Читать книгу Die Ahnungslosen - Wolfgang Popp - Страница 7
Kapitän Nemo
ОглавлениеSie stand mit zwei Milchpackungen in den Händen am Kühlregal und verglich das Ablaufdatum.
»Krissi, bist du das?«
Seit einer Ewigkeit hatte sie keiner mehr so genannt, die Stimme war ihr aber völlig fremd, genau wie der Mann, der mit Augen wie weit offene Arme auf sie zusteuerte.
»Hallo«, sagte sie, in jeder Hand noch immer eine Packung Milch. Er blieb vor ihr stehen, und sie stellte die Milch in ihren Einkaufswagen.
»Du hast keinen Schimmer, wer ich bin«, sagte der Mann, grinste sie an und ließ sie zappeln. Er war in ihrem Alter, Anfang, Mitte vierzig, schmales Gesicht, sportlich, die Haare schon leicht grau meliert, was ihm aber gut stand. Kris Blick flimmerte über sein Gesicht wie ein Scanner über einen unbekannten Barcode.
»Tut mir leid«, gab sie es schließlich auf.
»Käfer«, sagte der Mann, und da machte es Klick bei ihr.
»Alf«, sagte sie mit ungläubigen Augen, denn der Mann vor ihr passte nicht zu ihrer Erinnerung an den eigenbrötlerischen Mitschüler, der in einer Plastikdose mit selbst gestochenen Luftlöchern Insekten in die Schule mitgebracht hatte.
Sie hatten ihn Spiderman genannt, abschätzig und mit gespieltem Ekel in der Stimme, und er hatte ihnen hundertmal erklärt, dass er sich für Insekten interessiere und Spinnen keine Insekten seien, jeder könne das ganz leicht feststellen, weil Spinnen acht Beine hätten und Insekten nur sechs. Das alles fiel ihr wieder ein, und auch, dass sie damals geglaubt hatte, er sei in sie verliebt. Vor dem Schulball hatte sie sich schon eine Ausrede zurechtgelegt und war dann enttäuscht gewesen, als er sie gar nicht erst fragte, ob sie mit ihm hinginge.
»Was machen die Insekten?«, fragte Kri.
»Ich bin jetzt untergetaucht«, antwortete Alf.
Sie fanden ein Café unweit des Supermarkts. Auf dem Weg dorthin kam die Sonne heraus, und sie setzten sich an einen der Tische vor dem Lokal. Jetzt am Vormittag war wenig los, nur ein Mann saß da noch, zwei Tische weiter, im dunklen Sakko. Sein oberster Hemdknopf stand offen und seine Krawatte hing über der Armlehne des Nebensessels. Kopfüber baumelte sie herunter wie ein Kind an einer Reckstange, während er lautstark telefonierte, vor sich auf dem Tisch den aufgeklappten Laptop. Die Hektik des Mannes steckte Kri an und sie holte ihren Terminplaner aus der Tasche, der alte Affe Angst, irgendetwas vergessen zu haben. Alf lehnte sich unterdessen zurück, schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
»Wie damals beim Schule schwänzen«, sagte er, als Kri aus ihrem Terminkalender zurück an den Tisch kam, sie konnte sich aber nicht erinnern, dass sie jemals gemeinsam Schule geschwänzt hatten.
»Geht’s bei dir sonst auch so zu?«, fragte er und deutete mit dem Kopf zu dem am Telefon gestikulierenden Mann.
»Bei wem nicht?«
Alf zuckte ein »Rate mal« mit den Schultern und genoss dabei sich selbst genauso wie die Sonne. Nicht arrogant, aber beneidenswert zufrieden. Dann lehnte er sich nach vorn und verschränkte die Hände.
»Und bei dir?«, fragte er. »Was ist aus der Klassenbesten geworden?«
Alf hatte den Tonfall ihres ehemaligen Direktors ziemlich gut hinbekommen, und Kri erzählte ihm grinsend, was sie machte.
»Du hast deine eigene Firma?«, sagte Alf.
»Das hört sich nach mehr an, als es ist. Ich manage den Laden eigentlich allein und stelle nur stundenweise Leute ein.«
»Und? Läuft es?«
»Ich kann mich nicht beklagen, aber es geht oft die ganze Nacht durch.«
»Dafür lernst du interessante Leute kennen«, sagte Alf.
»Mmmh …«, hielt Kri mit wiegendem Kopf ihr Glück in der Schwebe. »Aber es bleibt ohnehin keine Zeit, sich zu unterhalten, weil es immer irgendetwas gibt, das nicht passt. Entweder ist der Kaviar zu wenig, der Weißwein zu warm oder die Musik zu laut.«
»Ach was!«, richtete Alf Kris Kopf wieder gerade. »Dein berühmtes Lächeln – und sofort lösen sich alle Probleme in Luft auf.«
Kri wusste nicht, was sie von Alfs letzter Äußerung halten sollte. In der Schulzeit hatte es immer wieder Neider gegeben, die gemeint hatten, ihre guten Noten hätten nicht wenig mit ihrem guten Aussehen zu tun. In dem Moment klappte der Geschäftsmann am Nebentisch seinen Laptop zu, streifte sich die Krawatte über den Kopf, zog sie fest und verlangte nach der Rechnung.
»Jetzt erzähl aber, was du machst«, sagte Kri.
»Habe ich doch schon gesagt, ich bin jetzt unter Wasser unterwegs.«
»Was? Fische?«
»Kraken«, sagte er, und Kri sah ihn an, als würde er einen Scherz machen.
»Du hast das mit den Tieren wirklich durchgezogen?«
Alf nickte, und Kri dachte, »Kapitän Nemo«. Obwohl er nur eine Armeslänge entfernt saß, schien es für Alf eine andere Form der Schwerkraft zu geben, die es ihm erlaubte, durchs Leben zu schweben, während sie sich von einem Tag zum anderen schleppen musste.
»Ich arbeite im Aquarium«, sagte er, und Kri fand, dass die beiden Worte nicht zusammengingen, »arbeiten« und »Aquarium«. Und dann dachte sie noch, dass sie dort seit einer Ewigkeit nicht mehr gewesen war.
Christian brachte die Kinder immer abends um sieben. Kri stand schon am Fenster, als er in zweiter Spur hielt. Sie läuteten. Anscheinend hatte Jens die Schlüssel vergessen. Kri öffnete ihnen und ging zum Fenster zurück. Christian stand neben seinem Wagen und winkte Jens und Jolanda hinterher. Er sah gut aus. Trotz der Glatze merkte man ihm die fünfundvierzig nicht an. Auf dem Beifahrersitz entdeckte Kri Laras Knie und den Saum ihres Rocks und zog den Vorhang zu. Dann hörte sie schon die Kinder im Vorzimmer.
»Und, wie war es?«, fragte sie.
»No comment«, sagte Jens und ging, ohne Kri anzusehen, in sein Zimmer. Dafür fiel ihr Jolanda um den Hals. Mit ihren Dreizehn war sie nur zwei Jahre jünger als ihr Bruder, aber die machten den großen Unterschied.
»Alles okay?«, fragte Kri.
»War ganz schön. Minus den komischen Momenten halt«, sagte Jolanda.
Jens und Jolanda und der Abend vor mehr als fünfzehn Jahren: Als Kri bemerkte, dass sie schwanger war, als Christian sie ansah wie eine fremde Küste und als sie gemeinsam, stolz wie Seefahrer, stundenlang Namen überlegten für ihre Entdeckung. Die halbe Nacht hatten sie sich damit um die Ohren geschlagen, seitenlange Listen mit den Namen von Heldinnen, Göttern und heiligen Bäumen anzulegen und sie ihrem ungeborenen Kind anzuprobieren. Ihre Favoriten hatten sie sich schließlich ein Dutzend Mal laut vorgesagt, um zu hören, ob sie sich abnutzten. Sie hatten sich entschieden, gerade als die Sonne aufging, und ihre Wahl niemals bereut. Anders als ihre Ehe hatten die Namen ihrer Kinder gehalten.
»Und bei dir?«, fragte Jolanda.
»Ich bin gestern beim Einkaufen zufällig einem alten Schulkollegen über den Weg gelaufen und habe ans Meer denken müssen«, sagte Kri.
»An Ägypten?«, fragte Jolanda mit belegter Stimme, und Kri nickte.
»Das war meine allerschönste Reise überhaupt«, sagte Jolanda, und Kri merkte, wie ihr die Augen feucht wurden. Sie ging ins Bad, wusch sich das Gesicht kalt ab, und als sie sich wieder gefangen hatte, drückte sie die Klospülung und rief hinaus, ob Jolanda noch etwas essen wolle.
Als die Kinder schliefen, fragte Kri Wikipedia nach Kraken und Tintenfischen, nach Oktopussen und Kopffüßern. Sie klickte sich in alle Richtungen und dann auch in die Tiefe, bis sie bei Fachartikeln landete, von denen sie kein Wort mehr verstand. Es war fast Mitternacht, als sie ihren Computer hinunterfuhr und ins Bad ging. Gleich darauf kam sie aber, die Zahnbürste im Mund, an den Tisch zurück, klappte den Laptop wieder auf, sah im schwarzen Bildschirm ihr Gesicht widergespiegelt, kleine Augen und Schaum vor dem Mund, dann breitete der Browser schon seine weiten Arme aus, und Kri gab den Namen des Aquariums ein und schrieb die Öffnungszeiten ab.
Rechts ging es zum Amazonas-Delta, links zum Roten Meer. Am großen Becken mit den Haien und Rochen drängelte sich eine Schulklasse. Drei Kinder rangelten um eine Kappe, und Kri musste an die Prügeleien der Buben denken und wie Alf sich abseits gehalten und im Gras seine Käfer hatte krabbeln lassen.
»Pass auf, dass du nicht gebissen wirst, Spiderman«, hatten ihre Freundinnen gerufen, und sie hatte breit, aber stumm mitgelacht, so dass Alf, der mit dem Rücken zu ihr saß, ihr Lachen nicht hören konnte.
Ein Sandhai starrte leer ins Leere, und Kri fiel das alte Werlacht-zuerst-Spiel ein. Sie war gut darin gewesen. Sehr gut sogar. Wenn sie nicht wollte, konnte sie keiner zum Lachen bringen. Hin und wieder ließ sie aber doch einen gewinnen, weil sie gerne sah, wie ihr Lachen wirkte, wie sie gewann, auch wenn sie verlor.
Kri waren die Blicke der anderen immer bewusst gewesen. Selten, dass man sie einmal aus den Augen ließ. Irgendeinen gab es immer, der sie unverhohlen oder verstohlen anstarrte. Alf hatten sie zwar immer wieder mit ihren Blicken unten am Boden, wo er mit seinen Käfern saß, festgenagelt, dann aber auch wieder für Stunden völlig ignoriert. Was für ein anderes Leben das war, dachte Kri, wenn man nicht die ganze Zeit über beobachtet wurde. Welch andere Beweglichkeit man da entwickeln konnte und wie viel Platz man für sich hatte.
Im Roten-Meer-Becken knabberten drei gelb und blau schimmernde Papageienfische an einem Korallenstock, und Kri versetzte es einen Stich. Genau solche hatte sie damals beim Schnorcheln gesehen und sich gewundert, wie gut man dieses knirschende Geräusch unter Wasser hören konnte. Ägypten war ihr letzter gemeinsamer Familienurlaub gewesen, ohne das geringste Anzeichen, dass irgendetwas nicht stimmte. Und dann, kaum dass sie wieder daheim waren – Kri räumte tatsächlich gerade die Koffer aus –, kam Christian zu ihr und gestand ihr seine Affäre mit Lara. Er habe alles versucht die letzten zwei Wochen, sagte er, die ganze Zeit in Ägypten über nicht mit Lara telefoniert und auch versucht, nicht an sie zu denken, aber es gehe einfach nicht mehr. Kri war aus allen Wolken gefallen. Für sie war es der perfekte Urlaub gewesen. Sie und Christian hatten einander beim Schnorcheln die an den Korallen knabbernden Papageienfische gezeigt, sich von der Begeisterung des anderen anstecken lassen und sich sogar geliebt unter Wasser. Ausschließlich unter Wasser, war ihr im Rückblick aufgefallen, versteckt hinter ihren Tauchermasken und ohne sich zu küssen, weil sie die Schnorchel im Mund hatten.
Für sie hatte sich der Ägypten-Urlaub wie der zweite Beginn ihrer Ehe angefühlt und nicht wie ihr Ende. Das Rote Meer war für sie seit damals so etwas wie das Paradies vor dem Sündenfall gewesen. Unter Wasser war die Welt noch in Ordnung. Sobald man aus dem Wasser stieg, war es aus mit dem Leben im Schweben.
In diesem Moment entdeckte Kri den Kraken. Er saß auf dem kiesigen Grund und blickte sie mit großen weisen Augen an. Der Blick erinnerte sie an Gandalf aus den Herr-der-Ringe-Filmen. Ganze Sonntage hatte sie unmittelbar nach der Trennung von Christian mit den Kindern vor dem Fernseher verbracht. Bei zugezogenen Vorhängen eine DVD nach der anderen eingelegt und in dieser Welt mit ihren menschenhohen Farnen und knolligen Trollen, mit den wüsten Orks und dem beruhigenden Blick Gandalfs gelebt, weil es dort nichts gab, was sie an die Wirklichkeit erinnerte. Und der Krake da vor ihr, seine Augen, in denen steckte diese fremde Welt, der sah aus wie ein Botschafter aus Mittelerde, das erste Tier, von dem Kri wissen wollte, was es dachte.
Mit einem Mal kam Bewegung in den Kraken. Er drehte sich um die eigene Achse und schwamm mit raschen Stoßbewegungen seiner acht Arme in Richtung Wasseroberfläche davon. Kri kauerte sich hin, um dem Tier unter einem Korallenstock hindurch hinter-hersehen zu können. Schemenhaft war dort oben ein Mensch zu erkennen. Jetzt streckte er die Arme ins Wasser, und der Krake spürte nach ihnen, umschlang sie und saugte sich an ihnen fest. Die Umstehenden bekamen davon nichts mit, nur die am Boden hockende Kri wurde Zeugin dieser berührenden Berührung, dieser Begegnung der zweiten oder dritten Art, diesem Fenster zum Roten Meer in ihr.