Читать книгу T A U B - Wolfgang Hölzle - Страница 8
3
Оглавление„So, Ilian, genug für heute“, lächelte ihn seine Mutter an und legte das Buch beiseite.
„Nur noch eine Seite, bitte“, bettelte Ilian.
„Nein, jetzt ist es wirklich genug. Ich hab‘ dir ja schon fast die ganze Geschichte vorgelesen. Jetzt ist Schlafen angesagt, mein kleiner Großer.“ Sie begrub seine Proteste mit einem lauten Kuss.
Ilian kostete ihre Nähe und Wärme aus, die er so lange vermisst hatte. Es tat ihm wohl, zu sehen, dass es ihr besser ging, dass hinter ihrer Trauer auch wieder Freude aufleuchtete.
Er spürte ebenso, dass sie seine Nähe suchte, auch wenn sie ihren Kopf hin und wieder abwandte, um sich einige Tränen aus den Augen zu wischen.
Eingerollt lag sein Kopf oft auf ihrem Schoß. Dabei hielt er die Augen weit offen und ließ sich von ihrer Stimme in die Ferne tragen, in die Savannen und Steppenlandschaften. Er begegnete Löwen und Elefanten, Zebras und Antilopen, wie sie auf der Suche nach Weideplätzen und Wasserstellen viele Gefahren zu bestehen hatten.
Dabei schweiften seine Erinnerungen zurück an jene Safarireise nach Kenia vor zwei Jahren. Diese Reise war das erste große Abenteuer in seinem Leben. Alle Erlebnisse hatten sich tief in sein Gedächtnis eingegraben.
Seine Mutter war damals gegen die Reise gewesen, hatte Angst, dass Ilians Atembeschwerden dort zunehmen könnten, deckte ihn und seinen Vater mit Tabletten, Asthmasprays und Ratschlägen ein. Ilian hatte während dieser Reise so wenige Atembeschwerden wie noch nie, nur sein Vater hustete häufiger als sonst.
Er wusste damals nicht, dass sein Vater krank war, sterbenskrank. Zurück aus dem Urlaub hörte dessen fürchterlicher Husten gar nicht mehr auf. Ilian konnte den körperlichen Verfall seines Vaters nicht verstehen. Aber er wusste mit einem Mal, dass er mit ihm nie mehr das große weite Land besuchen würde.
Ilian weinte nicht am Grab. Er beobachtete nur versteinert den dunkelbraunen Sarg, der unter den Trompetenklängen einer kleinen Kapelle langsam in die Erde gelassen wurde.
Seine Mutter weinte tagaus, tagein. Ilian wollte sie trösten. Er versuchte, stark zu sein und schob seine Trauer beiseite, ohne es selbst zu bemerken.
Dennoch konnte er den Schmerz seiner Mutter nicht lindern. Irgendwann weinte sie nicht mehr, saß nur noch schweigsam und blickte aus erloschenen Augen.
Daraufhin zogen sie zu den Großeltern. Auch hier besserte sich der Zustand seiner Mutter nicht. Morgens wollte sie nie aufstehen, konnte es nicht. Tagsüber schaute sie meistens abwesend durch die Fenster.
Als er eines Tages von der Schule nach Hause kam, war seine Mutter fort. Er erfuhr, dass sie für einige Zeit in einem Krankenhaus leben würde, sie brauche Ruhe und Abstand von allem.
Nach der Hausaufgabenüberwachung durch seine strenge Großmutter versuchte er, so schnell er konnte in den weiträumigen Garten zu entkommen, in welchem es immer etwas Neues zu entdecken gab. Einmal fand er unter einem Busch sogar einen kleinen Igel. Zusammen mit seinem Großvater fütterte er diesen heimlich, ohne dass die Großmutter davon erfuhr. Später bastelten sie für das Igelkind einen Unterschlupf. Zuletzt zimmerten die beiden zum Entsetzen der Großmutter ein kleines hölzernes Igel-Haus mit festem Dach.
Seinen Großvater, der bislang die meiste Zeit zurückgezogen im Hause verbrachte, zog es mit einem Mal häufiger in den Garten. Er erzählte seinem Enkel etwas über die alten Bäume, holte bald Rechen und Gartenschere hervor, die sonst nur die Gärtner in die Hände nahmen, und er zeigte ihm, wie man einen Baum schneidet. Die Großmutter schimpfte, der Großvater lachte wieder mehr, Ilian freute sich und der kleine Igel wuchs prächtig heran.
Die beiden Verschworenen schmiedeten immer wieder Pläne, wie sie der gestrengen Großmutter entwischen konnten.
Ilian war erleichtert, als seine Mutter nach langer Zeit wieder vom Krankenhaus zurückkehrte. Sie war blass und dünn geworden, erholte sich aber zusehends. Bald ging sie fast jeden Abend aus. Aber sie vergaß nie, ihm zuvor einige Seiten aus den afrikanischen Märchen vorzulesen.
Eines Tages stand sie plötzlich mit Werner da.
Seine Großmutter war von dem gepflegten jungen Mann mit den guten Manieren begeistert. Werner handelte mit Arzneien, verkaufte diese sogar nach Afrika, wie man ihm sagte.
Der Großvater war von der neuen Errungenschaft seiner Tochter weniger angetan. Ilian hörte, wie seine Mutter und der Großvater jetzt häufiger in Streit gerieten.
Werner brachte ihm bei jedem Besuch ein Geschenk mit. Einmal bekam er sogar ein kleines Gibbonäffchen, dass er ‚Tonka‘ taufte. Von diesem Zeitpunkt an, schloss er Werner in sein Herz, ganz egal, was der Großvater von ihm hielt.
Vier Monate später heirateten seine Mutter und Werner.
Das kleine Äffchen war neben der wunderschönen Braut die Attraktion auf der Hochzeit.
Danach zogen sie in die Stadt. Es fiel Ilian schwer, seinen Großvater zu verlassen. Er weinte und auch der Großvater hatte Tränen in seinen Augen. Dieser nahm ihn zur Seite und versprach ihm, dass er auf jeden Fall für den Igel weiterhin gut sorgen werde.
Die Zoobesuche mit Werner und seiner Mutter ließen bald ebenso nach wie die Besuche beim Großvater, auch wenn Ilian noch so sehr drängelte. Das Lachen seiner Mutter verschwand wieder. Ihre Stirn lag häufiger in Falten und zum Vorlesen hatte sie längst keine Lust mehr. Wenn Werner oft nach vielen Tagen von einer Reise zurückkehrte, schlossen sich die beiden ein und nach einiger Zeit hörte er sie streiten.
Ilian wollte wieder zurück zu seinem Großvater, zumindest ihn häufiger besuchen. Werner war meistens dagegen. An einem Sonntag beharrte Ilian so sehr auf den Besuch, dass Werner zähneknirschend einlenkte. Heute würde er also den Großvater, die Großmutter und ebenso den kleinen Igel wiedersehen. Er erinnerte sich noch daran, wie aufgeregt er an jenem Tag war. Vielleicht bekam er deshalb schon früh am Morgen seine Atembeschwerden. Er konnte es einfach kaum erwarten, seinem Großvater die neuen Kunststückchen von Tonka zu zeigen, wie dieser mit einem Tennisball werfen konnte.
Auf der Fahrt dorthin endete alles.
Ilian hatte eine feste Mauer um sich gebaut. Es gab weder Türen noch Fenster. Keine Verbindung mehr nach draußen, das war Ilian das Wichtigste. Niemandem sollte es jemals gelingen, hier einzudringen. Jedes trojanische Pferd hatte er schon aus der Ferne erkannt und den Einlass verwehrt. Allen Belagerungen und Lockungen hielt er mühelos stand.
Inzwischen hatte man es aufgegeben, seinen schützenden Panzer zu durchbrechen.
Deshalb wusste er nicht genau, was mit einem Mal da draußen vor sich ging. Es war anders als sonst. Jemand scherte sich einen Teufel um sein Bollwerk, schlug mit aller Macht gegen seine Mauern und drang unbarmherzig und schmerzhaft zu ihm vor. Dennoch dauerte es lange, bis er jene schmale Frau mit dem blauen T-Shirt wirklich wahrnahm, aber auch das erst, nachdem sie ihm schmerzhaft die Arme verdrehte. Nur kurz hob er den unsichtbaren Kokon und blickte in freundliche aber angespannte Gesichtszüge.
Johanna verhinderte seinen erneuten Rückzug dadurch, dass sie ihm die Ohren lang zog, bis er schrie und nach ihr trat. Sie konnte seinen Tritt nur mühsam mit den Händen abwehren, schlug dabei ihre eigene Hand hart gegen die Tischkante, dass sie aufschrie und das Gesicht verzerrte. Gebannt beobachte Ilian ihren offenen Mund und die Grimasse, ohne dass er auch nur das Geringste hören konnte.
Noch einmal trat er mit seinem Fuß gegen sie. Dieses Mal wich Johanna geschickt aus und strahlte ihn triumphierend an.
Sie wusste nicht, wie lange er diese innere Luke offen halten würde. Rasch hielt sie sich eine Tafel neben ihr Gesicht, auf der ‚Ich heiße Johanna‘ stand. Sie wiederholte diesen Satz mehrmals überdeutlich und versuchte, den Jungen mit ihrem Blick festzuhalten. Es gelang.
Sofort zeigte sie ihm eine zweite größere Tafel. ,Ilian, ich kann Dich hören‘, hatte sie darauf geschrieben. Unaufhörlich wiederholte Johanna diesen Satz mit ausdrücklichen Lippenbewegungen.
‚Ich kann Dich sprechen hören, Ilian, auch wenn du deine Stimme nicht hörst‘, stand auf der nächsten Tafel. Überdeutlich formten ihre Lippen diese Worte.
Er verstand den Satz nicht, wendete seinen Blick ab, bis sie ihm erneut in beide Ohren kniff.
Noch immer blickte Ilian erstaunt in ihr Gesicht. Johanna legte die Tafel beiseite, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie lächelte ihn an, streckte ihre Arme aus und zog ihn behutsam zu sich heran. Der Junge ließ es geschehen. Er zitterte.
Zuletzt wiegte sie ihn unendlich lange in ihren Armen, sang ein Lied nach dem anderen und ließ ihn die Vibrationen ihres Brustkorbes spüren, bis sein Zittern nachließ.
Mit ihrer Dickköpfigkeit hatte sie das Schloss zu seinem inneren Verlies aufgebrochen und die Türen geöffnet. Damit strömten in den Jungen langsam die Erinnerungen zurück.
Dunkel entsann er sich an eine Autofahrt, an eine Rastpause, an die schnelle Weiterfahrt und dann nur noch an die plötzliche Dunkelheit.
Er glaubte, im Paradies zu sein, zusammen mit seinem Vater, mit seiner Mutter, auch mit Werner und mit Tonka. Alle waren sie da. Aber man vertrieb ihn von dort wieder, schickte ihn weg, warf ihn zurück in eine lautlose Welt voll merkwürdiger Gerüche und gleißend hellem Licht, die nur von Menschen in weißen Kitteln bevölkert wurde. Keiner dieser Menschen wollte mit ihm reden, nur ihre Lippen bewegten sich. Er konnte sie nicht hören, sie nicht verstehen. Dann hatte er zu schreien begonnen, tagaus, tagein. Dennoch konnte er seine Stimme nicht hören.
Er erinnerte sich, dass die schweigsamen Menschen ihm auf Tafeln etwas aufgeschrieben hatten und es ihm zeigten. Aber Ilian kniff die Augen zusammen, drehte den Kopf weg, schrie und schrie. Er schluchzte, bettelte und flehte nach seinem Vater, nach seiner Mutter, nach seinem Großvater, nach Tonka. Er wollte wieder zu ihnen zurückkehren und diese furchtbare schweigende Welt verlassen. Nur eine gnadenlose Stille antwortete ihm, stumm und ungerührt.
Erst nach vielen Tagen und Nächten begriff er mit einer unsäglichen Traurigkeit, dass seine Mutter, sein Vater, Tonka und auch Werner ihn nicht hören konnten, dass sie die Suche nach ihm aufgegeben hatten.
Das Fünkchen Leben, welches noch in dem Jungen atmete, beschloss daraufhin, alles zu vergessen, einfach alles, die Welt, das Schweigen, seine Mutter.
Der junge Ilian schrie nicht mehr, weinte nicht mehr. Er verkroch sich in eine schützende unsichtbare Höhle, kratzte sich Arme und Beine blutig, schlug seinen Kopf rhythmisch gegen die Wand oder die Bettpfosten, nur um immer wieder enttäuscht zu spüren, dass er nicht tot war.
Er aß, er trank, aber er konnte nicht leben und auch nicht sterben, bis ihn die eiserne Johanna, als die sie ihm im Gedächtnis bleiben sollte, wieder in die Welt zurückholte.
26 Jahre später