Читать книгу Platons "Staat" - Wolfgang Kersting - Страница 25
b) Zwei Lösungen des Gyges-Problems
ОглавлениеMit der Gyges-Parabel begegnet uns eine rationalitäts- und spieltheoretische Musterargumentation avant la lettre. Wie Odysseus ist auch Gyges eine spieltheoretische Ikone. Zeigt ersterer, daß unter bestimmten Bedingungen ein Rationalitätsgewinn nur duch Bindung, durch wirksame institutionelle Freiheitseinschränkungen erreicht werden kann, so dient letzterer als Testfall für die Wirksamkeit einer derartigen institutionellen Ordnung. Daher vermag die neuzeitliche politische Philosophie in der Gyges-Parabel auch die Umrisse ihres grundlegenden Problems wiederzuerkennen. Für Hobbes und alle politischen Institutionalisten ist der Gyges in jedem von uns ein Grund, die Rahmenbedingungen individueller Interessenverfolgung so zu gestalten, daß die Ungerechtigkeit, das Schwarzfahren keinerlei Gewinn mehr abwirft. Da jeder ein potentieller Defektor ist, benötigen wir defektionsresistente Institutionensysteme. Denn für den politischen Philosophen ist es nicht von Belang, aus welchen Gründen ein für notwendig erachtetes Normensystem respektiert wird; ihm geht es nur darum, daß es respektiert wird; und dabei geht er am besten so vor, daß er nicht von entgegenkommenden, gehorsamsbereiten und besonnenen Bürgern, sondern von einem Volk von Teufeln oder einer Bande von Schwarzfahrern ausgeht. Ob die Gerechtigkeit also ein für sich selbst erstrebenswertes Gut ist oder nicht, interessiert ihn nicht; es zählt allein, daß das als Gerechtigkeit bezeichnete Normensystem effektiv ist, die fällige politische Stabilität ermöglicht und die erforderlichen Koordinationsleistungen erbringt.
Während die politische Philosophie der Neuzeit also mit dem Gyges in jedem von uns rechnet und daher Gyges-feste Ordnungen ersinnt, ist Glaukon dieser Ausweg versperrt. Eine politische Lösung des Gyges-Problems kann ihm nicht helfen, da diese ja von der agathologischen Eigenwertigkeit der Gerechtigkeit unabhängig ist, Glaukon aber gerade an einer Gerechtigkeit interessiert ist, die um ihrer selbst willen erstrebenswert ist. Damit, daß Gyges durch effektive Normendurchsetzung unschädlich gemacht wird, kann sich Glaukon nicht begnügen; er verlangt einen Sieg der Gerechtigkeit über Gyges, er will von Sokrates Argumente hören, die den Gyges in uns zum Verschwinden bringen.
Denn das Gyges-Problem ist aus moralphilosophischer Perspektive weitaus bedrohlicher als aus dem institutionalistischen Blickwinkel der neuzeitlichen politischen Philosophie. Für die politische Philosophie stellt Gyges nur ein institutionentechnisches Problem dar, das durch geeignete, auf eine strikte Gleichverteilung der Kooperationslasten achtende Einrichtungen gelöst werden kann. Für die Moralphilosophie ist Gyges von lebensbedrohlicher Bedeutung, denn ihre Existenz hängt an der Widerlegbarkeit der Gygesschen Lebensführungsstrategie. Sie kann zu externen Lösungsstrategien keine Zuflucht nehmen, sie benötigt eine interne, auf Einstellungsbildung und Seelenformung gerichtete Lösungsstrategie. Wenn es nicht gelingt, den Gyges in uns zu überwinden, wird die Gyges-Parabel zu einer Parabel von der Unmöglichkeit der Moralphilosophie, von der Unmöglichkeit, Gerechtigkeit als ein für sich selbst erstrebenswertes Gut zu betrachten und zu verteidigen. Dort also die externe politische Lösung einer Gyges-festen äußeren Ordnung, hier hingegen die interne, ungemein anspruchsvollere und radikalere, moralische Lösung einer Gyges-freien Seele.
Moral und Politik lassen sich also dadurch unterscheiden, daß sie für die Auflösung des Gyges-Problems unterschiedliche Lösungen favorisieren. Die Politik, zumal die neuzeitliche, gibt eine hobbessche Antwort auf das Gyges-Problem. Um die rationale Überlegenheit des Zustandes allseitiger Kooperativität gegenüber dem Zustand allseitiger Konkurrenz zu sichern, darf der parasitären Strategie des Schwarzfahrers kein Erfolg beschieden sein, darf es kein gygessches Biotop, keinen rechtsfreien Raum geben. Der Staat ist genau die Instanz, die den Zustand allseitiger Kooperativität durch ein System von Zwangsnormen befestigt; der Leviathan duldet keine rechtsfreien Räume. Aber Glaukon ist nicht an einer politikphilosophischen Lesart der Gyges-Parabel interessiert, sondern an einer moralphilosophischen. Ihm geht es nicht darum, einen Leviathan der machtbewehrten Gerechtigkeit auszurufen, der alle rechtsfreien Räume schließt und strafloses Unrechttun erheblich erschwert oder gar unmöglich macht. Ihm geht es vielmehr um ein moralisches Argument, das ein so überzeugendes Loblied der Gerechtigkeit zu singen weiß, daß Gyges seinen Ring wegwirft. Nicht darum geht es, die Gerechtigkeit Gyges-resistent zu machen, sondern Gyges gerechtigkeitsempfänglich; nicht darum geht es, die Verwirklichungsbedingungen der Gerechtigkeit zu optimieren, sondern Gyges zu verändern.
Indem die Gyges-Parabel die deprimierende Botschaft von der allgemeinen Bereitwilligkeit zum straflosen Unrechttun verkündet, macht sie zugleich deutlich, welche Überzeugungsleistung die moralische Gerechtigkeitstheorie erbringen muß. Denn nur dann kann Gyges gerechtigkeitsempfänglich werden und den Ring fortwerfen, wenn die Gerechtigkeit einen Wert in sich selbst trägt und für den Menschen von größerem Nutzen als die Ungerechtigkeit ist. Nur dann, wenn der Gewinn der Gerechtigkeit jeden Vorteil straflosen Unrechttuns übersteigt, wird Gyges auf die Möglichkeiten, die ihm der Ring bietet, verzichten. Gyges ist ein mächtiger Gegner, der sogar die Argumentationsbedingungen seiner eigenen Widerlegung diktiert. Die agathologische Analyse der Gerechtigkeit ist in einen kompetitions- und präferenzlogischen Rahmen eingespannt, der die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit zu einem eudämonistischen Leistungsvergleich auffordert und dabei doppelt konsequentialistisch vorgehen muß, die jeweiligen Außenwirkungen als auch die jeweiligen Binnenwirkungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen hat.