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Die Sonnenfinsternis
ОглавлениеDie Sonnenfinsternis im August 1999 erlebte ich als Reporter auf einem Dampfer auf dem großen See. Ich vergaß aber in dem Moment meine Aufgabe und Arbeit, als sich der Mond vor die Sonne schob und es urplötzlich, mitten am Tag, dunkel wurde, so dunkel, dass im nächsten Moment auch die Vögel, die auf dem See schwammen, schwiegen, ja, dass alles, das große, eben noch helle Sommerleben erstarb.
Eine große Stille breitete sich über dem Wasser aus – und wir schwiegen ebenso auf dem Schiff, beeindruckt und benommen von der plötzlichen Finsternis und der aufkommenden Kühle.
Als ich sah, wie an der Seepromenade die Lichter angingen, matt und energielos, fühlte ich mich in einen Traum versetzt. Aber es war kein Traum, es war Wirklichkeit, reine Wirklichkeit…
An dieses Erlebnis und an dieses Gefühl musste ich vier Jahre später wieder denken. Es war noch Spätwinter, kalt und neblig, und alter, grauer Schnee lag in der Stadt, der alles noch unwirtlicher und unheimlicher machte.
Ich hatte mit Julia gestritten, wir lebten inzwischen in Scheidung, sie hatte mich einen Versager genannt, wollte Geld, mehr als ich dachte, meine Stimmung fühlte sich deshalb so grau an wie der schmutzige Schnee. Noch vor ein paar Jahren, in jener Zeit der Trauer, hätte ich diese Stimmung ignoriert und über ihre Worte und ihre Forderung gelächelt, dankbar einen neuen Schmerz gefunden zu haben.
Vielleicht war ich verletzlicher geworden.
Ich war kein wirklich junger Mann mehr, das Leben hatte in mir weitere, andere Spuren hinterlassen. Es hatte im Verlag auch Kündigungen gegeben, wir wurden weniger, überall, was würde noch kommen?
Das Büro, in dem das Pressegespräch stattfand, befand sich in einem neuen, mehrere Stockwerke hohen Haus im Gewerbegebiet, die Hinterlassenschaft eines Internet-Unternehmens, das zu schnell groß geworden war, viel Geld verbrannt hatte und pleite gegangen war.
Es war damals die größte Pleite dieser Stadt.
Der mit Alu-Applikationen verzierte Bau bestand aus unzähligen Büros, deren größter Teil leer stand. Die Stille ließ jedem, der es betrat, schon im Treppenhaus seine Schritte wie die Störung einer höheren Ruhe empfinden. Mag das Gebäude noch vor zwei, drei Jahren der Ort der kühnsten Träume, der größten Möglichkeiten und der besten Geschäftsideen gewesen sein, jetzt lastete die Leere so schwer, als wäre sie das beginnende Reich der Untoten. Ich verhielt mich so leise wie möglich.
Der Raum, in dem mein Kollege Ingo Reiz von der anderen Zeitung und ich empfangen wurden, war mittelgroß, aber karg eingerichtet. Ein solider, fast grob gearbeiteter Schreibtisch gehörte dazu. An der Wand hing ein von drei Landschaftsfotos und dem Porträt eines jungen Mannes umrahmter großer, in alter Schrift gestalteter Spruch, auf dem zu lesen stand: „In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, wir sind die stärkste der Partei’n, die Müßiggänger schiebt beiseite! Diese Welt muss unser sein.“
Das war nicht Swedenborg und auch kein kesser Spruch eines atavistisch-gesinnten Spekulanten oder übermotivierten Karrieristen, ich musste ein wenig nachdenken, ich hörte den Klang des Liedes auf einmal, ein Echo meiner Studentenzeit, und dann wusste ich, dass es Teil der zweiten Strophe der „Internationalen” war, jenem Kampflied der Arbeiterbewegung.
Es begrüßte uns ein etwa 40-jähriger, elegant gekleideter Mann, der sich als Alexander Roos vorstellte („Bitte mit zwei O“) und Gründer der Firma war. Er trug einen dunkelblauen, sehr flott geschnittenen Anzug, wobei Krawatte und Einstecktuch farblich nahezu übereinstimmten. Es sah alles teuer, aber auch konservativ aus, von der Arbeiterbewegung dürfte er sich entfernt haben.
Mir waren Managertypen eigentlich suspekt, zu viele hatte ich in den vergangenen Jahren kennen gelernt, und ihre immer gleichen Sprüche über Erfolg, Leistung und Effizienz anhören müssen, nun spürte ich aber eine gewisse Neugier.
Bislang hatte ich von Alexander Roos nur gehört, dass er eine Villa aus der Jahrhundertwende gekauft hatte, die am Ostufer des Sees in einem kleinen Ortsteil der Stadt lag und von den vorherigen Besitzern sehr vernachlässigt und wohl auch wegen des Privatstrands als Spekulationsobjekt betrachtet wurde.
Es gab viele solcher Immobiliengeschäfte, meist endeten sie mit dem Abriss des alten Hauses oder der alten Villa. Roos ließ aber das Haus nicht abreißen; er ließ das gesamte Ensemble restaurieren, auch den großen Park, zu dem ein Pavillon, barocke Brunnen und Blumenbeete gehörten. Dass die Villa den Namen „Schattenschön” trug, war mir neu. Er gefiel mir.
„Was wollen die Herren trinken: Kaffee, Cappuccino, Espresso, Tee – oder Champagner?”
Wir einigten uns auf Mineralwasser.
Eine Sekretärin, die sich später als Pressesprecherin und Assistentin von Roos herausstellte, brachte uns das Wasser und zeigte ihrem Chef auf ihrem Blackberry eine E-Mail. Er machte ein kurzes Zeichen, indem er Daumen und kleinen Finger zu einem Halbmond formte, was wohl so viel hieß, dass er später zurückrufen werde.
Ich bemerkte erst jetzt, dass Roos ein auffällig rundes Gesicht mit hoher Stirn und lichtem Haar hatte, das nicht zu seinem festen Blick und zu seiner Stimme passen wollte, die melodisch, ja fast rheinisch klang, aber dennoch in harten Endungen mündete.
Es dauerte nicht lange, und er erläuterte kurz seine Vita (Betriebswirt), die Pläne seiner Firma, sprach von der Börse und dass man demnächst eine Aktiengesellschaft sei. Den leeren Börsenmantel habe man sich schon von einer anderen, insolventen Firma besorgt, das spare Zeit und Kosten, ich sah ein freudiges Grinsen.
Er sprach in diesem lockeren Ton weiter, lehnte sich dabei entspannt in den Sessel zurück, und erzählte ganz nebenbei, was sein Mitarbeiterteam künftig für Firmenübernahmen plane: „Fünf bis zehn sollten es in diesem Jahr schon noch sein.“ Viele Mittelständler seien ja schlecht geführt und hätten kaum Rücklagen, und die Krise tue ihr Übriges. „Die Zeit spielt für uns und wir stehen bereit.” Schon in der kommenden Woche hätten wir wieder Stoff für eine neue Geschichte, kündigte er an.
Wer andere Firmenchefs kannte, wusste, dass hier einer nicht nur schönes Geld verdienen, sondern auch seinen Spaß haben wollte. Dieser Unternehmer begann mich zu interessieren.
Man spürte auch gewisse Sympathien, die er dem Journalismus entgegenbrachte. Er verkörpert eine andere Liga, dachte ich.
„Und Sie bleiben wirklich beim Wasser, kein Champagner?“, fragte er nach. Wir blieben beim Wasser.
Dann redete er über künftige Umsatzzahlen, über weitere Gewinnmöglichkeiten und dass die Aktie etwa einen Euro kosten sollte. Er sprach dieses Wirtschaftsdeutsch, gespickt mit den üblichen, sinnentleerten Euphemismen, bei ihm klang aber alles, wegen des Singsangs, charmanter, ja lieblicher. Am Ende seiner Ausführungen blickte er in die kleine Runde, selbstsicher, amüsiert, und nickte mir aufmunternd zu: „Sie haben jetzt die Chance, Herr Swoboda, steigen Sie bei uns ein, es wird im nächsten Jahr schon eine ordentliche Dividende geben, Sie werden es nicht bereuen, Sie werden reich werden.”
„Reich…? Sie meinen reich an Erfahrung“, antwortete ich.
Ingo Reiz lachte.
„Denken Sie in Ruhe darüber nach”, bat er.
Er stand dann auf, verabschiedete sich bei jedem Einzelnen und schnappte sich ein Handy, um zu telefonieren.
Beim Hinausgehen meinte seine Pressesprecherin: „Unser Alex war schon immer so. Direkte Kontakte zu Journalisten sind ihm wichtig. Das Angebot mit dem Champagner nehmen Sie ihm aber nicht übel. Er mag gutes Leben genauso wie bequeme alte Autos. Er hat da recht eigene Vorstellungen.” Sie war genauso elegant wie er angezogen und hatte ihre rotbraunen Haare zum Nest aufgesteckt.
Mein Kollege und ich gingen zusammen noch ein paar Schritte über den Parkplatz und redeten über unsere Termine. Plötzlich blieb er stehen. „Dem Erich seine Staatskarosse, ich glaub‘s nich”, rief er in breitem Sächsisch und deutete auf einen schwarzen Wagen.
Es war ein großer, alter Citroen, die Langversion „Prestige“, gut 20 Jahre alt. Der Wagen war mir schon vorher wegen seines gepflegten Zustands aufgefallen, und nun war mir klar, wem er gehörte und was sie gemeint hatte.
Er hätte auch meiner Frau gefallen.
Draußen war es immer noch kalt und neblig und das Gewerbegebiet hässlich. Überhaupt erschien mir alles jetzt noch hässlicher, einschließlich Alexander Roos, der zwar Geschmack hatte, beste Anzüge trug, aber Unternehmen kaufen und ausschlachten wollte und sich ziemlich sicher war, damit Erfolg zu haben.
War nicht seine Aufforderung an mich, Aktien zu kaufen, eine Frechheit? Stand auf meiner Stirn geschrieben: Ich bin käuflich!
Ich wunderte mich über meine Empfindlichkeit.
Ich hatte auch keine Lust, direkt in die Redaktion zu gehen, denn auch dort würde mich nichts Erfreuliches erwarten und wahrscheinlich ein weiterer Anruf meiner Frau. Zudem hatten wir nach der Jahrtausendwende einen neuen Redaktionsleiter erhalten, diesmal eine junge Frau, sie hieß Nicole Groß.
Sie hatte bei einer anderen Zeitung gearbeitet und ihre eigenen Vorstellungen von Journalismus mitgebracht. Seitdem stand es auch um meine Wertschätzung nicht mehr zum Besten.
Es begann leicht zu schneien, ein Schnee aus dem Hochnebel, mit feinen, schmutzigen Flocken, gefüllt mit den Abgasen der teuren Luxuskarren.
Ich rechnete. Rechnete aus. Mit jedem Schritt begann mein Kopf noch mehr zu rechnen: 5000 Aktien für 5000 Euro. Oder noch besser: 10 000 Aktien für 10 000 Euro. Sollte die Aktie nur ein bisschen steigen, auf 1,50 Euro oder gar drei Euro, so rechnete ich weiter, mein Gewinn würde bei…
Vor mir standen Zahlen, deren Summe ich nicht wissen wollte.
Ich umrundete noch einmal das Gewerbegebiet, kickte auf dem Weg zum Büro noch unzählige Eisplatten weg, aber es half nicht, alles half nicht, meine Stimmung blieb im Keller.
„Auch schon da”, sagte Nicole zu mir, als ich mir einen Kaffee holen wollte. „Wir müssen reden.”
Sie deutete mit dem Arm nach hinten.
Sie war mittelgroß, hatte lange, brünette Haare, ein fein geschnittenes Gesicht und war mit ihren 33 Jahren die jüngste Redaktionsleiterin im Verlag.
Wir setzten uns in ein kleines Zimmer, genannt der Sozialraum.
Er war vollkommen kahl, keine Bilder, keine Poster, nichts. Nur ein Tisch und Stühle. Wie ein Verhörzimmer. Eine Idee von ihr. Die Kargheit der Ausstattung sollte unsere Kreativität fördern.
Sie hatte auch die meisten Wände der Büros im Sinne besserer Kommunikation entfernen lassen.
Sie kam gleich zur Sache: „Es ist nicht so, dass ich erfahrene Kollegen nicht schätzen würde, das weißt du inzwischen, aber deine Ironie in Berichten aus dem Gemeinderat kannst du dir künftig sparen. Tut mir leid, dass ich es dir so deutlich sagen muss, aber es hat mich von Anfang an genervt.“
Wir blickten uns kurz an.
„Gut. War es das?”, fragte ich.
„Ja”, sagte sie ein wenig verwundert, als hätte sie eine große Verteidigungsrede meinerseits erwartet.
Ich brauchte keinen weiteren Streit.
Beim Hinausgehen fragte sie mich: „Sonst alles klar? Was macht deine Scheidung?”
„Meine Frau hält mich für einen Versager.”
„Oh!“ Sie hustete kurz auf, als hätte sie etwas verschluckt.
„Bei der Scheidung meiner Eltern war mein Vater für meine Mutter nur noch der Scheißkerl, der mich gezeugt hat. Ich mag keine Scheidungen, ich will davon auch nichts mehr hören. Bitte, verschone mich, ja?”
„Aber Nicole, du hast mich…”
„Bitte, kein Wort mehr. Danke.”
Ich löschte den Artikel.
Es war nicht mein Tag.
Nach Redaktionsschluss, am frühen Abend, wie aus einem alten Zwang, zog es mich noch zum Waldfriedhof. Er lag etwas abseits und oberhalb der Stadt, eine Viertelstunde zu Fuß. Der Eingang, der von einer matten Straßenlampe erhellt wurde, war schon verschlossen, wie immer im Winter, aber verschlossene Friedhofseingänge hatten seit dem Tod meines Vaters kein Hindernis für mich gebildet.
Es hatte aufgehört zu schneien, eine dünne Schneedecke lag auf den Gräbern und den Wegen, schmale Pfade, die sich in Serpentinen nach oben schlängelten. Die Luft roch frisch. Ich ging in einer Dunkelheit, die ich wie einen erholsamen Frieden empfand, schaltete hin und wieder meine Taschenlampe ein, um mich zu orientieren und stapfte danach weiter.
Es zogen an mir Gräber wie lange Schatten vorüber, manche so schmal, als hätte man sparen wollen, dann wieder so groß, wie eine andere Welt. Ich blieb an einem alten Grab mit einem riesigen Kreuz stehen. Ein steinernes Etwas aus Glaube und Hoffnung.
Ich leuchtete darauf, aber der Name des Toten und seine Lebensdaten waren schon verwittert. Nur ein ovales, eingerahmtes Foto, auf dem ein Mann in Uniform ernst in die Kamera blickte, ließ ahnen, dass hier ein vergangenes Leben ruhte, ein Leben, das gemessen an der Größe der Grabesstätte, sicherlich erfolgreich und groß gewesen war, aber nun war es schon lange Geschichte und das Vergessen und die Kälte hatten sich seiner bemächtigt.
Ich wusste, dass ich irgendwann eine Geschichte über alte Friedhöfe und ihre Ruhestätten schreiben würde, allein um dieses Vergessen zu dokumentieren.
Das Grab meines Vaters lag in einer anderen Gegend.
Der Friedhof war ebenso ruhig, aber er wollte dort niemals begraben werden.
„Also, es geht doch”, sagte Nicole zu mir, der man in Papierform jeden Artikel vorlegen musste. Mit einem Rotstift strich sie Stellen an, die ihr nicht gefielen oder die sie angeblich nicht verstand.
Sie gab den Artikel dann zurück oder warf ihn unwirsch auf den Schreibtisch. Zuerst dachten wir, es sei eine vorübergehende Marotte, man konnte auch am Computer redigieren und korrigieren, aber sie meinte es ernst, so wie den Sozialraum.
In der Stadt hatte sich die Firmengründung schnell herumgesprochen. Roos hatte nicht zuletzt wegen des Kaufs der alten Villa und der Zeitungsberichte einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt. Erste Gerüchte kamen auf und machten ebenso schnell die Runde.
Einmal hieß es, dass es bei seinen kaufmännischen Tätigkeiten in der Vergangenheit nicht ganz sauber zugegangen sein soll, dann war wiederum von dubiosen Geschäften die Rede.
Ich dachte, dass ich mich häufiger in Segelclubs herumtreiben müsste, um mehr zu erfahren, aber nicht jeder hatte Zugang. Möglicherweise könnten meine Kontakte helfen.
Was ich unter der Hand erfuhr und was mich überraschte: Er war adelig, eigentlich Alexander Freiherr von Roos und Gerau, die alte, jedoch verarmte Linie.
Er hatte Volks- und Betriebswirtschaft studiert, auch im Ausland, eine Deutsch-Chilenin geheiratet und eine Familie gegründet. Bei einer kleinen Unternehmensberatung begann seine Laufbahn. Nach einigen gut dotierten Aufträgen, so meine Informanten, verließ er das Büro, um sich mit einer eigenen Beratungsfirma selbstständig zu machen. Damit soll er ordentlich verdient haben, bis er keine Lust mehr hatte und sie verkaufte.
Er sei etwas unstet, aber äußerst ehrgeizig, hieß es.
Warum er seinen Adelstitel abgelegt hatte? Das wusste keiner. Es gab nur Vermutungen. Ein Segler meinte: Vielleicht sei es eine politische Koketterie oder selbstbewusstes Understatement. Solch bürgerliche Bestrebungen habe es ja bei nicht wenigen Adeligen in der Vergangenheit gegeben.
Was mich aufhorchen und an die Liedzeile an der Bürowand erinnerte: Er sei sehr politisch, angeblich weil ein Onkel zweiten Grades aktiv gegen den Nationalsozialismus als überzeugter Gewerkschafter und Kommunist gekämpft habe. Er wurde von den Nazis verhaftet und habe nur durch Zufall überlebt.
Es hieß deshalb, dass der ferne Neffe linke Organisationen unterstütze, auch im Ausland, insbesondere in Südamerika (da waren die Angaben widersprüchlich).
Mag sein, dass er idealistisch gesinnt war, dass er von einem gewissen Sinn für Gerechtigkeit geleitet wurde; Tatsache war, dass der ferne Neffe, der den Adelstitel abgelegt hatte, nur noch Millionen machen wollte, viele Millionen, wofür und für wen auch immer. Fragen dazu hatte er am Telefon überhört. Auch auf der im Aufbau befindlichen Homepage seiner Firma: nichts. Alles perfekt und sauber.
Wer war dieser Alexander Roos wirklich?
Es blieb nicht bei dieser einzigen Einladung. Zwei Wochen später rief seine Sprecherin an, es würde interessante neue Nachrichten geben, die auch unsere Leser interessieren könnten.
Diesmal erlebte ich ihn nicht wie einen lockeren Unternehmer mit Spaß am Geschäft, sondern wie einen Prediger, der seinen Sektenjüngern, als wollte er ein anderer Gordon Gekko sein, etwas mitteilen wollte.
Seine blauen Augen waren hart, sein Blick fest und in eine Ferne gerichtet, die ich nicht sah. Selbst wenn ich sie wahrgenommen hätte, sie hätte anders ausgeschaut als die seine.
„Wir sind Beratungs-Experten und wir werden vielen Firmen und Unternehmen, die keine Chance haben, beim Überleben helfen – und damit den Menschen, die dort arbeiten. Wir sind wie Ärzte, wir wissen, wo wir ansetzen müssen!”
Er betonte die Worte so bedeutungsschwer und pathetisch, wie von einer imaginären Kanzel herab oder wie Gewerkschafter am Tag der Arbeit am 1.Mai auf dem Marienplatz in München.
So hatten auch tief gläubige Swedenborgianer geredet, wenn sie zu Besuch bei meinen Eltern waren, und immer ging es um neue Wege der Erkenntnis, um Hoffnungen, man müsse nur vertrauen, alles sei beseelt, das All und seine Sterne, jedes Daseinskorn, es gebe nichts Materielles, das nicht auch Geist und Gott sei, unser Leben die erste Form und am Ende die absolute Wahrheit in Form von göttlich absoluter Liebe.
Wahrscheinlich war ich zu vorbelastet, um beeindruckt zu sein.
Ich merkte: Er war ein Gläubiger, ein Gläubiger wie mein Vater, nur um viele Jahre jünger, und ein Anhänger einer anderen Glaubensgemeinschaft.
Er redete immer noch, schaute zu meinem Kollegen Ingo Reiz, schaute zu mir, und breitete dann seine Vorstellungen aus. 40 Millionen Euro Umsatz in diesem Jahr, doppelt so viel dann im nächsten. „Es gibt zu viele phantasielose und bequeme Geschäftsführer im Markt, die nur in ihre eigene Tasche wirtschaften.”
Wieder blickte er mich an.
Er fixierte mich dabei, als ob ich ihn an jemandem erinnern würde.
Ich wusste mit dieser Aufmerksamkeit wenig anzufangen. Als Medium für seine Visionen konnte ich, sollte er es geglaubt haben, nicht dienen. Ich war bloß Lokaljournalist, zwar inzwischen verantwortlich für unsere kleine Wirtschaftsseite, aber ich bestritt diese seit den Kündigungen meist als Einzelkämpfer.
Ich fragte deshalb, ein wenig genervt und im Sinne meines Vaters: „Glauben Sie wirklich an das, was Sie gerade skizziert haben?”
Ich erwartete ein empörtes oder beleidigtes Gesicht, gar eine pastorale Verstimmung, aber er sagte nur: „Sie haben recht, ich sollte konkreter über die Pläne unserer Firma reden. Vielen Dank für den Hinweis.”
Er räumte danach ein, dass die Analysten, mit denen er in Frankfurt schon gesprochen hatte, um das Unternehmen bekannter zu machen, ebenfalls Zweifel angemeldet hätten.
Daraufhin mischte sich sein jüngerer Kompagnon Bernd Walter ein, der sich zu unserer Runde gesellt hatte: „Aber wir kommen von unten, wir haben klein angefangen, wir wissen, was harte Arbeit bedeutet.”
Ich beobachtete Roos, seine Haltung, seine Gesten, seine Mimik, als könnte ich aus diesen Äußerlichkeiten auf etwas Tieferes schließen und hörte erst wieder zu, als er mich direkt ansprach mit der Aufforderung: „Herr Swoboda, steigen Sie bei uns ein, der Kurs ist günstig, die Aussichten groß, ich werde Sie reich machen, auch zur Freude ihrer Frau.”
Auf mir ruhte ein Blick, dessen Ziel einer Erlösung gleichkam, und er kam von einem Mann, der anscheinend etwas über mich in Erfahrung gebracht hatte. Was wusste er noch? Dass ich wenig Geld auf dem Konto hatte und einen Autokredit abstottern musste? Dass mein Redakteursgehalt nicht das höchste war? Oder war es nur ein blöder Scherz?
Es war mir egal. Auf eine Weise war ich schmerzlos geworden. Aber ich würde es mir merken.
Als wir uns verabschiedeten und hinausbegleitet wurden, meinte seine Sprecherin: „Sie haben sicher gemerkt: Unser Alex kann auch richtig emotional werden. Da kann ihn keiner bremsen.” Ich bemerkte ein verhaltenes Lächeln.
„Sollte man aber”, antwortete ich und ging in Richtung Ausgang.
Ich wollte weg.
„Männer mit ehrlichen Emotionen sind selten, da ist er eine Ausnahme. Vielleicht kenn’ ich auch zu wenige.“
„Vielleicht”, rief ich. „In ihrer Branche ist das leicht möglich.”
Meine Worte hallten im Gebäude.
„Oh, Sie brauchen mich nicht zu bedauern. Ich weiß schon, was ich tue. Das dürfen Sie mir glauben.”
Sie war mir gefolgt.
Ich drehte mich um, weil mir ihre Offenheit auf einmal gefiel.
Sie blieb ebenfalls stehen.
„Sie haben Ihre Pressemappe vergessen.“
Ich sah sie an, auf einmal in der Hoffnung, von ihr wahrgenommen zu werden.
Sie hatte grüne Augen, die gerade von kleinen Fältchen umrahmt wurden. Sie war nahezu ungeschminkt und ich entdeckte auf ihrer hellen Haut unzählige Sommersprossen.
Sie sah gut aus, und ihr leicht ausgeschnittenes, hellgrünes Kleid mit seinen weißen aufgesetzten Taschen wirkte extravagant. Insgesamt machte sie den Eindruck einer Frau, die sich ihrer Ausstrahlung und ihrer Mittel sehr sicher schien, auch in dieser Situation.
Als sie mir die Mappe übergab, fiel mir ein beachtlich großer Ring auf, darauf eingefasst ein Mondstein.
Ich schätzte sie auf Ende 30, aber vielleicht war sie auch jünger.
Nur ihre komplizierte Frisur, deren Haare diesmal hinten mit einer großen Klammer zusammengesteckt waren, wies darauf hin, dass sie noch eine andere Seite haben musste, möglicherweise eine sehr emotionale wie ihr Chef.
Ich brummte etwas wie „Vielen Dank für ihre Mühe“, und wir verabschiedeten uns schließlich zum zweiten Mal, und ich war endlich draußen, und es war frisch und kalt.
Nicole gab mir nur Platz für einen halblangen Artikel, aber ich hoffte weiter auf eine bessere Zusammenarbeit.
Noch immer schien sie mir zu verübeln, dass die Besucher mich anfangs für den neuen Chef gehalten hatten und nicht sie. Sie hatte daraufhin meinen Schreibtisch in eine Nische versetzen lassen, um mich unsichtbarer zu machen.
Ich schrieb mit Distanz, dennoch rief mich zwei Tage später seine Pressesprecherin an, die mich trotz unseres Disputs seltsamerweise mit lieber Herr Swoboda ansprach und mich mit ihm verband.
Er bedankte sich für den Artikel und kündigte neue Firmenkäufe an, die Gelegenheit sei gerade so günstig, die Krise sei überall spürbar. Am Ende bedankte sich auch seine Pressesprecherin und sprach ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen aus.
Ich murmelte etwas, was so klang wie ihr Name, ich hatte ihn wieder vergessen, aber ich wollte nicht unhöflich sein.
Als ich hinausgehen wollte, fragte mich Nicole: „Wohin gehst du?”
Seit sie das Rauchen im Büro verboten hatte, liefen meine Kollegen alle Stunde hinaus, um sich eine anzustecken.
Ich deutete nach draußen.
„Bei dem Wetter?”
An der Ecke, neben der Bushaltestelle, standen meine Kollegen in der Kälte, rauchten hastig und versuchten nebenbei, sich mit dem Obdachlosen zu unterhalten, der, wenn er noch nüchtern war, alle Passanten, die seinen Weg kreuzten, beschimpfte. Nur uns nicht. Er hatte ein hartes, faltiges Gesicht. Er lallte aber nur noch, als ich kam und blickte mit glasigen Augen in die Welt.
Glück muss man sich erkämpfen, hatte mein Vater immer gesagt.
Er hatte gekämpft, bis zum Schluss.
Ich telefonierte mit meinem Frisör.
Ich hatte das Gefühl, dass meine Haare einen kürzeren Schnitt gebrauchen könnten. Komplizierte Frisuren gab es genug. Außerdem wollte ich nebenbei wissen, was sonst noch Stadtgespräch war und vor allem, was man unter der Hand tuschelte.
Benedikt Fischer und ich kannten uns schon lange, die Vertrauenslage war deshalb gut. Wie gut, machte er an der Behauptung fest, dass er mir auch im Dunkeln einen perfekten Schnitt machen könnte. Wobei es sein großer Traum war, einen eigenen Laden zu eröffnen. Dafür sparte er.
„Für dich hab ich immer Zeit”, meinte er am Telefon.
„Gibt es etwas, was ich wissen sollte?”, fragte ich kurz.
„Die Fürstin ist wieder da. Okay, nicht mehr dein Thema. Deshalb lass uns morgen reden, da sind wir ungestörter.”
Ich verstand.
Mit der Fürstin hatte er eine bekannte Adelige gemeint, die ein Schloss am See besaß.
Es gab hier viele Schlösser, und die Fülle der Adelssitze machte ihn zum Fürstensee.
Ich mochte solche Bezeichnungen, sie erinnerten mich an die Heimatfilme, an denen mein Vater als Produzent beteiligt war. Die Kritik bezeichnete sie später als schrecklich verlogen, aber sie ernährten uns, und wir waren viele und froh.
Am nächsten Tag machte sich Bene an meinen Haaren zu schaffen. Ich hatte mich ein wenig verspätet, weil ein Liedermacher, der sich „Metzger Bill” nannte und den ich Anfang der 1990er Jahre bei einem Fest für Amateur-Musiker entdeckt hatte, mich in der Redaktion aufgehalten hatte. Es ging um seine geplante neue CD, und ich sollte ihm bei der Auswahl der Songs behilflich sein und zu den Aufnahmen kommen.
„Metzger Bill“, der eigentlich Dieter Vogl hieß – aber inzwischen nannte ihn jeder so – besaß ein kindliches Gemüt, begrüßte immer alle Mitarbeiter mit einer überschäumenden Herzlichkeit, was allerdings zur Folge hatte, dass es dauerte, bis er endlich seine Wünsche bei mir los brachte, am Ende des Büros, versteckt für die Besucher, aber in Sichtweite von Nicole.
Bene nahm mir die Verspätung nicht übel.
„Also, Servus, was gibt’s Neues?”, sagte ich gleich an der Tür.
Er stellte seine Kaffeetasse ab und wir umarmten uns.
Der Laden, eher klein als groß und in einer Passage gelegen, besaß vier Frisörstühle.
Große Schwarzweißfotos von den Angestellten, aufgenommen in einer verdrehten, überzeichneten Arbeitspose mit Kamm und Schere, hingen an der Wand. Die Idee stammte von ihm.
„Also, ich will hören.“
„Ja, ja, immer im Dienst. Entspann dich, trink einen Kaffee.“
„Lieber Wasser.“
„Auch gut, ich hol schnell ein Glas für dich.”
Er sauste nach hinten, und seine wilde, lockige Mähne, die hervorragend zu einem Bergfreak gepasst hätte, stellte sich wie ein Segel auf.
„Nichts gehört?”, fragte ich, als er mir das Wasser hinstellte.
„Du, eigentlich viel und wenig.“
„Geht’s weniger geheimnisvoll?“
„Über deinen Finanzhai schweigt man, was wiederum, wenn du mich fragst, sehr verdächtig ist.”
„Warum verdächtig. Ist doch gut so.”
„Ich glaub, da ist was im Busch, hat mich einer meiner Oldtimer-Kunden wissen lassen, wegen Börse undso und Gerüchten.”
Bene reparierte und restaurierte in seiner Freizeit alte Autos aber vor allem historische Espressomaschinen, er nannte sie Dampfmacher. Er besaß eine ganze Sammlung defekter, vom Kalk befallener Exemplare, was zur Folge hatte, dass er sowohl im Sommer als auch im Winter reichlich beschäftigt war.
„Was Genaues weiß auch er nicht. Ich wollte ihn nicht ausfragen, sonst kommt er womöglich noch auf dumme Gedanken. Weißt schon.“
Er schaute kurz um sich, als wollte er kontrollieren, ob wir wirklich allein waren. Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „Aber koscher, das sagt auch mein Oldtimer-Freund, ist dein Finanzhai nicht. Den Leuten gefällt er definitiv nicht. Zu angeberisch, zu neureich. Das sagen auch meine alten Damen.“
Er zwinkerte mir zu.
„Okay, und sonst?”
„Schau raus, es ist winterliche Ruhe.” Er betonte die beiden letzten Worte und dehnte sie wie einen Kaugummi.
Die Stadt trieb sich auf den Skipisten der Welt oder auf den Malediven herum – bis auf den Postboten, der zu jeder Jahreszeit pfeifend durch die Straßen lief, mit immer den gleichen Melodien, die aus den Sechzigerjahren stammten.
Er würde noch in 100 Jahren pfeifen.
Nach 30 Minuten besaß ich wieder eine anständige Frisur.
„Cabriokurz” hatte er die Haare geschnitten – wie immer eigentlich.
„Wenn du was hörst, Anruf genügt.”
„Claro, großer Journalist, und schöne Grüße an deine Chefin. Nicht, dass ich neugierig wäre: Aber ist die noch zu haben?”
„Frag sie doch selber. Solche Fragen liebt sie!”
Es vergingen nur wenige Tage, dann kam der Börsengang, wie von Bene vorhergesagt. Die Aktie kostete einen Euro und so blieb ihr Wert die nächsten Wochen.
Dazwischen lag die Aussprache mit meiner Frau über die Folgen der Scheidung. Das hellblaue Strickkleid, das sie angezogen hatte, stand ihr immer noch, und ich erinnerte mich daran, wie sie mich gefragt hatte, wie lang es werden sollte. Kurz, hatte ich gesagt, kurz. Und sie hatte es kurz gestrickt, auch wegen ihrer Beine.
Das war vor vielen Jahren, und jetzt verhandelten wir in unserer Wohnung, in die sie nur noch sporadisch kam, über Unterhalt und Kosten, und außer der Summe schien sie nichts mehr zu interessieren und zu berühren. Wir hatten uns verändert, beide, und es wunderte mich immer noch, wie es geschehen, wie dieses Gefühl füreinander verlöschen konnte, wie sich all die Zärtlichkeiten, die Wärme, die Freude zu einer Ferne eines Gefühls verwandelt hatten – wie aus Nähe wieder Distanz wurde und aus einem früher geliebten Menschen ein Fremder.
Das Leben war seltsam und so unglaublich wie eine Sonnenfinsternis.