Читать книгу Vorm Mast - Wolfgang Bendick - Страница 14
HART IST DAS LEBEN EINER RATTE
ОглавлениеIch steuerte bei Nacht ebenso gut wie bei Tag. Wir waren pünktlich zum Wachantritt da, waren nüchtern, ließen uns nichts zuschulden kommen. Den Tee mit Salz zu verbessern vergaß ich lieber. Wir Junggrade merkten, dass die Schiffsleitung uns den Matrosen für die Wache vorzog. Das gab uns ein gewisses Selbstbewusstsein, das selbst die Dauerkritik der anderen nicht untergraben konnte. Wracktonnen erkennen, Seezeichen in Küstennähe oder auf der Seekarte im Kartenhaus ausfindig machen, nachts die Leuchtfeuer auszählen, sie bestimmen und anpeilen, all das wurde mir vertrauter, je länger die Reise dauerte. In der Biskaya wurde mir zwar etwas mulmig, weil die Kreuzseen unseren fast leeren Kahn ziemlich dümpeln ließen. Portugal zieht an Backbord vorüber. „Jetzt hast du's geschafft“, denke ich, „dir kann nichts mehr passieren!“ Mein Schritt wurde sicherer, mein Körper begann, die Schiffsbewegungen vorauszuahnen, eins mit Schiff und See zu werden. In den Gängen brauchte ich mich nicht mehr an den Schotten abzustützen oder mich an den Handläufen zu sichern. Ich schaffte es sogar, bei der Backschaft mit 6 Tellern voller Spiegeleier von der Kombüse über Deck nach achtern zu jonglieren, ohne dass die Teller hinunterfielen oder der Wind die Eier wegblies.
Blick vom Großmast nach achtern
Manchmal nahm ein Matrose die Eier vom Teller und schickte mich zurück zur Kombüse. „Sag dem Chef, du hast sie runtergeschmissen, er soll dir ein paar neue geben!“ Doch der lachte nur. Er kannte alle Tricks und alle Matrosen. „Sag dem Fiete, dass für die nächsten 10 Tage kein Landgang anliegt. Mit zwei Eiern zum Frühstück hat er genug. Wenn ihm das nicht reicht, dann soll er seine eigenen fressen!“ Natürlich kam es vor, dass ich ausrutschte, und die Teller über Deck segelten und zu Bruch gingen und ich manchmal hinterher. Wenn der Koch das gesehen hatte, gab's Ersatz. Wenn nicht, verzichtete ich eben auf mein eigenes Frühstück und überließ es den Matrosen. „Hart ist das Leben einer Ratte, noch härter ist die Morgenlatte!“, war Rudis Fazit.
Langsam tat das Schiff mir seine Geheimnisse kund. Allein oder mit den anderen Ratten erkundete ich alle erlaubten und verbotenen Orte. Kaum eine Leiter, an der ich mir nicht die Hände verschmutzte. Vom Doppelboden bis zum Masttop, vom Kettenkasten bis in die Süßöltanks führten unsere Streifzüge. Mit der Zeit freundeten wir Neuen uns mit manchen von der Maschine an, und diese erklärten uns stolz, wie das alles funktioniert. Wir verstanden aber gar nichts bei dem unerträglichen Lärm, der hier unten herrschte. Mir ist unklar, wie die sich hier unten verständigen. Vielleicht mit einer Art Taubstummensprache... Sie arbeiteten in Shorts, mit nacktem Oberkörper, selbst im Winter, waren ölverschmiert, ein triefnasses Schweißtuch um den Hals geknüpft, das sie von Zeit zu Zeit auswrangen oder in kaltes Wasser tauchten.
Hier erfuhren wir, dass unsere Hauptmaschine ein Zweitaktdiesel war, der auf See mit Schweröl lief und für Manöver vorher auf Gasöl umgestellt werden musste. Das Schweröl ist in Normalzustand fast fest und muss erhitzt werden, damit es fließt. Der Tagesverbrauch liegt bei 16 Tonnen. Alle Motoren haben einen Süßwasser-Kühlkreislauf, welcher wiederum mit Seewasser gekühlt wird. Sogar Trinkwasser wird an Bord hergestellt. Mit der Abwärme der Maschinen wird bei Unterdruck Seewasser verdampft und mit Mineralzusatz als Trinkwasser verwendet. Das beruhigte uns sehr. Doch ist Wassermangel für das Schiff gefährlicher als für uns. Falls wirklich mal alles Wasser ausgehen sollte, können wir immer noch ein Ticket schreiben und uns mit Bier die Zähne putzen. Doch bezweifle ich, dass der Steward so viel Mineralwasser an Bord hat, um das Schiff wieder schwimmfähig zu machen, falls die von der Maschine mal das ganze Meer verdampft haben! Eigentlich sollte man das Zähneputzen mit Bier in unser Überlebensprogramm einbauen. Zur Bootsrolle und Feuerrolle sollte man das Zähneputzen ohne Wasser hinzufügen. Vielleicht könnte man das Toilettenrolle nennen?
Nach der Biskaya wurde die Steuerautomatik eingeschaltet. Jetzt war nur noch der Wachoffizier auf der Brücke und einer von uns auf Flötentörn, was bedeutet, man muss bei Pfeifsignal sofort auf die Brücke eilen. Seit der Biskaya hat auch der Unterricht begonnen mit Herk, unserem Ausbildungsoffizier. Jeden Morgen, nach dem Frühstück, ist für uns alle erst mal Reinemachen angesagt, und ab ½ 9 Uhr bis 12 Uhr finden wir uns im Unterrichtsraum mittschiffs ein. Wir sitzen auf unseren festgeschraubten, mit rotem Plastikbezug bespannten Drehsesseln, hören dem Ausbilder zu oder schauen durch die Bullaugen auf das Meer. Die auf der Fensterseite sitzen, sehen statt des Meers die Weltkarte. Beides also genug Anlass zum Träumen. Manchmal klappt auch beides. Nicht, dass der Unterricht uns nicht genug forderte, aber manche von uns schafften es, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Hier an Bord und zugleich in einem anderen Land irgendwo am Rande des Meeres. Wir wurden hier ausgebildet, um ein Schiff zu bedienen, unser ungeduldiger Geist aber machte sich selbständig und wollte die Welt erobern.
Zum Glück ist unser Offizier auch ein Mann der Praxis, und so dient unser Unterricht oft dem besseren Verständnis der Arbeiten an Deck oder auf der Brücke. Da ich offiziell Mittlere Reife hatte (nimmt man eine Lebenserwartung von 80 Jahren, hätte ich die erst bei 40 haben dürfen) ist viel vom allgemeinen theoretischen Stoff nichts Neues für mich. Eher eine Auffrischung. So genieße ich die Schulstunden und tue das, was die Matrosen uns schon seit langem unterstellen: Ich erhole mich! Der Flötentörn arbeitet mit den Matrosen an Deck. Er muss sich den Lernstoff später von uns erklären lassen.
Die Kanarischen Inseln liegen querab
Das Schiff schraubt sich unter leichtem Vibrieren immer weiter nach Süden. Hinter dem Bullauge taucht der Horizont auf, dann das Meer. Dann ist es, als schaue ich schräg von oben in die Wellen. Diese verschwinden bald wieder nach unten, dann erneut der Horizont, der ebenfalls langsam wegtaucht, dann eine Weile nichts als Himmel. Ich fühle mich wie in einem riesigen Schaukelstuhl. Es kommt oft genug vor, dass plötzlich alle Bücher anfangen zu rutschen. Meist gelingt es uns, sie einzufangen, manchmal schliddern sie durch das Klassenzimmer bis an die Wand. Eines Morgens stellen wir fest, dass alle Wellen aus einer bestimmten Richtung kommen und an Höhe zugenommen haben. Außerdem bläst ein starker Wind, der die Wellen mit Gischt krönt: Wir befinden uns in der Zone des Nordost-Passats.
Für Tage sehen wir tagsüber keine einzige Rauchfahne, nachts von der Brücke kein einziges Licht. Wache muss natürlich gegangen werden. Und wenn dann ein Licht auftaucht, ist es fast ein Ereignis. Mit dem Fernglas versuchen wir zu erkennen, welchen Kurs er fährt und ob er uns gefährlich werden kann. Oft holen wir den großen Morsescheinwerfer aus dem Regal, ein schweres Teil, worin eine starke Birne brennt. Die einzelnen Impulse werden durch drehbare Lamellen bewirkt ähnlich einer Fensterjalousie. Das macht etwas Lärm und das Teil wird mit der Zeit ganz schön warm. Wir geben .- .- .- , den Buchstaben A wie Anruf. Der andere antwortet oft mit ...- - , B T „Begin Text“. Meist stellt man sich zuerst vor: „German ship Natal from Hamburg to Abidjan.“ Dann erzählt der andere von sich. Manchmal dauert die Unterhaltung, bis man außer Sichtweite ist. Oft schaut Sparks, der Funker, auf der Brücke vorbei. Er ist ja unser nächster Nachbar. Er ist über alles informiert, was auf der Welt, insbesondere auf den Weltmeeren passiert. Ist irgendwo ein Schiff in Not, so ist er immer der Erste, der es weiß. Ist ja sein Job. Manchmal ändern wir den Kurs, um jemand zu Hilfe zu eilen. Meist kommt bald Entwarnung, weil andere, die näher dran waren, schon geholfen haben. Auch weiß er die neuesten Bundesligaergebnisse und was sich in good old Germany tut. Manchmal druckt er eine Funkzeitung für die Mannschaft, die dann in den Messen ausliegt. Er ist der wichtigste Mann an Bord. Eigentlich ist jeder Mann an Bord wichtig. Vielleicht ist jeder für eine kurze Zeit ersetzbar. Aber jeder ist Mitglied einer Überlebensgemeinschaft, die ohne ihn nicht funktionieren kann. Und jeder verlässt sich blind auf den anderen, vor allem, dass er seinen Job tut, auch wenn wir schlafen.
Am Peilkompass
Lange schwarze Nächte, voll von so vielen blinkenden Sternen. Es heißt, dass man auf See auch Sterne sieht, die hinter dem Horizont liegen, durch Spiegelung an der Atmosphäre. Der große Wagen rückt immer weiter weg, der Nordstern, mein Orientierungspunkt seit meiner Kindheit, berührt bald den Horizont. Ich betrete eine neue Welt. Und als mir der Wachhabende das Kreuz des Südens über dem südlichen Horizont zeigt, sind wir schon querab von Dakar. Ich bemerke ein Leuchtfeuer an Backbord und melde es. „Cap Verde“, sagt der Offizier und nimmt mich zum Peilkompass in der Nock. Er erklärt mir nochmals die Handhabung, lässt mich peilen und den Winkel ablesen. Dann gehen wir in das schwach erleuchtete Kartenhaus und übertragen den Winkel auf unsere eingezeichnete Kurslinie auf der Seekarte. „Genau da sind wir!“
Auf der Karte bemerke ich kleine Kreise, die auf unserer Kurslinie eingezeichnet sind. „Was bedeuten diese Kreise hier?“, frage ich ihn. „Das sind unsere Standorte zu Sonnenaufgang, Mittag und Sonnenuntergang, wenn mit mehreren Sextanten die Winkel bestimmter Gestirne gemessen werden. Die Entfernung vom Mittagsstandort gestern bis zum heutigen heißt Etmal.“ Er telefoniert zum Kapitän, dessen Wohnung unter der Brücke liegt. Dieser kommt bald herauf, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Er hantiert mit einem Zirkel auf der Karte. „Wenn das Feuer 2 Strich achteraus liegt, Kursänderung auf 175 Grad! Und gut Ausschau halten! Es befinden sich viele unbeleuchtete Fischerboote in dieser Gegend.“ Das Radargerät lief schon seit ein paar Stunden, wie immer in Küstennähe. Auf dem Radarschirm kreist der grüne Radius und hinterlässt manchmal nachleuchtende Punkte, die aber bei der nächsten Umdrehung nicht mehr erscheinen. Es sind Parasiten oder Reflexe von Wellen.
Trotzdem gehe ich wieder in die Nock, mit geschärften Sinnen. Irgendwas ist anders als sonst... Die Luft riecht anders! Nach Land. Afrika! Gegen Wachende entflammt sich der östliche Horizont in einem enormen Feuerwerk. Blitze zerteilen die Tropennacht in skurrilen Bahnen. Manchmal fährt einer ganz hoch hinauf, um den schweren Himmel mit der Energie der Erde zu befruchten... Am nächsten Morgen ist das Meer spiegelglatt. Nur eine weitläufige Dünung wiegt unser Schiff ganz langsam auf der ölgleichen See, die verlaufenen Zeugen eines Orkanes an einem anderen Teil der Welt....