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Die gelbe Gießkanne

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Walt steht vor dem Geschäft seiner Schwester und tut, als sähe er sich das Schaufenster an. Tatsächlich schielt er immer wieder ins Ladeninnere und versucht, Raul zu entdecken. Was er aus Karoline über ihren Neuen herausbringen konnte, hat ihn neugierig gemacht: Gitarre, Übersee, Earl Darkgrey. Wenn nicht gut gelebt, dann zumindest gut erfunden. Jedenfalls nicht unsympathisch und vielleicht gar nicht so weit weg von seiner eigenen gloriosen Vita, denn Walt kommt als Künstler nur über die Runden, weil er an Volkshochschulen Zeichenkurse gibt. Bedenken hat Walt, weil seine Schwester bei der Auswahl ihrer Freunde nicht unbedingt das besitzt, was man ein sicheres Händchen nennt. Der vorletzte hat sie so offensichtlich ausgenutzt, dass Walt jedes Mal, wenn er sie gemeinsam gesehen hat, die Wände hinaufgegangen ist und danach den ganzen Heimweg gebraucht hat, um die Wände wieder herunterzukommen. Und was sie an dem letzten, diesem knapp am Wahnsinn vorbeischrammenden Nerd gefunden hat, ist ihm bis heute ein Rätsel. Zum Glück hat sich der rückstandlos aus dem Staub gemacht. Ist sang- und klanglos mit dem Sommer und dem Sommerfest verschwunden. Walt hat ihn beobachtet, wie er mit der anderen abgerauscht ist, und nichts gesagt. Eine tiefe innere Überzeugung hat seinem schlechten Gewissen den Mund zugehalten – und gut ist es gewesen. In Sachen Beziehung macht es durchaus Sinn, wenn Walt ein Auge auf seine Schwester hat. Besonders, weil Raul gleich bei ihr eingezogen ist. Das riecht nicht nur mit dem Wind nach Schmarotzer. Schaden tut es jedenfalls nicht, nach dem Rechten zu sehen, und deshalb steht Walt vor dem Laden seiner Schwester, lehnt am Schaufenster, die Hände links und rechts vom Gesicht, weil die Sonne herausgekommen ist und die Scheibe so spiegelt – der Spion, der seine Schwester liebte. Da taucht Raul auf, extrem plötzlich und unglaublich nah, und Walt rückt schnell weg von der Scheibe, schaut hinunter auf Schreibheft, Buntpapier und Block und spürt, wie Rauls Blick ihn an die Leine nimmt. Hebt er eben den Kopf und wundert sich gleich darauf, weil nicht nur über Rauls Gesicht vom einen Ohr zum anderen ein Grinsen zieht, sondern auch, weil Raul ihn gleich darauf hereinwinkt.

»Definitiv anders als die anderen«, denkt Walt, mehr Denken geht sich nicht aus während der fünf Schritte hinein.

»Walt«, sagt Raul, und da schwingt wenig, ja eigentlich gar keine Frage mit.

»Sehe ich meiner Schwester so ähnlich?«, fragt Walt und hält Rauls Hand, statt sie zu schütteln. Wie der Punkt unter seinem Fragezeichen stehen die Hände in der Luft.

»Karolines Kühlschrank.«

Walts Augen sagen mit Großbuchstaben: »JA, KLAR!«, denn Karoline hat ihre Kühlschranktür mit Fotos zugepflastert. Kindheit, Eltern, Reisen, und eben auch Walt. Das Mosaik ihres Lebens.

»Mitgekocht wird immer auch ein Happen Früher«, sagt Karoline zu jedem, der sie auf ihre Kühlschranktür anspricht, zurechtgelegt die Worte, fraglos, aber immer hingeschmunzelt, sodass das Zurechtgelegte nicht weiter stört.

»Sich beim Essen ein wenig über den Tellerrand hinaus erinnern«, hat sie auch einmal zu Raul gesagt, und sein Blick ist gewandert und hat die schon lange verstorbene Mutter kennengelernt, hat von Karolines erstem Rausch auf ihrer Maturareise erfahren oder von ihrer Reise an den Polarkreis.

»Das Foto von euch beiden im Schnee«, sagt Raul, »auf dem ihr die bunten Strickhauben tragt, die Nasen rot von der Kälte, und Wange an Wange wie aneinander festgefroren in die Kamera lacht.«

»Norwegen vor drei Jahren«, sagt Walt, und Raul nickt, als wäre er dabei gewesen.

»Eigentlich sind wir damals aus Verzweiflung losgefahren, andere flüchten in den Süden, wir in den hohen Norden. Karolines Geschäft ist überhaupt nicht gegangen und ich bin nicht zum ersten Mal von einer Galerie abgelehnt worden. Wir hocken also zusammen bei mir im Atelier, schon lange nicht mehr nüchtern, und da sagt sie auf einmal, ›jetzt heißt es kühlen Kopf bewahren‹, und am nächsten Tag steht sie mit zwei Flugtickets nach Oslo da.«

»Und von dort seid ihr wirklich per Anhalter weitergefahren?«

»War natürlich eine völlig durchgeknallte Idee, sich bei der Kälte am Straßenrand die Beine in den Bauch zu stehen. Aber unser Geld hat nicht gereicht, und Karoline hat keine Ruhe gegeben, bevor wir nicht wirklich am Polarkreis waren. Auf dem Foto stehen wir genau drauf. Beide mit beiden Beinen.«

»Karoline schwärmt von der Reise.«

»Kein Wunder«, sagt Walt, »danach lief bei ihr alles wie geschmiert. Plötzlich kamen die Kunden, und sie konnte gut leben von ihrem Laden. Bei mir hat der Polarkreis dagegen nicht gewirkt, ich hätte wahrscheinlich zum Wendekreis fahren müssen.«

»In zwanzig Minuten ist es sechs. Dann schließe ich den Laden«, sagt Raul. »Wir könnten uns in den Hof setzen.«

Walt geht zu Getränke Hoffmann, während Raul die Tagesabrechnung macht. Und um sechs Uhr eins sitzen sie mit dem Wein aus dem Wochenangebot unter der alten Kastanie, zwischen ihnen ein leerer Papierkarton, den Raul hochkant als Tisch aufgestellt hat.

»Du bist wirklich wegen Joni Mitchell nach Amerika gegangen?«

»Ich war Anfang zwanzig, wollte Songs schreiben wie sie und bildete mir ein, das ginge nur dort, wo sie ihre Songs schrieb. Dass ihre besten Sachen ausgerechnet während ihrer Zeit in Europa entstanden sind, wusste ich damals noch nicht.«

»Aber getroffen hast du sie auch einmal, hat Karoline erzählt.«

»Ich bin einmal neben ihr im Supermarkt gestanden«, sagt Raul und streckt den Arm aus, um anzuzeigen, wie nah er Joni Mitchell damals gekommen ist.

»Wie das?«, fragt Walt, und Raul erzählt, wie er durch einen befreundeten Musiker Mitchells Adresse herausgefunden hat.

»Ich war natürlich viel zu feig, um anzuläuten und habe einfach vor ihrem Haus gewartet. Irgendwann am späten Nachmittag ist sie tatsächlich herausgekommen, in ihren Wagen gestiegen und weggefahren. Ich bin ihr hinterher, eben bis zu diesem Supermarkt. Sie hat Bananen gekauft und Sojamilch, und eine Dose Ananas hat sie aus dem Regal genommen, in der Hand gedreht und dann zurückgestellt, und die Dose habe ich bis heute.«

»Ich habe eine ausgedämpfte Zigarette von David Hockney. Von einer Vernissage in London«, sagt Walt und schenkt ihnen nach.

»Wir haben neues Papier«, sagt Raul. »Karoline meint, die Oberfläche sei ziemlich besonders. Vielleicht ist das was für dich.«

»Erzähl mir lieber noch was von Kalifornien«, sagt Walt.

»Wie du willst: Also Folge zwei in der Serie Raul meets the Proms«, sagt Raul und erzählt, wie er wochenlang durch die Gegend gefahren ist, auf der Suche nach der Hühnerfarm von Tom Waits.

»Jedem Hinweis bin ich gefolgt. Hundert Meilen in jede Himmelsrichtung.«

»Und?«

»Ich habe einen Song geschrieben über Tom Waits und seine Hühner und wie er sie füttert im Abendrot: Die hagere Silhouette mit dem kleinen Hut, das heisere Gegacker und seine noch heiseren Lockrufe und die fliegenden Körner im Gegenlicht.«

Walt schaut schräg nach oben, dorthin, wo er in seinem Kopf das weiße Blatt liegen hat, und malt es mit schnellen Strichen voll.

»Aber getroffen hast du ihn nie?«, fragt er dann.

»Nicht auf seiner Hühnerfarm. Ich war auf einem Konzert von ihm in einer kleinen Bar in San Francisco. Danach ist er mit einem anderen an einem Tisch gesessen, sein Manager, der Barbesitzer oder ein Journalist, jedenfalls hat er so unnahbar ausgesehen, kein Gedanke, zu ihm hinzugehen. Ich habe aber aus der Ferne beobachtet, wie er neben dem Reden auf einer Serviette herumgekritzelt hat. Und als er aufgestanden ist, hat er sie zerknüllt und in den Aschenbecher geworfen.«

»Die hast du?«

Rauls Haut prickelt, weil der kindliche Stolz sich ins Erwachsenengesicht drängt.

»Zuerst war ich enttäuscht, weil Waits alles überkritzelt hat. Dann habe ich die Serviette aber draußen vor der Bar gegen das Licht der Straßenlaterne gehalten.«

Raul hält sein Glas in den Himmel wie damals die Serviette von Tom Waits und kippt seinen Kopf nach links und rechts und wieder links, als versuche er etwas zu erkennen.

»Eine Eistüte«, sagt er schließlich und nimmt einen langen Schluck, »Tom Waits hat eine Eistüte und darunter mit verschnörkelten Buchstaben, so wie ein verliebter Teenager den Namen seiner ersten Freundin schreiben würde, Vanilla hingegriffelt.«

Walt lacht. Zuerst über Waits und Speiseeis, das Lachen trägt aber weiter, lacht über Gott und die Welt und dann, schon merklich leiser, über sich selbst.

»Was wollen wir eigentlich?«, fragt Walt mit zurückgelegtem Kopf in die Äste der Kastanie und die einfallende Dämmerung hinein, und Raul nickt, statt zu wissen. In diesem Moment kommt der alte Mann in den Hof, der Alte, der Raul schon mehrmals aufgefallen ist, der mit der gelben Gießkanne, derjenige, der jeden Morgen und Abend den Kastanienbaum gießt. Er tut, als wären Raul und Walt gar nicht da, und die beiden rücken zur Seite, damit sie dem Alten, unsichtbar wie sie sind, nicht im Weg sitzen. Der geht gezählte sieben Mal um die alte Kastanie und gießt den Stamm so hoch hinauf, wie er mit seinen schwachen Armen und der schweren Gießkanne kommt. Mit beiden Händen und ganzer Kraft stemmt er die Gießkanne in die Höhe, dass Raul und Walt die Luft anhalten.

Als Walt heimwankt, fühlt er sich leichter. Leichter um eine halbe Flasche schweren Weins und leichter um die Stunden, die er mit Raul unter der Kastanie gesessen hat. Leichter um das, was sie einander erzählt haben, und leichter um die Pausen zwischen ihren Sätzen. Leichter um den alten Mann und seine gelbe Gießkanne und leichter auch um die zehn Bögen Papier, die er dann doch noch mitgenommen hat. Das neue Papier, das sich wirklich besonders anfühlt zwischen Daumen und Zeigefinger.

Am nächsten Morgen liegt es auf seinem Zeichentisch. So leicht wie eine neue Idee und so schwer, weil er diese neue Idee nicht hat.

Die Ahnungslosen

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