Читать книгу T A U B - Wolfgang Hölzle - Страница 7
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Оглавление„Wann kommt er denn endlich, Papa?“, drängelte Ilian immer ungeduldiger.
„Er wird schon kommen. Badru hat uns bisher noch nie im Stich gelassen“, beruhigte ihn sein Vater.
Dann hörten sie den Jeep mit dem kaputten Auspuff schon von Weitem. Er fuhr merklich langsamer als sonst.
Als das Fahrzeug anhielt, stieg aber nicht Badru aus. Ein hagerer kleiner Mann, dessen Alter nur mit Mühe zu schätzen war, kletterte aus dem Fahrzeug. Er zupfte an seinem übergroßen Hemd, klopfte auf seine abgewetzten Jeans, aus welcher Staubwolken entwichen. Suchend blickte er umher, entdeckte den Mann mit dem Kind, entblößte seine Zähne und ging mit breitem Lächeln auf die beiden zu.
In einem passablen Englisch begrüßte Joshua unter Verbeugungen Michael Quindt und seinen Sohn Ilian. Die beiden erfuhren nun, dass heute Badrus Onkel, Joshua, die Fahrt ins Hinterland übernehmen würde.
Ilian wollte unbedingt noch einmal Antilopen sehen und vielleicht Gazellen oder Wasserbüffel oder auch Nashörner. Die unzähligen rosagefiederten Flamingos am Nakurusee hatten ihn weniger begeistert als alle anderen Wildtiere. Vielleicht, ja vielleicht war es noch einmal möglich, einen Löwen zu sehen. Ihre Reise neigte sich dem Ende zu und Ilian war ein wenig enttäuscht, hatte er doch nur zwei Mal ganz aus der Ferne ein Löwenrudel ausmachen können. Michael Quindt teilte Joshua die Wünsche seines Sohnes mit.
In gebrochenem Englisch antwortete Joshua, dass es nur möglich sei, entweder Antilopen, Gazellen und Wasserbüffel zu sehen oder eben Löwen. Beides zugleich sei nicht machbar.
Der Vater teilte dies seinem Sohn mit, der sich mit dem einzigen Wort, das er in Swahili kannte, sofort entschied:
„Simba, Simba.“
Joshua blickte den neugierigen Jungen an, strahlte aus all seinen Zahnlücken und bedankte sich bei dem kleinen Ilian, der sich darüber ebenso wunderte wie sein Vater.
Eine Stunde fuhren sie nun schon den Bergen entgegen, ohne dass diese sich merklich näherten. Unmerklich wuchsen aus der Savanne kleine Hügelketten hervor, die der letzte Gewitterregen für kurze Zeit in einen lebendig grünen Fleckenteppich verwandelt hatte. Ein fremdartiger Duft wehte Michael Quindt hier um die Nase, der ihn an die längst vergangene Motorradfahrt durch die Eukalyptuswälder Madeiras erinnerte.
Ab und zu huschten ein paar Antilopen vorbei und eine kleine Elefantenherde erntete geruhsam in den Büschen. Ilian und sein Vater waren indessen mehr damit beschäftigt, sich im Jeep festzuhalten, als die Tiere zu beobachten. Ein heftiger Regenguss hatte die Schlaglöcher noch tiefer ausgewaschen, und der Jeep schüttelte seine Insassen erbarmungslos durch.
Nach einer Weile hielt Joshua das Fahrzeug an und gönnte seinen Passagieren eine kleine Verschnaufpause.
Ilian suchte mit dem Fernglas die Umgebung nach Tieren ab, ohne nennenswerten Erfolg. Sein Vater betrachtete den Himmel. Unzählige kleine Wolkenschiffchen mit grauem Kiel und flauschig weißen Segeln wurden vom Wind wie eine riesige Armada nach Osten gezogen. Am Horizont türmten sich bedrohliche Wolkenberge auf.
Joshua stand währenddessen aufrecht wie ein Soldat vor dem Jeep und wartete. Dann bat er die beiden, wieder in den Wagen zu steigen, es sei nicht mehr weit. Michael Quindt musste im Fahrzeug plötzlich entsetzlich husten und Blut spucken, aber er verbarg es geschickt in einem Taschentuch, sodass Ilian es nicht bemerkte.
Noch eine viertel Stunde meldete die harte Federung die Fahrbahnbeschaffenheit rücksichtslos an die Passagiere zurück, bis Joshua abrupt anhielt. Er blickte sich um, drehte dann das Steuer nach rechts, drückte das Gaspedal und fuhr in hohem Tempo quer durch die Graslandschaft.
Michael wollte ihn gerade ungehalten fragen, wie lange die Fahrt noch dauern würde, als ein neuer Hustenanfall ihn daran hinderte.
Joshua trat unvermittelt auf die Bremse. Jetzt entdeckten sie den kleinen Fluss, der viel lehmig braunes Wasser mit sich führte.
Michael Quindt wollte etwas sagen, aber Joshua bedeutete ihm mit entschiedener Handbewegung, zu schweigen. Er befahl beiden, im Jeep sitzen zu bleiben. Ganz vorsichtig stieg er aus. Das winzige Bachbett hatte sich in einen Fluss verwandelt, der das Ufer überflutete. Die heftigen Gewitter hatten hier ihre Spuren hinterlassen. Hier würden sich heute keine Tiere zeigen, dachte Joshua. Er setzte sich wieder ans Steuer und bewegte den Geländewagen langsam den Fluss entlang aufwärts, bis ein mächtiger Felsanstieg ihnen die Weiterfahrt versperrte.
Sein Herz schlug laut. Genau hier, vor den Felsen im Bachbett, hatte sein Großvater vor vielen Jahren den Regen herbei gesungen. An diese Stelle hatten die Ahnen ihn in der letzten Nacht geführt, da gab es keinen Zweifel. Mit zitternder Hand stellte er den Motor ab und kletterte aus dem Jeep. Ein tosender Wasserfall stürzte zwischen den Felswänden hervor, die unter dem Wasserdruck beinahe auseinanderzubrechen drohten. Das ausgetrocknete Bachbett hatte sich in eine brodelnde Mulde verwandelt. Von hier aus wälzte sich das braune Wasser weiter talwärts. Nichts erinnerte mehr an die Stille des Ortes, den er vergangene Nacht gesehen hatte.
Nacheinander stiegen Michael und sein Sohn aus dem Fahrzeug.
Joshua erklärte ihnen, dies hier sei ein heiliger Ort. Er bat sie, ihre Schuhe auszuziehen. Ilian zögerte, aber sein Vater nickte ihm ermunternd zu. Langsam stapften sie über die Grasnaben zum Ufer. Vom Wasserfall wehte eine kühle Brise herüber.
Joshua verbeugte sich mehrmals vor dem Fluss und wies die beiden an, es ihm gleichzutun. Dann stand er regungslos vor dem Gewässer und summte eine kleine Melodie. Urplötzlich hörte er auf und erklärte den beiden, dass sie heute leider keine Tiere sehen könnten. Die Geister hätten mit dem erbosten Wasser alle Tiere verjagt.
Seine Fahrgäste nahmen dies enttäuscht zur Kenntnis und setzten sich an das Flussufer. Ilian kerbte mit einem Stein Figuren in den feuchten Ufersand und sein Vater sah dem Wasserstrom zu, wie er in der Ferne hinter einer Biegung verschwand.
Nach einiger Zeit wollte Joshua die beiden wieder zum Aufbruch bewegen. Michael Quindt, der nach einem weiteren Hustenanfall wieder freier atmen konnte, erklärte ihm, dass sie noch ein wenig hier bleiben würden.
Gedankenverloren betrachtete er seinen Sohn, der selbstvergessen die Umrisse eines Elefanten in den Sand zeichnete. Er wünschte sich, die Zeit möge stehen bleiben. Doch er wusste, dass sie für ihn sehr bald abgelaufen sein würde.
Joshua trottete unterdessen zum Jeep zurück und leerte fast die ganze Flasche Wasser. Warum hatten die Ahnen ihn zu diesem Ort geführt? Er hatte nichts falsch gemacht. Aber der Mann ohne Ohren war nicht da. Er setzte sich in den Wagen, verscheuchte die Ameisen, die seinen Jeep erkundeten und schloss einfach ein wenig die Augen.
Michael Quindt blickte zum Horizont. Die Sonne umhüllte die Bergkette mehr und mehr mit einem rötlichen Schleier. Auf einmal bemerkte er, dass sich das hohe Gras auf der anderen Seite eigenartig bewegte. Ja, auf der anderen Seite des Flusses streifte zweifellos etwas durch das Gestrüpp. In gleichmäßigen sanften Bewegungen teilten sich hohe Halme und fielen wieder zusammen.
Michael rief seinen Sohn: „Ilian, schnell, komm her.“
Ilian rannte zu seinem Vater, der ihm mit der Hand die Richtung wies, wo irgendetwas gemächlich durch das Gras schlich, langsam und ruhig, zuerst ein Stück flussabwärts, dann wieder zurück.
„Löwen?“, fragte Ilian aufgeregt und hielt sich am Ärmel seines Vaters fest.
Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, traten zwei mächtige Löwen aus dem hohen Gras heraus und näherten sich ganz ohne Eile dem Flussufer. Sie beachteten die beiden Menschen auf der anderen Seite gar nicht. Schon längst hatten sie deren Witterung aufgenommen und sie bereits eine Weile genau beobachtet.
Joshua war unterdessen auf seinem Fahrersitz eingenickt. Eine große Ameise krabbelte an seinem Bein hoch und weckte ihn auf. Er gähnte. Als er seinen Kopf zum Ufer drehte, erstickte er mit Mühe einen Schrei.
Auf der einen Seite Vater und Sohn, auf der anderen Seite des Flusses zwei riesige Löwen, die sich ganz nahe am Ufer befanden. Er hielt sich den Mund zu, um nicht tatsächlich zu schreien. Zitternd suchten seine Hände den Wanderstock und umfassten ihn.
Dann nahm er all seinen Mut zusammen. Er trug die Verantwortung für die beiden. Schlotternd stieg er aus, näherte sich dem Ufer und bemühte sich, hastige Bewegungen zu vermeiden.
Michael Quindt sah in ein schweißnasses Gesicht, als Joshua neben ihm auftauchte. Dieser brachte in seiner Angst kein einziges englisches Wort mehr heraus, flüsterte heiser etwas in Swahili, unterstrich aber mit seinen Handbewegungen, dass sie sich schleunigst in den Wagen setzen sollten.
„Just one moment“, versuchte Michael den Fahrer zu beruhigen, hatte aber selbst doch ein mulmiges Gefühl. Dennoch wollte er unbedingt seinem Sohn diesen Anblick noch etwas länger gönnen.
Ilian registrierte Joshuas Angst gar nicht. Er war einfach sprachlos vor Glück.
Die Löwen standen jetzt direkt vor dem braunen Wasser, schnupperten daran und tranken ein wenig. Mit einem beherzten Sprung hätten sie das andere Ufer erreichen können.
Dann reckten die beiden Tiere ihre Köpfe und betrachteten in aller Ruhe die drei Menschen auf der anderen Seite, einen nach dem anderen.
Auf einmal ruhten ihre Augen ganz auf Ilian. Sein Vater zog ihn ganz zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr:
„Ilian, schau doch, sie sehen dich an, sie sehen dich wirklich an.“
Der Junge hatte mit seinen neun Jahren, umarmt von seinem Vater, keinerlei Angst vor den Löwen, sondern war restlos begeistert.
Nur Joshua zitterte. Auch er registrierte, dass die Löwen den Jungen genau in ihrem Blick hatten, ihn mit großen Augen festhielten, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Mit einem Mal wich Joshuas Angst einem unsäglichen Erstaunen. Er sah es in ihren Augen, die Löwen fixierten den Jungen gar nicht mit spitzen und scharf gestellten Pupillen. Sie suchten keine Beute. Die Pupillen der Löwen strahlten groß und weit wie die Augen der Nacht. Noch nie hatte er so etwas gesehen. Aufmerksam hielten sie mit ihren Nachtaugen den Jungen fest.
Nur Löwen, so erinnerte sich Joshua an die Worte seines Großvaters, seien in der Lage, mit den großen Augen der Nacht das ganze Leben eines Menschen von der Quelle bis zur Mündung wahrzunehmen, ihn zu durchdringen bis in die entferntesten Winkel seiner Seele.
Wieder murmelte Joshua etwas Unverständliches in Richtung Ilians Vater und berührte dabei mit seinen Fingern die Stirn des Jungen.
All das bemerkte Ilian gar nicht. Er war nur unbändig stolz, dass die Könige der Savanne ihm so viel Beachtung schenkten.
Dann hielt es Joshua nicht mehr aus. Der englischen Sprache wieder mächtig, wies er die beiden energisch an, sie sollten unverzüglich in den Jeep steigen. Michael schleppte Ilian widerstrebend in das Fahrzeug. Sein Sohn konnte den Blick nicht von den Löwen lassen. Joshua startete den Motor und brauste los, fuchtelte dabei ununterbrochen mit den Händen und stieß merkwürdige Laute aus.
Ilian schaute zurück. Die Löwen rührten sich nicht von ihrer Stelle und schauten dem Jeep nach.
Zurück im Hotel redete Joshua noch aufgeregter als zuvor auf Ilians Vater ein, der ihm verwundert zuhörte. Dabei steckte er die Geldscheine für seine Dienste ein, bedankte sich und wiederholte noch einmal eindringlich seine sonderbaren Sätze. Zuletzt verbeugte er sich tief vor den beiden und berührte noch einmal Ilians Stirn.
Sein Vater wollte den Safariführer fotografieren, was dieser ängstlich ablehnte, sich aber bereit erklärte, von Vater und Sohn ein Foto zu schießen. Er knipste, drückte Michael Quindt den Apparat in die Hände, sprang in seinen Jeep und fuhr davon.
„Was hat er denn?“ fragte Ilian seinen Vater.
Dieser ging vor seinem Sohn in die Hocke und lächelte ihn an: „Joshua meinte, die Löwen seien nicht auf der Jagd gewesen, das hätte er in ihren Augen gesehen. Er war überzeugt, dass die Löwen wussten, dass du hierher kommst. Sie seien nur deinetwegen am Ufer erschienen, nur um dir zu begegnen. Er sagte, dass du nicht vergessen darfst, was sie dir mit ihren Augen anvertraut haben.“
Ilian verstand überhaupt nicht, was sein Vater ihm da erzählte.
„Aber Löwen können doch nicht mit den Augen sprechen“, entgegnete der Junge verstört.
„Ja, das stimmt. Aber vergiss trotzdem nicht, was ihre Augen gesagt haben.“ Michael streichelte ihm dabei durch sein dichtes Haar.
Es war schon dunkel, als Joshua unterwegs anhielt und den Wanderstock umfasste. Er stieg aus, den Stock in der Hand, und betrachtete den Mond, der weit im Osten hinter den Bergen emporstieg.
Er wusste, die Ahnen hatten ihn heute geleitet. Doch sie hatten ihm erneut Rätsel hinterlassen. Warum hatten sie aus dem stillen heiligen Ort einen zornigen Fluss gemacht? Und die riesigen Löwenaugen? Sie hatten den Jungen erkannt, aber wie konnte das sein? Sein Großvater hätte alles gewusst. Und wo war der Mann ohne Ohren? Er schämte sich für einen Moment, weil er sich bemühte, wie die Weißen zu fragen und zu denken. Sein Großvater war überzeugt, dass die Weißen mit ihrem Denken die Welt in Stücke teilten und damit nur Verwirrung, aber keinen Frieden finden würden.
Joshua seufzte, verstaute den Wanderstock wieder im Jeep, fuhr in die Stadt zurück, übergab seinem Neffen den Geländewagen und das ganze Geld, bedankte sich noch einmal bei ihm und machte sich mit dem Stock in der Dunkelheit auf den Heimweg.
Als er spät in der Nacht in seinem Bett lag, breitete sich eine wohltuende Wärme und Ruhe in ihm aus. Er spürte, dass es noch irgendetwas zu tun gab, aber es beunruhigte ihn nicht mehr. Denn jetzt wusste er, dass die Ahnen ihn leiten und ihm den Weg weisen würden, seine Aufgabe zu Ende zu bringen. In dieser Nacht fiel Joshua in einen langen traumlosen Schlaf.
Zwei Tage später fuhren Michael Quindt und sein Sohn Ilian in einem scheppernden Taxi zum Bahnhof. Während der Zugfahrt ließen sie sich noch ein letztes Mal von der Weite des Landes, von den Farben und den fremden Gerüchen verzaubern.
Am Abend stiegen sie in Nairobi ins Flugzeug.
Ihre Safarireise war zu Ende.