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Emmy Ball-Hennings

«Er nahm in Unbefangenheit und gierig das Leben auf.»

Agnuzzo bei Lugano, 20. März 1939

Sehr geehrter Herr Doktor Witz,

ich erhalte soeben Ihren Brief und freue mich zu hören, dass Sie dem lieben Friedrich Clauser ein Buch widmen wollen. Soweit es mir nur möglich ist, stehe ich Ihnen gern mit Angaben und was ich sonst noch habe zur Verfügung. Ich will in diesen Tagen meine Truhe einmal durchsuchen nach Manuskripten von Clauser, ich glaube, ich habe da allerlei, was für Sie in Betracht kommen könnte und das ich Ihnen alsbald zusenden werde.

Es ist kaum anzunehmen, dass sonst jemand aus dieser frühen Zeit Manuskripte von Clauser hat. Er hat damals mehr übersetzt und Nachdichtungen geschrieben, weniger eigene Sachen. Doch, um dies gleich vorwegzubemerken, er schrieb damals einige Skizzen über seinen Vater, mit dem er offenbar seelische Schwierigkeiten hatte, und diese Skizzen, an die ich mich gut erinnere, schienen mir nur die ersten spontanen Äußerungen zu einem großen Thema zu sein, das ihn offenbar sehr bewegte. Nun, wie gesagt, ich will nach allem, was ich habe, gehörig fahnden. Möglich wäre es, dass Hans Arp, Meudon (bei Paris), Rue des Châtaigniers 21, noch etwas von Clauser hat. Ferner gab es in Zürich einen damals jungen Mann, namens Schalk, der gleichfalls etwas von Clauser aufbewahrt haben könnte. Schalks Adresse ist mir nicht bekannt, doch will ich mich mal umhören.

Als ich die Nachricht vom Tode Clausers erfuhr, hätte ich ihm gern ein paar liebe Worte nachgerufen, aber ich gestehe, dass ich zu tief bewegt war, als das Bild aus den Basler Nachrichten vor mir lag, jenes vom Leben so sehr mitgenommene Gesicht, was um so stärker auf mich wirken musste, da ich Frédéric ja als blutjungen Menschen kannte, der das Leben, auch, wo es schwer war, kühn und leicht auf sich nahm.

Ich lernte ihn im Jahr 1916, in der Galerie Dada, im Sprünglihaus an der Bahnhofstraße kennen. Dort saß ich grad mal an der Kasse, als Clauser kam, sich die Sturmausstellung ansehen wollte, und da er kein Geld hatte, mich um eine Freikarte bat. Er sagte mir nun zwar nicht das mindeste, dass er irgend etwas mit Literatur oder Kunst zu tun habe, was freilich auch nicht nötig war, doch konnte ich so rein von mir aus nicht gut Freikarten ver geben. Ich sagte drum im Scherz: «Ja, ich sitze hier stundenlang, um den Kram hier aufrechtzuhalten, bin genötigt, Geld einzunehmen, weil wir hier so hohen Zins zu zahlen haben, und wenn ich die kunsthungrigen Leute frei hereinlasse, heißt es von einigen, ich habe das Geld unterschlagen, denn hier gibt es einen ganzen Haufen interessierter Dadaisten.» Kurzum, die Sache war nicht einfach, und ich sagte dann dem jungen Mann, um seiner Liebe zur Kunst willen wolle ich den Franken Eintrittsgeld aus meiner Tasche zahlen.

«Ja, können Sie sich denn das leisten, Fräulein?»

«Leisten? Ein Franken ist das Wenigste. Man macht manches, was man sich nicht leisten kann.»

«Genau wie ich», meinte Clauser, und erzählte, er sei aus Genf weggelaufen, und er wolle jetzt hier studieren.

Warum nicht, das könne man ja überall in der Welt.

So war unser Gespräch an der Kasse, und dann sah er sich die Sturmbilder an, und fand allmählich Gefallen, öfter zu kommen, doch wussten wir nicht viel anderes von ihm zunächst, als dass er ein liebenswürdiger Junge war, sehr hübsch und offenherzig, und ganz zufällig und nebenbei zeigte er mal eine Übersetzung von Laforgue, die Hugo Ball ganz vorzüglich fand. So entstand nach und nach ein tieferes und stärkeres Interesse.

Clauser hat dann auch mehrmals in der Galerie gelesen, eigene Sachen und Nachdichtungen. Er hatte bereits damals ein starkes und feines Formgefühl, viel Sinn für dichterische Schwingungen. Er war sparsam bei seinen Schilderungen. Er verstand, knapp zu prägnieren, an- und ausklingen zu lassen.

Er schien mir jedoch nicht das mindeste Geltungsbedürfnis zu haben. Ich glaube sogar, es fehlte ihm etwas an natürlichem Selbstbewusstsein. Er wusste oder dachte nicht daran, dass er etwas konnte. Damit will ich nicht sagen, dass er mir den Eindruck eines Menschen machte, der sich etwa «minderwertig» fühlt, dies keineswegs, aber was mir so gefiel an Clauser, es lag ihm mehr daran zu leben als zu schreiben. Er nahm in Unbefangenheit und gierig das Leben auf, ohne an die literarische Verwertung zu denken. Er schrieb wie zum Spiel, zum Zeitvertreib, so nebenbei.

Er war – ich glaube auf Antrag seines Vaters – in psychiatrischer Behandlung. Der Arzt wusste nichts Rechtes mit ihm anzufangen und war froh, als wir (also mein Mann und ich) Clauser mit in den Tessin nahmen. Es hieß, er bedürfe der Aufsicht, doch war es nötig oder erwünscht, dass er sich in einer Gesellschaft befand, in der er sich auch geistig wirklich wohl fühlen konnte. Nun weiß ich nicht, sehr geehrter Herr Doktor, ob dies alles Sie interessiert und ob Sie es zur Beurteilung von Clauser bedenken oder irgendwie verwerten können. Er galt damals bei manchen und auch vom Arzt aus gesehen als Psychopath. Er muss wohl ein besonders schweres Jugenderlebnis gehabt haben, seine Haltlosigkeit schien darauf hinzudeuten, die wieder seltsam zu seiner starken Begabung kontrastierte. Er selbst klagte mir – dies im Vertrauen gesagt –, er leide an Kleptomanie. Ich suchte das ein bisschen leicht zu nehmen und sagte: «Ach, ich dachte gar nicht, dass man an so etwas leiden kann. Es ist sehr die Frage, ob Sie sich das bei mir werden abgewöhnen können, vorausgesetzt, dass Sie es wünschen.»

Dergleichen Redensarten brachten ihn dann entweder in Verlegenheit oder zum Lachen, sodass ich manchmal meinte, Clausers Geltungsbedürfnis habe sich irrigerweise auf die Kleptomanie verlegt, oder diese Art war sein dunkler Hang und Drang zum Abenteuer. Wie sich das später mit Clauser gemacht hat, darüber weiß ich nichts. Mein Mann, der ja bei seinen gelehrten Arbeiten ein sehr fleißiger Quellenforscher war und immer schaffend, bedauerte sehr, dass seiner Meinung nach Clauser seine Begabung zu sehr vernachlässigte, doch gehörte dies gewiss zu jenem Schicksalsweg, über den keiner etwas aussagen kann. Hat Clauser nicht etwas vom Rimbaud an sich? Wir waren einige Wochen zusammen in Magadino, dann einige Wochen auf einer einsamen Alp. Hier erinnere ich mich oft daran, dass Clauser sonntags auf den Balken der Hütte stieg und uns von dieser luftigen Kanzel aus Predigten hielt, die ausgezeichnet formuliert waren und die auch bewiesen, dass er mit der Moraltheorie ganz gut Bescheid wusste. Wenn er uns so anpredigte, hatte er das Aussehen eines Engels und eines kleinen Rowdys zugleich.

Bitte, teilen Sie mir doch mit, woran dieser seltsame, liebe Mensch eigentlich gestorben ist. Am Leben oder an einer bestimmten Krankheit? Ich möchte das wohl wissen. Er war doch noch jung, aber das Bild, das ich zuletzt von ihm sah, ist unheimlich zerklüftet.

Leider weiß ich nichts mehr von Clauser. Vielleicht aber kann das eine oder andere Wort Ihnen Anregung bieten.

Mit hochachtungsvoller Begrüßung Ihre

Emmy Ball-Hennings

Es wird Ihnen wohl bekannt sein, denk ich, dass Clauser, trotzdem er in den dadaistischen Kreisen verkehrte (nach der Zeit des Cabaret Voltaire), dennoch nicht irgendwie Dadaist war.

Agnuzzo, im November 1939

Sehr geehrter Herr Doktor,

ich danke Ihnen vielmals für Ihren lieben Brief, für die freundliche Annahme der kl. Militärskizze. Die Aufnahmen waren von unserm Wachtmeister, ich will ihn um einige Bilder bitten und Ihnen das senden, es sind hübsche Tessiner Bilder dabei.

Mir ist, sehr geehrter, lieber Herr Doktor, als wäre ein Brief von mir nicht zu Ihnen gelangt, nämlich meine Danksagung für das reizende Clauserbuch, wo Sie und er einander so schön ergänzen. Ich habe meine Ausführungen über dieses Buch im Buche selbst, und infolge der Einquartierung befindet sich meine Gesamtbibliothek in Kisten verpackt, doch am 18. Nov. geht das Militär weg. Dann wird alles wieder ausgepackt, und Sie hören mehr von mir. Wie sehr ich in diesen letzten Wochen beschäftigt war, zumal ich mit einer Ordonnanz, die nicht viel vom Haushalt versteht, alles allein mache. Buchstäblich von morgens fünf Uhr an bis in den Abend habe ich im Hause zu tun, sodass ich eben nicht zum Briefschreiben und kaum zu literarischer Arbeit komme.

Es ist mir aber im Traume manches über Clauser eingefallen. Ich muss etwas von ihm haben, sogar handgeschrieben, meine ich, das ich Ihnen selbstverständlich gerne zustelle. Es tut mir so leid, dass er seinen jetzigen schönen Erfolg nicht erleben durfte, doch mag es seiner Braut eine Freude, eine kleine Genugtuung sein. Wie betrübt ich war, von Ihnen zu erfahren, dass Clauser unmittelbar vor der Hochzeit seines Lebens gehen musste, kann ich Ihnen nicht beschreiben. Das muss sehr hart für seine Freundin gewesen sein.

Im Tagebuch Hugo Balls lese ich, dass zur Feier der Eröffnung der Galerie Dada Clauser eigene Verse las. Ich weiß, dass er sie Hugo gab, und ich will jetzt ganz eifrig alles danach durchsuchen. Auch, wo ich in den Tagebüchern meines Mannes Notizen über Clauser finde, die Ihnen dienlich sein können.

Wir führten zweimal vom Oscar Kokoschka (dem Wiener Maler) ein sehr interessantes Stück auf, Sphinx und Strohmann, dieses in Masken, nur ich, die ich die «weibliche Seele, Anima» spielte, war in Schleiern. Clauser jedoch spielte in blaubläulicher Maske, mit einem fahlen, leuchtenden Auge den «Tod», sehr gut.

Ich fand jetzt in Hugos Flucht aus der Zeit, unterm Kapitel «Wort und Bild», über und von Clauser Folgendes, was Sie vielleicht nicht kennen.

Clauser hat mir (also Ball) einen Aufsatz über Bloy gebracht. Da ihn niemand drucken mag, will ich die Hauptsachen daraus notieren:

«Nur großer Schmerz kann große Werke schaffen. Erst wenn die Seele zerfleischt ist, kann sie ihren letzten Tropfen Blut in ein Kunstwerk verwandeln.

Dirnen werden zu Heiligen, nur im Volke findet man wahre Größe. Man muss mit jenen leben, die nur ein Kleid haben, das verwaschen ist von unzähligen Regengüssen, steif ist von jahrelangem Schmutz, um Menschen zu finden …

Der einzige moderne Dichter Frankreichs, der hinuntergestiegen ist und gelebt hat im Elend, Jéhan Rictus, hat die Mystik der Armut verstanden.

Bestehen bleibt nur das ewige Gesetz des Mitleids mit den Verkommenen, die größer sind als alle Ruhmvollen dieser Welt, weil sie erkannt haben ihre eigene Schlechtigkeit.

Mystiker und Katholik, nicht ästhetisch wie Claudel, sondern überzeugt, durchdrungen, kämpft Bloy. Die einzige Sicherheit dieser Welt sind überlieferte Prophezeiungen, die der Apokalyp se und die, die noch heute gegeben werden von reinen Jungfrauen. (Notre Dame de la Salette.)

Die Skepsis Anatole France’ war Tradition. Léon Bloy ist eine Ausnahme, ein Anachronismus. Seine Sprache ist die Rabelais’, er gehört ins Mittelalter, das er liebt. Sogar nach Byzanz. In ein Mittelalter, wo man betete und das Land pflügte, stetig in Angst, Christus könne auf die Erde wiederkehren. Wo noch Mitleid war und selbst die Blutigsten vor Gott sich beugten.

Den bissigen Hohn hat er von seinem Lehrer, dem letzten Aristokraten, dessen große Gestalt den Himmel ausfüllt, Barbey d’Aurevilly. Von ihm hat Bloy den Hass gegen Bourget. D’Aurevilly war der letzte Kritiker Frankreichs, der noch verstand, mit Worten zu peitschen und mit Sätzen zu töten. Er spielte den Satanisten, um den Bourgeois zu ärgern, war gläubig, die letzte Stütze der Kirche …»

Soweit Frédéric Clauser. Hugo Ball schreibt zu diesen Ausführungen einen Nachsatz: «Die Farce dieser Zeit, die sich in unseren Nerven spiegelt, hat einen Grad der Infantilität und Gottverlassenheit erreicht, der sich in Worten nicht mehr wiedergeben lässt.»

Sehr geehrter, lieber Herr Doktor, möglich ist, dass Ihnen Clausers Aufsatz über Bloy bekannt ist, ich Ihnen also mit diesem hier nichts Neues gesagt habe. Dann entschuldigen Sie, bitte. Da aber obige Sätze, gleich Aphorismen, zugleich so vieles über Clauser selbst auszusagen scheinen, habe ich es Ihnen herausgeschrieben.

Für heut muss ich mich jetzt verabschieden. Sollten Sie einmal in den Tessin kommen, hoffe ich und bitte Sie darum, doch ja bei mir vorbeizukommen, vielleicht ein paar Tage zum Ausruhen, es ist sehr schön hier, und alle Fenster haben den Blick auf See und Berge. Im Januar freilich werde ich wahrscheinlich wieder «Kaserne» sein, kleine Herberge zur Soldatenheimat. Die Geschichte macht viel Arbeit, aber in der Idee ist es so schön, und ich habe doch ein Stück Schweizer Menschentum kennengelernt, das mir leuchtend in Erinnerung bleiben wird und dafür ich sehr dankbar bin. Aber denken Sie, ich hab auch ein Gefängnis im Hause. Nicht grad groß, und es hat gottlob auch nicht viel Zuspruch, aber immerhin ist’s ein Gefängnis, hauptsächlich für junge Rekruten, die sich besonders ungeschickt beim Schießen anstellen, was ja mal vorkommen kann. Ich habe einen damit getröstet, dass ich wahrscheinlich «lebenslänglich» bekommen würde, wenn u.s.w. Zufällig kann ich schießen, sogar insofern ganz vorzüglich. Immer ziele ich, wie in unbewusster Absicht, eine kleine Spur daneben, als scheue ich mich, das Ziel genau zu treffen. Da kann man nichts dagegen machen.

Mit freundlichem Gruße und auf bald mehr

Ihre Emmy Ball-Hennings

Emmy Hennings (1885–1948) und Hugo Ball (1886–1927) lernten «Clauser» – sie schrieben seinen Namen immer mit großem «C» – während seiner Studien- und Künstlerzeit in Zürich kennen. Mit ihnen wirkte er im Frühling 1917 an Dada-Soireen mit, wo er eigene Texte vortrug. Außerordentlich angetan von einer dieser Lesungen war der Volksschriftsteller Jakob Christoph Heer (König der Bernina): Von den Zürcher Behörden angefragt, äußerte er sich sehr positiv über das Talent des jungen Autors. Glauser, der sein Studium nicht fortsetzte, häufig Wohnungen wechselte und Schulden machte, entzog sich der befürchteten Internierung und verbrachte den Sommer 1917 mit Hugo Ball und Emmy Hennings im Tessin, zuerst in Magadino und dann auf der Alp Brusada im Maggiatal. Anfang 1918 wurde Friedrich Glauser wegen «liederlichen und ausschweifenden Lebenswandels» entmündigt. 1939 erinnerte sich Emmy Hennings an ihre Begegnungen mit Friedrich Glauser in zwei langen Briefen an den Verleger Friedrich Witz, der ihre Mitteilung in seinem Text für die Neue Schweizer Bibliothek (s.S. 123) verarbeitete.

1920 heirateten Emmy Hennings und Hugo Ball und nahmen Wohnsitz im Tessin. Ein Aufsatz Glausers über den französischen Schriftsteller Léon Bloy ist nur dank Hugo Ball erhalten, der ihn auszugsweise in seinem Tagebuch Flucht aus der Zeit (1927) wiedergab. Nach Balls frühem Tod widmete Emmy Ball einen großen Teil ihres Werks dem Schaffen ihres Mannes. Ihr Leben mit Hugo Ball schilderte sie im Buch Ruf und Echo (1953).

Friedrich Glauser

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