blau der Bosporus und darüber die Silhouette Istanbuls mit ihren Dutzenden Minaretten, Kuppeln, Palästen, Festungen! Das ist also das alte Konstantinopel, Byzanz, die Heilige Pforte! All das im Licht der hinter mir aufgehenden Sonne, wie ein goldener Scherenschnitt!

„Taxi Mister?“, reißt mich eine Stimme aus meiner Betrachtung. Ich mache eine verneinende Handbewegung, wie ich sie den Türken im Bus abgeschaut hatte, und hebe zugleich leicht den Kopf. Man lässt mich in Ruhe. Bin ich der Einzige, der dieses Schauspiel sieht? Sind alle anderen blind? Aber das ist ja ihr Alltag! Sie sehen das jeden Tag. Fähren schäumen sich ihren Weg auf die andere Seite, nach Europa. Andere kommen von dort, ein schwarzes Rauchband hinter sich in der Luft verteilend. Möwen kreischen über mir, es riecht nach Wasser und Fisch.

Ich dränge mich mit dem Strom der eilenden Menschen auf die gerade festmachende Fähre, bevor die letzten Fahrgäste sie verlassen haben. Sie ist ein uralter Kahn, noch vollständig genietet, mit einer zentimeterdicken Rost- und Farbschicht bedeckt. Fast berührt das Wasser das schrägliegende Deck. Immer mehr Menschen drängen sich herein, Pendler, Verkäufer mit ihren Bauchläden, Schulkinder in ihren bunten Uniformen. Schon sind die Leinen los. Die Fähre zittert leicht und nimmt Kurs auf Europa. Ab und zu spritzt ein Schwall Gischt über das Boot, wenn die Bugwelle eines kreuzenden Schiffes uns trifft, und weht durch die offenen Fenster herein. Bald kann ich die Menschen am Anlegersteg erkennen, Fähren, Frachtkähne, Fischerboote, die ihren Fang entladen. Die Stadt muss hungrig sein. Wie ein gigantischer Ameisenhaufen erhebt sie sich beim Näherkommen vor mir. Und die Arbeitsameisen eilen herbei. Ich bin anscheinend die einzige Gastameise. Mal sehen, wie man diese empfangen wird…

„Sultan Ahmed chub!“, hatten die Fußballfans im Bus gesagt. Das heißt so viel wie ‚gut‘, hatte ich mir gemerkt, ‚güle güle‘ ‚guten Tag‘. ‚Tschai‘ heißt ‚Tee‘, ‚Ekmek‘ ‚Brot‘. Aber hier spricht ja fast jeder Deutsch. Sultan Ahmed ist der Name eines Stadtviertels und einer Moschee, auch die Blaue Moschee genannt. „Pudding Shop nix gut, Hippies!“, war der andere Rat, den sie mir gegeben hatten. Warum Hippie nix gut? Dachte ich mir. Für mich war Hippie ‚Love and Peace‘, eine Gegenkultur. Für Brüderlichkeit. Gegen die Spaltung Ost-West, gegen den Krieg, vor allem den in Vietnam, gegen den Kalten Krieg, die Überrüstung, vor allem gegen die Atomwaffen. „Ban The Bomb“ war eine der Parolen dieser Bewegung. Und das Peace-Zeichen war das Symbol. „Was bedeutet das eigentlich?“, hatte ich mal einen der Langhaardackel, wie die Leute im Dorf die Blumenkinder nannten, gefragt, der in seinen bunten Klamotten wie eine exotische Pflanze aus der grauen Münchener Loden-Mono-Kultur herausstach. Was auch mich damals etwas störte, war das oft bewusst schmuddelige Aussehen dieser Leute. „Das ist der Fußabdruck der Friedenstaube!“, bekam ich zur Antwort. Seitdem waren mir die Schmuddelkinder sympathisch. Denn die anderen liefen geschniegelt herum, mit kurzen Haaren, wie mein Bruder, und sangen: „Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? Wir! Wer kämpft für den Frieden auf Erden? Wir!“

Frieden! Bei jeder Sternschnuppe, die vom Himmel fällt, spreche ich dieses Wort aus. Nach dem Krieg geboren, habe ich als Erbe die Angst vor Sirenen mitbekommen. Bei jedem tieffliegenden Düsenjäger schrecke ich zusammen. Den Frieden schaffen mit Waffen? Was für ein Quatsch! Frieden ersteht von selber, wenn es keine Waffen mehr gibt! Wenn man Andere achtet, nicht verachtet. Gerechtigkeit wird die Welt verändern, nicht Überlegenheit. Teilen, nicht Nehmen. Ich hatte den Kriegsdienst verweigert. Mein Bruder hatte ihn gemacht. Wir zwei repräsentieren zwei gegensätzliche Welten und leben doch auf derselben Erde!

Zwei große Ereignisse fanden Ender der 60-er statt: ‚Woodstock‘, das Hippie-Musik-Festival und ‚Hair‘, ein Hippie-Musical. Woodstock war in Amerika. Aber ‚Hair‘ kam nach München. Zwei Mal war ich ins Deutsche Theater gefahren, um es zu sehen. Zum einen fand ich die Musik und die Texte toll, ein Großteil davon wurde sogar zu Schlagern. ‚Let the sunshine‘ oder ‚Aquarius‘. Ich wollte die Philosophie dieser Bewegung kennen. „Seit du Hair gesehen hast, bist du anders geworden!“, merkte sogar meine Mutter, „du bist ein Hippie!“, sagte sie halb scherzend. Die Haare und der Bart wuchsen von selber, es reichte, sie nicht mehr zu schneiden. Das brachte viele Unannehmlichkeiten mit sich und ich erlebte die Diskriminierung, die Andersartigen entgegengebracht wird, hautnah. Manche Gaststätten verweigerten den Ausschank. Man wurde angespuckt. Dadurch sah ich, wie scheinheilig die Menschen waren, das ganze System. Wir probten im Kleinen den Aufstand. Lasen die Mao-Bibel: Nichts als Worte ohne Seele. Wir wollten die Weltrevolution. Doch die Farbe der Revolution ist das Blut. Also dann eher die Evolution! Aber wie? „Where do we go?“, ein anderes Lied aus Hair, wurde wie ein Credo für uns Suchende. Hatte Buddha nicht auf weltliche Ruhm verzichtet und alle hergebrachten Lehren abgelegt? Und trotzdem gefunden? Oder gerade deshalb? Namen wie Katmandu und Benares hatten eine magische Anziehungskraft bekommen. Oder war es unsere erstickende Seele, die uns diese einflüsterte?

Wo geh ich hin, folg ich den Wolken? Wo ist der Weg, den ich nicht seh‘?

Wer weiß die Antwort auf meine Frage, warum ich lebe und vergeh‘?

HIPPIE TRAIL - Band 1

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