Читать книгу Fürstensee - Wolfgang Prochaska - Страница 6
In den ersten Wochen
ОглавлениеIn den ersten Wochen nach seinem Tod hatte ich immer von ihm geträumt: Ich sah ihn, gebeugt über die Bücher von Swedenborg, mit einem Rotstift hantieren, und er unterstrich die für ihn wichtigsten Stellen – fast wie ein Rabbi, der die Tora oder den Talmud studierte.
Es waren riesige, viele tausend Seiten, die sich bis zum Horizont dehnten und einer Unendlichkeit gleichkamen. Ich wollte ihn fragen, wie es ihm gehe, so sehr freute ich mich, aber er wies mich ab, als ob er in Ruhe gelassen werden möchte, jetzt wo er sich im Reich der Erkenntnis befand.
Und er sah glücklich aus.
Den Traum hatte ich immer für mich behalten, in der Hoffnung, ihn weiter träumen zu können. Obwohl ich nicht an Erscheinungen glaubte, empfand ich diesen Traum als Kontakt.
Ich erinnerte mich, wie in jener Nacht, nach dem er gestorben war, unser Namensschild mit seinem schön geschwungenen Schriftzug von der Tür abfiel, als hätte jemand (oder er) ein letztes Zeichen geben wollen, einen direkten Abschiedsgruß.
Es war mir, als existierte etwas, das unseren Sinnen verschlossen blieb.
Ich redete nur mit meiner Mutter über diese Dinge oder deutete sie an.
Sie gehörte nicht der Neuen Kirche an, jener christlichen Gemeinschaft der Swedenborgianer, wie mein Vater, sie war Katholikin, ging regelmäßig in die Kirche, war aber strenge Kritikern der Päpste nach Johannes XXIII..
Sie wohnte an der Donau in einer kleinen Wohnung, die ihr meine Schwester besorgt hatte und die in einer schönen, hellen Siedlung lag, umgeben von Grün und Feldern.
Wir verstanden uns, und ich verstand, dass sie unglücklich war.
Ich verstand die Welt der Unglücklichen immer noch besser als die der Glücklichen.
„Da bist du ja“, sagte sie, als ich sie besuchte.
Sie war älter geworden, aber nicht nachlässiger. Ihre Haare ließ sie sich immer noch färben, das sah ich sofort, aber weniger blond, und sie achtete mit ihren 76 Jahren weiter auf ihr Gewicht, wie aus Trotz dem Leben gegenüber.
Sie wehrte sich, als ich sie umarmen wollte.
„Wie es dir geht, brauche ich nicht zu fragen. Das höre ich ja von deiner Frau oder besser: Noch-Frau. Aber wie es mir geht, scheint dir egal.“
„Du weißt, dass es nicht stimmt.“
„Früher hast du häufiger angerufen. Sag‘ jetzt nicht, du hast so viel zu tun.
Telefonieren kann man heutzutage immer.“
„Es ist alles gerade sehr schwierig.“
„So, ist es das. Du meinst, ich hab‘s jetzt leichter.“
„Das hab ich nicht gesagt. Aber du hast kein Handy, und wenn ich anrufe, geht entweder keiner hin oder es ist besetzt.“
„Entschuldige, dass ich nicht den ganzen Tag zuhause bin und auf deinen Anruf warte. Und hättet ihr Kinder wie deine Geschwister, bräuchtet ihr euch nicht scheiden zu lassen. Kinder sind Glück, und du wärst ein guter Vater.“
Ich blickte um mich. Ich sah das große Sideboard, das immer noch den Brandfleck hatte, als ich als Jugendlicher mit einer Kerze zündelte. Auch die hellgrüne Couchgarnitur gehörte zu den Erinnerungen.
„Was ist? Langweile ich dich mit meinen Vorwürfen?“, fragte sie.
„Die Wohnung ist nett.“
„Lenk nicht ab. Ich hab dich was gefragt.“
Wir setzten uns endlich.
„Ich weiß, dass du dich allein fühlst. Wir sollten eine genaue Zeit festlegen.“
„Und?“, fragte sie.
„Was meinst du?“
„Ja wann? Du stellst dich wirklich an, da hat deine Frau recht. Mehr Bett hätte euch gut getan. Wenn ich da an euren Vater denke…!“
„Bitte, Mama.“
„Das ist dir wohl peinlich.“
„Einmal in der Woche“, sagte ich.
„Nicht dein Vater, vielleicht du.“
„Mama, wir reden über das Telefonieren!“
„Das schlägst du vor?“
„Ja, am Sonntagabend“, sagte ich.
„Da schaue ich mir die Pilcher-Geschichten an. Sonst kommt ja nichts im Fernsehen. Die Filme deines Vaters werden kaum gezeigt.“
„Gut. Wann dann?“
„Vor der Pilcher, um halb acht.“
Beim Abschied ging sie mit mir hinunter auf die Straße und sie gab mir einen Kuss auf die Wange.
Mein Vater war nach einer gelungenen Operation am Rücken an einer Lungenembolie gestorben.
Wir waren zu spät gekommen, meine Mutter und ich. Er war vor unserem Eintreffen gestorben, und auf der OP-Liege blutete er noch aus dem Herzen, dort, wo man versucht hatte, ihn zu retten.
Ich hatte nicht geweint, ich hatte mein Schweigen.