Читать книгу T A U B - Wolfgang Hölzle - Страница 10
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Оглавление„Ein Gutachten…? Ein Gutachten. Na schön, ein Gutachten“, murmelte ich halblaut vor mich hin, als ich die Papiere mit dem Logo der Arbeitsgemeinschaft überflog.
Vor einigen Jahren begutachtete ich regelmäßig die Fallbeschreibungen der Ausbildungskandidaten, doch dann flatterten immer weniger Gutachten in meinen Briefkasten. Nun ja, wer konnte sich die Kosten einer teuren Therapieausbildung noch leisten?
Gegenwärtig hätte ich gerne wieder mehr Aufgaben übernommen, denn ich hatte Zeit.
Ich befand mich in der sogenannten Altersteilzeit, im Blockmodell. Die passive Phase hatte gerade begonnen. Diese Begriffe gefielen mir alle nicht, allerdings das Wort Rente noch weniger. Aber genau hier war ich mit meinen sechzig Jahren nun gelandet. Oder besser noch, aufgeschlagen, wie mein alter Chef gerne ein ungewolltes Ankommen bezeichnete. Peng.
Zwischen Urlaubsgefühl und grummelnder Depression hielt ich so recht und schlecht das Gleichgewicht. Weder zum einen noch zum anderen fühlte ich mich hingezogen. Das passte recht gut zu mir. Irgendwie dazwischen, sich für keine Seite entscheiden, darin war ich schon immer gut.
Ich seufzte, setzte mich, schob die Spanisch-Bücher beiseite und holte mir zwischen der Werbepost den Brief von der Arbeitsgemeinschaft hervor.
Als ich das höflich formulierte Ersuchen in den Händen hielt, musste ich schmunzeln. Mein Lächeln gefror aber rasch zu einem laut fragenden „Was, einen Gehörlosen soll ich begutachten? Was soll das denn, was ist das für ein Unsinn?“
Ich überflog die Zeilen mehrmals. An die Arbeitsgemeinschaft war die Bitte herangetragen worden, dringend einen gehörlosen Mann zu begutachten. Dieser lebte in einer Außenwohngruppe der Nervenklinik und man suchte einen unabhängigen Gutachter, einen Psychologen, der nicht in der Klinik arbeitete. Ich wurde um Rückruf gebeten.
„Einen Gehörlosen begutachten“, brummte ich erneut vor mich hin. Ich hatte noch nie mit Gehörlosen zu tun. Konnte so jemand überhaupt sprechen, fragte ich mich. Zum Spracherwerb wird das Gehör benötigt, so viel wusste ich. Erneut schüttelte ich meinen Kopf, konnte mir keinen Reim daraus machen. Der erste Impuls war ein klares ‚Nein, das kann ich nicht, das mache ich nicht‘.
Gut, Zeit hätte ich ja. Vielleicht wusste man das. Aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Aufgabe keiner vom engeren Kreis der Arbeitsgemeinschaft übernehmen wollte. Ich nahm mir vor, am Nachmittag dort anzurufen. Zuvor machte ich mich übers Internet noch ein wenig über Gehörlosigkeit schlau, um bei dem Telefonat nicht ganz dumm dazustehen.
Man erläuterte mir, dass es darum gehe, einen gehörlosen Mann dahingehend zu begutachten, ob man aufgrund gewisser Vorkommnisse aggressiver Natur seinen weiteren Verbleib in der Außenwohngruppe noch vertreten könne. Dieser Mann könne im Übrigen sehr gut sprechen, da er nicht gehörlos geboren sei, sondern sein Gehör erst später verloren habe.
Ich druckste herum. Eine Begutachtung dieser Art war für mich in jeder Hinsicht Neuland. Gleichungen mit vielen Unbekannten waren noch nie meine Stärke.
Ja, das könne man verstehen, flötete es auf der anderen Seite. Ich solle mich am besten direkt an die Nervenklinik wenden, um dort alles Nähere zu erfahren. Mein forsches inneres ‚nein’ vom Vormittag hatte sich mal wieder in das mir gut bekannte ‚vielleicht‘ verwandelt.
Die säuselnde Stimme am Telefon schaffte es nach und nach, mein ‚eventuell‘ und ‚möglicherweise‘ weiter zu verbiegen. Das Gespräch dauerte noch ein wenig an, bis mein Gesprächspartner mir ein halbherziges ‚OK‘ entlockte.
Schon am übernächsten Tag landete ein ausführliches Schreiben in meinem Briefkasten. Ilian Quindt hieß der Gehörlose. Ilian, einen solchen Namen hatte ich noch nie gehört. Er erinnerte mich an etwas Nordisches oder Irisches. Man verwies mich an einen Dr. Tanzer, den neuen Leiter der Sozialpsychiatrie, der mir alle weiteren Auskünfte geben würde.
Drei Tage später stellte ich mein Auto auf dem Besucherparkplatz der Printz-Klinik ab, orientierte mich am Schilderwald und machte mich auf den Weg zur Sozialpsychiatrie. Das weitläufige Gelände der Nervenklinik, so wie ich es noch im Gedächtnis hatte, als ich vor fünfunddreißig Jahren hier ein Praktikum absolvierte, schien geschrumpft zu sein. Die Gebäude der einzelnen Abteilungen erinnerten mich damals immer an große alte Bauernhäuser, die eine friedliche Atmosphäre ausstrahlten. Nur wenig war davon geblieben.
Kurze Zeit später saß ich Dr. Tanzer gegenüber. Mein erster Eindruck war der eines sympathischen konzentrierten Lehrers, der seine Aufgaben ernst nimmt.
Von ihm erfuhr ich nun Näheres über meinen Auftrag: „Wir alle hier sind sehr verunsichert angesichts der psychischen Instabilität von Herrn Quindt. Wir müssen uns ein unabhängiges Bild von ihm machen… und“, er zögerte etwas, „ich glaube, das ist uns allen aufgrund der Vorkommnisse in letzter Zeit immer schwerer möglich. Sein Aggressionspotenzial ist seit dem Tod von Frau Homfeld vor zwei Monaten enorm gestiegen, bis jetzt allerdings nur in verbaler Hinsicht.“
„Homfeld, ist das, war das nicht der Brand hier in der Klinik, als eine Ärztin…?“, fragte ich erstaunt.
„Richtig, unsere Kollegin Carla Homfeld kam dabei ums Leben. Eine Rauchvergiftung, furchtbar, wirklich sehr schlimm, sehr traurig für uns alle und ganz besonders für Herrn Quindt“, erläuterte er mir.
„Nun, Herr Quindt möchte unbedingt in unserer Außenwohngruppe bleiben, was ich verstehe. Seine Freiheiten sind dort größer. Wir wissen gegenwärtig wirklich nicht mehr, ob wir seinem Wunsch weiter entsprechen können. Alle haben wir große Sorge, wann der Nächste in sein Schussfeld gerät. Ich selbst bin auch forensischer Psychiater und ebenso Gutachter für solche Fragestellungen, aber…“, er stockte erneut, „kurzum, eine unabhängige zweite Meinung ist uns in dieser Frage sehr wichtig. Deshalb haben wir uns an die Arbeitsgemeinschaft gewandt, um uns zu helfen.“
„Ich…, wissen Sie, für mich ist das eine völlig neue Materie“, stotterte ich herum, „ich kenne mich in forensischen Fragestellungen eigentlich überhaupt nicht aus. Ich weiß nicht, ob ich…, mit einem Gehörlosen, das ist…“.
„Keine Sorge, Herr Steinle“, beschwichtigte mich Dr. Tanzer lächelnd: „Es geht uns hier nicht um ein forensisches Gutachten. Eine zweite und ganz unvoreingenommene Einschätzung seiner Person, vor allem eine Beurteilung seiner emotionalen Verfassung, stellt für uns eine große Hilfe dar.“
Ich schaute wohl immer noch recht zweifelnd drein, als Dr. Tanzer weiter ausführte: „Ilian Quindt ist übrigens spätertaubt. Er kann sprechen, sehr gut sogar. Der totale Gehörverlust trat im Alter von zwölf Jahren ein, nach einem schweren Autounfall. Er ist ein ausgezeichneter Lippenleser. Die Kommunikation mit ihm stellt im Grunde kein Problem dar. Er ist gebildet, er hat Jura und Theologie studiert, sogar Psychologie. Herr Quindt liest ungeheuer viel. Außer Deutsch spricht er Englisch, Französisch und Spanisch. Außerdem beherrscht er die Gebärdensprache perfekt. Er kann sich bestens mit jedem Gehörlosen unterhalten. Hin und wieder unterstützt er uns als Dolmetscher für Gebärdensprache. In dieser Hinsicht ist er uns wirklich eine Hilfe.“
Die sich anschließende Schweigepause war die letzte Gelegenheit für ein ‚Nein, das kann ich nicht‘.
Ich zögerte, schaute ein wenig nach draußen, brachte kein Wort heraus und zog es vor, der Arbeitsgemeinschaft innerlich meinen Vorwurf entgegen zu schleudern. Meine Wut auf mich und andere verbarg ich hinter einem Lächeln.
Dr. Tanzer durchbrach das Schweigen: „Ilian Quindt ist wirklich ein außerordentlich interessanter Mensch, Herr Steinle. Er wird Sie beeindrucken, da bin ich mir sicher. Er ist aber…, wie dem auch sei, wir benötigen eine zweite Meinung. Ich will Ihnen auch nicht verhehlen, dass er auf mich gar nicht gut zu sprechen ist.“
Ich konnte sein Lächeln nach diesem letztem Satz nicht deuten und fragte irritiert: „Darf ich wissen, warum?“
Dr. Tanzer holte Luft. „Sie dürfen. Wenn Sie die ganzen Unterlagen hier durchgearbeitet haben, werden Sie es vielleicht besser verstehen oder auch nicht.“ Er legte dabei seine Hand auf eine zehn Zentimeter dicke Akte.
„Jedenfalls gab es immer wieder Menschen, die aus unerfindlichen Gründen seine Aggressionen bisweilen sehr hautnah zu spüren bekamen. Frau Homfeld war hier seine Therapeutin. Er hat sie sehr gemocht. Ich glaube, sie war eine der wenigen Menschen, zu denen Herr Quindt eine ganz besondere Beziehung aufgebaut hatte. Nach ihrem Tod war er am Boden zerstört, wollte sich umbringen, die Bahnlinie, nur einige hundert Meter von hier.“
Dr. Tanzer deutete aus dem Fenster nach rechts.
„Herr Quindt lief einfach auf den Schienen entlang. Sein Selbstmordversuch misslang. Er wurde gesehen, die Bahn wurde rechtzeitig informiert. Also brachte man ihn zunächst wieder drei Wochen in die Geschlossene. Ich sprach damals mit ihm, mehrmals, wollte eigentlich weiterführen, was Frau Homfeld begonnen hatte. Ich plädierte ebenso dafür, dass Herr Quindt möglichst rasch wieder ins Wohnheim zurückkehren sollte, weil er sich dort immer wohlfühlte. So weit, so gut. Nun, gegenwärtig bin ich in seinem Schussfeld. Er beschuldigt mich nämlich, ich hätte unsere Kollegin Homfeld umgebracht.“
Mir entwich ein „Wiiie?“, gefolgt von einem Kopfschütteln.
Dr. Tanzer fuhr fort: „Vielleicht hätte ich die therapeutische Begleitung nach dem Tod von Frau Homfeld bei ihm sogar gut weiterführen können. Aber, sagen wir mal so, angesichts dieser Anschuldigungen sehe ich keine vernünftige Basis mehr für weitere Gespräche mit ihm, die Herr Quindt im Übrigen auch nicht wünscht.“
Ich schaute ihn immer noch verblüfft an.
Dr. Tanzers gespannte Gesichtszüge wichen jetzt einem Lächeln: „Sie werden zu allem mehr in den Unterlagen hier finden. Eine komplexe Persönlichkeit, unser Ilian. Eine spannende Aufgabe, Herr Steinle, Sie werden sehen“, und er schob mir den ganzen Packen Unterlagen herüber.
Es half also nichts. In den folgenden Tagen schaufelte ich mich wie ein Maulwurf durch viele bedruckte Seiten und ließ die bewegende Lebensgeschichte von Ilian Quindt in mir vorüberziehen. Am Ende fertigte ich mir als Gedächtnisstütze einen Lebenslauf mit den wichtigsten Stationen und Begebenheiten an.
Sein Vater starb an Lungenkrebs, als Ilian Quindt neun Jahre alt war. Er lebte danach mit seiner Mutter im Haus der Großeltern. Sein Großvater war sehr vermögend, ein Fuhrunternehmer aus dem Ruhrgebiet.
Zwei Jahre später ging seine Mutter eine neue Beziehung ein und heiratete diesen Mann.
Wenige Monate nach der Heirat ereignete sich dann dieser schreckliche Autounfall, bei dem seine Mutter und sein Stiefvater noch am Unfallort starben. Ilian selbst wurde dabei aus dem Auto geschleudert, überlebte schwer verletzt mit vielen Knochenbrüchen, Gesichtsverletzungen und einem schweren Schädeltrauma. Körperlich erholte sich der damals zwölfjährige Ilian offenbar gut, aber ein irreparabler Gehörschaden blieb zurück. Ilian war durch den Unfall absolut taub geworden.
Der Unfall, der Tod seiner Mutter, seines Stiefvaters und die plötzliche Konfrontation mit der Gehörlosigkeit hatten allerdings schwere psychische Schäden angerichtet. Autistische Phasen wechselten mit unkontrollierbaren Aggressionsausbrüchen.
Nach einem halben Jahr hatte sich Ilians Zustand soweit gebessert, dass er das Krankenhaus verlassen konnte. Erst dann erfuhr er, dass sein Großvater in der Zwischenzeit verstorben war. Prompt reagierte er über einen Monat lang erneut mit Aggressionen gegen sich und andere.
Aus den Unterlagen ging ebenfalls hervor, dass sein Großvater ihm den größten Teil seines Vermögens hinterlassen hatte, der noch bis zum heutigen Tag von einer Anwaltskanzlei treuhänderisch verwaltet wird.
Ilian kam in eine Pflegefamilie und zeigte sich dort wider Erwarten äußerst angepasst, von autistischen Zügen und Aggressionsausbrüchen keine Spur mehr. Von seinen Pflegeltern wurde er überdies als sehr ordentlich, aufmerksam und höflich beschrieben.
Er lernte die Gebärdensprache. Da er trotz seiner absoluten Gehörlosigkeit sehr gut sprechen konnte, sich in allen Tests als überaus intelligent erwies, besuchte er sogar ein ganz normales Gymnasium und war nach kurzer Zeit der beste Schüler seiner Klasse. Seine Lehrer waren voll des Lobes und am Schuljahresende erhielt er eine Auszeichnung nach der anderen.
Seine Pubertät trat später als erwartet ein. Damals zog er sich von allen sozialen Kontakten komplett zurück. Er blieb ein Einzelgänger.
Plötzlich aber fing er an, seine Lehrer immer häufiger der Unwahrheit und Lüge zu bezichtigen. Die schlimmsten Vorwürfe bekamen die Religionslehrer zu hören.
Dank seiner schulischen Glanzleistungen und seines auch den Lehrern bekannten traurigen Schicksals versuchte man, so gut als möglich darüber hinwegzusehen, bis es zu einem wirklichen Eklat kam.
Bei einem Kirchenbesuch am Schuljahresende geriet Ilian während der Predigt des Geistlichen außer sich. Er unterbrach ihn, beschimpfte ihn vor der gesamten Kirchengemeinde auf das Übelste, sodass der Gottesdienst abgebrochen wurde. Die Öffentlichkeit war empört, die Behörden wurden auf den Plan gerufen. Ilian musste die Schule und die Pflegefamilie verlassen und kam in ein Heim. Damals tauchten auch die ersten psychiatrischen Gutachten auf, in denen von wahnhaften Vorstellungen die Rede war. Im Heim überflügelte er in seinen schulischen Leistungen desgleichen bald alle anderen. Selten hatten die Lehrer einen jungen Mann von damals achtzehn Jahren gesehen, der so konzentriert in der Schule mitarbeitete, der sich in jeder freien Minute wie ein Bücherwurm durch die ganze Bibliothek fraß. Er wurde als eigensinniger Kauz beschrieben, der sich schlecht in die Schülergemeinschaft einfügte, aber alles und jeden mit forschenden Blicken verfolgte. Die Bemühungen der Schule, ihn stärker in eine Gehörlosengruppe einzubinden, misslangen. Ilian Quindt blieb ein Eigenbrötler.
Aber auch im Heim verschonte er nach einiger Zeit weder Schüler noch Lehrer mit seinen Anschuldigungen. Der Bonus, den er sich hier aufgrund seiner glänzenden schulischen Leistungen erworben hatte, schmolz dahin und endete schließlich jäh, als er einen Mitschüler verprügelte. Angeblich hätte dieser seine Kameraden erpresst, und er hätte dies beenden wollen.
Ilian landete nach diesem Vorfall für einige Zeit in der Psychiatrie. Die Fachleute diagnostizierten sein Verhalten inzwischen als wahnhafte Entwicklung mit schizophrenen Schüben.
Fast sechs Monate behielt man ihn dort und brachte ihn danach in einer betreuten Wohngruppe unter. Erneut verhielt sich Ilian still und unauffällig, freundlich und zurückhaltend, widmete sich seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Lesen. Ansonsten gab er sein Geld für alle möglichen Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus, für Caféhausbesuche, vor allem für die täglichen Besuche im Tierpark.
Zwei Jahre später legte er ein Glanzabitur hin und erhielt Preise. Mit 22 Jahren begann Ilian Quindt ein Theologiestudium und belegte ebenfalls das Fach Psychologie. Er lebte sehr zurückgezogen in einem Studentenwohnheim und widmete sich ganz dem Studium.
Ärger bekam er zwei Jahre später allerdings mit dem Gesetz. Zwei Mal hintereinander stahl er die Autos von Kommilitonen, die den Zündschlüssel stecken ließen, und fuhr damit einfach zum Zoo. Er erhielt eine Verurteilung zur Bewährung und zusätzlich die Auflage, im Hospiz ehrenamtlich mitzuarbeiten.
Diese Arbeit im Hospiz wurde ihm anscheinend zu einer heiligen Aufgabe. Deshalb brach er mit 25 Jahren sogar sein Studium ab, um im Hospiz mitzuarbeiten. Fünf Jahre blieb er dort.
All diese Aufzeichnungen stammten von einem Betreuer, der ihm seit seinem Aufenthalt in der Psychiatrie zugeteilt worden war.
Im Alter von 30 Jahren besann sich Ilian Quindt wieder auf sein Studium. Er führte sein Theologiestudium weiter und belegte zusätzlich Rechtswissenschaft. Mit einem verbissenen Elan kniete er sich in die Materie hinein, was wiederum in besten Prüfungsnoten seinen Ausdruck fand.
Er war 35 Jahre alt und kurz vor dem Abschluss, als das Unfassbare geschah. Nach einer Unterrichtsstunde bezichtigte er einen Lehrer des Missbrauchs an einer Schülerin und schlug ihn krankenhausreif. Erneut wurde er für einige Zeit in die Psychiatrie eingewiesen. Er blieb aber bei seinen Anschuldigungen gegenüber dem Lehrer.
Ein halbes Jahr verbrachte er in der Sozialpsychiatrie der Printz-Klinik. Seit zweieinhalb Jahren lebte er nun in einem Außenwohnheim direkt gegenüber der Klinik und betreute tagsüber die Patientenbibliothek.
Nach dem Tod seiner Therapeutin Carla Homfeld begannen seine Anschuldigungen gegenüber dem neuen Leiter der Sozialpsychiatrie, Dr. Tanzer.
Dies alles hat nun generell zu der Frage geführt, was mit Ilian Quindt denn weiter geschehen sollte - nicht nur in Bezug auf seine Unterbringung im Wohnheim.
Ilian Quindt war jetzt 38 Jahre alt.
„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, entfuhr es mir, als ich seinen Lebenslauf beiseitelegte. Oder irgendwo zwischen Hannibal Lektor und dem Dalai Lama?
Nie zuvor hatte ich so eine Biografie gelesen. Ich hatte den Eindruck, auf einen Zug aufgesprungen zu sein, dessen Ziel und Richtung ich nicht kannte. Und so etwas passierte ausgerechnet mir, der immer schön kontrolliert seine Schritte vorausplante. Selbst die Altersteilzeit hatte ein sanftes Fallen in einen neuen Lebensabschnitt zu sein.
Ich biss die Zähne zusammen, wählte die Nummer, die mir Dr. Tanzer gegeben hatte, und vereinbarte mit der Stationsleitung der Sozialpsychiatrie für den Mittwoch einen ersten Gesprächstermin mit Ilian Quindt.