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MORNING HAS BROKEN

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Um 8 Uhr fahre ich los. Ich verlasse den Ort und biege auf die Landstraße ein. Als die letzten Häuser hinter mir liegen, wird mir plötzlich bewusst, auf was ich mich da eingelassen habe. Die Tränen kommen mir, meine Fliegerbrille beschlägt. Ich fahre das schwere Gespann an den Straßenrand und nehme die Brille ab. Durch einen Tränenschleier schaue ich hinunter auf das Dorf. An derselben Stelle hatte mein Vater vor 12 Jahren den Möbelwagen anhalten lassen. Wir waren alle ausgestiegen, und er hatte, wie Moses damals, auf das gelobte Land hinunter gedeutet und gesagt: „Da unten das Dach mit dem Strompfosten darauf, das ist unser neues Zuhause!“

Viel Schweres hatte ich hier durchlebt. Denn für ein Kind aus dem Norden war es nicht einfach, in Bayern zu leben. Aber in diesem Augenblick kommen mir nur die schönen Erinnerungen in den Sinn, wie ein Film mit Zeitraffer. Und ich weiß, es ist ein Abschied für immer! Vielleicht ist das der Preis der Freiheit, sich voll in die Hände seines Schicksals zu übergeben? Langsam versiegen meine Tränen. Der Schmerz des Abschieds verwandelt sich in eine spannende Erwartung des Kommenden. Ich lege den Gang ein und starte los. Ich fühle mich wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist und plötzlich sieht, es gibt die Welt!

Währen der nächsten 10 Kilometer lasse ich mir nochmal den gestrigen Abend durch den Kopf gehen. Wir waren im Altwasser gewesen. Nichts hatte sich getan. Wie üblich, obwohl ich es für diesen letzten Abend erhofft hatte. „Erst die Arbeit, dann der Schnaps…“ hatte Marion gesagt. Und ich hatte gearbeitet. Wie ein Bagger. Wir hingen aneinander, küssten uns, umarmten uns. Unsere Zungen berührten sich, erkundeten den Mund des Anderen. Unsere Zähne berührten sich, übertrugen unsere Spannung. Alles in mir sehnte sich danach, sie hautnah zu erleben. Oder zumindest da unten etwas zu streicheln. Nur keine falsche Bewegung, dachte ich, nur nicht den Zauber des Augenblicks zerstören… Doch wir waren zu sehr Kinder unserer Zeit. Verklemmt. Wie mein Schwanz, den ich unauffällig aus seiner krummen Position befreite, damit er nicht abbrach. Die Sterne zwinkerten uns zu, der Mond verhüllte schamhaft sein Gesicht, wie um uns in ein intimes Dunkel zu hüllen, uns Mut zu machen. Doch das wäre nicht notwendig gewesen. Nichts geschah. Ich ging auf Tuchfühlung. Meine tastenden Finger blieben an dem Panzer ihre Unterwäsche hängen. Undurchdringlich. Trug sie einen Keuschheitsgürtel? Oder war das ein Hüfthalter ihrer Mutter, der sich meinem Forscherdrang entgegenstellte? Nach einer Weile zog sie einen Flachmann aus irgendeiner Tasche und sagte: „So, und nun der Schnaps!“

Nie zuvor hatte ich mich so frustriert gefühlt wie in diesem Augenblick! Wir verbrachten noch eine Weile eng umschlungen, rieben uns aneinander, steigerten unseren Blutdruck, uns wurde so heiß, dass wir einen Moment voneinander abließen, um uns die Pullover auszuziehen. Diesen Augenblick nutzte sie, und band mir ein Lederbändel um den Hals, so wie ich ihr eines vor ein paar Tagen umgeknüpft hatte. „Immer wenn ich den Mond sehe, werde ich an dich denken!“ flüsterte sie und gab mir einen Kuss. Als ich wieder Luft bekam, spöttelte ich „hoffentlich auch, wenn du die Sonne siehst!“ „Und du?“ „Klar doch, immer!“ Wir versprachen uns gegenseitig, das Bändel zu behalten. Nur der Andere dürfe es wieder aufmachen. In 1 ½ Jahren spätestens, wenn sie ihr Abi hätte, solle ich wiederkommen, dann würden wir zusammen reisen. Bis dahin einten uns die Gedanken… Ich begleitete sie noch bis nach Hause. Letzte Umarmung. Ich ging, ohne mich umzudrehen. Ich hörte ihre Tür ins Schloss fallen…

Was soll ich weiter in der Vergangenheit kramen? Vorbei! Sie entfernt sich mit 70 Kilometern pro Stunde. Es gibt nur noch Voraus. Und da, im Osten steigt gerade die Sonne hinter den Bergen hoch. Wie ist die Welt doch schön! Die rote Sonnenscheibe, der Fahrtwind, das Blubbern des Boxermotors, all das gibt mir ein solch wohliges Gefühl. Das ist der Geschmack der Freiheit, kommt es in mir hoch, und ich folge dem schwarzen Band der Straße. Cat Stevens‘ ‚Father and son‘ kommt mir in den Sinn und ich singe lauthals „I was once like you are now…“ Vor allem die dritte Strophe: „How can I try to explain, when I do, he turns away again. It’s always been the same old story. From the moment, I could talk, I was ordered to listen. Now there’s a way, and I know, I have to go away, I have to go!“ Ich musste gehen! Ich bin gegangen! Ich bin unterwegs!

Doch die Vergangenheit ist zäh. Sie lässt so schnell nicht locker. Überall in der alten Welt begegne ich ihr. Die Straße, auf der ich fahre, wie viele Male bin ich auf ihr zur Schule gefahren? Bei jedem Wetter. Anfangs mit dem Moped, später mit dem Auto. Ich kenne jede Kurve, jede Gerade. Zu allen Jahreszeiten. Und doch war es jetzt anders. Ein Gespann fährt sich einfach anders als ein Moped oder Auto. Und außerdem würde ich hier nie mehr zurückfahren. Ich befand mich auf einer endlosen Einbahnstraße nach Osten.

Auf einem Parkstreifen, wo ich schon des Öfteren in meinem VW-Bus übernachtet hatte, wenn ich auf dem Rückweg zur Schule zu müde gewesen war, machte ich eine Pinkelpause. Ich hatte Zeit. Ab heute. Ich stopfte mir eine Pfeife und machte ein paar Schritte, um mir die Beine zu vertreten. Mein Blick fiel auf die Maschine. Sah schon Klasse aus! Vorne, die schräge Windschutzscheibe gab ihr fast das Aussehen einer Harley-Davidson. Der Seitenwagen war wasserdicht mit einer Plane verschlossen. Hinten drauf stapelten sich drei komplette Räder und drei nagelneue Stollenreifen. Diese formten einen Turm, der sich schräg nach hinten neigte. Auf dem Gepäckträger des Motorrads hatte ich meinen Seesack festgezurrt, voll mit Klamotten. Links vom Hinterrad hingen ein Metallkoffer und ein Benzinkanister. Ein weiterer befand sich im Seitenwagen. Zurzeit waren diese noch leer. Ich ging um das Gefährt herum und prüfte die Halteseile. Ich schaute in den Rückspiegel. Ein bärtiges Gesicht sah mich daraus an, mit schwarz-rot-goldener Halbschale und Fliegerbrille darüber. Der Anblick erinnerte mich an Antoine de St. Exupery und den „Kleinen Prinz“, eines meiner Lieblingsbücher. Wie hatte der Fuchs gesagt? „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Ich zog die Seile der Reserveräder straffer. Schlug ein bisschen mit den Armen wie eine Windmühle. Es kribbelte darin. Der Lenker war schwer zu halten. Der Seitenwagen zog, vor allem bergauf, sehr nach rechts. Bergab, wenn der Motor bremste, umgekehrt. Dann schob der Wagen und in beiden Fällen musste ich stark gegenlenken. Was mochte das alles wiegen? Das Gespann so 350 Kilo, dazu die Ausrüstung, ich. Mindestens 500 Kilo, schloss ich. Die Pfeife war ausgegangen. Ich fühlte die Bremstrommeln. Sie waren so warm wie die Pfeife. Am Hinterradantrieb hing ein Tropfen Öl. Ein anderer war auf die Felge gefallen und verlief sich auf dem Reifen. Scheiße! War wohl etwas zu heiß geworden! Oder war die Entlüftung in der Einfüllschraube verstopft? Ich suchte das Werkzeug und schraubte sie heraus. Blies sie durch. Sie war frei gewesen. Das Wichtigste ist, dass der Motor läuft, sagte ich mir. Brille runter Handschuhe an und auf den Kickstarter gesprungen. Und noch mal und noch mal. Er hatte einfach zu wenig Wirkungskreis! Was war das für eine blöde Erfindung, den Kickstarter parallel zum Rahmen anzuordnen und dann mit einem Umlenkmechanismus zu versehen, der auf die in Fahrtrichtung verlaufende Kurbelwelle wirkte! Warum einfach, wenn’s umständlich auch geht? Es war einfach zu viel Spiel in dem Ganzen! Warum hat Herr Zündapp das nicht gemacht wie bei der BMW, die auch einen Boxermotor hat, wo der Kickstarter aber quer zur Fahrtrichtung zeigt? Vor lauter Kicken war ich bald am Schwitzen. Handschuhe aus und die Brille, die schon beschlagen war. Helm ab. Nichts rührte sich. Kerzenstecker weg. Funken? Benzin? Läuft. Was kann das nur sein? Vielleicht die Zündspule? Zu warm geworden? Dann kam mir eine Idee: Helm, Brille, Handschuhe, alles wieder an. Der Parkplatz fiel leicht ab. Leerlauf rein, schieben so fest ich kann, die Sache kommt ins Rollen, aufspringen, 2-ter Gang unter Protest vom Getriebe reingehauen, Kupplung langsam kommen lassen. Unter Pätschen und Rauchen kam der Motor langsam in Gang. Geschafft!!!

Hohen Peißenberg. Die Serpentinen runter. Eine wahre Freude! Mit dem Gas spielen. Mit der Bremse. Je nach Kurvenrichtung und Gefälle. Vorbei an den schiefen, durch den Kohleabbau abgesunkenen Häusern, Richtung Weilheim. In der Ferne sah ich schon die B 2. Doch da ist vorher noch ein Bahnübergang. Und beim Näherkommen sehe ich, wie die Schranken zugehen. Die Autos vor mir halten an. Ich auch. Die Bremsen gehen noch. Da rauscht schon der Zug vorbei. Doch die Schranken bleiben zu. Nach einer Weile kommt der Gegenzug. Ein langer Güterzug mit unzähligen Wagen. Zu lang für meinen ungeduldigen Motor. Er schaltet ab. Scheiße! Ich mache mich sogleich ans Kicken. Natürlich rührt sich nichts. Doch! Die Autos hinter mir hupen! Verständlich. Würde ich auch machen! Als die Schlange der Entgegenkommenden vorbei ist, können die hinter mir endlich fahren. Sehen nicht gerade zufrieden aus, die Gesichter hinter den Scheiben. Ich bin‘s auch nicht. Habe ich doch gerade erst 50 von 50 000 Kilometern hinter mich gebracht! Die Insassen des letzten Autos haben Erbarmen mit mir. Sind vielleicht auch nebenher Motorradfahrer. Sie steigen aus und wir versuchen zu viert die Karre anzuschieben. Zum Glück gelingt das nach fast 100 Metern und ich qualme gleich weiter. Nur nicht wieder anhalten! Kurz darauf überholen mich meine Retter und stimmen ein Hupkonzert an und machen mir aus dem offenen Fenster das Peace-Zeichen. Noch heute muss ich die Zündspule umbauen, nehme ich mir vor! Ich schaue auf meine riesige Taucheruhr am Handgelenk. Bald Mittag. Da könnte ich mich an der alten Schule, wo ich mir noch das Geld für die verkaufte BMW abholen will, zum Essen einladen lassen. Denn dieses Geld hat meine Reisekasse bitter nötig! Beinhaltet sie noch nicht einmal 2000 Mark. Und die sollen mich bis nach Australien bringen!

Die Glocken läuten zu Mittag, als ich in den Seminarhof einreite. Die Sonne scheint, die Fenster des Speisesaales sind offen und eine Menge Schaulustiger beugen sich heraus, wohl durch den Lärm meines Panzers angelockt. Ich will das Gespann in Wegfahrrichtung bringen, falls man anschieben muss, und beschreibe eine enge Rechtskurve. Bin ich zu schnell, bremse ich die Maschine anstatt sie zu beschleunigen? Nur ein erfahrener Seitenwagenfahrer hätte mir in diesem Moment sagen können, was ich falsch gemacht habe. Jedenfalls geht plötzlich der Seitenwagen hoch. Ich bekomme Angst, dass sich alles überschlägt. In meiner Verzweiflung bremse ich. Der Wagen schwebt über mir in der Luft. Das Gespann hält zum Glück das Gleichgewicht. Nach ein paar unendlichen Sekunden fällt alles wieder zurück auf die Räder. Ich könnte vor Scham im Asphalt versinken. Ich warte auf das Gelächter der Zuschauenden. Doch diese klatschen vor Begeisterung die Hände. „Super!“ rufen sie „einfach gekonnt! Was für eine Fahrzeugbeherrschung!“

Josef, der neue Besitzer meiner alten Braut, kommt auf mich zu. Hat der’s aber eilig mit dem Zahlen, denke ich. „Deine Karre ist ein Schrott! Du hast mich beschissen!“ ruft er. „Was?“ erstaune ich mich, alles ist nagelneu und überholt!“ „Es ist noch nicht mal ein Regler drinnen! Die Lichtmaschine ist kaputt und du hast alles direkt an der Batterie angeschlossen!“ Ich muss lachen. „Schau mal genauer hin. Die Ladekontrollleuchte geht doch. Folglich funktioniert doch alles. Der Regler befindet sich im Scheinwerfer. Da wird er wenigstens nicht heiß!“ Inzwischen sind wir von anderen Schülern umringt. Josef schraubt seine Lampe auf. Findet den Regler. „Eigentlich keine schlechte Idee!“ Da kommt es mir: das könnte auch das Problem meiner Zündapp sein! Überhitzter Regler. Oder überhitzte Zündspule?

Ich nehme die Einladung zum Essen an. Josef zahlt mir die BMW. Inzwischen hat sich mein Motor abgekühlt und macht mir die Freude, gleich anzuspringen. Unter Gute-Reise-Rufen starte ich los. Um das hässliche Krachen des ersten Ganges zu vermeiden, tu ich erst den zweiten rein, dann schnell den ersten. Die sollen einen guten Eindruck von mir behalten!

So, die Kasse stimmt, der Magen ist zufrieden, meine Katze schnurrt, das Leben kann nicht schöner sein! Ich fahre Richtung Sauerlach, um die Autobahn zu nehmen. Ich muss heute noch etwas vorwärtskommen. Vor allem raus aus Deutschland! Das ist für heute mein Etappenziel. Als ich Salzburg umfahre und die Silhouetten der Kirchen und Schlösser sehe, lasse ich mich dennoch ein wenig in Erinnerungen an Konzerte und Besichtigungen wiegen. Doch dann kommt mir Hans Albers in den Sinn und „La Paloma“ und ich singe so laut und falsch wie der Motor, denn es hört ja keiner, vielleicht auch, um meine aufkommende Traurigkeit zu verscheuchen: „Wie grün ist das Land, wie weit kann der Himmel sein, ich schau vom Motorrad weit in die Welt hinein. Nach vorn geht mein Blick, zurück darf kein Fahrer schau’n, Deutschland liegt zurück, jetzt heißt es auf Gott vertraun‘!“ Doch das Singen machte mich nur noch trauriger. Was soll’s, auch Traurigkeit kann schön sein…

Etwas hinter Salzburg biege ich dann von der Autobahn ab, suche mir eine kleine Straße, dann einen Feldweg und finde einen versteckten Platz. Bevor ich den Motor ausmache, stelle ich die Maschine leicht bergab, in Wegfahrrichtung. Man kann nie wissen… Es ist noch hell. Die Stille, nach dieser langen Strecke, ist fast so laut wie der Motor. Erst jetzt bemerke ich das Stechen in meinen Armen und die klammen Hände. Doch zuerst mal Pinkeln. Dann die Arme schütteln, etwas rennen. Ich nehme mir vor, bei jeder Pause ein wenig Gymnastik zu machen. Bald steht das Zelt. Kein Haus, kein Hund weit und breit, niemand wird mich hier stören! Leise knistert der sich abkühlende Motor. Es riecht nach heißem Öl. Doch bald überdeckt der Geruch der kochenden Suppe alles andere. Ich bin fix und foxi, aber glücklich. Die erste Etappe ist geschafft. Und die Karre? Die soll auch erst mal ausruhen! Morgen sehen wir dann, wie’s weitergeht…

Die Nacht war kühl. Die Arme, vor allem die Hände, taten mir weh vom Lenker halten. Anfangs fand ich keinen Schlaf. Die Dunkelheit verstärkte alle Geräusche um mich herum. Ich hörte in der Ferne Hunde bellen. Oder waren das Wölfe? Ich verstaute meine Papiere im Fußende des Schlafsackes und legte das Finnenmesser griffbereit neben mich. Ich hatte 1000 Mark in Travellerschecks bei mir und 1000 in bar. Alles in Dollar. Ich hatte sie mir bei der Bank wechseln lassen. Das Bargeld hatte ich in einem Spezialgürtel versteckt, der meine Bluejeans hielt. Lange hatte ich nachgedacht, bis ich die ideale Lösung gefunden hatte: ein circa 15 Zentimeter breites Lederband, so lang wie ein normaler Gürtel, versah ich in Längsrichtung in der Mitte mit einem Muster aus Nieten. Dann faltete ich ihn auf der rauen Fläche zu einem Drittel an einer Längsseite nach innen, dann dasselbe an der anderen Seite. Mit Wäscheklammern hielt ich diese Art Schlauch zusammen, während ich die Knickkanten mit einem Hammer bearbeitete, damit sie die Form behielten. Dann nietete ich das dreifach gefaltete Leder an jedem Ende zusammen. Ein Ende schnitt ich spitz zu, das andere befestigte ich an der Schnalle. Die Schnalle bestand aus zwei Hufeisen, die ich mir gebogen hatte, weil ich mal in einem Film einen Cowboy gesehen hatte, der so eine Schnalle trug. Damals wollte ich noch Cowboy werden. Das mit der Weltreise kam erst später. In diesen Gürtelschlauch also steckte ich die Banknoten. Die Laschen an der Hose und die Spannung hielten all das zusammen. Mit der Zeit wurden die Knicke im Leder so kantig, dass man glaubte, es sei ein flaches Stück Leder. Das Nietenmuster machte die Täuschung vollkommen. Die Jeans mit Gürtel diente nachts als Isolierung, unter der Isomatte versteckt. Meine Papiere trug ich in einem Brustbeutel um den Hals. Diesen behielt ich meist auch nachts. Die Travellerschecks hatte ich entweder in einer Hosentasche oder in den Socken. Zudem hatte ich einen Geldbeutel mit der jeweiligen Landeswährung in einer Hosentasche. Dadurch, dass ich alle Wertsachen verteilt untergebracht hatte, fühlte ich mich sicherer. Irgendetwas würde mir schon noch bleiben, falls ich mal in schlechten Umgang geraten sollte! Jetzt fühlte ich mich gewappnet für die Nacht. Wie oft schon hatte ich draußen geschlafen, am liebsten unter freiem Himmel. Ich wusste: die Gefahr kam nicht von den Tieren oder der Natur. Die größte Gefahr für den Menschen ist der Mensch…

Irgendwann, es war noch dämmerig, ich dachte, ich träume noch, erklang eine Vogelstimme. Bald darauf erklang eine Antwort. Kurzes Schweigen. Dann erneut. Aus diesem Zwiegespräch wurde ein Chorgesang, der bald in eine Orchesteraufführung ausartete. Nie zuvor hatte ich ein solch intensives Vogelkonzert gehört. Das musste wohl an der Nähe Salzburgs, der Musikmetropole, liegen!

Cat Stevens neuester Schlager kam mir in den Sinn: „Morning has broken like the first morning, blackbird has spoken like the first bird. Praise for the singing, praise for the morning, praise for the springing fresh from the word…“ Vorsichtig öffnete ich den Reißverschluss des Zeltes und kroch hinaus. Die Vögel ließen sich durch mein Erscheinen nicht aus dem Takt bringen, blieben aber unsichtbar. Barfuß ging ich durch den frischen Tau zum nächsten Baum, um ihn zu gießen. Dampf stieg auf. Im Mai sind die Nächte noch frisch. Meine erste Versuchung war, wieder in den warmen Schlafsack zu kriechen. Doch dann sah ich das Motorrad und mit dem sorglosen Morgen war es vorbei. Es stand Schrauberei in Aussicht! Ich hatte nackt geschlafen. So finde ich es am Wärmsten. Die Kleider dienen besser als Isolierung für den Boden. Ich zog ein Hemd über. Die Hosen machten Probleme, wegen der nassen Füße. Als ich endlich unter Herumhüpfen einen Fuß durch ein Hosenbein gezwängt hatte, änderte ich die Methode. Ich setzte mich und zog erst mal die Stümpfe an. Dann ging alles wie geschmiert. Die Stiefel an die Füße, den Rollkragenpullover über und an’s Tagesprogramm!

Ich pumpte Druck in den Benzinkocher, ließ etwas Sprit in die Vorwärmpfanne laufen und hielt das Feuerzeug hin. Mit einem „Wuff“ ging er an. Bald summte das Wasser im Topf auf dem fauchenden Kocher und ein würziger Teeduft breitete sich aus. Wegen dieses Gebräus also hatten die Engländer die halbe Welt erobert! …8 o’clock tea. Das erste Frühstück meiner Reise. Ich fühlte mich wie ein Gast im Schlaraffenland. Tee, Knäckebrot und Honig!

Die ersten Sonnenstrahlen spitzten bald durch die Zweige und gaben der Welt neue Farben. Mir war, als käme plötzlich eine dritte Dimension in den Wald. Als bald darauf eine wohlige Wärme sich ausbreitete, fühlte ich mich wie in einer vierten. Die Vögel beruhigten sich. Nicht aber mein Verstand. Dieser beschäftigte sich schon eine ganze Weile mit dem Motorrad. Wo also beginnen? Ich ging einmal herum. Hingen da nicht zwei Speichen quer im Hinterrad? Das kann doch nicht sein! Es waren sogar drei, die abgebrochen waren. Zum Glück an der Nabenseite. Somit konnte ich sie herauspulen und mittels Kombizange und Speichenschlüssel aus der Mutter drehen. Ich suchte im Seitenwagen nach den Ersatzspeichen, die irgendwo in einen Lappen gewickelt sein mussten. Dabei fand ich auch die Luftpumpe. Ich lasse vorsichtshalber die Luft aus dem Reifen. Das fehlte gerade noch, dass ich selber einen Plattfuß machte! Die Karre sackt langsam ab. Ich hätte sie vorher aufbocken müssen, damit ich das Rad drehen kann… Ich fummele die neuen Speichen in die Nabe. Suche nach dem Wagenheber. Ich prüfe alle Speichen an allen drei Rädern. Alle haben ein bisschen mehr Spannung nötig. Ich wisch das Öl von der Hinterradfelge. Der Kardanantrieb leckt ziemlich. Hoffentlich setzt es sich nicht zwischen Reifen und Felge! Oder gelangt in die Bremse… So, und jetzt etwas Fußgymnastik mit der Luftpumpe. Langsam hebt sich der Elefant in die Höhe.

All diese Nebensächlichkeiten haben mich vom Hauptproblem abgebracht: die Zündung. Zum Glück hatte der Vorbesitzer an alles gedacht! Ich entferne den Deckel auf dem Motorblock und wechsle die Spulen. Ich will die Verkabelung mit der Lichtmaschine prüfen und schraube an der Stirnseite den runden Deckel ab. Die Rillen in den Schräubchen sind gut abgelutscht. War dieses Teil schon öfters abgeschraubt worden? Etwas Wasser läuft raus. Regenwasser oder Kondenswasser? Ich wische mit dem Lappen Rost und Wasser weg und blase alles mit der Pumpe aus. Lasse das Ganze offen, damit es nachtrockenen kann. Mein Zelt ist inzwischen auch getrocknet. Ich baue es ab und verstaue es mitsamt Schlafsack und dem Rest im Seitenwagen. Ich zurre alles gut fest und beseitige alle Lagerspuren. Dann den Deckel auf den Motor. Ich bin bereit, weitere Kilometer zu verschlingen! Benzinhahn auf, Luftklappen zu, Kickstarter ausgeklappt und getreten. Nix tut sich. Klar, kalter Motor, das dauert immer etwas. Dafür wird mir immer wärmer! Ich lege also erst mal wieder ab. Bald bin ich nur noch in Hemd und Hose. Wenn das so weitergeht, dann bald „ohne Hemd und ohne Hose, mit einem Feigenblatt!“ Ich verzweifle langsam und werde sauer. Und zweifle auch an der Maschine.

Ich prüfe auf Zündfunken. Gar nicht so einfach, mutterseelenallein mitten im Walde. Nix! Also Werkzeug raus, Deckel ab, ist ja schon Routine, die hätten vom Werk her gleich Klips einbauen sollen, anstatt dieser zeitraubenden Schrauben! Warum nicht auch Klips auf der Kurbelwelle, um die Magnetscheibe schnell abzuziehen? Klips überall. Ich werde das mal denen im Werk vorschlagen. Vielleicht wird mal ein Motorrad nach mir, dem Erfinder der Klips benannt! Vorerst schraube ich die noch nicht klipsige Zündspule los und tu die alte wieder rein. 8 Minuten und zwei schwarze Hände: Mein neuester Rekord! Diesmal lasse ich das Werkzeug draußen. Ich kicke. Und da, ich glaube, ich halluziniere, der Motor springt an. Ich werde bald noch anfangen, an Wunder zu glauben! Ich stelle das Standgas etwas hoch, damit der Motor nicht ausgeht, packe in Rekordzeit alles Werkzeug zusammen und springe auf den Rücken meines Elefanten. Sozusagen ein fliegender Start. Dieser macht einen Freudensprung, stellt die Ohren ab und wäre fast davon gesegelt, wie Dumbo - aber ach, er war zu schwer. Also rollen wir weiterhin auf drei Rädern. Hinter uns auf der Waldlichtung schwebt eine blaue Wolke.

In meinem Kopf wirbeln die Gedanken fast so schnell wie das Öl in seiner Wanne: Was kann die Panne sein? Das Kraftstoffsystem? Nein. Mir wird klar: die Austauschzündspule ist kaputt! 100 prozentig! Eine Frage kristallisiert sich in meinem wirbelnden Hirn: Was, wenn die anderen Ersatzteile auch Schrott sind? Dann fahre ich da mit 200 Kilo Müll durch die Gegend! Das kann nicht sein, sage ich mir, Motorradfahrer sind Kumpel, helfen einander! Kaputte Teile schmeißt man weg und verkauft sie nicht als Ersatzteile!

Es genügen mir schon 15 Minuten problemloses Fahren, und meine Zuversicht ist wieder auf dem Höchstpunkt. Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Das eigenartige Geräusch des linken Zylinders lässt mir anfangs keine Ruhe. Spiel in den Kurbelwellenlagern? Dann wäre es beidseitig. Auch hatte ich nichts festgestellt, bevor ich den Motor wieder zusammengebaut hatte. Auch am Pleuel hatte ich kein übermäßiges Spiel bemerkt. Bleiben nur die Ventile. Man bräuchte eine Röntgenbrille. Vielleicht ist alles nur Einbildung, und durch den Seitenwagen klang es auf der rechten Seite halt anders. Inzwischen hatte ich mich schon an das Geräusch gewohnt. Der Motor lief ja. Schon 500 Kilometer. Das Augenblicksproblem war, dass mein Elefant großen Durst hatte und einen sehr kleinen Tank. Ich kam gerade mal 200 Kilometer mit einer Füllung. Er soff fast so viel wie mein alter Bulli! Ab der nächsten Tankstelle füllte ich also einen der Benzinkanister, um nicht mal aus Versehen auf der Strecke zu bleiben. Benzinuhr hatte er keine, nur Reservehahn. Und so weit wollte ich den Tank nicht leeren, aus Angst, der Motor würde dann nicht mehr anspringen.

Ich fuhr jetzt auf der Landstraße. Jedes Bremsen, jede Beschleunigung ging stark in die Arme. Jede Kurve verlangt volle Konzentration und Technik. Langsam verwandelte ich mich von einem Motorradfahrer zu einem Gespann-Kapitän. Ich durchfuhr grüne Alpentäler, erklomm Pässe, kam durch Bilderbuchdörfer und schmucke Städte. Die Städte liebte ich nicht sehr. Oft Stau und Ampeln. Ich fand, die Städte hielten mich auf. Um Städte zu sehen, hätte ich nicht wegzufahren brauchen. Die haben wir in Deutschland zur Genüge. Ich wollte Länder sehen, Landschaften. Die Gebiete zwischen den Städten, deren Bewohner und Lebensweise!

Graz lag vor mir. Schon von weitem fiel mir ein rötlicher Dunst im Tal auf. Bald darauf sah ich am Grunde des weiten Tales rostrote Fabrikhallen und Hochöfen, alles leicht verschleiert. Schornsteine spuckten weiteren Dreck aus. Das ist also der Stoff, aus dem mein Motorrad ist… Selbst im Mund schmeckte es nach Eisen. Als ich mir bei der nächsten Rast die Nase putzte, waren die Popel rostrot.

Ich tuckerte weiter. Ich hatte mir vorgenommen, heute noch bis nach Jugoslawien zu kommen, trotz schmerzender Arme und Hinterteil. Die Berge wurden kleiner, die Flusstäler weiter. Am Spätnachmittag kam ich zur Grenze. Auf österreichischer Seite war die Grenze auf. Hier konzentrierten sich die Grenzer auf den einreisenden Verkehr. Doch stauten sich die Fahrzeuge vom jugoslawischen Schlagbaum bis hierher. Die Zöllner hatten es wichtig. Die meisten Autofahrer in beide Richtungen waren türkische Gastarbeiter. Die Jugoslawen schienen diese nicht sonderlich zu lieben. Motorhaube auf, Nummernkontrolle, Kofferraum, Dachgepäckträger. Alles musste raus, runter und auf. Die Zöllner benahmen sich wie Frauen beim Schlussverkauf in Wühlkörben. Alles wurde durcheinander gebracht oder auf dem Boden verteilt. Die vor mir stehenden Autos sahen lustig aus. Fast jedes hatte eine Schubkarre auf dem Dach, eine ballonbereifte. In der Türkei herrschte anscheinend Bauwahn. Diejenigen, die schon auf der vorigen Heimfahrt eine Schubkarre mitgenommen hatten, transportierten einen Betonmischer. Oft war die Dachladung so groß wie das Auto, und die Abdeckplanen knatterten im Fahrtwind und lösten sich langsam auf.

Ich war etwas genervt. Das würde noch ewig dauern! Wenn ich den Motor ausmachte, ginge er bestimmt nicht mehr an. Ich fuhr also im Schritttempo an der Schlange vorbei. Ein Zöllner kam auf mich zugestürzt. Er wies zurück auf die Warteschlange. Mit dem übervollen Seitenwagen hielt er mich wohl für einen türkischen Gastarbeiter, obwohl ich keine Schubkarre dabei hatte. „Ich nix Türkischmann!“ rief ich, „ich Deutschland!“ Er kam näher, schaute auf den überladenen Seitenwagen. Wenn ich jetzt alles ausräumen muss, wie die armen Türken…, stieg es in mir hoch… Doch dann sah er die Weltkarte und die Reisroute. Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf und ohne etwas zu kontrollieren winkte er mich durch „Gute Reise!“ rief er auf Deutsch.

Bald kam ich nach Maribor. „Ein schönes Städtchen“, dachte ich. Und da ich Geld wechseln musste, und vor mir ein geneigter Parkplatz frei war, wagte ich es, anzuhalten und den Zündschlüssel zu ziehen. Benzinhähne zu, Gang rein und einen Keil vor das Hinterrad. Helm und Brille unter die Plane des Seitenwagens. Schon war ich umringt von einer Kinderschar. Sie schnatterten aufgeregt und schauten die Karre an, als sei sie eine Mondfähre. Ich zeigte auf die Kinder, dann auf mein Auge und auf die Maschine. Sie hatten verstanden. Sie würden aufpassen!

Ich fand die Bank, tauschte 50 Mark um und wanderte etwas durch die Stadt. Tat das gut, nach dem langen Sitzen! Ich schaute meine Arme an. Ich hatte das Gefühl, sie wären zwei Meter lang und streiften am Boden. Vor dem Schaufenster eines Frisörladens bürstete ich mit den Fingern die vom Helm plattgedrückten Haare, lächelte mir aufmunternd zu und ging in ein Café am Fluss. Ein Bier! Danach ein Eis. Heute ist Feiertag! Keine große Panne während der Fahrt und ich bin in Jugoslawien! Ich setze mich auf die Vorderkante des Stuhles, lehne mich zurück und strecke mich genüsslich. Tut das gut! Ich müsste eine Art Liegestuhl auf die Karre bauen, mit verstellbarer Lehne. Würde der TÜV sowas abnehmen? Aber hier bin ich außerhalb seiner Reichweite. Ich schlenderte zum Motorrad zurück. Manche der Häuser hatten schon einen etwas orientalischen Charakter, die Menschen waren zum Teil anders gekleidet und viel Leben spielte sich auf den Straßen und Gassen ab. Ich fand, es roch sogar schon orientalisch. Zurück beim Motorrad hatten sich die meisten der Kinder verlaufen. Nur ein paar saßen noch auf dem Randstein daneben und ließen niemanden zu nahe ran. Ich fand meinen Helm und Handschuhe und hatte den Eindruck, dass nichts fehlte. Ich glaube, in Zukunft werde ich es immer so machen, und ein paar Kinder zu Wächtern ernennen… Ich zog eine Tüte Gummibärchen aus dem Wagen, die meine Mutter mir noch hineingetan hatte, und gab sie ihnen. Ihre Augen leuchteten! Waren diese doch für sie ebenso exotisch, wie es für mich das Stück klebriger Halwa gewesen war, das ich an einem der Straßenstände gekauft hatte. Vorsichtshalber ließ ich die Maschine anrollen. Das fehlte gerade noch, den Jugoslawen zu zeigen, wie unzuverlässig deutsche Motorräder waren! Die würden sonst nur noch die japanischen Reiskocher kaufen, die immer mehr Anhänger fanden…

Die Straße hatte mich wieder. Ich ließ mir den Wind um die Ohren wehen. Der Belag war noch in gutem Zustand. Doch der Verkehr war manchmal stark. Man musste nur die richtige Geschwindigkeit finden, um möglichst wenig überholt zu werden und wenig überholen zu müssen. Außer den motorgetriebenen Fahrzeugen benutzten auch Pferdewagen die Straße. Da hieß es oft stark bremsen, wenn man überholen wollte, und es kam jemand entgegen. Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt, als der Milchmann oder der Bäcker mit Pferdefuhrwerken zu uns kamen. Wie gerne streichelte ich diese und wärmte mir unter ihrer Mähne die Hände. Ich liebte deren süßlichen Geruch, selbst wenn meine Mutter vorwurfsvoll sagte „du stinkst schon wieder nach Gaul“. Felder säumten die Straße auf beiden Seiten. Auf ihnen arbeiteten bunt gekleidete Menschen. Sie liebten die Erde, die sie bestellten. Von weit weg sah es aus, als würden sie sie kraulen, wie ein Tier. Kinder hüteten Schafe in Wiesen oder am Straßenrand. Bisweilen versuchte ein Hund mich anzuspringen oder rannte mir hinterher, nach einer Weile erhobenen Hauptes umkehrend. Stolz darauf, einen so großen Eindringling vertrieben zu haben…

Ich suchte mir einen abgelegenen Platz für die Nacht. Ein kleiner Bach floss da, in einer Biegung eine kleine Wiese. Richtig einladend. Das Zelt wollte ich erst im Dunkeln aufstellen, um nicht gesehen zu werden. Ich saß auf der Sitzbank und rauchte meine Pfeife. Ich dachte nach. Der Tag war lang. Ich war gewohnt gewesen, immer etwas zu tun. Sei es zu Lernen oder zu Arbeiten. Da die Schule in der Regel nur bis Mittag dauerte, hatte ich nachmittags einen Job bei „Union Plastik“, ein hochtrabender Name für einen Drei-Mann-Betrieb, angenommen, und gab außerdem Nachhilfe. So konnte ich es mir leisten, den VW-Bus zu unterhalten und mir dann auch noch das Motorrad zu kaufen und für die Reise zu sparen. Nicht durch Drogenhandel, wie die spitzzüngigen Wächterinnen der Dorfmoral mir nachsagten. Ich wusste damals gar nicht, was das war, noch weniger als diese schiefköpfigen Beichtstuhl-Belagerinnen!

Jetzt war nichts zu tun. Das würde ich schon auch noch lernen… Doch was war das? Lief da nicht am rechten Arm der Telegabel Öl runter? Ich sprang vom Sitz. Fasste dran. Wirklich, echtes Öl, Dämpferöl genaugenommen. Reparatur war angesagt. So etwas hatte ich mir nicht als Beschäftigung gewünscht! Da zog ich es lieber vor, das Nichtstun zu erlernen. Doch das musste ich erst mal wieder verschieben. Was also war in diesem konkreten Falle zu tun? Simmerringe würde ich in dieser Gegend sicherlich keine bekommen. Und um die Gabel zu zerlegen, bräuchte ich, meines Wissens nach, einen Spezialschlüssel. Also bleibt nur Nachfüllen. Regelmäßig. Vielleicht wird das von selber wieder, wenn die schlechten Straßen anfangen… Ich reiße einen schmalen Streifen von einem Putzlappen, wickle ihn um den Holm und stecke das Ende unter, wie bei einem Webleinen-Steg. Nur gut, dass ich mal zur See gefahren bin! Ich fülle Öl nach. Prüfe zugleich die andere Seite. Trocken. Ich fülle nach. Binde zugleich auch hier einen Lappen herum, damit kein Öl in die Bremsen gelangen kann. Das sollte sich am nächsten Tag als nützlich erweisen. So langsam werde ich mit der Maschine vertraut! Fast hätte ich das Hinterradgetriebe vergessen. Das hat auch Durst. Mich wundert, dass bei dieser Schweinerei die Hinterradbremse noch funktioniert! Und der Motor? Ölstand erschreckend niedrig. Und ich bin doch noch gar nicht richtig gefahren! Zu meinem Erstaunen stimmt der Getriebeölstand. Doch da ist so etwas Silbriges im Öl. Graphit könnte ich ja noch verstehen, dass man das beimischt. Aber Silber? Das kann also nur von Innen kommen. Ist das nun Alu vom Gehäuse oder Stahlabrieb von den Zahnrädern? Baldiger Ölwechsel wäre nicht schlecht! Und wo ich gerade beim Qualitätscheck bin, bemerke ich drei weitere abgebrochene Speichen, und sehe, dass der Hinterreifen einseitig völlig abgefahren ist, wie gefräst. Stimmte die Spur nicht? Gibt’s so eine überhaupt bei einem Seitenwagengespann? Oder war das natürliche Abnutzung? Ich war ja erst 700 Kilometer gefahren! Mit meinen 6 Reifen würde ich ja dann nur gute 4000 Kilometer kommen. Gerade mal bis Afghanistan. Und dann waren da ja noch zwei andere Räder an dem Gespann. Und gab es dort hinten, am Ende der Welt, überhaupt diese Größe? Gab es da überhaupt Reifen? Ich überließ meine Gedanken sich selber und stellte erst mal das Zelt auf. Ich schaltete mein Radio ein. Die Klänge, die es ausspuckte, klangen schon etwas orientalisch und ließen meine Stimmung wieder steigen.

Im Bach schöpfte ich Wasser und setzte es auf. Ich kramte in den Vorräten. Bandnudeln und Gulasch standen auf dem Menü. Ich war ja im Land der Puszta! Dazu eine Flasche dunklen Rotwein, den ich mir in einer Tankstelle bei laufendem Motor gekauft hatte. Für einen solchen Fall müssten Gespanne mit einer Handbremse ausgerüstet sein! Ich klemmte ein Stück Holz zwischen Bremspedal und Rahmen. Zum Glück macht Not erfinderisch! Später konnte ich nicht widerstehen und machte zwischen Bach und Uferböschung ein kleines Lagerfeuer. Im Radio kam eine deutsche Sendung mit romantischer Musik und Poesie. Ein Gedicht hieß: Ich sehne mich nach dem Land, das nicht ist. Mir war, als sei dieses speziell für mich bestimmt. Ein anderes blieb mir im Sinn: Eifersucht ist Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Dann wieder melancholische Weisen, die mir fast die Tränen in die Augen trieben. Vor Sehnsucht. Heimweh oder Fernweh, das ist die Frage… Als die Sendung vorbei war, zog ich meine Mundharmonika heraus und spielte leise den Zarewitsch, das Lieblingslied meines Vaters und auch etwas das meine aus einer glücklichen Kindheit. In dem Maße, wie das Feuer verblasste, erwachte das Funkeln der Sterne, und bald lag ich im Schlafsack.

Über dem Land lag ein frischer, würziger Geruch. Ich konnte für ihn keinen Namen finden. Nach einem kleinen Frühstück, vor allem heißem Tee, holte ich alles Werkzeug aus dem Seitenwagen. Dabei fiel mein Blick auf einen Briefumschlag, den ich bisher noch nicht bemerkt hatte. Von wo kommt denn der plötzlich her?, dachte ich, Luftpost? Ich riss ihn auf. Ich las zuerst die Unterschrift, um zu wissen, wer ihn geschrieben hatte. Es war Norbert, ein guter Freund, etwas jünger als ich. Ebenfalls etwas exzentrisch, wie ich. Freie Geister ziehen sich an. „Mein lieber Freund und großer Bruder. Wie beneide ich Dich darum, einfach alles hinzuschmeißen und loszufahren. Wie gerne wäre ich mitgekommen. Aber dazu bin ich zu feige. Meine größte Angst ist, eines Tages so als Spießer zu enden wie die anderen. Ich bin in Gedanken bei Dir. Mach Du die Reise für uns alle, die wir keinen Mumm in den Knochen haben… Vielleicht sehen wir uns mal wieder… Norbert“.

Normalerweise hat man Ersatzteile dabei, um sie nicht zu gebrauchen. Aus psychologischen Gründen, mehr oder weniger, um sich sicher zu fühlen. Bei mir scheint das anders zu sein. Ich werde sie wohl aufbrauchen. Als ich sie hier angehäuft sehe, frage ich mich, wie viele Tage sie noch reichen werden. Jedenfalls war es Mittag, bis ich die „morgendliche Inspektion“ erledigt hatte. Ich aß auf die Schnelle eine Brotzeit. Man könnte fast sagen, dass mir von dem andauernden Ärger der Appetit vergangen war. Was der Motor zu viel schluckte, sparte ich an mir wieder ein! Ich hatte vor, heute bis Belgrad zu kommen. 400 Kilometer. Das war machbar. Soll ich den Helm schon aufsetzen oder nicht? „Sei nicht so pessimistisch!“, sagte ich mir. Am Ende ist alles nur eine Angelegenheit des „Positiven Denkens“! Also startklar gemacht und Zündschlüssel in das Schloss und los geht’s… Denkste! Kein einziges Lämpchen leuchtet auf. Klar, ist ja auch ein Gang drin. Gang raus. Nichts leuchtet. Hupe. Stumm. Aber ich hatte doch den Schlüssel abgezogen gehabt und die Lichter ausgeschaltet! Und da, wo ich stand, bräuchte ich einen Traktor zum Anschleppen. Hatte ich unbewusst all das vorausgeahnt, oder war das meine übliche Vorsicht gewesen? Ich hatte eine neue Batterie dabei! Und auch ein Ladegerät. Doch das half hier nichts, denn der einzige Strom hier war der Bach. Also Batterie wechseln. Die Leerlaufanzeige strahlte wie der Stern von Bethlehem. Ich schöpfte neue Hoffnung. Damit kam auch mein „Positives Denken“ zurück. Mittels diesem und ein paar fester Tritte auf den Kick wachte der Motor auf. Eine dicke Rauchwolke verwehte über dem idyllischen Fleck. Und ohne ein Dankeschön an die Bach- und Wiesenelfen machte ich mich sofort von dannen.

Zurück auf die Hauptstraße. Nach und nach reinigten sich die Stollen der Reifen und die Erde flog in hohen Bögen in die Luft. Ich bemerkte wieder diesen Geruch, der mich schon seit gestern begleitete. Das waren keine Industrieabgase wie bei Graz. Doch wohl hoffentlich auch keine Chemiefabrik? Wie schon gestern sah ich überall auf den Feldern die Bauern sich regen. Ich hielt kurz an und schaute ihnen zu. Sie bewegten sich gebückt. Sie säten nicht, sie pflanzten nicht, sie ernteten! Frühlingszwiebeln, die grünen Kräuter, mit unten dieser weißen Knolle dran. Mit einer Gabel lockerten sie den Boden, zogen sie heraus und legten sie in Reihen ab. Zu Hunderten, zu Tausenden. Zu Hunderttausenden. Frauen mit Kopftuch klopften die anhaftende Erde ab und banden sie zu Bündeln. Manche winkten mir mit einem Zwiebelbüschel zu. Jetzt ging mir ein Licht auf: der das ganze Land überdeckende Geruch kam von diesen Zwiebeln!



HIPPIE TRAIL - Band 1

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