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Regenlachen

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Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer. Anfang August wurde es schließlich unerträglich. Die Straßen waren leer gefegt von der Hitze. Die Luft stand still. Wir verließen die Wohnung nicht mehr, trugen Unterhosen oder gar nichts und legten die Matratzen auf den Boden, weil wir uns einredeten, dort wäre es um einen halben Meter kühler als im Bett. In die Küche, aufs Klo und ins Bad krochen wir auf allen Vieren. Zuerst aus Spaß, später, weil die Hitze aus unserem Spaß Ernst machte. Dieser Zustand dauerte nicht länger als zwei oder drei Tage, uns kamen sie aber vor wie Wochen. Als sich eines Abends plötzlich Wolken über der Stadt aufbauten, von Ferne ein Donnergrollen zu hören war und der Himmel schwarz wurde, standen wir Hand in Hand am Fenster wie Seefahrer, die am Horizont Land entdeckten. Und als es in großen Tropfen zu regnen begann, rannten wir auf die Straße wie Verdurstende. Auch aus den anderen Häusern drängten die Menschen ins Freie, und alle sahen wir uns an, als hätten wir Großes erreicht. Wir umarmten Wildfremde, jemand stellte die Boxen seiner Anlage in die Fenster seiner Wohnung, und dann tanzten wir gemeinsam im Regen.

Ich hatte ihn nicht bemerkt. Er tauchte plötzlich hinter meinem Rücken auf, streckte die Hand nach Zora aus, und sie ließ ihn mittanzen in unserem Kreis. In seinen Augen lag ein besonderes Glänzen. Noch mehr Lebenslust als wir anderen, und auf dem Kopf trug er einen Hut, bei dem man sich fragte, wo er den her hat. Er drehte sich schneller als wir, und Zora ließ meine Hand los, weil ich nicht mehr mitkam. Ich lehnte mich an ein Auto, sah hinunter zu meinen Flipflops und ließ sie im Wasser quietschen, die knatschigen Stimmen kleiner Trolle, von denen ich nicht wusste, wollten sie mich warnen oder beruhigen. Dann hörte ich Zora lachen und blickte auf. Sie bemerkte mich, und ich lachte zurück zu ihr, doch da hörte sie mit ihrem Lachen auf und sah mich an, als kennte sie mich nicht oder nicht mehr so gut wie bisher.

Zwei Tage später verließ sie mich, und als wir uns Wochen danach in einem Café gegenübersaßen, meinte sie, der Regen habe ihr die Augen geöffnet. Anschließend zählte sie die Dinge auf, die sie die Jahre über an mir gestört hatten. An einer Hand, und nicht einmal die fünf Finger bekam sie voll. Und überhaupt: So schlimm können diese Dinge nicht sein, wenn du einen Regen brauchst, damit sie dir überhaupt auffallen?

Jedenfalls habe ich es seit damals nicht mehr so mit Regen – und Zora auch nicht wiedergesehen. Der mit dem Hut, dessen Namen sie mir bei dem Treffen unter keinen Umständen verraten wollte, war übrigens rein zufällig unsere Straße hinuntergegangen. Zora nannte das ›ein Zeichen‹, wofür, sagte sie allerdings nicht. Mit Zufällen und Zeichen habe ich es seitdem jedenfalls auch nicht mehr so.

Wann ich damit begonnen habe, weiß ich nicht mehr, aber jeden Morgen beim Frühstück sehe ich mir auf Wikipedia die Liste mit den kürzlich Verstorbenen an. Irgendwie fühle ich mich wohl in ihrer Gegenwart. Oder Abwesenheit. Wie man’s nimmt. Bei ungewöhnlich jungen Toten lese ich nach, woran sie gestorben sind, auch wenn mir ihre Namen gar nichts sagen. Am 17. August, also fast auf den Tag genau zwölf Jahre nachdem Zora mir im Regen davongetanzt war, fand ich dort ihren Namen. Zora Gast (38), Politikerin. Zuerst hielt ich das Ganze für eine zufällige Namensgleichheit, aber das Alter stimmte, und als ich den Eintrag öffnete, fand ich dort ihr Geburtsdatum und ihren Geburtsort. Ich klickte den Link zu ihrem Nachruf in einem kleinen Lokalblatt an, und dort war ihr Foto. Sie lachte ihr Regenlachen von damals, kurz bevor sie mich bemerkte und ihr Lachen in die nächste Pfütze warf. Zora war frühmorgens auf der Fahrt zu einem Pressetermin am Steuer ihres Wagens eingeschlafen und in einen Brückenpfeiler gerast. Sie war sofort tot. Sie hinterließ einen Mann und zwei Kinder. Der Bürgermeister ihrer Heimatgemeinde sprach von einem schrecklichen Verlust.

Als meine Freundin in die Küche kam und fragte, warum ich feuchte Augen hätte, deutete ich auf meine Kaffeetasse, verzog den Mund und sagte, ich hätte mir die Zunge verbrannt.

Karoline hat einen Laden für Künstlerbedarf. Sie verkauft Notizbücher in allen Formaten und Farben, und Papierbögen in allen Größen und Stärken. Hauchdünnes Reispapier aus Japan und Büttenpapier aus Italien. Sie sagt, sie mag die erwartungsvollen Blicke ihrer Kunden: Schriftsteller, die mitten in einer Geschichte stecken, und Künstler, die ihr neues Bild im Kopf haben. Allerdings hat man noch von keinem von ihnen etwas gehört. Wir sind seit drei Jahren zusammen. Ich habe ihr nie von Zora erzählt.

Zwei Wochen später veranstaltete Karoline ihr Herbstfest. Das machte sie jedes Jahr nach den Sommerferien, lud ihre Kunden in den Laden ein, es gab Wasser und Wein und ein kleines Buffet.

Das Wetter war mild an diesem Abend und alle balancierten ihre randvollen Pappbecher ins Freie, hinaus in den Hinterhof, wo eine alte Kastanie und eine Sitzbank standen. Besonders sympathisch waren mir Karolines Kunden nicht. Ich kenne diesen Menschenschlag zur Genüge. Sie quatschen dich den ganzen Abend mit ihren Projekten voll, und wenn du sie ein Jahr später wiedertriffst, sind ihre Geschichten noch haargenau dieselben, was nichts anderes heißt, als dass sie die letzten zwölf Monate nichts auf die Reihe bekommen haben. Als ich einmal in so einer Runde den Fehler machte, zu erzählen, ich hätte einen fixen Job, sahen sie mich an wie den Klassenfeind persönlich. Ich wollte an diesem Abend also nur Karoline meine Schuldigkeit tun, aber auf keinen Fall lange bleiben. Als ich hinkam, stand sie in einem Pulk von Menschen, und ich winkte ihr nur aus der Ferne zu. Sie deutete mir, ich solle mich am Büffet bedienen, also holte ich mir einen Weißwein und ging damit hinaus zu der alten Kastanie. Um genau zu sein, stellte ich mich halb hinter die Kastanie, weil ich einen »Künstler« entdeckt hatte, der mich letztes Jahr eine geschlagene Stunde lang zugelabert hatte. Ich glaubte, unbeobachtet zu sein, lehnte den Kopf zurück an den Stamm und schloss kurz die Augen.

»Auch Künstler?«

Vor mir stand eine Frau, die genauso aussah wie ihre Stimme.

»Was?«, fragte ich.

»Ob du auch Künstler bist?«

Mein zynisches Grinsen war schneller als ich und nahm mir die Antwort ab.

»Sondern?«, fragte sie.

Ich überlegte kurz, ob ich sie anlügen sollte, konnte mich aber nicht entscheiden, ob ich sie beeindrucken oder loswerden wollte, und ließ deshalb die Wahrheit entscheiden.

»Systembetreuer«, sagte ich.

Zora hatte sich damals in mich verliebt, weil sie es beeindruckend fand, wie ich in Codes und Zahlen dachte, und mich möglicherweise verlassen, weil sie bemerkt hatte, was das aus meinem Denken machte.

»Und du?«, fragte ich die Frau, die aussah wie ihre Stimme.

»Schauspielerin«, sagte sie, »ich bin der Star sämtlicher nicht subventionierter Kellerbühnen. Ich spiele um ein Viertel von dem, was eine Putzfrau verdient, du hast meinen Namen also mit Sicherheit schon gehört. Vor dir steht the one and only Zora Gast.«

Sie merkte nicht, wie ich erstarrte, sondern hielt mir die Hand hin. Ich brauchte einen Moment, bis ich einschlagen konnte, und selbst dann noch rechnete irgendetwas in mir fest damit, dass sie sich in Luft auflösen würde, sobald ich sie berührte.

»Bist du alleine hier?«, fragte sie, weiterhin völlig unbekümmert.

Ich nickte, und fast gleichzeitig verschwand die Sonne und es kühlte rasch ab.

»Brrr«, sagte sie und rieb sich die Oberarme, »der Sommer ist mit Sicherheit vorbei.«

Was mir nur recht war, denn damit würde es beim nächsten Wolkenbruch auch mit Sicherheit zu kalt sein, um im Regen zu tanzen.

»Gehen wir woanders hin«, sagte ich.

Die Ahnungslosen

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