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VII. Der Parallelismus von Polis und Seele (368 d – 369 a)
ОглавлениеDieser Umweg ist aber keine Abschweifung, die das Ziel aus den Augen verliert; und wenn ein Umweg etwas ist, auf dem man sein Ziel langsamer und mit größeren Mühen erreicht, dann ist der Umweg über die Betrachtung der Gerechtigkeit im Gemeinwesen noch nicht einmal ein Umweg. Im Gegenteil, für uns, die wir beträchtliche Schwierigkeiten mit der Gerechtigkeit haben und ihr Wesen nur mühsam enträtseln können, ist es der direkteste Weg zum Ziel, da wir nur über den Weg einer Betrachtung der Gerechtigkeit im Gemeinwesen die Natur der Gerechtigkeit erkennen können. Und da wir ihre Natur kennen müssen, um zuverlässig über ihre Bedeutung im menschlichen Leben und ihren internen und externen Lohn im Diesseits wie im Jenseits urteilen zu können, gelangen wir nur über die Gerechtigkeit im Gemeinwesen zur Gerechtigkeit im Einzelmenschen8.
Sokrates beginnt seinen Lehrvortrag mit einer methodologischen Ausführung, die diesen thematischen Wechsel von der ethischen Dimension individueller Lebensgestaltung zur politischen Dimension kollektiver Lebensgestaltung erklären und rechtfertigen soll.
"Die Frage, an die wir jetzt herantreten, fordert, wie mir scheint, kein schwaches, sondern ein scharfes Auge. Da wir nun keine Weisheitshelden sind, so bin ich dafür, daß wir uns mit unserer Untersuchung nach einem Muster wie dem folgenden richten: wenn jemand Leuten, die nicht besonders scharfsichtig sind, die Aufgabe stellt, kleine Buchstaben aus der Ferne zu lesen, und dann einer merkt, daß es dieselben Buchstaben auch anderswo größer und an Größerem gibt, so wäre das, dächt ich, ein wahrer Glücksfund: wir könnten erst diese lesen und dann die kleinen daraufhin ansehen, ob sie auch wirklich dieselben sind“ (368 d).
Um die individualethische Kurzsichtigkeit zu überlisten, schiebt Sokrates dem Gerechtigkeitsinteresse einen anderen Gegenstand unter, den politisch-institutionellen Kontext eines Gemeinwesens; denn dort, am Größeren, läßt sich die Gerechtigkeit weitaus besser studieren als am Kleineren, dem Einzelmenschen.
Sokrates will seinen Zuhörern also eine Lupe, ein Vergrößerungsglas in die Hand drücken: Sichtbarmachung durch Maßstabsvergrößerung lautet die methodologische Maxime. Die politische Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit im Gemeinwesen, ist die Gerechtigkeit in Majuskeln, die individualethische Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit in der Seele, ist die Gerechtigkeit in Minuskeln. Dieser Schachzug zur Verbesserung der Sichtverhältnisse ist jedoch nicht ohne Schwierigkeiten. Unschwer ist der Zirkel in Sokrates’ Methodologie zu erkennen: Wie will er denn prüfen, ob die kleine Schrift der großen Schrift entspricht, wenn er die kleinen Buchstaben gar nicht entziffern kann? Am Rande sei vermerkt, daß der in Sokrates’ methodologischer Auslassung wirksame Zirkel seinen genauesten Ausdruck im Storchschnabel, im Pantographen findet. Der Pantograph ist ein Vergrößerungsinstrument, das anders als das Vergrößerungsglas nicht raumpunktidentisch ist, sondern die Vergrößerung des Ausgangsobjekts an einer anderen Stelle des Raumes durch maßstabgerechte Übertragung seiner Konturen entstehen läßt. Ausdruck des Zirkels ist der Pantograph, weil er geradezu seine verfahrensinstrumentelle Einlösung darstellt. Besagt der Zirkel, daß wir das Größere nur dann als das Größere des Kleineren erkennen können, wenn wir einen hinreichend differenzierten Vorbegriff des Kleinen haben, so stellt der Pantograph diese regressive Bedingungsrelation als progressive Konstruktionsgeschichte selbst her; denn das durch ihn geschaffene Große kommt nur als Vergrößerung eines Kleinen in die Welt, das seinerseits für sich hinreichend konturenscharf erfaßbar sein muß, damit der Führstift die Umrisse nachzeichnen und so den Folgestift zuverlässig leiten kann.
Es ist evident, daß der gerechtigkeitsphilosophische Umweg über das Gemeinwesen nur dann nicht in eine Sackgasse führt, wenn die kleinen und die großen Buchstaben sich zu einem bedeutungsidentischen Text zusammenfügen, wenn der Gerechtigkeitstext im individualpsychologischen und im politisch-institutionellen Kontext gleich ist, wenn wir nur eine die Lesbarkeit betreffende Unterscheidung der Schreibweise vor uns haben und keine das Verständnis betreffende Bedeutungsdifferenz. Nur unter dieser Voraussetzung können politische Selbstauslegung und individualethische Selbstauslegung einander den Spiegel vorhalten: die Seele muß sich im Staat erkennen und der Staat in der Seele; der Staat wird zu einem großen Menschen, und die Seele wird zu einem kleinen Gemeinwesen. Dieser methodologische Analogismus von Staat und Seele ist ungemein folgenreich. Er bereitet dem uns vertrauten metaphorologischen Austausch von Sprachbildern zwischen Anthropologie und Politik gleichsam die grammatische Grundlage, denn ohne hinreichende basale Gemeinsamkeit können die anthropologischen und die politischen Sprachbilder auf dem je gegenüberliegenden Terrain nicht für Veranschaulichungszwecke verwendet werden.
Er enthält jedoch auch wesentlich weiter reichende inhaltliche Festlegungen und Vorentscheidungen, die vor allem dann in den Blick kommen, wenn man dem Problem der Einheitsbildung nachgeht. Politische Einheit muß der Seeleneinheit in signifikanter Hinsicht gleichen, muß das hohe Maß an interner Einheit aufweisen, das die Seele als inneres Organisationsprinzip des menschlichen Einzellebens auszeichnet. Umgekehrt muß die Seele hinwiederum ihre innere Organisation als Herstellung einer Einheit von Teilen auslegen. Weiterhin muß die politische Organisation ebenfalls die Selbstreferentialität aufweisen, die der Seele eignet; die seelische Organisation ist menschliche Selbstorganisation, bildet die Grammatik menschlicher Selbstbestimmung; entsprechend muß die Politik Platons unter der Beleuchtung des methodologischen Analogismus ebenfalls als Selbstorganisation begriffen werden, freilich ohne ihr dabei all die demokratischen Assoziationen aufzubürden, die für den modernen Politikbegriff der gesellschaftlichen Selbstbindung und Selbstbestimmung kennzeichnend sind. Bildlich gesprochen: der Analogismus verlangt, den Staat selbst als Seele zu lesen, denn der gerechtigkeitstheoretische Vergleich setzt nicht die Seele des Einzelmenschen zum Äußeren des makros anthropos in Beziehung, sondern zur Seele des makros anthropos. Politik, im Lichte dieser Analogie von Seele und Gemeinwesen betrachtet, ist Staatsseelenlehre. Man darf sich von Platons Überlegungen zur Arbeitsteilung und ständischen Ordnung nicht täuschen lassen, nicht um die institutionellen Dimensionen des Zusammenlebens geht es ihm, sondern um die ethischen Dimensionen; nicht um die äußere Verfassungsordnung, sondern um die innere – ethische – Verfaßtheit des Gemeinwesens, um seine Seele. Und diese Seele des Gemeinwesens ist nichts anderes als der allgemeine Ausdruck der vorherrschenden Seelenverfassung der Bürger; wie umgekehrt die vorherrschende Seelenverfassung nichts anderes ist als die Repräsentation der allgemeinen inneren Ordnung in der Seelenstruktur des Individuums. Letztlich expliziert Platon politisches Leben als interpsychische Wechselwirkung zwischen der inneren Verfaßtheit des Gemeinwesens und der individuellen Seelenverfassung der Bürger. Polis wie Bürger stehen in einer Beziehung der wechselseitigen Bildung und Formung. Die Polis begnügt sich nicht mit äußerer Handlungskoordination, sie ist eine Seelenbildnerin. Und umgekehrt ist die Seele kein Ort selbstgenügsamer Innerlichkeit; die Seele ist Polisbildnerin. Beide sind die jeweiligen Bildner des anderen, im guten wie im schlechten.