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Josef Halperin

«Diese ungewöhnliche Widerstandskraft hat ihn vor dem Zerbrechen bewahrt.»

Vor etwa zwei Jahren las im Hause Humms in Zürich, in einem Kreise von Schriftstellern, ein gewisser Glauser – von dem man erzählte, er habe im Schweizer Spiegel einige Skizzen veröffentlicht –, aus einem Roman vor. Der Mann las mit einer etwas singenden Stimme und mit einer etwas sonderbaren Aussprache, in der schweizerische, österreichische und reichsdeutsche Tonelemente sich vermischten, sodass man sich unwillkürlich fragte: wo mag der aufgewachsen, wo herumgetrieben worden sein? Der Glauser war Schweizer, hieß es. Aber während man überlegen wollte, welche Bewandtnis es mit seinem Akzent haben könnte, merkte man, dass man gar nicht mehr mit Glauser beschäftigt war, sondern mit einem Fahnderwachtmeister Studer, der in einem Café Billard spielte und sich dabei Sorgen machte wegen eines Häftlings namens Schlumpf – schlecht Billard spielte wegen dieser Affäre, die ihn nicht losließ.

Der Roman hieß Schlumpf Erwin Mord. An die singende Stimme hatte man sich schnell gewöhnt. Sie sang sozusagen mit einer liebevollen Eintönigkeit, modulierte ganz wenig, mit einer gewinnenden Bescheidenheit, welche die Effekte der Aufmachung verpönte und nur die Substanz wirken lassen wollte. Da baute sich ein Dorf auf, das eigentlich bloß aus der Hauptstraße bestand, mit Handels- und Wirtshausschildern verziert, von Radio durchlärmt, «Gerzenstein, das Dorf der Läden und Lautsprecher». Eine protzige Fassade, hinter der nichts war, eine modern tuende Behäbigkeit, die einen Schwindel verdecken musste, so spürte man. Das Bild war überklar und bedrückend, wie in einer föhnigen Atmosphäre.

Glauser musste weiterlesen, bis man den Gang der Handlung und die Komposition, dieses verrückte Gerzenstein, seine Honoratioren und ihre Söldlinge, seine geheimen Laster und Verbrechen, diese hohle, brüchige Gesellschaft kannte, in der ein älterer kantonalbernischer Fahnderwachtmeister die Gerechtigkeit herstellen wollte.

Die zuhörenden Schriftsteller waren von verschiedener Richtung und pflegten sich zu versammeln, nicht um einander emporzuloben, sondern um durch unbeirrt sachliche Kritik einander zu fördern, voneinander zu lernen. Glauser wusste das und schien gefasst auf das Urteil zu warten. War es die Ungewissheit oder die Anstrengung des Lesens, die ihn in sich zusammensinken ließ? Er empfand wohl nicht, dass das kurze Schweigen, das seinem Vortrag folgte, der Sammlung diente, der Besinnung auf das passende Wort für sein Werk. Sein Gesicht war verschattet, ein bartloses Gesicht von unbestimmbarem Alter – achtundzwanzig, Mitte dreißig, vierzig?

«Sehr schön», fing einer an und rühmte die sichere und kühne Dialektfärbung der Sprache, die Menschengestaltung, die echte Atmosphäre. Man betrachtete die Sache von allen Seiten und kam überein, dass hier mehr als ein glänzender Kriminalroman vorlag. Das war ein Roman von wesentlichem sozialem Gehalt. Das war das Schweizerdorf, neuartig gesehen von einem geschulten, wissenden Auge und durchleuchtet von einem unerbittlich nach Wahrheit forschenden Geist. Das war ein Spiegel unserer Zeit – also das, was nach einer klassischen Begriffsbestimmung der Roman sein soll. Ein Spiegel, der das Bild unverzerrt, ohne Schmeichelei und ohne Hass, kräftig, leuchtend zurückwirft.

«Das freut mich, das freut mich», sagte Glauser ein übers andere Mal leise und herzlich, mit einem dankbaren Lächeln, das viele Fältchen in sein starkes, redliches Gesicht zeichnete. Der kleinen Versammlung hatte sich nun eine festliche Stimmung bemächtigt, jenes Glücksgefühl, das sich stets einstellt, wenn man eine frohe Entdeckung macht. Man hatte ein Talent gefunden, ein meisterliches Talent, da war gar kein Zweifel. Und so beriet man denn gleich, was man tun könnte, damit der Roman veröffentlicht werde. Er erschien später unter dem Titel Wachtmeister Studer im Morgarten-Verlag.

Glauser war nur wenige Tage in Zürich. Er kam von Basel und fuhr wieder dorthin, aber auch nur für wenige Tage. Dann kehrte er dahin zurück, wo er wohnte – in die Waldau. Der Gestalter einer phantastischen Wirklichkeit hatte ein phantastisches Leben. Im Schweizer Spiegel hat er einmal erzählt, wie er zum Rauschgift kam, zu Morphium und Kokain, später zum Opium, wie er um der «Ehre» willen für «verrückt» erklärt, in Irrenanstalten und Strafanstalten geschafft wurde. Er hat verschiedene Berufe gelernt, er kennt ein ganzes Stück Welt, ihre Hintergründe und Abgründe. Nein, nichts ist umsonst. Dieser Dichter dichtet nicht «aus der blauen Luft». Er ist tüchtig herumgetrieben und durchgeschüttelt worden. Wir brauchen nicht in seiner Biographie zu wühlen. Die flüchtig hingeworfene Skizze, die er mir schickte und die ich mit seiner Erlaubnis veröffentliche, lässt in der bewegten Aneinanderreihung von Stichworten die verschiedenen Milieux, die er erfahren und erlitten hat, deutlich genug aufblitzen. Das wiederholt verwendete Zeichen Mo ist die Abkürzung für Morphium.

«1896 geboren in Wien von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. Großvater väterlicherseits Goldgräber in Kalifornien (sans blague), mütterlicherseits Hofrat (schöne Mischung, wie?). Volksschule, drei Klassen Gymnasium in Wien. Dann drei Jahre Landerziehungsheim Glarisegg. Dann drei Jahre Collège de Genève. Dort kurz vor der Matur hinausgeschmissen, weil ich einen literarischen Artikel über einen Gedichtband eines Lehrers am dortigen Collège verfasst hatte. Kantonale Matur in Zürich. Ein Semester Chemie. Dann Dadaismus. Vater wollte mich internieren lassen und unter Vormundschaft stellen. Flucht nach Genf. Rest können Sie in Morphium nachlesen. Ein Jahr (1919) in Münsingen interniert. Flucht von dort. Ein Jahr Ascona. Verhaftung wegen Mo. Rücktransport. Drei Monate Burghölzli (Gegenexpertise, weil Genf mich für schizophren erklärt hatte). 1921–23 Fremdenlegion. Dann Paris Plongeur. Belgien Kohlengruben. Später in Charleroi Krankenwärter. Wieder Mo. Internierung in Belgien. Rücktransport in die Schweiz. Ein Jahr administrativ Witzwil. Nachher ein Jahr Handlanger in einer Baumschule. Analyse (ein Jahr), während der ich in Münsingen weiter als Handlanger in einer Baumschule gearbeitet habe. Als Gärtner nach Basel, dann nach Winterthur. In dieser Zeit den Legionsroman geschrieben (1928/29). 30/31 Jahreskurs Gartenbauschule Oeschberg. Juli 31 Nachanalyse. Jänner 32 bis Juli 32 Paris als ‹freier Schriftsteller› (wie man so schön sagt). Zum Besuch meines Vaters nach Mannheim. Dort wegen falscher Rezepte arretiert, Rücktransport in die Schweiz. Von 32 bis Mai 36 interniert. Et puis voilà. Ce n’est pas très beau …»

Schüler, Student, Bohemien, Versuchskarnickel für Psychiater, Fremdenlegionär, Geschirrwäscher, Bergarbeiter, Krankenwärter, Handlanger, Gärtner – Glauser kennt das Leben von allerhand Seiten. Als ich ihn in der Waldau besuchte – ein Wärter musste Zeuge unseres Gespräches sein –, bewunderte ich, wie er in dieser Umgebung, in der ein Gesunder krank werden könnte, seine Heiterkeit bewahrte und an seinen Büchern schrieb. Diese ungewöhnliche Widerstandskraft hat ihn vor dem Zerbrechen bewahrt und ihm zu einer innern Befreiung verholfen, die für die schweizerische Literatur und damit für unsere Zeitkunde eine wesentliche Bereicherung bedeutet.

Glauser schöpft, wie man so sagt, aus dem Vollen. Er ist kein bloßer Geschichtenerzähler, darum gibt es in seinen Romanen kein Happy End und überhaupt kein Ende. Man betrachte beispielsweise diesen Studer, diesen kurz vor der Pensionierung stehenden Fahnderwachtmeister. Er löst jedes kriminalistische Rätsel und macht doch keine Karriere. Er ist bei seinen Kollegen beliebt, die Vorgesetzten betrauen ihn gern mit schwierigen Fällen. Dabei hat er das Pech, dass er auf die letzten, auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge stößt, die schonungsvoll zugedeckt werden müssen und die er schonungslos aufdecken will. «Ein Gerechtigkeitsfanatiker! Dass es so etwas noch gibt!» denkt von ihm der Herr Untersuchungsrichter. Seit jener Bankaffäre, die der Studer einst bloßlegte und die dann vertuscht wurde, lässt man ihn die Verbrechen aufspüren, aber man verfolgt sie eben nicht bis zu dem bestimmten heiklen Punkt, wo der öffentliche Skandal anfangen würde. Und darum kommt der Studer auf keinen grünen Zweig. Ein Gerechtigkeitsfanatiker vermag nichts gegen die Gesellschaft, die ihn besoldet. Et puis voilà – um mit Glauser zu reden. Darum sind, wie gesagt, seine Kriminalromane sozialkritische Romane, ob nun das Dorf wie im Wachtmeister Studer oder das Irrenhaus wie in Matto regiert den Spiegel der Gesellschaft abgibt. Sie zeichnen sich aus durch die tiefe Kenntnis der Welt, die der Verfasser in den verschiedensten Sphären persönlich erlitten hat und persönlich gestaltete als ein streng disziplinierter Arbeiter und als ein Weiser, dem die Wahrheit das Lebenselement ist. War die Angst vor den Gesellschaftstanten der Grund, warum diese künstlerisch und dichterisch hervorragenden Werke so lange auf Verleger warten mussten?

Glausers erster und schönster Roman – Gourrama – wird, acht Jahre nach seiner Entstehung, im ABC gedruckt. Die Freude über dieses Ereignis wird sich – ich bin dessen gewiss – den Lesern mitteilen. Dieser erstaunlich reife Erstling weist alle Vorzüge auf, die wir an Glausers andern Werken schätzen. Und hier ist auch schon die große Perspektive, die das gesamte Leben umfasst – von der Insel eines entlegenen Legionspostens aus, einer von der westlichen Gesellschaft abgetrennten Insel, die den farbigen Glanz einer Fata Morgana und zugleich die Kraft eines Symbols der menschlichen Gesellschaft hat. In Gourrama gestaltete Glauser die Erkenntnis, dass man der menschlichen Gesellschaft nicht entfliehen kann, dass man sich mit ihr auseinandersetzen muss. Tapferer Glauser! Mögen die Blätter, auf denen Gourrama die erste Reise in die Welt antritt, ein herzliches Echo des Dankes wecken, den der Künstler in harter Wartezeit doppelt verdient hat. Sein musikalisches Ohr wird das Echo an der atlantischen Küste Frankreichs vernehmen, wo er jetzt lebt und arbeitet, und dann mag er wohl – wie damals in Zürich – mit einem knabenhaft glücklichen Lächeln leise vor sich hinsagen: «Das freut mich, das freut mich.»

Friedrich Glauser

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