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ОглавлениеJosef Halperin
«Die Tragik dieses Lebens ist sublim, weil sie den Sieg in der Niederlage enthält.»
Klein und still saß er neben Hugo Ball und schmiegte die Hände ans Tamburin, das auf den Knien ruhte. Er blickte vor sich hin, vielmehr an den Menschen vorbei, die den hell erleuchteten Saal füllten, in seiner Unbeweglichkeit grazil wie eine Statuette. Die abweisende Miene sollte wohl über seine Befangenheit hinwegtäuschen. Er war ein zartes Bürschchen mit einem Milchgesicht; man hätte ihn auf höchstens sechzehn geschätzt. Offenbar trat er zum erstenmal hier auf, unter den Dadaisten im Sprünglihaus, denn man hatte ihn vorher nie in der «Meierei» gesehen, im Cabaret Voltaire, wo sie den Sprach-Hokuspokus erfunden hatten, den sie für revolutionäre Dichtung ausgaben. Es war im Krieg. Man schrieb März 1917. Der Knabe schien viel zu früh ins Leben hinausgestoßen worden zu sein. Er hatte etwas Wehrloses. Man sorgte sich unwillkürlich um ihn. Was würde nach ein paar Jahren wohl aus ihm geworden sein?
In Wirklichkeit war er nicht sechzehn, sondern einundzwanzig, Chemiestudent im ersten Semester, der Friedrich Glauser, und freilich war er wehrlos, auf der Flucht vor einer übermächtig lastenden Welt. Schon war er dem Äther verfallen, und dann, nach einer Lungenblutung, griff er zum Morphium. Frühe Mutterlosigkeit mochte die Lebens- und Weltangst erklären, der die Rauschgiftsucht entsprang. Nach ein paar Jahren schien er rettungslos auf der abschüssigen Bahn der Gefährdeten, der Verlorenen, der Ärmsten der Armen. Er war in das Stadium geraten, wo der Süchtige unbedenklich Rezepte fälscht, stiehlt, einbricht, um das begehrte Gift zu ergattern. Er wurde für verrückt erklärt, in die Heil- und Pflegeanstalt Münsingen gesteckt und der Amtsvormundschaft unterstellt. Die Kette der dunklen, herzbrechenden Ereignisse riss nicht ab. Flucht aus Münsingen, ein Jahr Ascona, Stationen in Zürich und Baden, Morphium, Kokain, Opium, Flucht, zwei Jahre Fremdenlegion, nachher Geschirr wäscher in Paris, Grubenhandlanger in Belgien, Selbstmordversuch, Spital, Krankenwärter, Irrenhaus, Abtransport in die Schweiz, Versorgung wegen «liederlichen Lebenswandels» in der Strafanstalt Witzwil. Dann ging er in eine Baumschule nach Liestal, erwarb das Gärtnerdiplom, fiel in die Sucht zurück, stahl Opium und begab sich zur Entwöhnung nach Münsingen. Er blieb vier Jahre interniert. In dieser Zeit erlangte sein Name literarische Geltung. Man schrieb 1936. Dem Vierzigjährigen standen viele Fältchen im Gesicht; er sah nicht mehr jünger aus, als er war. Man glaubte ihm den Fremdenlegionär, dessen Haut die afrikanische Sonne gegerbt hatte. Gerne unterzeichnete er etwa Briefe an den Freund mit «ton caporal». Selbstironie und Kameradschaft, die er in diese Floskel fasste, strahlten auch aus seinen großen, klugen, wissenden Augen. In Nervi, mitten in einer neuen Genesung, mitten in der Arbeit, voller Pläne, voller Hoffnung auf endliche Stetigkeit, auf Heimkehr, auf Sesshaftigkeit in der Schweiz, starb Friedrich Glauser am 8. De zember 1938.
Die Tragik dieses Lebens ist sublim, weil sie den Sieg in der Niederlage enthält. Glauser hatte die Welt, die ihn äußerlich bezwang, innerlich überwunden, indem er sie gestaltete. Er gestaltete Erlittenes ohne Wehleidigkeit und war ein Meister der autobiographischen Erzählung. Indem er gestaltete, erhob er sich über die eigene Wirrnis zur Klarheit, zu überlegener Heiterkeit, und alles, was ihn liebenswert machte, schien in seine Schöpfung einzuströmen, die geistige Sauberkeit, der realistische Sinn, das unverdorbene Gefühl, der persönliche Charme, sogar die biegsame, klangvolle, schwebende Stimme. Sein Erstling, Gourrama, ist eine Leistung von erstaunlicher Reife und ungewöhnlicher Strahlungskraft, der beste Legionsroman, den ich kenne. Glauser hat die Buchausgabe nicht mehr erlebt. Es traf ihn tief, dass das Werk keinen Verleger fand und lange nicht einmal als Vorabdruck in einer Zeitung oder Zeitschrift erscheinen konnte.
Mit dem ihm eigenen bon sens zog er rasch und radikal die Konsequenz. Als Schriftsteller, der aus dem Ertrag seiner Feder leben sollte, musste er zuallererst seine Produktion absetzen, er musste also etwas produzieren, das auf Absatz, auf einen gewissen Erfolg rechnen konnte. Durch einfache Überlegung, nicht durch höhere Eingebung, auch nicht aus sozialpädagogischem Eifer, sondern aus barer Not kam Glauser zum Kriminalroman. Dabei brauchte er allerdings nichts Wesentliches preiszugeben. Unter Berufung auf die schöne Vorrede Joseph Conrads zum Nigger vom Narcissus äußerte er sich in einem Briefe über das künstlerisch Wesentliche: «Geruch, Gestalt, Farbe, Luft und darin die Menschen, nicht von einer Seite, sondern ganz kurz von verschiedenen Seiten gesehen, und das Ganze auf eine andere Ebene transponiert.» Das also musste auch für den Kriminalroman gelten. Glauser hatte ja das Beispiel vor sich, einen, der das erreichte, einen Schriftsteller, dessen Kriminalromane sich durch atmosphärische Dichte, durch psychologische Eindringlichkeit, durch plastische Menschendarstellung auszeichnen: Georges Simenon. Ihn verehrte er als seinen Meister. «Was ich kann, habe ich von ihm gelernt», sagt er.
Obwohl er sich oft zu Simenon als seinem Vorbild bekannte und damit der literarischen Kritik gewisse Vergleiche nahelegte, so ist bisher nicht untersucht worden, was alles Glauser «von ihm gelernt» und welche Bewandtnis im Besondern es mit dem Wachtmeister Studer und dem Kommissär Maigret hat. Doch steht das hier nicht zur Diskussion. Hingegen ist zu sagen, dass Glausers Erfolg zu klein war, um ihm die Muße zur Ausführung seiner früheren Pläne, u. a. eines großen Ascona-Romans, zu sichern. Der Wachtmeister Studer wurde zwar beachtet, er wurde sogar verfilmt, aber wie viele, nein: wie wenige haben gemerkt, dass in diesem Kriminalroman sich einer der besten schweizerischen Dorfromane verbirgt? Glauser blieb eben als Kriminalschriftsteller, was er vorher gewesen war, und was mit seinem Erstling Gourrama öffentlich sichtbar zu machen widrige Umstände verhindert hatten: ein meisterlicher Erzähler, ein ursprünglicher Menschengestalter, ein echter Dichter.
Josef Halperin (1891–1963) war in den drei letzten Lebensjahren ein verlässlicher Freund und Förderer Glausers. Er war nach dem Studium der neueren Philologie und Geschichte Anfang des Ersten Weltkriegs in die Auslandredaktion der Neuen Zürcher Zeitung eingetreten und wirkte für diese von 1920 bis 1932 als Korrespondent in Berlin und London. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst der NZZ wurde er freier Journalist und war u.a. auch als Sekretär des Verbands des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) tätig.
Halperin lernte Glauser vermutlich am 6. November 1935 an einer Le sung im «Rabenhaus» des Zürcher Schriftstellers Rudolf Jakob Humm kennen. Diesem schrieb Glauser in einem Brief am 24. September 1937: «Halperin hat den Karren endlich aus dem Dreck gezogen, er ist zu Pontius und Pilatus gelaufen, um den Wachtmeister zuerst, um schließlich den Matto anzubringen.» Halperin begann als Redaktor der Zürcher Wochenzeitung ABC im August 1937 mit dem Abdruck von Glausers Fremdenlegionroman Gourrama, der zuvor von anderen Zeitungen abgelehnt worden war. Die Fortsetzungsgeschichte war bis zum 13. Kapitel gediehen, als die Zeitung ihr Erscheinen einstellte.