Читать книгу Das Marmorbild von Joseph von Eichendorff: Reclam Lektüreschlüssel XL - Wolfgang Pütz - Страница 4
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ОглавлениеAbb. 1: Venus Italica (1822/23). Marmorskulptur aus der Werkstatt Antonio Canovas (1757–1822). Metropolitan Museum of Art, New York (Nachlass Lillian Rojtman Berkman, 2001)
Joseph von Eichendorffs Novelle Das Marmorbild aus dem Jahre 1819 erzählt von den Irrungen und Wirrungen eines Thema Persönlichkeitsreifungjungen Mannes auf dem Weg zur Erkenntnis der wahren Liebe, die über die sexuelle und erotische Stufe hinaus die seelische und geistige Verbundenheit mit der anderen Person beinhaltet. Damit nimmt der Autor »den Sexualitätsdiskurs romantischer Literatur wieder auf, den bereits Friedrich Schlegels Roman ›Lucinde‹ und Brentanos ›Godwi‹ thematisierten«.1 Er verzichtet aber darauf, einem »christlichen Keuschheits- und Entsagungsprogramm« das Wort zu reden, und versucht stattdessen, mit seinem epischen Text »die komplexe Psychologie einer Figur in romantischer Bildersprache aufzuhellen«2. Dem entspricht die Interpretation von Ludwig Stockinger: Eichendorffs Novelle erzählt von einem entscheidenden Moment in der Ausbildung »der sexuellen und sozialen Identität eines jungen Mannes Adoleszenzkrise aus der Perspektive einer bestimmten moralischen Norm. Die Natur der Sinne – hier die sexuelle Begierde – soll so in die Ich-Identität integriert werden«, daß die Freiheit, und damit auch die Anerkennung »des sexuell begehrten Andern als einer freien Person, der man sich in Liebe zuwendet«, gewahrt bleibt. Dies, so Stockinger, entspreche der um 1800 entwickelten, zur Zeit der Veröffentlichung der Novelle schon weitgehend konventionalisierten Konzeption von Liebe.3
Das literarische Porträt, das den jugendlichen Florio in der Auseinandersetzung mit der eigenen Triebnatur zeigt, ist relativ differenziert und steht damit in einem Gegensatz zur Einfachheit des Marmorstandbilds der antiken Liebesgöttin Venus. Die künstlerische Reduktion der Frau auf deren jungen PubertätsproblematikKörper entspringt dabei einem ideologischen Bildprogramm, das sich unter anderem aus traditionellen männlichen Vorurteilen und Domestizierung der männlichen SexualitätRessentiments sowie aus den sexualitätsfeindlichen Diskursen religiöser Fundamentalismen speist. Antikes Heidentum und sektiererische Morallehre verdichten sich in einer behaupteten Dämonie der Venus, die ihren nackten Körper einsetzt, um den Mann zum willenlosen Objekt ihrer Herrschaft zu machen.
Dem Bild der verführerischen Die Frau – Hure und HeiligeFrau stellt die romantische Literatur – so auch Das Marmorbild – das Bild der Jungfrau Maria entgegen, dem Motiv von obszöner Entblößung und sündiger Lüsternheit dasjenige der keuschen Madonna und frommen Gottesmutter. Natürlich ließe sich – in einer einseitig textkritischen Absicht – Eichendorffs Novelle auf diese schlichte Schwarz-Weiß-Opposition der Geschlechter und auf die heroische Rolle des Mannes reduzieren, der die Herrschaft des Sexus durch Selbstbesinnung, Erkenntniszuwachs und Glaubensfestigkeit überwindet. Da aber neben der antiken Liebesgöttin als Personifikation von verlockender Schönheit und zerstörerischer Sinnenlust eine Reihe weiterer Frauenfiguren die Handlung bestimmen, vertieft sich auch die Darstellung der Beziehung von Mann und Frau. Unter den »niederschwebenden Mädchenbilder[n]« auf dem Festplatz in Lucca ragt eines heraus, das mit dem »vollen, bunten Blumenkranz in den Haaren […] wie ein fröhliches Bild des Frühlings anzuschauen« (S. 5) ist. Neben diese positive Repräsentationen des WeiblichenFiguration der blühenden und wachsenden Frühling, Musik, NaturFrühlingsnatur, die in der Ikonographie der europäischen Kunst häufig in der Gestalt einer jungen Frau mit Blütenkranz dargestellt wird, treten die Lautenspielerin, die Griechin und die Sängerin, die sämtlich namenlos und lediglich durch ihre Funktionen als Variationen des Weiblichen definiert sind. Zwischen allen diesen typisierten Figuren besteht eine häufig nur unterschwellig erkennbare Verbindung (vgl. Kap. 3 »Bianka«, S. 35 ff.), die sich bei unterschiedlichen Frauen etwa in analogen Formulierungen wie »Du kennst mich« (S. 27) und »Ihr habt mich öfter gesehen« (S. 33) manifestiert.
Abb. 2: Allegorie des Frühlings (um 1624/26). Ölgemälde von Gerard van Honthorst (1592–1656)
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