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4. Vollendete Ungerechtigkeit und Gerechtigkeitsanschein (360 e – 361 b)

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Wie ist nun das Leben des Gerechten und des Ungerechten zu beurteilen? In dieser zweiten Untersuchung will Glaukon die Volksmeinung über Lohn und Preis der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit wiedergeben. Und dabei, so schlägt er vor, befleißigt man sich am besten eines sich auf Idealtypisierung verlegenden methodologischen Extremismus, nimmt den Gerechten wie den Ungerechten jeweils in seiner "schärfsten Ausprägung“ (359 e), also als vollkommene Vertreter ihrer jeweiligen Lebensrichtung, als Meister, die auf der Höhe ihrer Kunst stehen. Und worin zeigt sich die Meisterschaft im Ungerechtsein? Nicht so sehr darin, der Ungerechteste von allen zu sein, sondern in der Kunst, trotz aller an den Tag gelegten Ungerechtigkeit für einen Gerechten gehalten zu werden. Denn wer ist der bessere Schwarzfahrer? Der, dem seine Missetat vom Gesicht ablesbar, der von seiner Schuld schon übermannt ist, bevor man ihn entdeckt hat? Oder der, dem nichts anzumerken ist, der sich von den anderen, die allesamt ihre Fahrkarte gelöst haben, in nichts unterscheidet? Und vollendeter noch in der Ungerechtigkeit als der, der in der Ungerechtigkeit unauffällig bleibt, ist der, der trotz aller Ungerechtigkeit für einen gerechten Mann gehalten wird. Das ist schlechthin der "Gipfel der Ungerechtigkeit: gerecht scheinen, ohne es zu sein“ (361 a).

Nicht von ungefähr erinnert diese Bestimmung an den Rat, den der Fürstenberater Machiavelli dem Fürsten gibt: nicht tugendhaft zu sein, sondern tugendhaft zu scheinen. Letzteres ist vorteilhaft, da die Tugend geschätzt wird; ersteres ist hingegen höchst unvorteilhaft, da dem Tugendhaften all die Handlungen nicht mehr zur Verfügung stehen, die seiner tugendhaften Gesinnung entgegenlaufen, er darum in seiner Interessenverfolgung also beträchtlich begrenzt ist. So wie der vollendete Machtpolitiker machiavellischer Provenienz einer ist, der sich virtuos des Tugendanscheins zu bedienen weiß, ohne von Tugenden eingeengt zu werden4, so ist hier der exzellente Ungerechte der, der seine Ungerechtigkeit hinter einem Gerechtigkeitsschleier zu verbergen weiß, der es geschafft hat, sich einen Ruf der Gerechtigkeit zu erwerben und zu erhalten. Der vollendet Ungerechte ist also ein Wolf im Schafspelz, der virtuos an seiner moralischen Erscheinung arbeitet und sich den moralischen Vorurteilen der Gemeinschaft äußerlich eng anzuschmiegen weiß, der sich bei seinen Übeltaten so geschickt verhält, daß man meinen könnte, er wäre durch die Unsichtbarkeit des Gyges-Ringes geschützt.

Schauen wir von dieser Bestimmung des ungerechten Handelns im Vollendungsstadium zurück auf die Äußerungen über Stärke und Schwäche und ihren Zusammenhang mit der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit, dann erfährt die rationalitätstheoretische Interpretationsperspektive zusätzliche Bekräftigung. Glaukons Bild des exzellenten Ungerechten zeigt einen durch und durch rationalen und amoralischen Egoisten, der sich nicht nur um seine jeweiligen Interessen kümmert, sondern sich auch um seine Zukunft sorgt und darum auf ein günstiges soziales Handlungsklima achtet und die dafür notwendigen Investitionen tätigt. Und da er in einer moralischen Welt möglichst effektiv seine Interessen durchsetzen möchte, ist es nicht nur vorteilhaft, sich nicht durch Gerechtigkeitsüberlegungen lähmen zu lassen, sondern auch, die Meinungen der Menschen auf seiner Seite zu haben und für einen gerechten Menschen gehalten zu werden. Kaum jemand könnte weiter von der Ikone des heroischen Individualismus entfernt sein als dieser gerissene Egoist, der die moralischen Vorurteile der Gerechtigkeit bedient und vorgibt, einer wie alle anderen zu sein, um in der sicheren Tarnung der Gerechtigkeit effektiv, unauffällig und dauerhaft auf Kosten aller und der Allgemeinheit ungerecht sein zu können. Hier geht es nicht um die normsprengende Freiheit, um das nur seinem eigenen Gesetz folgende Individuum; hier geht es nicht um die spektakuläre Verachtung des Allgemeinen und die Verhöhnung des moralischen Köhlerglaubens des Man. Hier wird eben nicht der plakative Kontrast gesucht, die große Geste, durch die sich das eine Individuum in seiner Freiheit von dem Hintergrund der Normen, Gebote und Konventionen abhebt; hier geht es um die Vorteile der Tarnung, der Unauffälligkeit, der Heuchelei, der Mimikry. Keine Ungerechtigkeit kann wirkungsvoller tätig werden als die unbemerkte; und keine Ungerechtigkeit ist weniger bemerklich als die, die für Gerechtigkeit gehalten wird.

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