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Das weiß getünchte Haus gegenüber der Printz-Klinik wirkte wie ein renovierter Wohnblock aus den späten Siebzigern.

Ilian Quindt hatte sein Zimmer im zweiten Stock. Sein Betreuer hatte mich bei ihm angekündigt.

Es war nachmittags, kurz nach halb vier.

Meine Hände waren feucht, als ich vor der breiten gemaserten Türe stand. Rechts die Glocke, darunter das Namensschild: Ilian Quindt.

Glocke? Klingel? Ja, natürlich, er musste innen eine optische Klingel haben, er konnte ja nichts hören.

Ich rieb meine Hände fest an der Hose, um sie trocken und etwas wärmer erscheinen zu lassen, drückte die Glocke, ohne dass ich drinnen einen Ton hörte.

Die Tür öffnete sich.

Ein Mann, etwas größer als ich, kräftig, drahtig, mit Jeans und Hemd bekleidet, streckte mir mit einem Lächeln seine Hand entgegen.

„Ilian Quindt. Guten Tag. Sie müssen Herr Steinle sein, der Psychologe“. Seine Stimme klang ruhig und entspannt.

„Walter Steinle“, nickte ich und reichte ihm die Hand.

Mein Gerüst aus Mutmaßungen und Erwartungen über diesen Ilian Quindt lag sofort geknickt am Boden und wich spontan einem ganz anderen Eindruck. Und dieser stand jetzt in Form eines präsenten und freundlichen Ilian Quindt vor mir, der mir einen Platz anbot.

Ich setzte mich an den kleinen runden Tisch und fühlte mich mit einem Mal unwohl. Meinen Blick ließ ich kurz durch sein Zimmer schweifen. Es wirkte nicht besonders groß und spärlich möbliert. Die Wände konnte man nicht sehen, denn vor allen Wandbereichen standen prall gefüllten Bücherregale, die bis zur Decke reichten.

Ich holte Luft und sah ihn an: „Sie wissen, weshalb ich Sie aufsuche?“, fragte ich ihn mit bewusster Betonung der einzelnen Worte.

Er lächelte: „Ich kann Sie nicht sprechen hören, Herr Steinle, aber wenn ich Sie anschaue, kann ich Sie sehr gut verstehen. Ich bin ein guter Lippenleser. Es genügt, wenn Sie mich ansehen. Sie brauchen sich mit Ihrer Aussprache nicht zu bemühen. Ich nehme an, es geht bei Ihrem Besuch darum, ob ich hier weiterhin wohnen kann, oder ob ich wieder auf der anderen Seite der Straße mein Quartier beziehen muss.“

„So in etwa“, stimmte ich ihm zu.

„Haben Sie mit Dr. Tanzer gesprochen?“, fragte er mich und durchdrang mich dabei mit seinen Augen. „Sie haben“, gab er sich selbst die Antwort. „Keine Sorge, das ist schon in Ordnung so. Ich nehme an, er hat Sie ausreichend informiert.“

Ich atmete tief durch: „Ich habe einige Zeit darauf verwendet, alle Akten durchzusehen“, versuchte ich, die Antwort zu umgehen und spielte meine lange Wühlarbeit herunter.

Erneut blickte er mich lange an, als suche er etwas in meinem Gesicht und meinte dann: „Ich glaube, Sie nehmen Ihre Aufgabe ernst.“

Das selbstbewusste Auftreten des jungen Mannes beeindruckte mich nicht schlecht und meine Verunsicherung hielt an.

„Wenn Sie es nicht von Dr. Tanzer selbst oder von irgendwem sonst wissen, sage ich es Ihnen jetzt gleich. Ich bin sicher, dass Dr. Tanzer für den Tod von Carla Homfeld, meiner Therapeutin, verantwortlich ist.“

Puuuh. Ilian Quindt sagte das so ruhig, als rede er über das Wetter. Die entstandenen Schweigesekunden dehnten sich schmerzhaft. Ich wusste nicht mehr, wie ich beginnen sollte.

Ilian Quindt nahm es mir ab: „Meine Wut auf diesen Kerl steht auf einem Nebengleis und wartet. Es geht mir darum, ihn zu überführen, ich weiß nur noch nicht wie. Dafür brauche ich im Moment vor allem einen klaren Kopf.“

Dann wechselte er abrupt das Thema: „Arbeiten Sie drüben in der Klinik?“

„Nein, aber auch im klinischen Bereich.“ Jetzt kamen mir die Worte etwas flüssiger von den Lippen. Ich erläuterte ihm noch einmal meinen Auftrag, dass ich mir ein umfassendes Bild von ihm machen müsste, falls erforderlich, auch mit Hilfe einiger Tests. In den nächsten Wochen würde ich ihn auf jeden Fall häufiger besuchen, um mit ihm zu sprechen.

Ilian Quindt hörte mir aufmerksam zu. Nur für einen Augenblick wirkte er abwesend, bevor er spontan fragte: „Wann können wir damit beginnen?“

Wir vereinbarten für den kommenden Freitag unseren ersten Termin. Er notierte sich das Datum, schrieb meinen Namen dazu und heftete den Zettel an eine kleine Pinnwand.

Über diesen Menschen musste ich also ein Gutachten erstellen. Ich bezweifelte erneut, ob ich dieser Aufgabe gewachsen war. Mein Ärger richtete sich im Moment gegen Dr. Tanzer. Die Anschuldigungen, die Ilian Quindt gegen ihn erhob, sah er wohl als willkommene Gelegenheit, dieses Thema, einschließlich aller damit verbundenen Unannehmlichkeiten, an jemanden anderen abzuschieben - und das war ich.

Aber weder Entrüstung noch Selbstmitleid halfen jetzt. Ich saß im Boot und hatte zu rudern. Fünf oder sechs Wochen hatte ich Zeit. Mitte Mai sollte das Gutachten stehen, so war es vorgesehen.

Irgendwo und irgendwie musste ich beginnen.

Freitagnachmittag schüttete es in Strömen.

„Strengen Sie sich bitte nicht an“, beendete Ilian Quindt die kurze Schweigephase nach unserer Begrüßung und versank mit seinen Augen in meinem Gesicht. „Fragen Sie einfach gerade heraus, Herr Steinle. Machen Sie es bitte nicht so psychologisch. Das ist langweilig und kostet unnötig Energie. Sie dürfen mich wirklich alles fragen. Ich werde Ihnen offen und bereitwillig alles beantworten, so gut ich kann“.

Mit diesen Worten warf er meine Überlegungen für das erste Gespräch über den Haufen. In meinem Bauch grummelte es. Also dann eben aus dem Bauch heraus. Ich trat die Flucht nach vorne an.

„Herr Quindt, vielleicht können wir gemeinsam herausfinden, warum Sie gegen andere Menschen wiederholt solche schwerwiegenden Vorwürfe erheben oder sie gar tätlich angreifen und verletzen. Es würde Ihnen helfen. Ich meine dabei nicht nur Ihren Verbleib im Wohnheim.“

„Es ist mir gleich, wo ich wohne“, unterbrach er mich. „Nein, vielleicht doch nicht“, korrigierte er, „am liebsten würde ich näher am Zoo, nah bei den Tieren leben.“

„Warum möchten Sie das?“

„Es ist schön, Tiere zu beobachten, besonders die großen Raubkatzen, vor allem die Löwen, das begeistert mich. Ihre Bewegungen, ihr Gang, alles was sie tun, ist genau das, was sie fühlen. Diese Klarheit und Aufrichtigkeit ist bei Menschen selten zu finden. Nein, ich glaube das trifft nicht den wahren Kern. Sie lösen in ihrem Wesen etwas in mir aus, was ich selbst nicht ganz begreife. Vielleicht könnte man es Sehnsucht nennen.“

Mir fiel sofort die Mutter meiner Ex ein, die ihren Pudel bis zu ihrem Tod ebenfalls mehr liebte als jeden Menschen um sich herum. Sie hielt mit dieser Überzeugung auch nicht hinter dem Berg und gewann damit nicht gerade die Resonanz ihrer Mitmenschen.

Auch meine Erinnerungen als Briefträger in den Semesterferien lösen bis heute keine Sehnsüchte nach größeren Vierbeinern aus.

„Bis auf Hauskatzen hält sich meine Begeisterung gegenüber größeren Vierbeinern in Grenzen“, erwiderte ich ihm.

Er blickte mich still an und lächelte: „Sie haben ja richtig Humor, Herr Steinle. Das gefällt mir. Fragen Sie mich gerne weiter.“

„Die Menschen erscheinen Ihnen also unehrlich?“

„Nicht generell und auch nicht immer, manche Menschen aber ganz bestimmt.“

Ich versuchte mühsam, den Faden wieder in die Hände zu bekommen.

„Herr Quindt, aus den Aktenunterlagen kenne ich ein wenig Ihre Lebensgeschichte. Sie haben schon häufiger Menschen der Unwahrheit bezichtigt. Einen Religionspädagogen haben Sie vor einigen Jahren nicht nur beschuldigt, eine junge Schülerin missbraucht zu haben, sondern ihn daraufhin angegriffen und ihm erhebliche Verletzungen zugefügt.“

Ilian Quindt nickte: „Ich möchte das präzisieren. Er war Moraltheologe, obwohl diesem Schwein angesichts seiner Berufsbezeichnung die Schamröte hätte ins Gesicht schießen müssen.“

Auf eine so ungeschminkte Antwort war ich nicht gefasst. Ich schluckte.

„Herr Quindt“, begann ich vorsichtig, „könnten Sie mir schildern, was sich damals ereignet hat?“

Ich erwartete eine ablehnende Antwort. Er blickte mich an und entgegnete ernsthaft: „Das kann ich, Herr Steinle, das kann ich. Es war vor drei Jahren, im Herbstsemester, Mitte November. Damals studierte ich Theologie. Ich stand vor dem Studienabschluss.

Clemens, oh nein, Dr. Franz Clemens, so hieß er, war ein farbloser Typ mit einer kleinen runden Brille. Er wirkte wie jemand, der außer verstaubten Büchern, Gebeten und liturgischen Gesängen nichts von der Welt kennt, außer seinen schwülstigen Fantasien darüber.

Wir hatten damals im Rahmen eines Seminars über Unterrichtspädagogik ein Praktikum in einer Schule abzuleisten und machten unsere Beobachtungen zum Unterricht. Ich hatte die Erlaubnis, mich überall hinsetzen zu dürfen, um eine Position zu finden, von welcher aus ich am besten die Gesichter sehen und gut von den Lippen lesen konnte. Wahrnehmen kann ein Gehörloser gut, wahrscheinlich besser als jeder andere.“

Bei diesen Worten ließ er seinen Blick in Richtung Fenster schweifen:

„Ich saß in der Pause draußen und verfolgte das Treiben auf dem Pausenhof. Clemens redete etwas abseits mit einer Schülerin, die höchstens fünfzehn Jahre alt war. Ich saß ungünstig, konnte nur das Gesicht des Mädchens sehen und von ihren Lippen lesen. Sie hatte große dunkle Augen und einen sehr schönen Mund. Es ging um Nachhilfestunden, die sie bei ihm auf gar keinen Fall mehr nehmen wollte. Das konnte ich jedenfalls ihren Lippen entnehmen. Ich näherte mich unbemerkt und versuchte, einen Blickwinkel zu finden, um beide besser von der Seite beobachten zu können. Wenn ein Lippenleser gut ist, kann er das Gespräch selbst dann verfolgen.

Es war ungeheuerlich, was ich wahrnehmen und von den Lippen lesen konnte. Clemens setzte das Mädchen unter Druck. Er drohte ihr. Sie versprach ihm schließlich mit Tränen in den Augen, dass sie ihn wieder besuchen würde. Zuletzt lächelte er sie spöttisch an, reichte ihr die Hand und verabschiedete sich.

Ich schaffte es nicht, die junge Schülerin nach der Schule alleine anzusprechen. Sie machte sich im Kreis ihrer Freundinnen auf den Weg. Trotzdem stellte ich mich vor das kleine Vierergrüppchen, blickte sie an und mahnte sie, dass sie auf keinen Fall zur Nachhilfe gehen sollte.

Ich erntete pubertäres Gelächter von den anderen, sah aber das Entsetzen in den Augen des Mädchens. Dann beschimpfte sie mich, ich solle sie nicht anmachen und gefälligst in Ruhe lassen. Sie würde sich beim Rektor über mich beschweren.“

Ilian Quindt atmete schneller und schilderte die weiteren Ereignisse.

„Am nächsten Tag hatten wir erneut Unterricht bei Clemens. Ich stand mitten in der Schulstunde auf, schrie ihn an, dass er ein elendes Schwein sei, dass er eine Schülerin nötige, erpresse, wenn nicht noch mehr. Ich brüllte, ich würde ihn vor den Kadi bringen. Ich kochte vor Wut und hätte damals viel darum gegeben, meine eigene Stimme hören zu können. Er spielte den Fassungslosen, den Ahnungslosen, aber was ich in seinem Gesicht lesen konnte, gab mir die Gewissheit, dass ich recht hatte. Die Unterrichtsstunde wurde abgebrochen.

Noch am selben Tag zitierte man mich ganz nach oben. Ich erzählte, was ich wahrgenommen, was ich gesehen und von den Lippen gelesen hatte. Keiner glaubte mir und Clemens log, dass sich die Balken bogen. Das konnte ich in seinem Gesicht deutlich sehen, ohne es jemandem begreiflich machen zu können. Man verlangte von mir, ich sollte mich in aller Form bei ihm entschuldigen. Ungeachtet dessen würde man sich weitere Schritte gegen mich vorbehalten.“

Ilian Quindt hielt inne, holte sich ein Glas Wasser und trank es in einem Zug leer. Ruhiger werdend setzte er das Glas ab und sprach langsam weiter: „Ich wusste, wann Clemens morgens an der Schule eintreffen würde. Er kam immer früh mit dem Fahrrad, auch an jenem Morgen. Ich wartete auf ihn. Erstaunt bemerkte er, dass ich mich ihm näherte. Ich glaube, Clemens dachte, ich würde mich bei ihm entschuldigen. Ich schlug zu, heftig und mehr als einmal. Für die nächste Zeit hatte ich jedenfalls seine Nachhilfestunden unterbunden“, schloss Ilian Quindt grimmig seine Ausführungen.

Lange konnte ich nichts sagen.

„Herr Quindt“, begann ich dann, „soweit ich weiß, hat man Ihre Anschuldigungen damals nicht einfach ignoriert. Es gab Nachforschungen, Befragungen. Natürlich weiß ich, dass gerade beim Thema Missbrauch die Betroffenen häufig schweigen. Aber man befragte auch Freundinnen, Mitschülerinnen, Eltern, Lehrer. Nichts, gar nichts hat sich finden lassen. Ihre Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos, man muss es so sagen. Dieser Mann ist von jeglicher Schuld freigesprochen worden. Allerdings haben Sie seinem Ruf als Theologen erheblichen Schaden zugefügt.“

„Wenigstens das konnte ich erreichen“, zischte er zurück.

„Herr Quindt, ich will Ihnen damit sagen, ich meine, Sie haben schwerwiegende Vorwürfe erhoben, die nirgends Bestätigung fanden. Nur Sie ganz allein waren überzeugt, dass Sie die Wahrheit kannten.“

„Falsch“, unterbrach er mich scharf.

„Ich war damals überzeugt, und ich bin es noch heute.“

„Aber könnte es nicht sein, dass Sie einfach etwas Falsches wahrgenommen haben?“

Lange sah er mich an.

„Ich habe nichts Falsches von den Lippen gelesen, Herr Steinle“, entgegnete er fest. „Und noch etwas Wichtiges, etwas ganz Wichtiges, Herr Steinle. Ich verlasse mich nicht nur auf das, was ich von den Lippen lesen kann, sondern auf alles, was ich wahrnehme, wohlgemerkt auf alles.“

Der kompetente Psychologe in mir versuchte, wieder die Oberhand zu gewinnen: „Herr Quindt, natürlich sind unsere Gesten und Blicke, unsere Mimik immer die Begleiter des gesprochenen Wortes und erst alles zusammen macht die eigentliche Botschaft aus. Aber es gibt keine absolute Sicherheit, dass wir alles richtig wahrgenommen, richtig gedeutet und verstanden haben. Häufig führen unsere Wahrnehmungen zu falschen Einschätzungen, was zu Missverständnissen und zu falschen Schlussfolgerungen führt. Könnte es nicht sein, dass Sie ...“

„Nein“, stoppte er meine Erklärungsversuche, „meine Wahrnehmung hat mich nicht getäuscht, ganz sicher nicht, Herr Steinle“. Seine Betonung lag auf den Worten ‚meine Wahrnehmung‘. Er sprach diesen Satz mit einer Nachdrücklichkeit aus, dass ich beinahe den Faden verlor. Aber ich wollte mich nicht geschlagen geben.

„Herr Quindt, Sie sind also mit mir einer Meinung, dass bei einem Gespräch niemals nur Worte ausgetauscht werden. Wir teilen auf alle erdenklichen Arten dem anderen mit, was wir wollen, was wir denken und fühlen, was unsere Wünsche und Absichten sind, was wir vom anderen halten. Aber bei diesem Austausch passieren ständig Fehler. Wir können nicht absolut sicher sein, ob wir alle Botschaften korrekt entschlüsselt haben. Es ist vielleicht wie bei einem großen Orchester. Wir können nie alle Instrumente gleichzeitig hören und auf diese Weise feststellen, wie gut gespielt wird.“

Bei diesen Worten kam ich mir ungeheuer schlau vor.

Nur für einen Moment wirkte Ilian Quindt irritiert. Dann fing er an, laut und schallend zu lachen. Ich schaute ihn verwundert an, was sein Lachen noch mehr verstärkte.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich ausgerechnet bei dem gehörlosen Ilian Quindt einen akustischen Vergleich gewählt hatte. Oh Gott, war das peinlich. Als er sich beruhigt hatte, meinte er lächelnd: „Keine schlechte Metapher. Ich meine das mit dem Orchester, wirklich gut.“

Ich sagte nichts und fühlte mich bloßgestellt.

Seine Augen musterten mich aufmerksam, als er mich fragte: „Sie haben bestimmt noch nie mit einem Gehörlosen gearbeitet, Herr Steinle, nicht wahr?“

Ich nickte beschämt: „Ja, das ist richtig.“

„Jetzt möchte ich Ihnen, Herr Steinle, etwas erläutern. Jemand, der gehörlos geboren wird, kennt den Klang der Welt nicht. Er kann allerdings über Vibrationen und Schwingungen Töne und Laute erfahren, wussten Sie das?“ „Nein“, gab ich kleinlaut zu.

„Für jemanden wie mich, der sein Gehör plötzlich verloren hat, der sich aber genau daran erinnern kann, wie sich eine lachende, eine fröhliche Stimme, wie sich Vogelgezwitscher, das Zirpen einer Grille, ein Donnergrollen oder das Rauschen eines Platzregens anhört, ist es ein grausamer Verlust. Mein Gedächtnis martert mich beständig, dass es da draußen eine Welt voller Klang und Melodie gibt, die sich von mir abgewandt hat. Die Welt bleibt stumm, sie antwortet mir nicht mehr. Sie stößt mich weg, weist mich zurück, bestraft mich.“

Seine Worte klangen bitter. Ich schwieg und versuchte, seinem Blick auszuweichen. Nur sehr langsam ließ die Spannung im Raum wieder nach.

„So jedenfalls habe ich mich gefühlt, damals als Kind, als mit zwölf Jahren alles um mich herum plötzlich verstummte“, fuhr Ilian Quindt fort. „Erst ganz allmählich konnte ich begreifen, dass ich niemals mehr Töne und Worte hören würde. Aber zunächst konnte und wollte ich das nicht akzeptieren. Ich wehrte mich auf meine Art dagegen und wollte sterben.

Es war eine Krankenschwester, die mir wieder Lebensmut gab. Ich denke heute noch oft an sie. Die eiserne Johanna, so nenne ich sie gerne in meiner Erinnerung. Sie hatte ein Herz, so groß wie der Ozean, und die Kraft einer Löwin. Sie riss mich mit Energie und Schläue aus der Nebelwelt zurück, in der ich mich lange befand. Sie bläute mir ein, ich müsse von nun an mit den Augen lernen. Und sie können mir glauben, ich lernte, und wie. Ich lernte mit meinen Augen und mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden, der schwimmen muss, um zu überleben. Ich lernte gut. Meine Augen sollten und mussten mir meine Ohren ersetzen. Meine Augen wurden meine Tentakeln, meine Fühler und Greifarme, mit denen ich mir zurückholen wollte, was ich verloren hatte.“

Ich schwieg. Hier gab es nichts zu sagen und nichts zu fragen.

Erneut blickte er mich durchdringend an: „Im Augenblick spielt Ihr inneres Orchester jedenfalls recht harmonisch. Es ist schön, das zu sehen. Aber glauben Sie mir, Herr Steinle, meistens wird in diesen Kapellen furchtbar schlecht gespielt.“

Er schien auf meine Antwort zu warten.

„Sie meinen, dass falsch gespielt, dass gelogen wird?“

„Fast ununterbrochen“, antwortete er prompt. „Sie sind doch Psychologe, im Grunde ist das doch Ihr Fachbereich. Ich will Ihre Fähigkeiten nicht infrage stellen, aber dennoch bezweifle ich, dass Sie sich in solchen heuchlerischen Symphonien gut zurechtfinden. Kennen Sie Ihr eigenes Orchester wirklich? Wissen Sie, welche Instrumente bei Ihnen gerade angestimmt werden und wer die erste Geige spielen will?“

Ich hatte das Gefühl, in die Ecke gedrängt zu werden.

„Meinen Sie damit, dass wir uns gegenseitig ebenfalls belügen?“

„Nennen wir es vielleicht nicht belügen, aber wir beide sagen uns nur die halbe Wahrheit“, antwortete er ganz ruhig. „Wir tasten uns gerade ab. Ich meinerseits weiß noch nicht so recht, woran ich mit Ihnen bin, wieweit ich Ihnen vertrauen kann. Deshalb beobachte ich Sie aufmerksam, lausche auf alle Instrumente, die in Ihnen angestimmt werden. Auf der anderen Seite können Sie sich desgleichen noch kein genaues Bild von mir machen, trotz allen Aktenstudiums. Die vorläufigen Bilder entgleiten Ihnen. Sie versuchen angestrengt, sich an Ihrer beruflichen Professionalität festzuhalten und diese wie einen Schutzschild vor mir aufzubauen. Wie traurig.“

Mein Grummeln im Bauch ließ sich nicht unterdrücken.

Ilian Quindt wollte nun mich beruhigen: „Glauben Sie mir, Herr Steinle, ich bin kein Hellseher, aber dennoch stelle ich fest, ob die gesprochenen Worte das Gemeinte zum Ausdruck bringen, oder ob sie es verbiegen und verdrehen. Aber ich nehme auch das harmonische Spiel dieses inneren Orchesters wahr, wie zum Beispiel vorhin, als ich Ihnen etwas über meine Geschichte erzählte, waren Sie für kurze Zeit ganz dabei. Obwohl Sie kein Wort gesagt haben, waren Sie innerlich sehr präsent, authentisch, wie ihr Psychologen das wohl nennt. Herr Steinle, ich nehme wahr, dass Dr. Tanzer für den Tod von Frau Homfeld verantwortlich ist.“

Irgendwie wollte ich seinen Gedanken jetzt nicht mehr folgen. Mein Kopf war leer und erschöpft. Für heute musste es genug sein. Wir vereinbarten für den kommenden Montagvormittag einen weiteren Termin.

T A U B

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