Читать книгу Die Ahnungslosen - Wolfgang Popp - Страница 8
Schiffbruch
ОглавлениеFlo nennt Martha eine Hexe. Nicht boshaft, er hat dabei immer ein Grinsen auf den Lippen. Trotzdem merkt man, dass sie ihm nicht ganz geheuer ist. Martha putzt seit drei Jahren bei uns, kommt jeden Mittwoch für fünf Stunden. Deshalb laden wir Gäste auch meist für Mittwochabend ein, wenn die Wohnung aussieht wie aus einem Lifestyle-Magazin. Egal wer uns besucht, jedem fällt auf, wie alles glänzt, und wir schwärmen dann von Martha, und Flo bringt seinen Spruch mit der Hexe an. Das macht unsere Gäste natürlich neugierig, und Flo lässt es sich dann auch nicht nehmen, die eine oder andere Anekdote über Martha zu erzählen. Was immer für gute Stimmung sorgt. Oft fragen unsere Freunde, ob wir ihnen Martha nicht weitervermitteln könnten, aber ich sage dann jedes Mal, sie sei völlig ausgelastet, weil ich gar nicht daran denke, eine Perle wie Martha mit anderen zu teilen. Dass ihr in regelmäßigen Abständen Dinge zu Bruch gehen, stört uns nicht weiter. Das macht sie nur noch schrulliger, und Flo ist ziemlich gut darin, ihre kleinen Missgeschicke mit witzigen Pointen zu versehen und so zum Besten zu geben.
Martha kommt aus Rumänien, glaube ich, oder aus der Ukraine, irgendwas im Osten, und sie sieht aus, als sei sie schon immer alt gewesen. Sie spricht auch ein ziemlich seltsames Deutsch mit verschachtelten Sätzen, in denen immer wieder Wörter auftauchen, die bei uns niemand mehr sagen würde. Ähnlich ist es auch mit ihrem Gewand. Martha trägt immer dasselbe Kleid, das mich an alte Märchenbücher erinnert. Großmütter oder Marktfrauen haben dort solche Kittel an, aus einem Stoff so dick und fest, als müsste er ewig halten, und einem Muster wie ein alter Couch-Bezug. Als ich Martha einmal nach ihrem Kleid fragte, erzählte sie mir, dass es von ihrer Mutter stammte.
»Sie ist gestorben in diesem Kleid«, sagte Martha, und dabei zog sie das O in die Länge und rollte das R, dass es sich anhörte, als würde sie gerade die Totenrede auf ihre Mutter halten. Als Flo von der Arbeit kam, erzählte ich ihm von Marthas Kleid, und als wir später mit unseren Gästen beim Abendessen saßen, baute er die Anekdote prompt in seine Hexengeschichte über Martha ein. Ich lachte zwar mit, es störte mich aber, dass er sich in so einer Sache über Martha lustig machte. Trotzdem sagte ich nichts, auch später nicht, als wir beide im Bett lagen und beschwipst darüber kicherten, dass Martha der Wasserkocher heruntergefallen war.
Dass Flo Martha eine Hexe nennt, geht auf die Sache mit Mias Warzen zurück. Als Mia sechs war, sind die plötzlich aufgetaucht, erst nur an ihren Füßen, dann auch auf ihren Handrücken. Wir haben alles Mögliche versucht, sind zu sicherlich fünf Hautärzten gegangen, die ihr die unterschiedlichsten Salben verschrieben haben, und sogar zu einem chinesischen Heiler, der für sie einen Kräutertee zusammengestellt hat. Vier Wochen lang mussten wir sie überreden, diese schreckliche Brühe zu trinken, die so ekelhaft roch, dass ich mir beim Kochen die Nase zuhalten musste. Half alles nichts. Irgendwann erwähnte ich eher nebenbei Martha gegenüber Mias Warzen. Sie überlegte kurz und sagte dann, dass sie in der folgenden Woche ausnahmsweise am Donnerstag kommen würde. Als ich sie fragte warum, sagte Martha nur: »Vollmond«, mit zwei langgezogenen Os.
Am folgenden Donnerstag richtete Martha sich ihre Zeit so ein, dass sie mit dem Putzen fertig war, als Mia aus der Schule kam. Wir aßen gemeinsam zu Mittag, doch danach meinte Martha, ich solle jetzt gehen, einkaufen oder einen Kaffee trinken. Ich sah fragend zu Mia hinüber, doch die setzte ihren Mama-sei-jetzt-bitte-nicht-peinlich-Blick auf, und so ließ ich die beiden eben allein. Als ich eineinhalb Stunden später nach Hause kam, sah ich von der Straße aus, dass Martha alle Vorhänge zugezogen hatte. Sie war nicht mehr da, dafür klebte an Mias Zimmertür ein Zettel, auf dem in schnörkeliger Handschrift stand: Muss schlafen, nicht aufwecken. Mias Tür quietscht leicht, deshalb traute ich mich nicht, zu ihr hineinzugehen, und warf nur einen Blick durchs Schlüsselloch. Es war aber völlig dunkel und ich konnte nichts erkennen. Als Flo aus der Arbeit kam, schlief Mia immer noch. Flo tat ganz entspannt und setzte sich mit der Zeitung ins Wohnzimmer, ich sah aber, wie nervös er war, weil er mehr raschelte und blätterte als zu lesen. Dann hielt er es nicht mehr aus, legte die Zeitung weg und stand auf. Ich folgte ihm, als er leise die Tür aufdrückte und in Mias Zimmer schlich. Es roch nach Wald und Wiese und auch ein wenig streng nach Erde und Pilzen. Mia lag wie aufgebahrt in ihrem Bett, die Hände und Füße in weiße Baumwolltücher gewickelt, das Gesicht etwas blass, kam mir vor, aber mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Flo hielt seine Hand nah an ihren Mund und nickte dann langsam. Ich tippte ihn an, und leise schlichen wir wieder hinaus. Am nächsten Morgen weckte uns Mia kurz nach sechs. Mit einem triumphierenden Ta-ta-ta-ta stand sie in der Tür unseres Schlafzimmers und hielt ihre warzenfreien Hände in die Luft.
Das ist jetzt auch schon wieder ein Jahr her. Ein Jahr, in dem nicht viel passiert ist, bis ich vor drei Wochen in einer Zeitschrift die Anzeige für einen Zeichenkurs entdeckte. Plötzlich hatte ich aus dem Nichts heraus so ein Glücksgefühl, in meinen Fingern begann es zu kribbeln und ich erinnerte mich an Buntstifte und Blumenwiesen, an zitronengelbe Sonnenstrahlen und Prinzessinnen in langen Kleidern. Im Kurs nahm das Kribbeln in den Fingern noch zu, und dann noch einmal, als mir Walt, unser Lehrer, die Hand führte.
Wir treffen uns immer in seiner Wohnung, die gleichzeitig auch sein Atelier ist. Allein die Atmosphäre dort: die Leinwände, die an der Wand lehnen, der Geruch der Ölfarben und die struppigen Pinsel in den alten Marmeladegläsern. Besonders erfolgreich ist er nicht, aber selbst das finde ich speziell, wie er trotzdem weitermacht mit der Kunst. Ich könnte so nicht leben, aber ein Ausflug in diese Welt ist wie ein Abenteuerurlaub. Außerdem mag ich Sex am Morgen. Ich gehe dann ganz anders in den Tag. Viel euphorischer als sonst, angepisst von nichts, neugierig auf alles. Mit Flo kann ich nur abends schlafen, weil Mia am Morgen in die Schule muss. Allzu viel ist bei uns also allzu oft nicht los.
Bei Walt kommt dazu, dass er im Bett so ganz anders ist, wobei ich jetzt gar nicht genau sagen könnte wie. Es ist nicht so, dass er ungewöhnliche Spielchen vorschlagen oder Handschellen aus der Nachttischschublade ziehen würde, nein, es ist eher die Art, wie er mich berührt oder eher noch, wo er mich wann berührt: Seine Finger sind jedenfalls nie dort, wo ich sie gerade erwarte.
Mir ist es jetzt auch schon ein paar Mal passiert, dass ich mich vor dem Sex beim Blick auf eines von Walts Bildern gefragt habe, was das sein soll, und als ich danach auf dem Weg ins Bad wieder daran vorbeigekommen bin, plötzlich etwas erkannt habe. Ich sehe das schon als ein Zeichen dafür, dass diese Affäre gut für meine persönliche Entwicklung ist.
Seinen Künstlernamen Walt finde ich übrigens ziemlich peinlich, auf den legt er aber großen Wert. Einmal habe ich mittendrin aus Versehen Walter zu ihm gesagt, und da ist ihm alles eingeschlafen und er ist hinausgegangen auf seinen winzigen Balkon und hat dort eine geraucht, während ich dagelegen bin und nicht gewusst habe, wie mir geschieht.
Ich hatte einen tollen Job, bis ich schwanger wurde. Sekretärin bei einer japanischen Firma. Habe ihre Wien-Niederlassung quasi im Alleingang gemanagt. Von den Japanern konnte ja keiner Deutsch, und ihr Englisch hat außer mir kaum jemand verstanden. Auf jeden Fall ist die Firma während meiner Karenz pleitegegangen, und ein gleichwertiger Job war nicht mehr zu finden. Dass ich einfach irgendetwas mache, ist nicht infrage gekommen, da waren Flo und ich uns einig, und dass ich jetzt daheim bin und er sich um nichts kümmern muss, ist ihm auch ganz angenehm, kommt mir vor. Weil ja auch immer etwas zu tun ist: Anfangs überhaupt, als Mia noch klein war. Da habe ich mir eingebildet, ich muss nebenher auch noch die Wohnung neu einrichten. Als Mia in die Schule kam, ging es dann leichter. Endlich wieder Zeit für mich, Joggen, Yoga, Bauch-Beine-Po. War ein hartes Stück Arbeit, bis ich wieder ausgesehen habe wie vor der Schwangerschaft. Danach habe ich alles Mögliche ausprobiert, ein halbes Jahr Interior Design, einen zweiwöchigen Kochkurs, Fusion-Kitchen zwischen Thailand und Orient und dann endlich die Idee mit dem Zeichnen. Kunst war ja eigentlich schon immer meins, keine Ahnung, warum ich da nicht früher draufgekommen bin. Als ob man die Dinge, die einem wirklich wichtig sind, so gut in sich verstecken würde, dass man sie irgendwann nicht mehr wiederfindet. Der Zeichenkurs hat mir jedenfalls eine Tür geöffnet: Ich gehe jetzt in Ausstellungen, kaufe mir Bildbände und bin viel ausgeglichener. Und mit Flo läuft es auch gut. Mir kommt es vor, als wirkte ich wieder mehr auf ihn. Richtig verliebt sieht er mich manchmal an, so wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Deshalb hält sich mein schlechtes Gewissen auch in Grenzen.
Und dann der letzte Mittwoch: Gleich beim Reinkommen hat mich Martha zweimal angesehen. Das erste Mal, ganz wie immer, begleitet von ihrem freundlich gerollten und entspannt langgezogenen »Grüß Sie Gott, Frau Dio«, dann aber gleich noch einmal, als hätte sie in meinem Gesicht etwas entdeckt. Und Marthas Blick ist einer, der nicht auf deiner Haut endet, sondern Röntgenstrahlen aussendet, die dich durchleuchten. Wie immer, wenn ich nervös bin, habe ich begonnen, mir mit den Fingern über mein Muttermal am Hals zu fahren, und da beginnt Martha auch noch so wissend mit dem Kopf zu nicken. Und später, als ausnahmsweise einmal mir ein Glas zerbrochen ist, hat sie beim Aufkehren irgendetwas in sich hineingemurmelt. An dem Abend habe ich mit Flo geschlafen und mich anschließend in seine Armbeuge gekuschelt.
»Martha wird mir in letzter Zeit unheimlich«, habe ich zu ihm gesagt, und er hat mich mit verschlafener Stimme gefragt, was ich meine.
»Als würde irgendetwas nicht stimmen mit ihr«, habe ich gesagt.
»Wir wissen, dass etwas mit ihr nicht stimmt, deshalb mögen wir sie ja so«, hat Flo nur gemeint, ich habe aber nicht locker gelassen.
»Langsam bekomme ich Angst vor ihr«, habe ich gesagt und tief Atem geholt, »und deshalb denke ich, wir sollten mal über eine andere Putzfrau nachdenken.«
Da hat sich Flo plötzlich aufgerichtet und mich groß angesehen.
»Bist du verrückt? Was sollen wir ohne Martha?«
»Es geht hier nicht um eine alte Freundin«, habe ich gleich zurückgeblafft, »sondern um unsere Putzfrau.«
»Martha ist für uns wie eine alte Freundin«, hat Flo daraufhin gemeint, »sie hat Mias Warzen weggezaubert, sie ist eine treue Seele, ehrlich, verlässlich, gründlich, keine Ahnung, wie du auch nur auf die Idee kommen kannst, Martha vor die Tür zu setzen.« Und damit hat er sich umgedreht und geschlafen.
Es gibt eine Sache, die Flo heilig ist und der niemand zu nah kommen darf. Ein Modell der Santa Maria. Das war das Schiff, mit dem Kolumbus Amerika entdeckt hat. Es steht bei uns im Regal. Flos Großvater hat es aus Streichhölzern gebaut. Flo hat seinen Großvater abgöttisch geliebt. Weil seine Eltern wenig Zeit hatten, ist Flo bei ihm aufgewachsen. Bis heute spricht er von ihm wie von einem Heiligen, und das Schiff staubt er jeden Abend eigenhändig ab. Leicht ist es mir nicht gefallen, aber nachdem Martha heute gegangen ist, ist es passiert.